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Sowjetische und amerikanische Feindbilder | APuZ 5/1986 | bpb.de

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APuZ 5/1986 Der Stand der amerikanisch-sowjetischen Beziehungen Sowjetisch-amerikanische Beziehungen unter Gorbatschow Sowjetische und amerikanische Feindbilder Ost-West-Konflikt, Krisenbewußtsein und Protestbewegung in Westeuropa

Sowjetische und amerikanische Feindbilder

Daniel Frei

/ 26 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der Ost-West-Gegensatz ist auch ein Gegensatz zwischen unterschiedlichen Sehweisen. Jede Seite nimmt die Gegenseite in einer bestimmten Art und Weise wahr und unterstellt ihr bestimmte Absichten. Vielleicht geht es im Ost-West-Konflikt deshalb gar nicht so sehr um die Zahl der Raketen und Gefechtsköpfe, sondern wichtiger als diese sind die Köpfe der Menschen und die in ihnen steckenden „Feindbilder“. Allerdings entspringen derartige „Feindbilder“ nicht einfach Mißverständnissen, die sich durch etwas guten Willen überwinden ließen, wie dies einzelne Vertreter der Friedenspädagogik glauben. Denn grundsätzliche Interessengegensätze scheiden die sowjetische und die amerikanische Führung voneinander, und diese unvereinbaren Interessen wurzeln ihrerseits in unterschiedlichen Wertstrukturen, die letztlich tief im Wesen der jeweiligen Gesellschafts-und Regierungsform verankert sind. Es ist dieser Wertkonflikt, der die auf Feindseligkeit gestimmten Bilder von der Gegenseite erzeugt, und nicht umgekehrt. Das sowjetische Amerikabild und das amerikanische UdSSR-Bild werden ausführlich dargestellt, auf die ihnen zugrunde liegenden Weltbilder hin untersucht und auch in ihren Folgen für Rüstung und Abrüstung analysiert. Diese Analyse legt den Schluß nahe, daß es sich bei den Gegnerbildem um sehr dauerhafte Überzeugungen handelt. Daher dürften sich die daraus entspringenden Wahrnehmungen nicht ohne weiteres verändern lassen. Das Beste, was man erhoffen kann, ist ein Mehr an gegenseitiger Empathie, d. h. an der Fähigkeit, die Welt und sich selbst auch aus der Sicht des Gegners zu verstehen. Verständigung setzt Verständnis voraus. Das Genfer Treffen zwischen Präsident Reagan und Generalsekretär Gorbatschow leistete einen Beitrag dazu. Offenbar kamen die beiden Führer mit der ausdrücklichen Absicht nach Genf, der Gegenseite ihre Sicht der Dinge darzulegen — nicht mehr, aber auch nicht weniger. Keine Seite machte sich Illusionen über die Veränderbarkeit der gegnerischen Ansichten. Aber immerhin schafft das bessere Verständnis der gegnerischen Positionen ein gewisses Element der Stabilisierung und damit vielleicht auch eine Grundlage für einen Modus vivendi.

Der Ost-West-Gegensatz ist — wie alle Gegensätze in der internationalen Politik — auch und zu einem wesentlichen Teil ein Gegensatz zwischen unterschiedlichen Sehweisen oder Perspektiven. Eine Betrachtung eines internationalen Problems wäre unvollständig ohne Einbezug dieses kognitiven Aspekts, d. h.des Aspekts der gegenseitigen Wahrnehmungen; denn jede außen-politische Entscheidung, die sich auf das Gegenüber bezieht, beruht auf bestimmten Annahmen über das künftige Verhalten dieser Gegenseite. Diese Annahmen fußen ihrerseits auf Annahmen über die gegnerischen Ziele und Motive, die Fähigkeiten und die Absichten des Gegners. Was immer eine Regierung in einer bestimmten Lage beschließt, hängt folglich ab von der Art und Weise, wie sie diese Lage wahrnimmt. Noch allgemeiner ausgedrückt: Verhalten wird offenbar weitgehend bestimmt durch die Wahrnehmung — wie man den Gegner wahmimmt, so handelt man ihm gegenüber.

So geht es im Konflikt zwischen Ost und West letztlich nicht um die Zahl der Raketen, der nuklearen Gefechtsköpfe, der Reichweiten, der Panzer und um die Truppenbestände. Dergleichen steht zwar stets im Vordergrund und beschäftigt die verantwortlichen Politiker und Be-Dieser

Beitragfußt aufder im Auftrag des Instituts der Vereinten Nationen für Abrüstungsforschung (UNIDIR) vetfaßten Studie „Assumptions and Perceptions in Disarmament“, verlegt bei United Nations Publications, New York 1984, die auch alle Belege detailliert nachweist. Eine deutsche Kurzfassung ist als Taschenbuch unter dem Titel „Feindbilder und Abrüstung“, München 1985, erschienen. Beide Veröffentlichungen enthalten umfassende Quellen-und Literaturangaben, auf deren Wiedergabe hier verzichtet wird.

amten nicht weniger als die alarmierte Öffentlichkeit. Aber hinter den Waffen stehen Menschen mit ihren Erwartungen, mit ihrem Mißtrauen und vor allem mit den Bildern, die sie sich von der Gegenseite machen. Wichtiger als die Gefechtsköpfe sind die Köpfe der Politiker.

Das friedliche oder feindselige Nebeneinander zweier Staaten ergibt sich keineswegs nur aus dem Stand ihrer Rüstung; das gerüstete Nebeneinander Deutschlands und Frankreichs stellt heute ebensowenig ein politisches Problem dar wie dasjenige der bewaffneten Kleinstaaten Österreich und Schweiz. Erst die Erwartung feindseliger Absichten macht ein solches Nebeneinander zur Gegnerschaft. Je nachdem, ob man den Partner als Freund oder als Feind wahrnimmt, erhalten dieselben Tatsachen — Rüstungsbestände und Mannschaftsstärken — eine je völlig verschiedenartige Bedeutung.

2. Sind Feindbilder abbaubar?

Aufgrund dieses Umstandes folgern viele kritische Betrachter, daß es daher einer Überwindung der „Feindbilder“ bedürfe, um Frieden zu schaffen. Entspannung sei in erster Linie eine Angelegenheit richtiger Wahrnehmung, Spannung eine Folge von Fehlwahrnehmung oder Vorurteil. Manche Vertreter der Friedenspädagogik äußern die Auffassung, es genüge, Vorurteile zu „hinterfragen“ und Feindbilder „abzubauen“, um den Konflikt zwischen Ost und West zum Verschwinden zu bringen. Der Friede sei herstellbar, sobald erst die Zerrbilder und Mißverständnisse in der gegenseitigen Wahrnehmung beseitigt seien. Es brauche lediglich eine Seite damit zu beginnen, den Teufelskreis von Feindbildwahrnehmung, Furcht und „Politik der Stärke“ gegenüber der anderen Seite zu durchbrechen — dann würde die andere Seite über kurz oder lang folgen und ihrerseits ihr Feindbild in derselben Weise abB bauen, wie sie es vorher im Wechselspiel mit dem Gegner hochgeschaukelt habe.

Diese These beruht auf der Annahme, Fehlwahrnehmungen und durch sie erzeugte Mißverständnisse bildeten die wichtigste, wenn nicht gar einzige Ursache von Konflikten. Der praktische Wert der aus ihr abgeleiteten Folgerungen steht und fällt natürlich ebenfalls mit dieser Annahme — einer Annahme, die sich bei näherem Zusehen als reichlich kühn erweist und kritischer Prüfung kaum standhält. Denn selbstverständlich gibt es auch echte und tiefgreifende Interessenkonflikte, die sich nicht einfach als Mißverständnisse deuten lassen.

Wenn nicht alles täuscht, dürfte es sich auch beim Ost-West-Konflikt um einen solchen echten Konflikt handeln. Grundsätzliche Interessengegensätze scheiden die sowjetische und die amerikanische Führung voneinander, und diese unvereinbaren Interessen wurzeln ihrerseits in unterschiedlichen Wertstrukturen, die letztlich tief im Wesen der jeweiligen Gesellschafts-und Regierungsform verankert sind. Dies zu übersehen, hieße einer sehr oberflächlichen Betrachtungsweise huldigen.

Darüber hinaus müssen sich viele friedenspädagogische Befürworter eines „Feindbildabbaus“ als des wichtigsten oder gar einzigen Ansatzes der Friedenssicherung den Vorwurf einer gewissen Naivität gefallen lassen. Denn sie meinen offenbar recht unkritisch und zuversichtlich, einer klaren Scheidung von „richtiger“ Wahrnehmung und „Fehlwahrnehmung“ fähig zu sein. Sie prangern bestimmte Sehweisen von Regierungen als „Zerrbilder“ oder „Vorurteile“ an, ohne in irgendeiner Weise erläutern zu können, wie denn Wahn und Wirklichkeit sich im konkreten Fall auseinanderhalten lassen. Meistens begnügen sie sich damit, einfach eine bestimmte, ihnen aus irgendeinem (meist innenpolitischen) Grund mißliebige Sehweise als „Fehlwahrnehmung“ abzutun. Damit tragen sie freilich nicht zur Klärung bei, sondern liefern weiter nichts als ein Bekenntnis ihres eigenen Vorurteils.

3. Konflikt und Feindbilder

Bei einer nüchternen Würdigung der Zusammenhänge wird man sich der Einsicht nicht verschließen können, daß der Konflikt Feindbilder entstehen läßt und nicht umgekehrt. Ganz ähnlich wie auch der Rüstungswettlauf ja letztlich durch den ihm zugrundeliegenden politischen Konflikt hervorgerufen wird, wie die Waffen nicht abgeschafft werden können ohne eine vorherige Lösung dieses politischen Grundkonflikts, lassen sich auch die unversöhnlichen und auf Feindseligkeit gestimmten Bilder von der Gegenseite nicht einfach durch bessere Information und etwas guten Willen überwinden, solange nicht der Konflikt, dem sie entspringen, selbst geregelt oder gelöst ist.

Allerdings pflegen Konflikte auf allen Gebieten — auf dem Gebiet der Rüstung nicht weniger als auf dem Gebiet der Gegnerwahrnehmung — eine Reihe zusätzlicher Prozesse auszulösen, die ihrerseits wieder mächtig verstärkend auf den Konflikt zurückwirken. Genauso wie der Rüstungswettlauf sich zusätzlich durch die ihm innewohnende Dynamik und durch weitere sekundäre Faktoren wie innenpolitische Interessen, Trägheit der Rüstungsplanung, technologische Innovation usw. dauernd steigert, werden auch die feindseligen Vorstellungen vom jeweiligen Gegner dauernd weiter vertieft und weiter verzerrt durch die Eigendynamik der Wahrnehmungsmuster. Rüstung wie Feindbilder verstärken auf diese Weise den Konflikt.

Zudem beeinflussen diese hüben und drüben ablaufenden Prozesse einander auch noch gegenseitig: Ein durch Wahrnehmungsverzerrungen in seiner Feindseligkeit bestärktes Gegnerbild veranlaßt dessen Träger, noch mehr Sicherheit in mehr Waffen zu suchen. Ein „überzogenes“ Gegnerbild ruft nach einer „Sicherheitsmarge“ gegenüber der andern Seite. Aber ein solches Verhalten erschreckt seinerseits den Gegner, und es bestätigt und verstärkt dessen Bedrohungswahrnehmung. Kurz: Die beiden Gegner geraten in einen Teufelskreis wechselseitiger Wahrnehmungen, Verdächtigungen und Aufrüstungsschritte. Dieser Kreis vertieft und verschärft ihren Konflikt, verzerrt ihre gegenseitige Wahrnehmung und verschüttet laufend Ansätze der Abrüstungsund Rüstungskontrolle. Die folgende Graphik veranschaulicht diese fatalen Zusammenhänge in geraffter Form: Dabei ist es wichtig, die primären Ursache-Wirkungsbeziehungen von den sekundären Folgen zu unterscheiden. An erster Stelle nämlich ist es stets der grundlegende und echte Konflikt zwischen den beiden Mächten und der von ihnen vertretenen Standpunkte, der sowohl Rüstung wie Feindbilder erzeugt und dauernd nährt. Die sekundären Folgewirkungen verstärken beides durch ihre Eigendynamik. Zudem verschlingen sich gewissermaßen zwei Teufelskreise, indem jede Seite das Verhalten der Gegenseite wahrnimmt und im Rahmen ihres Feindbildes deutet. Die Folgerung ist nicht zu vermeiden, daß das Bemühen um eine „Berichtigung“ der Feindbilder allein nicht genügt. Das Übel wäre vielmehr an der Wurzel zu packen, d. h. es wäre der Konflikt in geregelte Bahnen zu lenken oder, noch besser, wirklich zu lösen.

Prüft man die allenfalls denkbaren Veränderungs-und Verbesserungsmöglichkeiten in der gegenseitigen Wahrnehmung der Gegner mit der gebotenen Vorsicht, so wird man im Auge behalten müssen, daß sich bestenfalls sekundäre Folgen im Sinn der Eigendynamik der Gegnerwahrnehmung beeinflussen lassen, vermutlich aber kaum die im Grundsätzlichen wurzelnden Vorstellungen. Nur die sekundären Folgen sind gewissermaßen „unnötig“ und deshalb abbaubar.

II. UdSSR und USA: Die beiden Gegnerbilder

Was läßt sich nun über die gegenseitige Wahrnehmung der Sowjetunion und der Vereinigten Staaten von Amerika bzw. über deren Feindbilder aussagen? Eine sorgsame Bestandsaufnahme der einschlägigen Äußerungen von offizieller Seite fördert Sehweisen zutage, die über das taktische Hin und Her in seinen Bezügen zum aktuellen Tagesgeschehen hinaus Bestand haben. Beide Seiten (und im Grunde jede Regierung) perzipieren und operieren aus einer bestimmten Menge mittel-und langfristig stabiler Prämissen mit verhältnismäßig hohem Verallgemeinerungsgrad heraus. Beide Seiten pflegen ihren diesbezüglichen Ansichten auch immer wieder beredt Ausdruck zu geben. (Die methodologischen Aspekte der Erhebung und Analyse solcher Bilder werden, da sie in der diesem Beitrag zugrundeliegenden Studie ausführlich dargelegt sind, an dieser Stelle nicht weiter beschrieben.) Die Auswertung der Textquellen und eine gezielte Befragung hochrangiger Verantwortlicher in Moskau und Washington ergibt in dieser Hinsicht einen Befund, der sich wie folgt zusammenfassen läßt:

1. Das sowjetische Amerikabild

Das von der sowjetischen Führung als gültig betrachtete Amerikabild geht von der Annahme aus, der „imperialistische Klassenfeind“ sei seinem innersten Wesen nach immer und unvermeidbar von antikommunistischer Angriffslust getrieben. Der amerikanische Antikommunismus bildet in sowjetischen Augen folglich ein Wesensmerkmal der amerikanischen Gesellschaft und ihrer Politik. In der gegenwärtigen Epoche sei Amerikas Aggressivität doppelt zu fürchten, denn die kapitalistische Gesellschaft befinde sich, dem Gesetz der Geschichte entsprechend, heute in einer Phase des Niedergangs und der „inneren Widersprüche“. Die weltweite Schwächung der USA durch den Verlust Vietnams, Kambodschas, Irans und durch die Siege des Sozialismus in Afghanistan, Angola, Mozambique, Äthiopien, Simbabwe und Nicaragua hätte deutlich gemacht, wohin das Schicksal des Kapitalismus letztlich führe. Seine innere Krise, ja sein Verfall sei übrigens aufgrund der wachsenden Arbeitslosenziffern, der Verschlechterung der Wohnungslage, des Gesundheits-und Erziehungswesens sowie aufgrund des allgemeinen moralischen Verfalls, insbesondere unter den Jugendlichen, nicht mehr zu übersehen. Der Kapitalismus stehe folglich gewissermaßen mit dem Rücken an der Wand.

Aber gerade darum sei er jetzt doppelt gefährlich; denn man müsse jederzeit mit Verzweiflungstaten rechnen, d. h. mit einer Flucht nach vorn und folglich mit Aggressionshandlungen gegen die Sowjetunion und die anderen sozialistischen Länder. Eine besonders unheilvolle Rolle spiele im amerikanischen politischen System der sogenannte „militärisch-industrielle Komplex“.

Dieser wittere in der Gegnerschaft zur Sowjetunion unerhörte Profitgelegenheiten. Folglich habe er ein Interesse daran, die amerikanische Bevölkerung gegen die Sowjetunion aufzuhetzen und die amerikanischen Politiker durch Lügengeschwätz über die angebliche sowjetische Bedrohung zur Finanzierung immer neuer Rüstungsrunden zu veranlassen.

Bei ihrer Betrachtung des amerikanischen „Klassenfeindes“ glaubt die Sowjetführung von zweifelsfrei objektiver Erkenntnis auszugehen, indem sie sich eine „Klassenanalyse“ zu eigen macht und in erster Linie die „Klassennatur“ der amerikanischen Gesellschaft und Politik ins Auge faßt — der Rest ergibt sich in ihrer Sicht zwangsläufig daraus. Ja, viele sowjetische Beobachter geben sogar ihre Überzeugung zu erkennen, das Wesen der amerikanischen Gesellschaft im Grunde viel besser zu verstehen als die Amerikaner selbst. 2. Das amerikanische UdSSR-Bild Im Bild, das sich umgekehrt die amerikanische Regierung von der Sowjetunion macht, nimmt die sowjetische Militärmacht einen vorrangigen Platz ein. Diese Militärmacht übersteigt nach amerikanischer Auffassung bei weitem, was die Sowjetunion zu ihrer eigenen Verteidigung benötigt. Folglich dient die militärische Macht der Sowjetunion, so schließt man auf amerikanischer Seite, letztlich aggressiven Zwecken, nämlich einer Politik der Expansion und schließlich der Weltherrschaft. Man sieht diese Tendenz bestätigt durch historische Erfahrungen und auch durch das ideologische Fundament aller sowjetischen Politik.

Immer wieder betonen amerikanische Regierungssprecher auch die diktatorischen und tyrannischen Zustände im Innern der Sowjetherrschaft. Da das sowjetische Volk seinen Herren sehr große Opfer erbringen müsse und die Herrschenden in der Sowjetunion nichts anderes im Sinne hätten als die Sicherung und Mehrung ihrer Machtstellung, werde die Öffentlichkeit mit ideologischen Rechtfertigungen abgespeist. Die Sowjetführung fühlte sich aber trotzdem gegenüber ihrem eigenen Volk nicht sicher genug und sei besessen vom Streben nach innerer Machtsicherung, was seinerseits wieder einen höheren Rechtfertigungsbedarf erzeuge. Auf diese Weise sei das sowjetische politische System in einen inneren Teufelskreis verstrickt, aus dem es kein Entrinnen gebe.

Vor allem aber pflege diese Mischung aus herrschaftsorientiertem Sicherheitsstreben und innenpolitisch notwendiger ideologischer Rechtfertigung zu einem Sendungsanspruch gegenüber der Außenwelt zu führen, der letztlich dauernd Aggressivität nähre. Wo immer die Sowjetunion folglich nicht auf Entschlossenheit und Widerstand stoße, nütze sie Schwächen des Gegners unermüdlich aus.

Ganz besondere Aufmerksamkeit widmen amerikanische Quellen in diesem Zusammenhang dem politischen Gebrauch militärischer Macht durch die Sowjetunion. Der Aufbau eines gewaltigen Militärpotentials diene der Sowjetführung einerseits als Instrument zum direkten Eingreifen auch in entfernten Gegenden, dies insbesondere dank der wachsenden Interventionskapazität der Roten Flotte. Andererseits aber kenne die sowjetische Führung auch eine politische Verwendung ihrer militärischen Macht, indem sie gewissermaßen damit „Schatten werfe“, Gegner, Partner und Dritte beeindrucke und zu mehr oder weniger großer Gefügigkeit veranlasse.

Auf der Ebene der großen Strategie, vor allem der Atomstrategie, sinnt die Sowjetführung nach amerikanischer Auffassung auf nichts anderes als einen atomaren „Blitzkrieg“ gegen die freie Welt. Sie bemühe sich fieberhaft, das westliche Abschreckungspotential gewissermaßen schachmatt zu setzen und eine Lage herbeizuführen, in der Amerika es sich nicht mehr leisten könnte, sowjetischen Druckversuchen zu widerstehen, in der Amerika darauf verzichten müsse, im Fall eines sowjetischen Angriffs einen amerikanischen Gegenschlag in Aussicht zu stellen.

III. Zwei Weltbilder als Hintergrund der Gegnerbilder

Die beiden gegensätzlichen Feindbilder sind ihrerseits Bestandteile umfassender Weltbilder und lassen sich nur vor diesem Hintergrund verstehen: 1. Die sowjetische Schau Nach sowjetischer Auffassung ist die Welt in zwei Lager gespalten: Auf der einen Seite stehen die sozialistischen Länder, verbündet mit der „Arbeiterklasse“ in den kapitalistischen Ländern und mit den in revolutionärem Umbruch sich befindenden jungen Nationen; auf der anderen Seite stehen „die-Imperialisten“. Dieser „Grundwiderspruch“ der internationalen Beziehungen werde durch nichts gemildert — insbesondere nicht durch das, was in westlicher Sicht hin und wieder als „Nord-Süd-Gegensatz“ bezeichnet wird.

Internationale Politik ist nach sowjetischer Doktrin internationaler Klassenkampf und als solcher nicht identisch mit dem angeblich wichtigen „Nord-Süd-Gegensatz“. Sowjetische Stimmen behaupten denn auch immer wieder, die Lehre vom Nord-Süd-Gegensatz sei lediglich eine trick-reiche Erfindung westlicher „Revisionisten und bourgeoiser Ausbeuter“ und diene nur dazu, das „Friedenslager“, zu dem die sozialistischen Länder ebenso wie die im nationalen Befreiungs31 kampf stehenden Länder Afrikas, Asiens und Lateinamerikas gehörten, zu spalten und vom einzig wichtigen „Grundwiderspruch“ abzulenken.

Zudem sehen sowjetische Betrachter die Welt, verstanden als Arena eines internationalen Klassenkampfes, alles andere als statisch. Grundbegriff in diesem Zusammenhang ist der des „internationalen Kräfteverhältnisses“. Nach sowjetischer Lehre verschiebt sich dieses laufend zugunsten des Sozialismus und auf Kosten des „Imperialismus“, und zwar aufgrund eines ehernen Gesetzes der Geschichte, das letztlich zum „Endsieg des Sozialismus“ führe. Der aktive „Kampf um die Verschiebung des internationalen Kräfteverhältnisses“ müsse von den sozialistischen Ländern auch in Friedenszeiten energisch weitergeführt werden, wenn auch im wesentlichen vorübergehend ohne militärische Mittel.

Damit identisch ist der Begriff der „friedlichen Koexistenz“. Darunter versteht man in sowjetischer Terminologie — im Gegensatz zu vielen westlichen Mißverständnissen — einfach eine „Weiterführung des internationalen Klassenkampfs unter den gegenwärtigen Bedingungen“, d. h. unter den Bedingungen des Risikos eines Atomkriegs, den es natürlich mit allen Mitteln zu vermeiden gelte, da er ja selbstmörderisch wäre. Keinesfalls aber bedeute „friedliche Koexistenz“ Stillstand oder Anerkennung des Status quo im internationalen Klassenkampf. 2. Die amerikanische Schau Im Gegensatz zur sowjetischen Weltschau sieht aus amerikanischer Sicht die Welt nicht zweigeteilt aus. Vielmehr gilt als Idealzustand „eine freie Gemeinschaft freier Nationen“, d. h. ein friedliches, entspanntes Nebeneinander einer Vielzahl von Staaten. Ebenfalls im Gegensatz zur sowjetischen Weltschau ist das amerikanische Weltbild in erster Linie statisch, d. h. es wird keinerlei dramatische oder weltrevolutionäre Veränderung des Status quo mit dem Endsieg einer der beiden Seiten propagiert.

Wenn Präsident Reagan die Sowjetunion als „Reich des Bösen“ bezeichnete, so kommt darin ansatzweise allerdings doch eine zweigliedrige Weltschau zum Ausdruck — hier die Guten, dort die Bösen. Im Grunde hat der amerikanische Präsident einfach die ideologische Schau der Welt, wie sie die Sowjetunion pflegt, aufgegriffen und gewissermaßen der Sowjetunion mit gleicher Münze heimgezahlt. Es ist aber bezeichnend für die amerikanische Auffassung, daß man auch aus solchen Ansätzen keine weiteren programmatischen Folgerungen ableitet, sondern sich zunächst einmal mit diesen Feststellungen begnügt.

Im übrigen ist nach amerikanischer Sicht die Sowjetunion nicht etwa zu bestrafen oder gar „auf den Abfallhaufen der Geschichte“ zu werfen (wie dies die Sowjetunion mit ihrem „imperialistischen Klassenfeind“ ausdrücklich zu tun beansprucht), sondern man möchte vielmehr die sowjetische Führung und die Sowjetunion durch eine Politik der Stärke und Entschlossenheit wieder in den Kreis der „zivilisierten Nationen“ hereinführen und zur Beachtung des internationalen Rechts veranlassen.

IV. Abrüstungspolitische Folgen der beiden Gegnerbilder

Es liegt auf der Hand, daß sich die beiden Positionen nicht leicht miteinander versöhnen und die beiden Feindbilder sich nicht einfach aufheben lassen. Um so schwerwiegender sind ihre Folgen, dies vor allem im Bereich der Abrüstung, wo unter diesen Umständen ein Fortschritt nur mühsam erreichbar erscheint. Die Verhandlungen über Abrüstung und Rüstungskontrolle kommen nicht in erster Linie deshalb so langsam und zähflüssig voran, weil die technische Komplexität der Waffensysteme die Unterhändler überfordert, sondern weil die Bilder und Erwartungen in bezug auf die Gegenseite den beiden Kontrahenten ein Nachgeben nicht geraten erscheinen lassen. 1. Die sowjetischen Erwartungen Die Sowjetunion erwartet im Rahmen der Abrüstungsverhandlungen von den Vereinigten Staaten nur das Schlimmste. Die USA wollten, so heißt es, die Sowjetunion zu einseitigen Abrüstungsschritten drängen, ohne selber nachzuziehen. Die amerikanische Regierung führe Verhandlungen ohne den ernsten Willen, Fortschritte zu erzielen. Das einzige Ziel dieser Verhandlungen sei, die eigene kritische Öffentlichkeit zu beruhigen und von ihren Zweifeln über den Sinn des Wettrüstens abzulenken. Die amerikanischen Unterhändler brächten auch immer wieder völlig sachfremde Fragen — beispiels-B weise die Ereignisse in Afghanistan — als Bestandteile in die Debatte, obwohl diese doch offensichtlich mit Abrüstungsanliegen überhaupt nichts zu tun hätten. Schließlich befürchtet man auf sowjetischer Seite auch, das Beharren der Amerikaner auf Maßnahmen zur Überwachung (Verifikation) von Abrüstungsvereinbarungen diene einzig und allein dem Zweck der „legalisierten Spionage“ und der „Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Sowjetunion“.

Wenn man sowjetische Unterhändler fragt, weshalb denn die Amerikaner trotz der ihnen unterstellten Bösartigkeit und Unehrlichkeit sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten immer wieder zur Unterzeichnung von Rüstungskontrollabkommen bereit erklärt hätten, so lautet die Antwort immer einhellig: weil die Amerikaner dazu gezwungen gewesen seien — gezwungen und beeindruckt nämlich durch die wachsende Macht des sozialistischen Lagers — und keineswegs etwa aus einem inneren Wandel zum Besseren heraus.

Im übrigen zweifelt man auch an der Beständigkeit des amerikanischen Willens, einmal unterzeichnete Abkommen zu ratifizieren und ratifizierte Abkommen zu beachten; man hegt aus Moskauer Sicht nur Unverständnis, ja Verachtung für die „Unordentlichkeit“ des pluralistisch-demokratischen Entscheidungsprozesses in den Vereinigten Staaten, der einmal diese, einmal jene Meinung obenauf schwingen läßt. Das pluralistische Gezänk um die amerikanische Verhandlungsposition beweise ja nur, wie wenig die amerikanische Regierung im Recht sei. 2. Die amerikanischen Erwartungen Auf amerikanischer Seite blickt man dem sowjetischen Verhalten auf dem Gebiet der Abrüstung und Rüstungskontrolle mit ebenso wenig positiven Erwartungen entgegen. Man vermutet, die Sowjetunion wolle mit ihrer Verhandlungsführung in erster Linie das westliche Publikum einlullen und gleichzeitig die westlichen Länder auseinanderdividieren. Überhaupt hat man für die öffentlichkeitswirksame Publizistik, mit der die sowjetische Führung ihre diplomatischen Verhandlungen begleitet, wenig Verständnis — und fürchtet sie auch.

Als Hauptziel sowjetischer Abrüstungspolitik erblickt man den Willen der Sowjetführung, sich den eigenen Status als Supermacht immer wieder bestätigen zu lassen. Die Sowjetführung würde in Rüstungsabkommen nur dann einwilligen, wenn sie sich davon handfeste Vorteile erhoffe oder aber wenn sie aufgrund der technologischen Überlegenheit der USA einen amerikanischen'Vorsprung im Wettrüsten befürchte; dem wolle sie durch rasche Aufnahme und Abschluß von Abrüstungsverhandlungen jeweils zuvorkommen, ohne indessen zu angemessenen Gegenleistungen bereit zu sein. An eigentlichen Beschränkungen sei die Sowjetführung dagegen gar nicht interessiert, und die in ihrem eigenen Lande ja politisch nicht artikulationsfähige Öffentlichkeit übe auch keinen innenpolitischen Druck in dieser Richtung auf sie aus.

Das einzige, worauf die Sowjetunion in Abrüstungsverhandlungen positiv reagiere, sei massiver Druck, insbesondere die Drohung mit einer neuen Aufrüstungsrunde. Und selbst wenn ein Abkommen erst einmal unterzeichnet sei, bequeme sich die Sowjetunion hur so lange zu dessen Beachtung, als die Amerikaner in der Lage seien, durch allfällige Kompensations-und Vergeltungsmaßnahmen sowjetische Verstöße gegen den Geist und den Inhalt des Abkommens abzuschrecken. Als Folgerung aus dieser Einschätzung sowjetischer Absichten ergibt sich für die amerikanische Regierung die Einsicht, mit der Sowjetunion sei am besten aus einer Position der Stärke zu verhandeln.

V. Die Konfrontation der Gegnerbilder: Veränderung oder Verständnis?

Die Zukunft der Ost-West-Beziehungen hängt in erheblichem Maße vom Spielraum ab, den die Vereinbarkeit bzw. Unvereinbarkeit der beiden Sehweisen offenläßt. Dabei kommt es in erster Linie auf jene Unterschiede in den Standpunkten von Ost und West an, die in den tiefsten philosophischen Überzeugungen der beiden Welten gründen. Da es sich dabei um sehr dauerhafte Überzeugungen handelt, dürften die daraus entspringenden Wahrnehmungen irgendwelchen Versuchen zur Veränderung kaum ohne weiteres zugänglich sein.

Immerhin schaffen diese unveränderbaren Annahmen ein Minimum an Stabilität. Jede Seite ist sich im klaren, was die andere Seite will und was man folglich künftig von ihr zu erwarten hat. Eine Gegnerschaft, in der derart stabile Erwartungen wirksam sind, ist einer Feindschaft, in der alles im Ungewissen bleibt und in der die beiden Seiten voneinander überhaupt nichts Berechen33 bares erwarten, eindeutig vorzuziehen. Auch Verhandlungen über Fragen der Abrüstung und Rüstungskontrolle lassen sich eher sinnvoll führen, wenn jede Seite weiß, in welchem Bezugsrahmen sich der Gegner orientiert und von welchen Annahmen er grundsätzlich ausgeht. Daher scheint es gerechtfertigt zu sagen, in den festgegründeten Überzeugungen der beiden Mächte stecke wenigstens der Keim zu einer Verständigung.

Um ihn zur Entfaltung zu bringen, bedarf es freilich auf beiden Seiten des gründlichen Verständnisses der jeweiligen Gegenseite. Verständigung setzt Verständnis voraus. Was die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten benötigen, ist folglich ein Mehr an Empathie, d. h. eine vergrößerte und vertiefte Bereitschaft und Fähigkeit, sich in die Einstellungen des anderen einzufühlen. Überprüft man den in Ost und West je vorhandenen Grad an Empathie für die Gegenseite, so zeigt sich klar, daß die Regierung der Vereinigten Staaten zu Empathie eher bereit und fähig ist als die Führung der Sowjetunion. Eine Auszählung einzelner wahrgenommener Bestandteile der verschiedenen Bilder hinsichtlich der sowjetisch-amerikanischenÜbereinstimmung bzw. Nichtübereinstimmung ergibt, daß die sowjetische Wahrnehmung elfmal von der entsprechenden amerikanischen Wahrnehmung abweicht, während umgekehrt die amerikanische Wahrnehmung nur viermal von den entsprechenden sowjetischen Wahrnehmungen abweicht. Anders gesagt: Der Westen scheint eher in der Lage, den Osten zu verstehen, als der Osten den Westen.

Sucht man nach einer Erklärung für diesen Unterschied, so könnte vermutet werden, der Westen befasse sich eingehender mit dem Osten als umgekehrt. Dabei fällt besonders das Wirken einer öffentlichen, pluralistischen und darum kritischen Diskussion über Ziele und Fähigkeiten der Sowjetunion ins Gewicht. Im übrigen könnten auch unterschiedliche kulturelle Traditionen eine Rolle spielen; so wurde schon darauf hingewiesen, daß die russische (und nicht nur die sowjetische) Denktradition seit jeher weniger wirklichkeits-und beweisorientiert angelegt ist als die durch erfahrungswissenschaftliche Grundsätze und rationale Kritik geprägte westliche Denkweise.

VI. Die Bedeutung des Genfer Treffens vom November 1985

1. Das Genfer Treffen als Mittel der Bild-Manipulation Das Genfer Treffen vom 19. und 20. November 1985 zwischen Präsident Ronald Reagan und Generalsekretär Michail S. Gorbatschow ist von vielen Kommentatoren angesichts des Ausbleibens konkreter Resultate mit Zurückhaltung, ja Enttäuschung beurteilt worden. Eine derartige Beurteilung geschieht freilich zu Unrecht, denn sie mißt das Ergebnis an übertriebenen Erwartungen. Vielmehr ist bei der Beurteilung des Genfer Treffens von den Zielen auszugehen, die sich beide Seiten für diesen Anlaß gesetzt hatten. Diese bezogen sich eindeutig nicht auf den Abschluß eines Abkommens oder gar auf einen Durchbruch zu völliger Neugestaltung der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen, sondern beide Seiten richteten ihre Aufmerksamkeit auf eine Ebene, die gerade im Rahmen des vorliegenden Beitrags Interesse verdient: auf die Ebene der gegenseitigen Wahrnehmungen. Beiden Seiten galt — von innenpolitischen Funktionen abgesehen — die Begegnung in Genf als eine Gelegenheit, die Wahrnehmungen der anderen Seite zu beeinflussen. Dabei wandten sich die sowjetische und die amerikanische Führung allerdings an ein je unterschiedliches Publikum. 2. Sowjetische „Public Relationsu-Strategie Für die sowjetische Führung ging es dabei allerdings nicht bloß um die zweitägigen persönlichen Gespräche, sondern sie sah die eigentliche Begegnung der beiden Regierungschefs nur als Teil und Höhepunkt eines länger anhaltenden Prozesses, der bereits Monate vor dem 19. November 1985 eingesetzt hatte. In diesem Rahmen beabsichtigte die sowjetische Führung keineswegs in erster Linie das Bild zu beeinflussen, das Präsident Reagan und seine Administration von ihr hatten, sondern das Bild der Sowjetunion in den Augen der amerikanischen und der westeuropäischen Öffentlichkeit.

Laut sowjetischer Auffassung hat die Außenpolitik eines sozialistischen Staates stets auf zwei Gleisen zu wirken: als Dialog zwischen Regierungen und als Appell an die „Massen“. Das theoretische Fundament dieses Doppelansatzes hat seinerzeit Lenin gelegt, und die modernen Lehrbücher der sowjetischen Diplomatie und Außenpolitik berufen sich dabei ausdrücklich auf ihn. Die unablässig wechselnden Signale an die Gegenseite im Vorfeld des Genfer Treffens — die verwirrende Abfolge von Äußerungen der Hoffnung, Andeutung gewichtiger Konzessionen, Drohungen, Anklagen und Beschuldigungen, Freundlichkeiten und Höflichkeiten — sind in diesem Licht als Fortsetzung einer sowjetischen Politik der Massenbeeinflussung zu sehen, die schon im „Heißen Herbst“ zwei Jahre zuvor versucht hatte, über den Hebel der westlichen Öffentlichkeit auf die Verhandlungsposition des Westens Druck auszuüben. Diesmal galt der so erzeugte Druck in erster Linie der Verhinderung weiterer amerikanischer Fortschritte in Richtung auf ein strategisches Defensivsystem (SDI); daher die zentrale Stellung des Schlagwortes „Kein Wettrüsten im All!“.

Gleichzeitig vermochte sich die Sowjetunion in den Augen des Westens als im Grunde friedliebende Macht darzustellen, die lediglich — und obendrein unwillig — auf amerikanische Rüstungsherausforderungen reagiere. Alle Anzeichen deuten darauf hin, daß Generalsekretär Gorbatschow sich nicht mit eigentlichen Verhandlungszielen in Genf an den Tisch setzte, sondern daß auch sein Verhalten dort lediglich als Teil einer viel breiter angelegten „Inszenierung“ zu verstehen war — einer Inszenierung, die durch das ungewohnt massive Aufgebot an „Public Relations" -Mitteln und der auffälligen Pflege des Umganges mit den westlichen Medienvertretern in ihrer Planung und ihren Zielen besonders zum Ausdruck kam.

Die Wirksamkeit der sowjetischen Beeinflussungstechnik wird seit einiger Zeit dank einem adressatenspezifischen Einsatz unterschiedlicher „Politsprachen“ erhöht. Auf die Frage des Verfassers nach der sowjetischen Wahrnehmung und Beurteilung des amerikanischen Meinungspluralismus antwortete eine leitende Persönlichkeit an einem der sowjetischen Akademieinstitute wörtlich und in vertrauensheischend-beschwörendem Ton: „Wissen Sie, auch bei uns gibt es Pluralismus, wenn auch weniger offen — insbesondere zwischen Falken und Tauben. Sie im Westen sollten uns durch großzügige Entspannungspolitik helfen, die Tauben zu stärken.“ Auf dieselbe Frage antwortete andererseits ein sowjetischer Dreisternegeneral triumphierend: „Die Existenz vieler Meinungen in Amerika beweist schlagend, daß die amerikanische Regierung offenbar nicht recht hat.“

Der erste Gesprächspartner, offenbar vertraut mit westlichen Wertvorstellungen, „schlüpft“ mit seiner Antwort gewissermaßen in ein Gewand westlicher Konzepte und Wörter, die er geschickt zur Bildmanipulation einsetzt. Dem zweiten Gesprächspartner dagegen ist die Idee des westlichen Meinungspluralismus offensichtlich fremd, und er gibt die sowjetische Position naiv, aber richtig wieder. Solche Unterschiede spiegeln keine inneren Meinungsgegensätze oder einen -wandel, sondern deuten auf Verfeinerungen in der Technik der Bildprojektion und -manipulation hin. 3. Amerikanische Empathie-Bemühungen Im Vorfeld des Genfer Treffens hat Präsident Reagan wiederholt erklärt, ihm gehe es in Genf vor allem darum, seinem Gesprächspartner „darzulegen, daß die Vereinigten Staaten keinerlei feindselige Absichten gegen die Sowjetunion hegten“. Dieser Ansatz erscheint im Licht der Problematik der Gegnerwahrnehmung und der Empathieproblematik sehr interessant. Reagan hat zudem auch die Vermutung ausgesprochen, der sowjetische Expansionsdrang sei möglicherweise auf „die Angst und den Argwohn der Sowjets gegenüber dem Rest der Welt“ zurückzuführen. Gleichzeitig stellte er in Aussicht, dem sowjetischen Generalsekretär seine, Amerikas Besorgnisse darzulegen und auch auszusprechen, „warum wir uns über die sowjetischen Rüstungsanstrengungen sorgen und welche ihrer Rüstungsprogramme für uns das größte Problem darstellen“.

Reagan bemühte sich also um ein Verständnis des sowjetischen Standpunktes. Er bekundete damit eine bemerkenswerte Bereitschaft zur Empathie. In diesem Fall ging seine Empathiebereitschaft sogar so weit, daß er versuchte, die USA und die Freie Welt durch sowjetische Augen wahrzunehmen und das in den Köpfen der sowjetischen Führung steckende Feindbild zu erfassen und zu beeinflussen. Andererseits bemühte er sich gezielt, auf sowjetischer Seite Verständnis für amerikanische Befürchtungen zu wecken, und zwar durch die an Generalsekretär Gorbatschow gerichtete Aufforderung, sich das Bedrohliche in der sowjetischen Rüstung aus amerikanischer Sicht zu vergegenwärtigen.

Reagan hat damit die Problematik der Gegner-wahrnehmung nicht nur klar erfaßt und zum bewußt gewählten Thema gemacht, sondern auch differenziert: nämlich in bezug auf die Gegensätze, die beidseitig bestehen zwischen Selbstbild und gegnerischem Feindbild und ebenso zwischen diesem gegnerischen Feindbild und dessen Wahrnehmung mit eigenen Augen, d. h.dem so-genannten Meta-Bild.

Es scheint, daß die Gespräche in Genf dann auch tatsächlich entlang der damit skizzierten Linien verlaufen sind; dies läßt sich aus der Abschlußerklärung vom 21. November schließen, in der es bezeichnenderweise heißt: „Zwar war man sich der Unterschiede der Systeme und der daraus resultierenden Fragen bewußt, doch konnten die beiden Führer ein besseres Verständnis für die Position des Gesprächspartners erreichen.“

VII. Die Zukunft der Gegnerbilder: Möglichkeiten und Grenzen des Wandels

1. Verbesserung der Empathiefähigkeit Es steht außer Zweifel, daß Kontakte die Empathiefähigkeit fördern. Darum sind Begegnungen wie jene von Genf und die in Genf vereinbarten weiteren Treffen zu begrüßen. Im Licht der Empathieproblematik betrachtet, verdienen auch alle bi-und multilateralen Verhandlungsgremien als Stätten der Kontaktnahme und damit der Empathieförderung gewürdigt zu werden. Das gilt auch für Verhandlungsforen, in denen (wie in der KSZE) nur symbolische oder (wie im Fall der Wiener Truppenreduzierungsgespräche) gar keine Fortschritte erzielt werden.

Allerdings muß bewußt bleiben, daß sich dabei bestenfalls Fortschritte in der gegenseitigen Empathie erzielen lassen — mehr nicht. Es wäre müßig, auf eine grundlegende Veränderung der Bilder zu hoffen, die sich beide Seiten voneinander machen. Entspannung ist nicht einfach um den Preis „guten Zuredens“ zu haben; denn Empathie schließt weder Sympathie notwendigerweise ein, noch bedeutet sie Hinnahme oder gar Annahme von Werten des anderen.

Auch sollte dieser gegenseitige „Informationsaustausch“ nicht verwechselt werden mit der naiven Vorstellung, die beiden Staatsmänner müßten sich nur „menschlich näherkommen“, und die „Irrtümer“ erledigten sich dann von selbst. Diese Vorstellung hat seinerzeit Henry Kissinger als den „psychiatrischen Ansatz in der internationalen Politik“ zu Recht verspottet. Denn die beiden Staatsmänner begegnen sich nicht als Individuen — nicht als „Ronnie“ und „Mike“ —, sondern als Rollenträger, als Verkörperung von Traditionen, Interessen und Normensystemen. Die letzteren bestimmen auch ihre Art und Weise, sich selbst, die Welt und den Gegner zu sehen. Die Gefahr, daß der amerikanische Präsident und der sowjetische Generalsekretär diesbezüglich Selbst-täuschungen zum Opfer gefallen wären, ist gewiß sehr gering. Dennoch scheint zeitweise im amerikanischen innenpolitischen Umfeld und auch in einem Teil der westlichen Medien die Neigung manchmal groß, ausgerechnet solchen Verwechslungen zu erliegen und die künftigen Entwicklungschancen der Ost-West-Beziehungen in solchem Licht zu beurteilen. 2. Abbau verstärkender Sekundärfolgen der Gegnerwahrnehmung Was die Möglichkeiten eines eigentlichen Wandels der Feindbilder selbst betrifft, so scheint der Spielraum begrenzt. Der gutgemeinte Ratschlag, doch endlich die Gegenseite „in freundlicherem Licht“ zu sehen, reicht nicht weit, denn der echte und tiefe Konflikt, der die Sowjetunion von den Vereinigten Staaten trennt, wird dadurch nicht berührt. Möglicherweise schadet der Wille, den .

Gegner allen Widrigkeiten zum Trotz stets freundlich durch eine rosarote Brille zu sehen, sogar mehr als er nützt. Denn nicht nur Feindbilder, sondern auch Freundbilder könnten durch Illusionen zustande kommen. Besser wäre es, Illusionen überhaupt zu vermeiden.

Anders gestalten sich indessen die Möglichkeiten im Bereich der (oben unter 1. 3 beschriebenen)

sekundären Folgen der Gegnerwahrnehmung:

Soweit die Feindbilder durch die Eigendynamik der Wahrnehmung und der in ihr lauernden Verzerrungs-und Entstellungsneigung geprägt sind, wäre ein Wandel sinnvoll und möglich. Die sozialwissenschaftliche Forschung hat über zwei Dutzend Wahrnehmungsmuster identifiziert, die in Konfliktsituationen typischerweise das Gegnerbild verzerren und zusammen eine Art fatale „Psycho-Logik“ der Gegnerwahrnehmung bilden. Dazu gehören Mechanismen wie das Schwarz-Weiß-Denken, das Denken in doppelten Standards, das Spiegelbild-Denken, die Überschätzung der eigenen Wahrnehmungsfähigkeit, die selektive Wahrnehmung, das Mutmaßen im Sinne des schlimmsten denkbaren Falles („worst case“ -Denken), die Unmöglichkeit des Gegenteilbeweisens, die Dichotomisierung des Gegners in eine „kriegshetzerische Führung“ und eine „friedliebende Bevölkerung“, die Unterschätzung gegenerischen Entgegenkommens, Zweifel an der Reziprozität, der Hang zur Polarisierung, das „Nullsummen-Denken“ und viele andere mehr. Wer sich des Wirkens solcher Mechanismen bewußt zu werden versucht, wird die gewissermaßen „unnötigen“ Sekundärfolgen der Gegnerwahrnehmung zu vermeiden und damit die ihr innewohnende Eigendynamik zu bannen wissen.

Vermehrte Kontakte zwischen den beiden Seiten sind auch in dieser Hinsicht zu begrüßen, denn der direkte Zugang zur Information in der unmittelbaren Begegnung verschafft die beste Möglichkeit einer Realitätskontrolle und hilft, derartige psychodynamische „Übertreibungen“ zu korrigieren. Hier liegt aber auch eine wichtige Aufgabe der Wissenschaft, die mit der weiteren Erforschung der „Psycho-Logik“ der Feindbilder einen praxisrelevanten Beitrag leisten kann — vorausgesetzt, sie auferlegt sich ein genügendes Maß an Selbstdisziplin, um sich nicht einfach in pauschaler Verunglimpfung der angeblich „mit Blindheit geschlagenen“ Politiker zu ergehen und arroganter Besserwisserei zu verfallen. 3. Beharrungsvermögen der Feindbilder Immer wieder wird man sich beim Wunsch nach Überwindung der Feindbilder in Erinnerung rufen müssen, daß bestimmte Elemente der Gegnerwahrnehmung in den tiefsten philosophischen Überzeugungen wurzeln, in denen die Regierungssysteme in Ost und West gründen. Hier stößt man an die Grenzen der Wandelbarkeit von Feindbildern. Das Bild vom Gegner ergibt sich nämlich in seinen beständigen, festgefügten und grundsätzlichen Elementen stets aus dem Bild seiner selbst — aus den Werten, auf die die eigene Gesellschaft gegründet ist und die sie gegenüber der internationalen Umwelt hochhalten will.

Wer behauptet, Ost und West „bräuchten“ ihre Feinde gleichermaßen aus Gründen innerer Herrschaftssicherung, vereinfacht die Dinge allzusehr und wird selber Opfer eines Vorurteils. Bei einem nüchternen Vergleich der beiden Feindbilder kann man tiefgreifende Unterschiede nicht übersehen. Auch die gesellschaftlichen Zwänge, die die Entstehung und Weiterentwicklung von Feindbildern fördern, wirken hüben und drüben nicht in derselben Weise.

Die sowjetische Führung fürchtet den „Feind Amerika“ ja nicht auf Grund dessen, was der amerikanische Präsident tut oder unterläßt, sondern auf Grund dessen, was Amerika ist. Im eigenen Selbstverständnis als der — gemäß der marxistisch-leninistischen Lehre — zur Exekution der Weltgeschichte berufenen Avantgarde verfügt die Kommunistische Partei der Sowjetunion zur Rechtfertigung ihres Machtmonopols über keine andere Legitimität als eben diese Berufung auf die welthistorische Sendung. Jeden Anspruch, der auf einer anderen Legitimität fußt, sieht sie zu Recht als Bedrohung. Das gilt insbesondere für den Anspruch einer demokratischen Gesellschaft mit ihrer in der Idee der Volkssouveränität begründeten Legitimierung der Herrschaft durch Wahl und Abwahl.

Nur wenn die sowjetische Führung ihre Berufung auf die marxistisch-leninistische Herrschaftslegitimierung aufgäbe, könnte sie aufhören, den Westen als Bedrohung und damit als Feind wahrzunehmen. Das aber liefe auf eine freiwillige Abdankung hinaus — ein Schritt, der bis auf weiteres kaum zu erwarten sein dürfte. Der andere Ausweg aus dem Dilemma läge im Verschwinden oder in der „Liquidierung“ dieser Herausforderung seitens der demokratisch legitimierten Alternative — was wieder auf die Grundtatsache des Ost-West-Konfliktes zurückverweist.

Demgegenüber ergibt sich die amerikanische Wahrnehmung des „Feindbildes Sowjetunion“ nicht so zwingend aus strukturellen Sachverhalten der Herrschaftslegitimierung. Im Gegenteil:

Dank der demokratischen Öffentlichkeit findet sich das von der amerikanischen Administration angenommene Bild von der Sowjetunion einer unablässigen kritischen Begutachtung ausgesetzt. Dauernd werden die Annahmen und Wahrnehmungen der Administration bezüglich des Wesens und der Bedeutung der sowjetischen Bedrohung hinterfragt und auf ihre Stichhaltigkeit hin überprüft — durch eine sehr rasch reagierende Presse, im Kongreß und seinen Ausschüssen und nicht zuletzt auch durch eine fachlich äußerst kompetente „Gegenelite“, die die Tätigkeit der Administration von den großen „Think tanks“ (Brookings Institution, Carnegie Endowment, Council on Foreign Relations, spezialisierte Institute an den renommierten Universitäten usw.) aus mit viel Lust am Widerspruch mitverfolgt. Damit sind Möglichkeiten einer Feindbild-Korrektur von vornherein strukturell vorprogrammiert. Der Aufschrei, den Präsident Reagans Bezeichnung der Sowjetunion als „Reich des Bösen“ in den Vereinigten Staaten selbst auslöste, und die intensive Diskussion über das Wesen der sowjetischen Herausforderung, die sich daraus ergab, illustrieren diese Zusammenhänge sehr anschaulich. Europäische Versuche, den Amerikanern bezüglich ihres Sowjetunion-Bildes Lektionen zu erteilen, dürften sich in Anbetracht dieses Sachverhaltes weitgehend erübrigen.

Dagegen wäre es von größter praktischer Tragweite, wenn sich die politisch verantwortlichen Eliten aller westlichen Länder Gedanken darüber machten, welche westlichen Verhaltensweisen in welcher Weise auf das sowjetische Feindbild und die sowjetischen Bedrohungsvorstellungen einwirken. Ziel einer solchen Reflexion müßte es sein, die sowjetische Führung in ihrer Feindbild-gestaltung auf das „unverzichtbare“ Kernelement der Gegnerwahrnehmung hinzuweisen und sie zu einem Abbau ihrer „unnötigen“, weil zusätzlichen Elemente zu bewegen. Das Treffen von Genf war ein erster Schritt in diese Richtung.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Daniel Frei, Dr. phil., geb. 1940; Professor für Politische Wissenschaft/Internationale Beziehungen an der Universität Zürich. Veröffentlichungen u. a.: Der ungewollte Atomkrieg, München 1983; Internationale Zusammenarbeit, Königstein/Taunus 1982.