Militärregime und Redemokratisierung in Lateinamerika
Dieter Nohlen
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Zusammenfassung
In Lateinamerika sind die meisten der in den sechziger und siebziger Jahren errichteten Militärregime in den zurückliegenden Jahren durch Demokratien abgelöst worden. Was erklärt diesen Regimewechsel? Gibt es für die annäherungsweise zeitgleichen politischen Entwicklungen gemeinsame Ursachen? Verschiedene Theorien zu den neuen Militärregimen unterstellen solche gleichen Ursachen; sie liefern aber nur partielle, den Einzelfall kaum übergreifende Erklärungen. In der Tat sind die Ursachenbündel militärischer Besetzung der Politik in den einzelnen Fällen (Argentinien, Brasilien, Chile, Ecuador, Peru, Uruguay) unterschiedlich geschnürt. Die jeweils verschiedenen soziopolitischen Kontexte bedingen erhebliche Unterschiede in der Form autoritärer Herrschaftsausübung, in den verfolgten Politiken oder in anderer Hinsicht, wie etwa in der Form des Übergangs zur Demokratie. Der Prozeß der Redemokratisierung bietet sodann weitere Tests für eine kritische Prüfung von Theorien über Regimewechsel. Es zeigt sich vor allem, daß einige Variablen (etwa wirtschaftliche Entwicklung, Einheit der Streitkräfte) in ihrer politischen Folgewirkung durchaus ambivalent sind, d. h. einen Regimewechsel sowohl in die eine als auch in die andere Richtung mitbegründen können. Der Sonderfall Chile, in dem die Redemokratisierung noch nicht gelang, ist besonders geeignet, die Bedeutung jeweils historischer und akteurbezogener Variablen (im Gegensatz zu den in den globalen Theorien vorherrschenden strukturellen Variablen) zu erkennen.
Überarbeitete und erweiterte Version eines Vortrags, den der Verfasser am 10. Juni 1985 im Studium Generale der Universität Heidelberg gehalten hat. Entsprechend dem Vortragsmanuskript wurde auf Anmerkungen weitestgehend verzichtet. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft sei für die Reisebeihilfe zum Forschungsaufenthalt des Verfassers in Lateinamerika 1984/85 herzlich gedankt.
I. Einleitung
Die Formen politischer Herrschaftsausübung scheinen in Lateinamerika (anders als in den westlichen Industrieländern) einem ständigen Wechsel zu unterliegen. Im folgenden geht es weniger um die Schilderung von Ereignissen und Ereignisabläufen in den einzelnen Ländern des Subkontinents, als vielmehr um den Versuch, strukturelle und ursächliche Faktoren für Herrschaftsformen und deren Wandel in Lateinamerika ausfindig zu machen. Auf diese Weise ist in diesen Darlegungen stets die theoretische Perspektive präsent, was denn die Formen politischer Herrschaftsausübung und deren Wandel erklären kann. Wie ähnlich sind sich die beobachteten politischen Phänomene, die Militärregime, und die jüngsten demokratischen Entwicklungen? Gibt es für den Regimewechsel in verschiedenen Ländern gemeinsame Ursachen, vielleicht sogar eine übergreifende Theorie?
Auf den ersten Blick — und aus der Ferne Europas — ist man häufig geneigt, Lateinamerika als eine Einheit zu begreifen. Wer sich indes näher mit dieser Region beschäftigt, wird der Vielfalt soziokultureller, wirtschaftlicher und politischer Strukturen und Entwicklungen gewahr. Das Thema „Militärregime und Redemokratisierung“ ist besonders geeignet, diesen Sachverhalt, d. h. das Spannungsverhältnis von Einheitlichkeit und Vielfalt im Zugang zur area, zum soziokulturellen Raum Lateinamerika, anschaulich zu belegen. Denn die Annahme der Einheitlichkeit wird hier durch die Chronologie der politischen Daten gestützt: durch vergleichbar ähnliche, nahezu simultane politische Entwicklungen in einer Reihe lateinamerikanischer Länder.
Etwa ab Mitte der sechziger Jahre übernahmen die Streitkräfte fast überall die Macht. Ausgestattet mit einer politischen Ideologie — der Doktrin der Nationalen Sicherheit — errichteten sie Militärregime neuen Typs, in denen sie als Institution die politische Macht ausübten: zunächst in Brasilien (1964), dann in Argentinien (1966), Peru (1968), Ecuador (1972), Chile und Uruguay (jeweils 1973). Auf dem Höhepunkt der autoritären Welle blieben in Südamerika lediglich Venezuela und das nur begrenzt pluralistisch verfaßte Kolumbien demokratisch regiert.
Nach eineinhalb Jahrzehnten Dominanz von Militärregimen setzte etwa mit Beginn der achtziger Jahre ein demokratischer Frühling in Südamerika ein. Ecuador eröffnete den Reigen 1979, ein Jahr später folgte Peru. Argentinien wählte im Dezember 1983, Uruguay im November 1984 einen neuen Präsidenten, und in Brasilien wird seit April 1985 die Präsidentschaft durch einen Zivilisten ausgeübt.
Die historischen Daten der Regimewechsel legen somit die Vorstellung nahe, daß sich die politischen Systeme in Lateinamerika in Zyklen verändern. Auf die autoritäre Phase der sechziger und siebziger Jahre folgt die demokratische der achtziger Jahre. Die Redemokratisierung konnte nämlich in allen zwischenzeitlich unter Militärherrschaft gefallenen Ländern mehr oder weniger glücklich auf den Weg gebracht oder herbeigeführt werden. Einzige Ausnahme bildet Chile. Dieser Staat ist gegenwärtig neben Paraguay, einer traditionellen Militärdiktatur, das einzige unter Militärherrschaft verbliebene Land in Südamerika.
Rolle des Staates im Wirtschaftsprozeß 2) Organisierungsgrad gesellschaftlicher Interessen 3) Strukturiertheit des Parteiensystems politische Konjunktur 4) Grad der sozialen Mobilisierung Akteure der sozialen Mobilisierung 5) Grad der Bedrohung des gesellschaftlichen Status quo exogene Faktoren 6) vom Militärregime eingeleitete Politik Rolle des Staates im Wirtschaftsprozeß politische Repressionen Argentinien 1966 hoch mV
Rolle des Staates im Wirtschaftsprozeß 2) Organisierungsgrad gesellschaftlicher Interessen 3) Strukturiertheit des Parteiensystems politische Konjunktur 4) Grad der sozialen Mobilisierung Akteure der sozialen Mobilisierung 5) Grad der Bedrohung des gesellschaftlichen Status quo exogene Faktoren 6) vom Militärregime eingeleitete Politik Rolle des Staates im Wirtschaftsprozeß politische Repressionen Argentinien 1966 hoch mV
Die nachfolgenden vergleichenden Betrachtungen sollen sich auf jene bislang genannten Länder beschränken, die für eine bestimmte (oder noch anhaltende) Zeit dem politischen Systemtyp „neue Militärregime“ zuzurechnen sind. Diese Überlegungen zielen nun nicht darauf ab, die Ähnlichkeit der historischen Erscheinung zu untermauern, was in einigen theoretischen Arbeiten zum neuen Autoritarismus in Lateinamerika versucht worden ist. Diese Studien gingen zumeist von der Analyse eines oder zweier Fälle aus und übertrugen dann die erzielten Ergebnisse auf weitere Fälle letztendlich in der Absicht, sie in ein allgemeines und allgemeingültiges Erklärungsmuster der Militärherrschaft in Südamerika zu integrieren. Die Wahl einer größeren Zahl von Fällen hingegen wird verbunden mit der Annahme, daß den vergleichbar ähnlichen historischen Erscheinungen (im Systemtyp „neue Militärregime“) unterschiedliche historische Entstehungskontexte zugrunde liegen, die bei der Bildung von Theorien zu berücksichtigen sind.
Hinsichtlich der Redemokratisierung enthält die hier vorgenommene Länderauswahl auch einen konträren Fall, nämlich Chile, der besonders intensiv behandelt wird, weil konträre Fälle zur kritischen Prüfung von Theorien geeigneter sind als übereinstimmende Fälle. Hier ist zudem die historische Perspektive noch offen und die Gefahr des retrospektiven Determinismus geringer, d. h., Annahmen zu erliegen, als hätte die politische Geschichte in den betrachteten Ländern nur den Verlauf nehmen können, der hier bezeichnet wird mit der Errichtung von neuen Militärregimen und nachfolgender Redemokratisierung.
Unter dem Begriff „neues Militärregime“ wird verstanden, daß das Militär als Institution die Macht ergreift für einen länger umrissenen Zeitraum, in welchem der Staat und die Gesellschaft an Haupt und Gliedern reformiert werden sollen. Gemeinsame ideologische Grundlage bildet die Doktrin der Nationalen Sicherheit, die auf militärisch-theoretischen Erwägungen der Geopolitik fußt, in militärischen Studienzentren entwickelt und offensiv als Rechtfertigungsideologie für die Machtübernahme durch das Militär eingesetzt wurde. Sie bestimmt die Rolle des Militärs insofern neu, als nicht die äußere, sondern die innere Bedrohung von Staat und Gesellschaft durch sozialrevolutionäre Bewegungen und Parteien, insbesondere durch nationale Befreiungsbewegungen, in den Mittelpunkt der militärischen Aufgabenstellung rückt.
Die Hauptstoßrichtung der militärisch-technokratischen Politik, die sich im zivilen Bereich weniger bei politischen Sektoren als unter den Technokraten in verschiedensten Bereichen Unterstützung sucht, besteht in Maßnahmen zur Kontrolle der Gesellschaft und zur Freisetzung von Kräften wirtschaftlichen Wachstums. Die Maßnahmen beinhalten zum einen militärische Aktionen gegen subversive Kräfte, Repression gegen Exponenten sozial fortschrittlicher Politik und politisch Andersdenkende, soziale Demobilisierung und ganz allgemein Depolitisierung. Die Regime suchen in der Regel keine Unterstützung bei den Massen. Zum anderen, im wirtschaftlichen Bereich, beinhalten die Maßnahmen eine gezielte Förderung der kapitalistischen Entwicklung durch den Staat, was meistens eine verstärkte Internationalisierung der einheimischen Wirtschaft durch Kapitalimporte und Transnationale Unternehmen einschließt, jedoch national durchaus unterschiedliche wirtschaftspolitische Konzepte zuläßt.
Der Begriff „Redemokratisierung“ orientiert sich hier an einer liberalen Demokratiekonzeption, der neben dem Konkurrenzkampf um die politische Macht die Rechtsstaatlichkeit, die Geltung der Menschenrechte, die Unabhängigkeit der Gerichte, die Rede-, Versammlungs-und Vereinigungsfreiheit eigen sind. Natürlich kann Demokratie, Demokratisierung umfassender verstanden werden, wie dies auch im wissenschaftlichen und politischen Diskurs in Lateinamerika immer wieder geschieht. Vor allem wird auf die Verteilungsgerechtigkeit abgehoben, nicht nur als gleichrangige Komponente des Begriffs neben den „formalen“ Rechten, sondern vielfach als Zielelement von Demokratie gegenüber der Mittelfunktion, welche die liberalstaatlichen Rechte einnehmen.
Einerseits ist nun nicht von der Hand zu weisen, daß die mangelnde Verknüpfung von sozialer Demokratie mit der liberalen Demokratie letzterer die Anerkennung und Wertschätzung in Lateinamerika immer wieder entzieht. Andererseits ist der Versuch sozialreformerischer Kräfte in Lateinamerika, der westlichen Form der Demokratie die soziale Komponente hinzuzufügen, bis-B lang stets in Gefährdungen oder Abschaffungen der liberalen Demokratie gemündet. Mit der Definitionsfrage wird somit ein theoretisch und politisch schwieriges Terrain betreten, das zu sondieren hier nicht der Ort ist. Die hier vorgenommene begriffliche Festlegung ist pragmatischer Natur: Redemokratisierung bedeutet vornehmlich Wahl der Regierenden durch das Volk in allgemeinen und freien Wahlen, durch welche die autoritäre Situation beendet wird. Die Begrifflichkeit zielt somit primär auf den Regimewechsel, auf die politische Ebene.
1. Zur Ursachenanalyse militärischer Machtergreifung
Die verschiedenen Theorien, welche die Machtergreifung durch das Militär als Institution erklären wollen, lassen sich grob in solche modernisierungstheoretischer und solche marxistischer und/oder dependenztheoretischer Herkunft unterscheiden. Modernisierungstheoretische Erklärungen betonen eher die internen, dependenztheoretische eher die externen Verursachungsfaktoren. Marxistische Analysen heben auf den Klassenkampf ab; auf der Grundlage dieses Leitbegriffs sind Aussagen möglich, die sich entweder auf die internen oder auf die internationalen Klassenverhältnisse beziehen.
Die Tabelle 1 gibt einen Überblick über die verschiedenen Erklärungsansätze, wobei als Unterscheidungskriterien neben den genannten Entwicklungsparadigmata Modernisierung und Dependenz unterschiedliche Bezugsebenen herangezogen werden. Hier wird unterschieden zwischen ökonomischer, politischer und korporatistischgesellschaftlicher Ebene.
Im modernisierungstheoretisch-ökonomischen Erklärungsansatz wird ausgegangen von Wachstumsproblemen der jeweiligen Volkswirtschaften und der sich daraus herleitenden Notwendigkeiten vertiefender Modernisierung mittels Industrialisierung und verstärkter Integration in den Weltmarkt. Militärregime können für diese notwendige Entwicklungsetappe die entsprechenden politischen Bedingungen herstellen, in welcher eine Art assoziierter Entwicklung, fußend auf ausländischem, privatem nationalen und staatlichem nationalen Kapital, Platz ergreift. In Form von Staatsbetrieben beteiligt sich der Staat selbst am Wirtschaftswachstum — was zur Expansion einer zivil-militärischen Bürokratie führt. Von dorther werden diese Militärregime auch „bürokratisch-autoritäre Regime“ oder „BA-Staaten“ genannt.
Gegen diese Erklärung ist einzuwenden, daß die politischen Variablen im Entstehungsprozeß von Militärregimen völlig außerhalb der Betrachtung bleiben. Der modernisierungstheoretisch-ökonomische Erklärungsansatz läßt sich auch hinsichtlich seiner Reichweite bestreiten. Er traf bzw. trifft allenfalls für zwei Militärregime in Lateinamerika zu: Argentinien und Brasilien. In anderen Ländern fehlt es bereits an der unterstellten Zielsetzung vertiefter Industrialisierung; durch eine Politik der Öffnung zum Weltmarkt wurde sogar ent-industrialisiert. Andererseits ist der politische Systemtyp „Militärregime“ für die Strategie vertiefender Industrialisierung nicht zwingend. In Mexiko und Venezuela z. B. mit ähnlichen wirtschaftspolitischen Weichenstellungen kam es nicht zur Herausbildung von Militärregimen.
Unter den politischen Erklärungsansätzen will der modernisierungstheoretische die Instabilität demokratischer Systeme in der Dritten Welt im allgemeinen erklären. Ihm zufolge besteht ein Mißverhältnis zwischen wirtschaftlicher Entwicklung, Institutionenbildung, sozialer Mobilisierung und Partizipation. Der Grad politischer Partizipation eile dem Grad politischer Institutionenbildung zu stark voraus, so daß sogenannte prätorianische Gesellschaften das Ergebnis seien, in denen stets mit Interventionen des Militärs gerechnet werden müsse. Das Militär schraube die vorausgeeilte politische Partizipation zurück und fördere die wirtschaftliche Entwicklung.
Diese Theorie ist zu allgemein, um erklären zu können, warum das Militär in diesem, nicht aber in jenem Land die Macht ergreift und warum sich die Zeitpunkte solcher Putsche unterscheiden.
Der zweite politische Erklärungsansatz ist noch weniger bestimmt. Ihm zufolge reagiert das Militär auf besondere politische Entwicklungen: auf gewaltsame Aktionen von Befreiungsbewegungen, auf umstürzlerische Programme sozialrevolutionärer Parteien, die sich der Macht nähern, auf reformunfähige Regierungen und politisch in eine Sackgasse führende Konfrontationen politischer Parteien. Auch dieser Ansatz befriedigt für sich allein genommen nicht. Das Militär ist in einigen Ländern Lateinamerikas ja ein aktiver Machtfaktor, eine politische Gruppe im Kampf mit den politischen Parteien um die Macht. Das Militär bringt also ein Eigeninteresse ein, und es handelt auch in Übereinstimmung mit gesellschaftlichen Interessen.
Der korporatistische Erklärungsansatz, welcher der Modernisierungstheorie zugeordnet werden kann, stellt das Eigeninteresse der Militärs als Institution in den Mittelpunkt der Ursachenanalyse militärischer Machtergreifung. Unter Eigeninteressen kann nun freilich sehr Verschiedenes verstanden werden, so daß der korporatistische Ansatz dann versagt, wenn nicht unterschieden wird zwischen einzelnen Motivlagen: etwa dem Statusdenken des Militärs (Aufstockung des Verteidigungshaushalts zwecks Sicherung der Ausrüstung der Streitkräfte mit modernstem Waffengerät und damit der Sicherung des Prestiges der Institution in der Gesellschaft) oder der Verteidigung des Monopols physischer Gewaltanwendung, das durch die Guerilla-Aktionen von nationalen Befreiungsbewegungen herausgefordert wird. Auch die Verteidigung der Einheit der Streitkräfte kann als ein korporatives Motiv interpretiert werden. Die Durchsetzung der Doktrin der Nationalen Sicherheit als Motiv geht bereits in einen umfassenden gesellschaftlichen und politischen Ansatz über.
Eine Variante des korporatistischen Erklärungsansatzes stellt das Verständnis (bzw. Selbstverständnis) der Militärs als Quasi-Partei in der politischen Auseinandersetzung dar. Diese Interpretation gewinnt dort an Einsichtigkeit, wo die militärische Besetzung der Politik traditionell ist (wie in Argentinien und Peru) und nicht etwa die Ausnahme darstellt (wie in Chile und Uruguay).
Die dependenztheoretischen, teilweise marxisti: schen Ansätze betonen gänzlich andere Gesichtspunkte: In der ökonomischen Version, welche die externen Variablen hervorhebt, wird eine direkte Beziehung zwischen der Entwicklung des Kapitalismus im Weltsystem und den Herrschaftsformen in Lateinamerika hergestellt. Staat und herrschende gesellschaftliche Schichten in der Dritten Welt verhalten sich entsprechend den Interessen des Kapitals. Die Form politischer Herrschaft spielt dabei nur eine Nebenrolle; Militärregime sind eine notwendige Folge der Entwicklungsdynamik des Kapitalismus im Welt-maßstab. Sie bedeuten die endgültige Erschöpfung aller anderen Regierungsformen in Lateinamerika — ausgenommen der sozialistischen. Diese Weltsystem-Perspektive, für sich bereits durchaus problematisch, wird hier für Aussagen bemüht, deren propagandistische Funktion ihren wissenschaftlichen Erklärungswert — der hier unterstellt wird — geradezu erdrückt.
Korporatistische marxistische oder neo-marxistische Erklärungsansätze orientieren sich am Klassengegensatz und an den konkreten Kräfteverhältnissen. Im Rahmen dieses Ansatzes wird das Militär als bewaffneter Arm des Bürgertums bezeichnet. Das Militär interveniert in Verteidigung besonderer Klasseninteressen zur Aufrechterhaltung bestehender, jedoch in die Krise geratener Machtverhältnisse. Die Probleme dieser Ansätze liegen zunächst in der sehr schwierigen Bestimmung unterschiedlicher Klassen in lateinamerikanischen Gesellschaften. Soziopolitische Interessen liegen in strukturell heterogenen Gesellschaften oftmals quer zu den theoretischen Klassenschemata. Die große Variationsbreite der Militärregime hinsichtlich ihrer sozialen Grundlagen und hinsichtlich ihrer besondere gesellschaftliche Gruppen begünstigenden oder benachteiligenden Politik gerät aus dem Blickfeld.
Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß die verschiedenen Erklärungsansätze allesamt Schwächen aufweisen. Sie sind entweder zu willkürlich, zu einseitig oder zu allgemein und zu wenig historisch-empirisch. 2. Zum historisch-politischen Entstehungszusammenhang Eine sorgfältige Analyse der historisch-politischen Situation in der vorautoritären Phase scheint in der Tat grundlegend für die Erklärung der Militärputsche. In Tabelle 2 wird nach einigen Variablen, welche die jeweilige historisch-politische Situation des Einzelfalls im Vergleich charakterisieren können, gefragt.
Es werden sehr unterschiedliche Kombinationen in den Ausprägungen von Variablen, d. h.sehr unterschiedliche historische Kontexte festgestellt, in denen Militärregime entstanden. Vergleicht man etwa Brasilien und Uruguay, so putschte das Militär in Brasilien gegen eine sozial-fortschrittliche Regierung, der Grad der sozialen Mobilisierung war hoch und wurde von der Regierung betrieben. In Uruguay ging der Machtübernahme durch das Militär eine konservative Erfahrung voraus. Der Grad der sozialen Mobilisierung war mittelmäßig, sie wurde von oppositionellen Kräften entfacht. Die Stadtguerilla der Tupamaros war bereits unter der zivilen Regierung, allerdings durch Einsatz der Militärs, unter Kontrolle gebracht worden. In Brasilien war der Konsolidierungsgrad des Parteiensystems und die Stabilität der Regierung niedrig, in Uruguay hingegen hoch. Nur in wenigen Hinsichten liegt Ähnlichkeit vor. Man kommt zu keinem anderen Ergebnis, wenn man für den Vergleich eine andere Länderauswahl trifft und etwa Brasilien mit Peru oder Peru mit Chile vergleicht. Die Militärregime entstehen also in sehr verschiedenen Kontexten.
Da sie aber trotz dieser Verschiedenartigkeit zu etwa gleicher Zeit entstanden sind, könnte argumentiert werden, daß eben doch gleichartige Faktoren in der Tiefenstruktur der lateinamerikanischen Gesellschaften vorliegen. Dann müßte freilich erklärt werden, warum in anderen lateinamerikanischen Ländern, für welche die gleiche Tiefenstruktur angenommen werden muß, es nicht zur Herausbildung von neuen Militärregimen gekommen ist. Damit wird man wieder auf die Erkenntnis zurückgeworfen, daß die Ursachen von Militärputschen nach Ländern unterschiedlich gelagert sind. Und die unterschiedlichen Entstehungsbedingungen ihrerseits können einen guten Teil der politischen Entwicklung dieses Regimetyps erklären, die ebenfalls nach Ländern teilweise erheblich auseinandergehen. 3. Politische Ziele und soziale Verankerung In bezug auf die von den neuen Militärregimen verfolgte Politik trifft für eine Mehrheit der Fälle zu, daß der Wirtschaft ein liberalkapitalistisches Modell verschrieben wurde. Die sehr unterschiedlichen Ausgangspositionen hinsichtlich Wirtschaftsstruktur, außenwirtschaftlicher Situation, Wirtschaftswachstum usw. und unterschiedlich starke Gegenkräfte in den verschiedenen Gesellschaften begründeten jedoch wichtige Unterschiede in der Wirtschaftspolitik. In Brasilien wurde die Rolle des Staates keineswegs abgebaut; der Staat blieb vielmehr eine der Säulen des wirtschaftlichen Wachstums. In Argentinien, Chile und Uruguay wurde die Verringerung der Staatstätigkeit in der Wirtschaft programmatisch verkündet, doch eigentlich nur in Chile ernsthaft durchzusetzen versucht, mit allerdings teilweise gegenläufigen Folgen. Zwar wurden Agrarreform und Industriereform der Vorregierungen wieder rückgängig gemacht, aber wer hätte gedacht, daß nach zwölf Jahren Entstaatlichungspolitik die Staatsbeteiligung bei den Banken und im Presse-bereich höher sein würde als zu Allendes Zeiten — eine Entwicklung, die ironisch mit „Pinochets Weg zum Sozialismus“ bezeichnet wird.
In der Regel wird eine orthodox-liberale Wirtschaftspolitik mit politischem Autoritarismus verbunden. In Peru und Ecuador übernahmen die Militärs hingegen mit einem sozialrevolutionären Programm die Macht. Die erklärte Zielgruppe der Reformpolitik war die arme Bevölkerungsmehrheit; deshalb wurden strukturelle Reformen in Landwirtschaft und Industrie durchgeführt. Die mit „innerer Sicherheit“ umrissene Zielsetzung der Militärregime wurde im allgemeinen durch den Kampf gegen die Guerilla und durch politische Repressionen verfolgt. Die Zerschlagung der Guerilla in Peru, in Uruguay und in Argentinien gelang relativ schnell; in Peru kehrte die Guerilla jedoch am Ende des Militärregimes wieder zurück.
Die Verletzung von Menschenrechten durch Folter, Verschleppung, Verschwindenlassen war in Argentinien, Chile und Uruguay am höchsten, in Brasilien für die Periode zwischen 1968 und 1974 vergleichbar hoch. In Ecuador und Peru war die politische Repression relativ niedrig. Den politischen Parteien blieb hier auch ein politischer Spielraum erhalten, zumal linke Parteien die Militärregime teilweise unterstützten. Entsprechend den politischen Orientierungen der Militärregime variierte auch ihre soziale Verankerung. Dabei zeigte sich, daß die in der vorautoritären Situation den Militärputsch tragenden geB sellschaftlichen Gruppen nicht immer zu zivilen Koalitionspartnern der Militärs wurden. Ansprechpartner der Militärs waren im übrigen nirgends politische Parteien, sondern als unpolitisch geltende technokratische Elemente in verschiedenen Bereichen der Wirtschaft, der Verwaltung, der Universitäten. Keines der Militärregime zeigte sich an einer Massenbasis interessiert. Die viel zitierte Ausnahme Peru mit SINAMOS, dem Nationalen System zur Unterstützung der Massenmobilisierung, muß als Versuch interpretiert werden, die Kontrolle der durch die Reformpolitik mobilisierten Massen herbeizuführen. 4. Zur Institutionalisierung der Militärregime In institutioneller Hinsicht lieferte Brasilien ein neues Modell. Es bezog demokratische Prozeduren in das autoritäre Herrschaftssystem ein, wie beispielsweise die periodische Ablösung der Exekutive aus dem Kreis militärischer Führungspersonen oder die Duldung einer Volksvertretung und die Abhaltung periodischer, allerdings von der Exekutive gesteuerter Wahlen. Auch durch die Verabschiedung „Institutioneller Akte“ blieb eine scheinbar verfassungskonforme Fassade aufrechterhalten. Die anderen Militärregime sind diesem Modell nur teilweise, manche gar nicht gefolgt. Gewählte parlamentarische Körperschaften wurden in keinem anderen Land bestehen gelassen. (Schein-) Legitimität wurde in Chile und in Uruguay durch Referenden einzuholen versucht, in Uruguay freilich mit einem für das Regime negativen Ausgang. Die Wählerschaft stimmte hier gegen den vom Militärregime vorgelegten Verfassungsentwurf einer autoritären Demokratie. Was den Wechsel in der Exekutive anbelangt, so war dieser in Peru, Ecuador und Argentinien entschiedener mit politischen Richtungsänderungen verbunden. In Peru wurde 1975 und in Ecuador 1976 die reformorientierte Politik aufgegeben. In Argentinien waren die häufigen Präsidenten-wechsel seit 1981 bereits Ausdruck der Agonie des Regimes. Überhaupt kein Wechsel fand in Chile statt; hier konnte General Pinochet die politische Macht auf seine Person konzentrieren. Andererseits gelang in Chile die Institutionalisierung des Regimes im Wege der Verabschiedung und sofortigen Außerkraftsetzung einer begrenzt pluralistischen Verfassung. Seither fungieren nicht demokratisch bestellte Organe unter Aufrechterhaltung der klassischen Bezeichnung dieser Institutionen aus der Gewaltenteilung, ohne daß diese gegeben ist.
Vermerkt sei noch der unterschiedliche Umfang der Besetzung politischer Ämter durch Militärs. In Chile nahmen die Militärs etwa die Hälfte der Ministerposten ein, in Argentinien und Brasilien etwa ein Drittel. Diesem Bild entspricht, daß das Militär in Chile auch eine stärkere Präsenz auf den unteren politischen Systemebenen und im gesellschaftlichen Bereich zeigt als in den anderen Ländern. 5. Zur Leistungsbilanz der Militärregime Im Ländervergleich weisen lateinamerikanische Autoren allein dem brasilianischen Militärregime wirtschaftlichen Erfolg zu. Hier wurden von Mitte der sechziger Jahre bis Anfang der siebziger Jahre hohe Wachstumsraten erzielt; in einem dynamischen Industrialisierungsprozeß konnte ein erhebliches, auch international konkurrenzfähiges Industriepotential aufgebaut werden. Als erstes der hochverschuldeten lateinamerikanischen Länder hat Brasilien Mitte der achtziger Jahre zu wirtschaftlichem Wachstum zurückgefunden, gepaart mit einem hohen Außenhandelsüberschuß. Die anderen Militärregime haben in den bislang genannten Hinsichten aus den verschiedensten Gründen eindeutig versagt.
Die Leistungsbilanz der Militärregime kann aber nicht ausschließlich anhand der selbstgesetzten Ziele erfolgen. Wirtschaftliches Wachstum allein bedeutet nicht Entwicklung. Zieht man Indikatoren sozialer Entwicklung hinzu, relativiert sich nicht nur das Bild — die vorgelegten Erfolgsbilanzen (für Brasilien oder etwa auch für Chile zu Beginn der achtziger Jahre) erweisen sich als trügerisch. Das wirtschaftliche Wachstum wurde von Konzentrationsprozessen in der Einkommensverteilung und von der Zunahme absoluter Verarmung begleitet, weshalb in der Literatur von „Verelendungswachstum“ gesprochen wird. Direkt den Militärregimen politisch zurechnungsfähig ist der Wandel der Ausgabenstruktur der öffentlichen Haushalte zugunsten der inneren Sicherheit (Ausgaben für das Militär, die Polizei und den Repressionsapparat) und zu Lasten der Sozialausgaben.
Nun muß natürlich gesehen werden, daß die demokratischen Systeme in. Lateinamerika zur gleichen Zeit kaum bessere Ergebnisse im wirtschaftlichen und sozialen Bereich aufzuweisen haben: „No type of regime proved it could meet all the requirements of promoting development.“ In der Tendenz haben demokratische Systeme etwas weniger wirtschaftliches Wachstum und etwas mehr Verteilungsgerechtigkeit erzielt. Seit der Weltwirtschaftskrise Mitte der siebziger Jahre neigen demokratische Systeme zudem dazu, ähnliche wirtschaftspolitische Rezepte anzuwenden wie die Militärregime. Erzwungen wird diese Politik durch die Leitlinien der Sanierungsprogramme, die der Internationale Währungsfonds als Voraussetzung für die Gewährung weiterer Kredite verordnet. Es beinhaltet drakonische Maßnahmen: Kürzungen der öffentlichen Ausgaben, Erhöhung der Steuern, Liberalisie-rung des Außenhandels, Lohnerhöhungen unterhalb der jeweiligen Inflationsrate — also überwiegend unpopuläre Maßnahmen mit unmittelbaren Folgen für die Masse der Bevölkerung.
Die Verschuldungskrise in Lateinamerika seit Anfang der achtziger Jahre — bedingt durch die erneuten Erdölpreissteigerungen 1979/80, den Verfall der Weltmarktpreise für Rohstoffe und durch die US-amerikanische Hochzinspolitik, aber auch durch die wirtschaftspolitische Unvernunft in den lateinamerikanischen Ländern — hat den wirtschaftspolitischen Spielraum und die wirtschaftlichen Erfolgsmöglichkeiten jedweden politischen Regimes erheblich begrenzt.
IV. Redemokratisierung
1. Zur Ursachenanalyse der Redemokratisierung Die Redemokratisierung als Teilaspekt eines Regimewechsels hat der Struktur nach ähnliche Erklärungsmuster hervorgebracht wie die militärische Einflußnahme auf die Politik. So kann hier ebenfalls zwischen Theorien auf der Grundlage interner und externer Faktoren, zwischen modernisierungstheoretischen und dependenztheoretischen Erklärungsmustern unterschieden werden. Insgesamt scheinen die Übergänge jedoch fließender, eindeutige Zuordnungen von Argumentationen zu den Theoriesträngen schwieriger. Politikwissenschaftlich von Bedeutung ist nun, daß Regimewechsel in Richtung Demokratisierung zugleich kritische Tests für Erklärungen des Regimewechsels in die autoritäre Richtung abgeben. So ist zweierlei zu vermerken: Erstens haben Erklärungsmodelle großer theoretischer Reichweite — das modernisierungstheoretische und das marxistische Entwicklungsmodell — noch mehr an Überzeugungskraft eingebüßt. Fernando H. Cardoso spricht hier vom „gleichzeitigen Zusammenbruch der großen Paradigmen politischen Wandels“ Zweitens haben strukturelle Faktoren an Bedeutung für die Erklärung von Regimewechseln verloren, da offensichtlich unter ähnlichen strukturellen Bedingungen unterschiedliche politische Herrschaftsformen vorzufinden sind und mit Wechseln sowohl in die eine als auch in die andere Richtung vereinbar sind.
Der verstärkte Vorbehalt gegenüber strukturellen Erklärungsvariablen betrifft vor allem die Annahme ökonomischer Determiniertheit spezifischer politischer Herrschaftsformen durch bestimmte Akkumulationszwänge des Kapitals — eine Annahme, der man sowohl in marxistischen als auch in modernisierungstheoretischen Studien begegnet. Schließlich sei noch das Scheitern von (allzu voluntaristischen) linken Theorien vermerkt, die als Alternative zu den Militärregimen einzig und allein die soziale Revolution und den Sozialismus für möglich hielten.
Die Schwierigkeiten einer übergreifenden Theoriebildung zum Regimewechsel resultiert vor allem aus der funktionalen Ambivalenz der als Ursache angesprochenen Faktoren. So beziehen Militärregime ihre Legitimität besonders aus dem wirtschaftlichen Erfolg. Bekannt ist aber, daß wirtschaftlicher Erfolg und damit verbundener gesellschaftlicher Wandel die (ohnehin meist nur passive) Anerkennung des autoritären Regimes durch die Bevölkerung ebenso untergraben kann wie wirtschaftlicher Mißerfolg. Die Variable „wirtschaftliche Entwicklung“ kann demnach in ihren extremen Ausprägungen ein-und dasselbe Ergebnis, nämlich Destabilisierung autoritärer Herrschaft verursachen. Andererseits zwingen gleiche Ausprägungen von Variablen, die oben festgestellt wurden (etwa vertiefte Industrialisierung), nicht zu gleichen politischen Herrschaftsformen. Im Zusammenhang dieser Überlegungen wird das modernisierungstheoretische Argument wieder gewogen werden müssen, ob nicht gesellschaftlicher Wandel durch Industrialisierung pluralistische politische Systeme nach sich zieht (für eine erneute Debatte scheint sich zumindest der Fall Brasilien anzubieten). Vielleicht gewinnt auch wieder die evolutionistische Sichtweise an Boden, daß es sich möglicherweise bei autoritären Regimen um in der Entwicklung begriffene pluralistische Systeme handelt.
Mit der Ausnahme Brasilien kann jedoch für die betrachteten Militärregime nur von wirtschaftlichem Mißerfolg die Rede sein. Alles andere wäre Beschönigung. Unter den bestehenden ökonomischen Leistungsschwächen und angesichts der gegenwärtigen weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen sind wirtschaftliche Erfolge nur schwerlich zu erringen. Die Durchsetzung von Stabilisierungsmaßnahmen entsprechend den Auflagen des Internationalen Währungsfonds (IWF) erfordert entweder mehr Repression oder mehr Konsens. Das Kostenkalkül spricht hier tendenziell für eine kompromißorientierte und gegen die autoritäre Lösung. Wie Philippe C. Schmitter zu Recht betont, wird man solche Rationalitätskalküle politischer Akteure in der Wahl der politischen Herrschaftsform stärker als bisher und mehr als strukturelle Faktoren zu berücksichtigen haben
Mangelnder wirtschaftlicher Erfolg ist sicherlich ein wichtiger, aber kein hinreichender Grund für den Rückzug der Militärs aus der Macht. Er kann nämlich ausgeglichen werden etwa durch die Erinnerung an eine als extrem negativ perzipierte vorautoritäre Phase oder durch Erfolge in anderen Bereichen, wie ihn etwa die argentinischen Militärs im von ihnen entfachten militäri» sehen Konflikt mit Großbritannien um die Falkland/Malvinas-Inseln anstrebten. Notwendig scheint darüber hinaus, daß sich wirtschaftlicher Mißerfolg in den Beziehungen der Militärs zu den sie tragenden gesellschaftlichen Gruppen und/oder in der Institution selbst negativ niederschlägt. Die wirtschaftliche Krise entwickelt sich dann zur Regimekrise, wenn vor allem die vom Regime begünstigten Gruppen enttäuscht werden und die Kosten der Militärregime (Einschränkungen der politischen Freiheiten, Menschenrechtsverletzungen, internationale Verurteilung/Isolation des Landes etc.) stärker zu Buche schlagen. In reformorientierten Militärregimen kommt der Widerstand der gesellschaftlichen Gruppen hinzu, deren Privilegien beschnitten werden sollen und deren Gegenwehr den Erfolg des Regimes — gemessen an den selbst gesetzten Zielen — gefährdet. Wirtschaftlicher Mißerfolg und Einwirken gesellschaftlicher Kräfte auf das Militär können dann die Einheit der Streitkräfte als Institution untergraben und damit den vielleicht wichtigsten internen Grund für den Rückzug des Militärs aus der Macht hervorbringen. Freilich kann die Einheit der Streitkräfte auch aufgrund interner politischer Differenzen, aufgrund von Korruption und anderer Gründe gefährdet werden.
Auch dieser Erklärungsfaktor weist eine funktionale Ambivalenz auf: Die gefährdete Einheit der Streitkräfte kann sowohl die Intervention des Militärs in die Politik als auch den Rückzug aus ihr mitbegründen. Chile kann als Beispiel für die erstgenannte Variante gelten, Peru, Ecuador und Argentinien sind Beispiele für die letztgenannte Variante. In Peru und Ecuador steht die Gefährdung der Einheit der Streitkräfte durch die Reformpolitik und die von ihr ausgelösten gesellschaftlichen Konflikte in einem ursächlichen Zusammenhang der politischen Richtungsänderungen von 1975 bzw. 1976 und der Ankündigung der Militärs, den Zivilisten in einem überschaubaren Zeitraum wieder die Regierungsgewalt zu übergeben. Argentinien kann als Fall verspäteter Machtübergabe gelten mit der Folge, daß hier das Militär nicht nur die politische Macht, sondern auch (zumindest mittelfristig) seine Stellung als wichtiger Machtfaktor einbüßte.
Bislang wurden hier nur interne Ursachen von Redemokratisierung erwogen. Extern ist beispielsweise das Argument, daß der Abbau der US-amerikanischen Unterstützung für Militärregime eine Destabilisierung der Regime im Innern zur Folge hat. Jimmy Carters Menschenrechtspolitik wird so als ein destabilisierender Faktor begriffen. Anders gewendet ist diese Argumentation auch präsent in Überlegungen, in welchen die Chance für eine Redemokratisierung von der Haltung der USA abhängig gemacht wird, wie es im Falle Chiles geschieht und in der Form sichtbar wird, daß demokratische Regierungen Lateinamerikas in den bilateralen Beziehungen mit den USA das Thema der Redemokratisierung Chiles zu erörtern suchen, so etwa der argentinische Präsident Alfonsin bei seinen Gesprächen in Washington. Neben den politischen wird vor allem erneut auf die ökonomischen externen Faktoren, die weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen, abgehoben. Doch ist die Variable „Weltwirtschaft“ wenig spezifisch und erneut funktional ambivalent, so daß nur die konkrete Länder-analyse Aufschluß über ihre mögliche Bedeutung im Einzelfall liefern kann. 2. Verlaufsformen der Redemokratisierung Der Übergang vom autoritären Regime zur Demokratie folgt keinem einheitlichen Modell, wie sehr auch die europäischen Erfahrungen in Griechenland, Portugal und zumal Spanien in Wissenschaft und Politik diskutiert wurden. In Ecuador und Peru wurden neue Verfassungen ausgearbeitet, in Peru das Werk einer verfassunggebenden Versammlung, in Ecuador in einem Referendum von der Wahlbevölkerung angenommen. In Uruguay und Argentinien wurden die vorautoritären Verfassungen wieder in Kraft gesetzt. In Brasilien wuchs die Demokratie aus der Legalität des autoritären Regimes hervor — darin am ehesten dem spanischen Fall ähnlich. Überall versuchten die Militärs, Einfluß auf den politischen Prozeß zu behalten, sei es in Form der Verankerung spezieller Vorrechte der Streitkräfte in der Verfassung, sei es durch Einflußnahme auf die Wahlen oder sei es in dem Versuch, die gerichtliche Aufarbeitung des politischen Autoritarismus zu verhindern. Aufgrund des außerordentlichen Prestigeverlusts der argentinischen Militärs verloren diese fast jedweden Einfluß auf den Redemokratisierungsprozeß. In Ecuador und in Uruguay vereitelten die Streitkräfte die Kandidatur ihnen politisch mißliebiger Kandidaten und nahmen insofern Einfluß auf den Wahlausgang der ersten nachautoritären Wahlen. Hier mußten die demokratischen Kräfte Konzessionen machen. Die weitestgehenden Konzessionen der politischen Opposition waren in Brasilien erforderlich — Folge des spezifischen, gradualistischen Übergangs vom Militärregime zur Demokratie im Rahmen des von den Militärs etablierten Institutionensystems. Hier gelang es der politischen Opposition, in Wahlen die Mehrheit zu erringen und das bereits 1973 angekündigte Projekt einer vom Staat kontrollierten Liberalisierung auszuhöhlen und in eine wirkliche Demokratisierung umzuwandeln. Die noch bestehende Macht retardierender Kräfte zeigte sich, als die vom Volk in Massendemonstrationen geforderte direkte Wahl des Präsidenten verhindert wurde. Erst die nächsten Präsidentschaftswahlen sollen direkt sein. Das 1986 zu wählende Parlament soll die Funktion einer verfassunggebenden Versammlung erhalten. Überall wurde ein Präsidialsystem eingeführt bzw. an diesen in Lateinamerika traditionellen Verfassungstyp wieder angeknüpft. In Brasilien freilich zeichnen sich Tendenzen ab, es mit dem parlamentarischen System zu versuchen, und in Chile ist immerhin eine Diskussion über die Vorzüge und Nachteile der beiden Verfassungstypen in Gang gekommen. 3. Postautoritäre Parteiensysteme: Konstanz und Wandel Die ersten nachautoritären Wahlen haben in den betrachteten Ländern hier große Konstanz, dort beachtlichen Wandel zu den vorautoritären politischen Kräfteverhältnissen gebracht. Es ist schon frappierend, wenn in Peru der 1968 von den Militärs gestürzte Präsident Fernando Belaünde Terry die Wahlen von 1980 mit fast dem gleichen Stimmenanteil gewann wie die von 1963. Ähnliches läßt sich auch für Uruguay beobachten, freilich hier im Kontext eines viel gefestigteren Parteiensystems, so daß es im gesamten Parteien-spektrum nur zu leichten Verschiebungen in den Stimmenanteilen zwischen 1971 und 1984 kam. Die Colorados siegten mit 41, 2 bzw. 41, 0% der Stimmen. Die autoritäre Erfahrung wird im Wahlverhalten nicht sichtbar.
Gänzlich anders dagegen der argentinische Fall. Zum ersten Mal gelang es der Union Civica Radical,die Peronisten in Wahlen zu besiegen und damit der Demokratie in Argentinien eine Bresche zu schlagen. Die zweiten Wahlen in Ecuador und Peru erbrachten einen Wechsel in der Regierungsausübung, wobei der Sieg der APRA besonders bemerkenswert insofern ist, als diese historische Partei von den Militärs zum ersten Mal nicht daran gehindert wurde, die Regierung zu übernehmen. Wenn sich insgesamt ein Trend abzeichnet, dann der zugunsten von Parteien, die man im lateinamerikanischen Verständnis als sozialdemokratisch bezeichnen kann.
V. Chile — Nachzügler oder abweichender Fall?
Im allgemeinen Redemokratisierungstrend in Lateinamerika seit Ende der siebziger Jahre scheint Chile einen Sonderfall zu bilden. Die ökonomisch bedingte Krise des Militärregimes von 1983 verdichtete sich hier nicht zu einer demokratischen Öffnung und Redemokratisierung.
Dies läßt die grundsätzliche Frage stellen, ob es sich bei Chile um einen Nachzügler handelt oder um einen abweichenden Fall 1. Zwei Thesen zur Erklärung des Sonderfalls Für das zeitliche Zurückbleiben oder das mögliche Nichteintreten eines grundsätzlichen Regime-wandels in Chile gibt es eine Reihe von erklärenden Faktoren. Sie liegen primär auf der politischen Ebene. Im folgenden seien zunächst zwei Hauptthesen formuliert, die für die Ursachen-analyse wegweisend sind und auch eine die einzelnen Befunde verknüpfende Funktion haben: a) Die politische Entwicklung in Chile ist nach wie vor in außerordentlich hohem Maße geprägt von der historischen Erfahrung des Zusammenbruchs der Demokratie, von der Erinnerung an Inhalte und Formen des politischen Konfliktaustrags vor dem Militärputsch.
b) Das Militärregime hat sich in einer Weise institutionalisiert und die politische Macht konzentriert, daß politische Alternativen zu den vom Regime selbst gesetzten Entwicklungslinien sich nur schwer durchsetzen können. 2. Die Vorbelastungen aus der vorautoritären Phase Die erste These verweist auf die Notwendigkeit, die vorautoritäre Phase zu studieren, wobei die wichtigere Fragestellung nicht die ist, wie es denn wirklich unter der Regierung der Volkseinheit gewesen ist, was die Gründe des Scheiterns des sozialistischen Experiments waren etc., sondern wie diese Epoche chilenischer Geschichte im ge-sellschaftlichen und politischen Bewußtsein der Chilenen heute verarbeitet worden ist. Und da läßt sich nur feststellen, daß die Zeit der Allende-Regierung für die Mehrheit der Chilenen — insbesondere für die politisch wichtigen Mittel-schichten in Chile — traumatische Erinnerungen hinterlassen hat. In der Bewertung der Demokratie als Herrschaftsordnung hat das in Chile bei den besonders politikfähigen gesellschaftlichen Gruppen zu einer Ja-aber-Mentalität geführt. Etwas salopp gesagt: Demokratie ja, aber bitte nicht wieder die Verhältnisse von vor 1973. Selbst die ständigen Verletzungen der Menschenrechte durch das Militärregime haben diese Grundhaltung nur aufweichen, nicht jedoch aufheben können, was der Herrschaftssicherung der Militärs natürlich ausgesprochen nützlich ist. Die damalige Bedrohung der bestehenden Besitzverhältnisse, die Versorgungsschwierigkeiten der städtischen Bevölkerung mit Konsumgütern des täglichen Bedarfs, die Rechtsunsicherheit, die extreme politische Mobilisierung und Polarisierung haben tiefe Spuren im politischen Bewußtsein der besonders politikfähigen gesellschaftlichen Kräfte in Chile hinterlassen.
Ein weiterer, oft vernachlässigter Faktor aus der vorautoritären Phase ist, daß das Militär nicht selbst an die Macht gedrängt hat, sondern an die Macht gedrängt wurde. Die jüngst erschienenen Memoiren des ehemaligen Innenministers von Allende und seinerzeitigen kommandierenden Generals der chilenischen Streitkräfte, des Generals Prats — der später von Häschern des Militärregimes in Buenos Aires ermordet wurde —, enthalten neuerliche Belege für diese These Die Militärs intervenierten, als das demokratische System im Sinne friedlicher Konfliktregelungen, im Sinne politischer Kompromisse unter Wahrung der verfassungsmäßigen Ordnung praktisch erschöpft war. Dieser Sachverhalt ist ein Kernstück des Legitimationszusammenhangs militärischer Herrschaftsausübung, wie er nicht nur von führenden Militärs, sondern auch von gesellschaftlich relevanten Gruppen gesehen wird und eingeht in das missionarische Selbstverständnis der Militärs an der Macht: Chiles Dekadenz zu überwinden und das Land mit einer neuen, stabilen, in ihrem Verständnis „demokratischen Ordnung“ zu versehen. Redemokratisierung in Chile ist somit historisch vorbelastet. Ein einfaches Anknüpfen an vorautoritäre Verhältnisse, verbunden mit einer Sehnsucht nach der verlorengegangenen Demokratie wie im Falle Uruguay, ist somit ausgeschlossen. Das ist einer der Gründe, weshalb es die demokratische Opposition zum Militärregime schwerer hat als andernorts: Sie muß eine Alternative nicht nur zum Militärregime, sondern auch zur vorautoritären Zeit anbieten. Indem sie darin nur langsam vorankommt, hält sie die historische Begründung militärischer Besetzung der Politik in Chile durch die an die Macht gedrängten Streitkräfte mit aufrecht. 3. Die Entwicklung des Militärregimes Die zweite These hebt ab auf die autoritäre Phase selbst. Dabei müssen zwei Ebenen oder Bereiche unterschieden werden: die Regimeebene und die Ebene der Regimegegner.
Auf der Regimeebene ist zunächst die starke Zentralisierung und Personalisierung der Macht ein Merkmal der chilenischen Situation, wie man sie so in keinem anderen der neuen Militärregime Lateinamerikas findet. Man wird sogar die Frage stellen müssen, ob Chile noch zum Typ neuer Militärregime in Lateinamerika zu rechnen ist. Diese zeichnen sich ja u. a. dadurch aus, daß das Militär als Institution die Regierungsgewalt übernimmt. Ein charakteristisches Merkmal dafür ist der periodische Wechsel von militärischem Führungspersonal in politischen Führungsämtern. Dieser Wechsel ist nicht als rein formal zu betrachten, sondern bringt unterschiedliche, dem Wandel unterworfene Kräftekonstellationen innerhalb des Militärs und informelle Koalitionen des Militärs mit unterschiedlichen zivilen gesellschaftlichen Sektoren zum Ausdruck.
In Chile wurde die ursprünglich ins Auge gefaßte Rotation im Vorsitz der Junta unter den Junta-Mitgliedern nicht durchgeführt. General Pinochet beanspruchte als Oberkommandierender der Streitkräfte, mehr jedoch noch als Chef der wichtigsten Waffengattung, des Heeres, die dauerhafte Führung der Junta und setzte sie machtpolitisch durch. Pinochet errichtete eine auf das Militär gestützte Diktatur, deren Herrschaftstechniken von denen der neuen Militärregime grundlegend verschieden sind. In Chile ist das Militär ebenso wie die zivile Gesellschaft der Kontrolle und Repression durch die politische Führung unterworfen, die zugleich die Spitze der militärischen Hierarchie bildet. Pinochet gab also nicht — wie im Falle der neuen Militärregime die in politische Führungspositionen gewählten Generale — den militärischen Kommandoposten auf. Vielmehr benutzt er beide Positionen wechselseitig zur Sicherung seiner persönlichen Herrschaft. Die Politik der Kontrolle gegenüber seiner eigentlichen Machtbasis, durch den militärischen Geheimdienst vollzogen, ergänzt Pinochet geschickt durch eine Politik unmittelbarer Loyalitätsbeziehungen zur Truppe und den unteren befehlshabenden Kommandeuren, während er diese für höherrangige Militärs durch ständige Rotation in den Kommandopositionen zu unterbinden versteht. So erscheint das Militär nach außen als ein Block. Abnutzungserscheinungen in Form wachsender Differenzen zwischen einzelnen militärischen Führern oder Flügeln werden nicht sichtbar. Damit zeigt sich auch keine politische Alternative im Militär zu der von Pinochet verkörperten Politik. Es bieten sich folglich auch wenig Ansatzpunkte für die politische Opposition, innerhalb des Militärs Gesprächs-oder gar Aktionspartner für eine Strategie des politischen Wandels zu gewinnen.
Der zweite Aspekt, der auf der Regimeebene hervorgehoben werden soll, besteht in dem regime-spezifisch eigenen „Redemokratisierungsprojekt“. Nach anfänglich geringer Institutionalisierung des Militärregimes begann Pinochet gegen Ende der siebziger Jahre — im Kontext von Carters Menschenrechtspolitik und einer sich positiv wendenden wirtschaftlichen Entwicklung —, eine Verfassung auszuarbeiten, deren endgültiger Text im September 1980 einem Referendum unterworfen wurde. Zwar genügte das Referendum liberal-demokratischen Ansprüchen nicht, da der Opposition nur ein begrenzter Spielraum gewährt wurde. Letztendlich zählt jedoch, daß Pinochet die plebiszitäre Annahme der Verfassung erreichte. Wenn auch die Legitimität der neuen Verfassung von der demokratischen Opposition in Chile bestritten wird, so gelang dem chilenischen Militärregime mit der Verfassung von 1981 ein Vorgriff auf die postautoritäre Zeit, für den es in den anderen, inzwischen redemokratisierten Ländern Lateinamerikas kein Beispiel gibt. Denn die Verfassung, die die politische Macht stark beim Präsidenten lokalisiert und nur einen begrenzten politischen Pluralismus erlaubt — marxistische Parteien bleiben ausgeschlossen —, wurde sofort auf der Basis von Übergangsbestimmungen, die Teil der im März 1981 formal in Kraft getretenen Verfassung sind, bis 1989 suspendiert. Somit änderte sich an der autoritären Herrschaftspraxis nichts, doch zugleich zeigte sich das Regime zeitlich begrenzt und bemüht, die weiteren institutionellen Voraussetzungen für den Übergang zu jener „geschützten“ oder autoritären Demokratie nach der Verfassung von 1981 zu schaffen, etwa in Form der Verabschiedung eines Parteiengesetzes und eines Wahlgesetzes. Es hält damit selbst — konkurrierend mit den Verfassungsplänen der politischen Opposition — die Redemokratisierung in der politischen Debatte, ja, es kann in der veröffentlichten Meinung infolge der Pressezensur dieses Thema fast ausschließlich für sich besetzen.
Nun zur Ebene der Regimegegner: Sie ist insofern wichtig, als mit Recht behauptet werden kann, daß die Wahrscheinlichkeit eines Regimewechsels auch von der politischen Fähigkeit der Oppositionsgruppen abhängt, bessere Alternativlösungen anzubieten. Diese Fähigkeit zu entwikkeln, wird den Oppositionsgruppen unter Militärregimen durch Parteienverbot, Einschränkung der Koalitionsfreiheit, Pressezensur, Depolitisierung, Repression und politische Verfolgung erschwert. In Chile kommt aber ein weiteres hinzu: Aufgrund der extremen ideologischen Polarisierung der politischen Parteien unter der Allende-Regierung war an eine gemeinsame Strategie der Oppositionsparteien gegen das Militärregime zunächst überhaupt nicht zu denken. Und es dauerte fast zehn Jahre, bis sich die Oppositionsparteien zum Militärregime vom bisherigen Hauptthema — der Aufarbeitung der drei Jahre Allen-de-Regierung — abwandten und ernsthaft damit begannen, eine Alternative gegenüber dem Pinochet-Regime aufzubauen.
Doch ist die Opposition in vielerlei Hinsicht noch weit davon entfernt, das Pinochet-Regime herausfordern zu können. Sie ist noch zu wenig handlungsfähig aufgrund eigener Schwäche und nicht nur aufgrund des Drucks des Regimes. Die Sozialisten — die Partei Allendes — sind in viele Fraktionen zersplittert; die Christdemokraten waren in den vergangenen Jahren in interne Kämpfe um die Führung der Partei verstrickt; die Kommunisten sind so eindeutig auf Moskau-Kurs, daß sie bündnispolitisch ausfallen, zumal seitdem sie sich für den gewaltsamen Kampf gegen Pinochet ausgesprochen haben. Seither binden die Auseinandersetzungen um die richtige Strategie gegen das Pinochet-Regime soviel Kraft, daß kaum noch welche für die politische Auseinandersetzung mit dem Regime übrig bleibt.
Diese innere Verfassung der Opposition zum Militärregime kontrastiert stark zu Art und Umfang der ihr historisch zugewachsenen Aufgabe. Sie besteht ja nicht nur darin, eine effiziente Alternative zum Pinochet-Regime zu entwickeln. Diese Alternative muß, wie schon festgestellt wurde, verschieden sein von der vorautoritären Situation, und sie steht in Konkurrenz mit dem regimeeigenen „Redemokratisierungsprojekt", das bereits verfassungsmäßigen Rang hat — wie umstritten die Legitimität der Verfassung von 1981 auch ist.
VI. Regimewechsel und Stabilitätsprobleme politischer Herrschaft
Die politische Entwicklung in Lateinamerika sollte man sich realistischerweise nicht eindimensional und linear vorstellen, weder zielgerichtet auf die Verwirklichung der westlichen Demokratie entsprechend dem modernisierungstheoretischen Paradigma, noch zielgerichtet auf eine sozialistische Gesellschaftsordnung entsprechend marxistischem Denken. Angesichts der Latenz autoritärer und/oder gesellschaftlich rückschrittlicher Entwicklungen und manifester Wechsel in der Vergangenheit ist es wohl angebracht, von einem mehrdimensionalen und zirkulären Modell auszugehen, das der historisch offenen Situation, d. h.der konkreten Entwicklungsmöglichkeit in die eine oder andere Richtung, besser gerecht zu werden vermag. Jedenfalls sprechen die empirischen Befunde mehr für ein kreislauf-förmiges Modell in Anlehnung an die klassische Staatsformenlehre — wie bedrückend auch immer diese Feststellung ist, bedenkt man die humanen Kosten politischer Instabilität und kontinuierlicher Regimewechsel, wie sie gerade in Argentinien durch die gerichtliche Aufarbeitung der dunkelsten Epoche argentinischer Geschichte zutage treten.
Einer solchen historisch offenen Perspektive unterliegt die politische Systemfrage auch in den jüngst redemokratisierten Ländern Lateinameri15 kas. Mit anderen Worten: Die Stabilität der Demokratien ist fraglich, ja stets im Keime bedroht. Allein Uruguay hat eine lange demokratische Tradition. In den anderen Ländern hingegen besitzt das Militär Putschtradition. Auch nach der Machtübergabe bleiben die Streitkräfte ein Machtfaktor ersten Ranges, wenn man so will: eine mit dem Monopol an modernstem Waffen-gerät ausgestattete Partei im Kampf um die Macht. Ein erster Instabilitätsfaktor sind folglich die Streitkräfte.
Ein zweiter Instabilitätsfaktor sind die enormen wirtschaftlichen Probleme und die unter den Militärregimen aufgestauten und verschärften sozialen Spannungen, die aus der Bereicherung Weniger und der Verarmung Vieler resultieren. Die Streitkräfte ziehen sich ja u. a.deshalb aus den politischen Führungsämtern zurück, weil zur Überwindung der wirtschaftlichen Krise ein breiterer Konsens der Bevölkerung erforderlich ist, als ihn die Militärs erzielen können.
Wie erfolgreich aber können die demokratischen Regierungen sein angesichts einer hohen Auslandsverschuldung, sich verschlechternden Weltmarktbedingungen und steigender Erwartungen der Bevölkerung auf Einkommensverbesserungen, Beschäftigung und soziale Leistungen?
Ein dritter Instabilitätsfaktor ist struktureller Natur: Die Entwicklungsprobleme sind ja nicht nur Wachstumsprobleme, sondern auch Probleme der Umverteilung. Von den armen Massen wird Entwicklung sogar hauptsächlich als Problem sozialer Partizipation gesehen. Demokratische politische Systeme eröffnen den Unterprivilegierten — wenn sie sich zu organisieren wissen — Möglichkeiten der Einflußnahme auf die politischen Entscheidungen. Je mehr sie durch sozialrevolutionäre Parteien mobilisiert werden können, je mehr mit den Reformen ihre Erwartungen steigen, desto näher gerät das demokratische System allerdings an einen toten Punkt: Es stellt sich erneut die Machtfrage. Der Wechsel des Regimes ist dann meistens nur noch eine Frage der Zeit.
Der notwendigen Weiterentwicklung der liberalen Demokratie zur sozialen Demokratie — notwendig als entscheidende Voraussetzung ihrer Stabilisierung — stehen die gesellschaftlichen Machtverhältnisse in Lateinamerika entgegen. So ist die liberale Demokratie von zwei Seiten bedroht: von Seiten derjenigen, die grundlegende strukturelle Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft fordern und sie im Rahmen der formalen Demokratie nicht zu erreichen können glauben, und von Seiten derjenigen, die ihre gesellschaftlich privilegierte Position nicht aufgeben wollen. Angesichts dieses Dilemmas spricht vieles für die These, daß der Wechsel zwischen Militärregimen und demokratischen Herrschaftssystemen für die gesellschaftlich privilegierten Gruppen nur einem Wechsel zwischen zwei gleichermaßen mehr oder weniger akzeptierten politischen Formen entspricht — wobei sich die Bewertung im Einzelfall nach der tatsächlichen oder perzipierten Bedrohung des eigenen gesellschaftlichen Status quo durch sozialrevolutionäre Kräfte bemißt.
Dieter Nohlen, Dr. phil., geb. 1939; Professor für Politische Wissenschaft an der Universität Heidelberg Veröffentlichungen u. a.: Spanischer Parlamentarismus im 19. Jahrhundert (1970); Chile — Das sozialistische Experiment (1973); Wahlsysteme der Welt (1978), Wahlrecht und Parteiensystem (1986); Herausgeber von Pipers Wörterbuch zur Politik (6 Bände, 1983-86), des Lexikons Dritte Welt (19842) und Mitherausgeber des Handbuchs der Dritten Welt (8 Bände, 1982/83 2).
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