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Der Stand der amerikanisch-sowjetischen Beziehungen | APuZ 5/1986 | bpb.de

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APuZ 5/1986 Der Stand der amerikanisch-sowjetischen Beziehungen Sowjetisch-amerikanische Beziehungen unter Gorbatschow Sowjetische und amerikanische Feindbilder Ost-West-Konflikt, Krisenbewußtsein und Protestbewegung in Westeuropa

Der Stand der amerikanisch-sowjetischen Beziehungen

Ernst-Otto Czempiel

/ 35 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Eine Standortbestimmung der amerikanisch-sowjetischen Beziehungen zu Beginn des Jahres 1986 muß zunächst deren Struktur benennen. Sie liegt in der von der Sowjetunion seit Mitte der sechziger Jahre erhobenen und durch zunehmende Aufrüstung unterstrichenen Forderung, von den USA als gleichberechtigte Weltmacht anerkannt zu werden. Auf diese Herausforderung haben die einzelnen amerikanischen Administrationen unterschiedliche Antworten gegeben. Präsident Nixon verband Anerkennung der militärischen Parität Moskaus durch Rüstungskontrolle mit einer pragmatischen Handhabung ihrer politischen Parität durch die Linkage-Politik Kissingers. Präsident Carter akzeptierte mit seiner Rüstungskontrollpolitik ebenfalls die militärische Parität der Sowjetunion, verweigerte aber mit einer offensiven Menschenrechtspolitik die politische Parität. Nach der Kurzbeschreibung dieser beiden Ansätze analysiert der Aufsatz die Politik der Reagan-Administration ausführlich. Sie verweigerte in der ersten Amtszeit 1980— 1984 beide Paritäten ausdrücklich, indem sie eine zurückhaltende Rüstungskontrollpolitik mit einer politischen Konfrontation verband, vr allem im deklaratorischen Bereich. Seit 1984 zeichnet sich insofern eine Wende ab, als die Reagan-Administration sich hinsichtlich der politischen Parität der Sowjetunion pragmatisch zu verhalten scheint. Sie schließt eine Kooperation mit Moskau bei Krisen in der Dritten Welt nicht mehr aus und nähert sich offensichtlich wieder der Nixon-Linie. Von ihr unterscheidet sie sich nach wie vor durch die Nichtanerkennung einer militärischen Parität der Sowjetunion. Damit sind die amerikanisch-sowjetischen Beziehungen nach Genf gekennzeichnet im Bereich der militärischen Parität durch kontrollierte Aufrüstung und im Bereich der politischen Parität durch einen flexiblen Pragmatismus, der auch die selektive Kooperation nicht ausschließt. Der Aufsatz schließt mit der Frage, ob sich auf dieser Basis ein stabiles Verhältnis zwischen den beiden Supermächten errichten läßt.

Im Jahr 1986 wird sich zeigen, ob im Verhältnis zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion wirklich eine Wende eingetreten ist, oder ob die Genfer Gipfelkonferenz vom November 1985 nur eine Fermate in der im übrigen unverändert anhaltenden Konfrontation darstellt. Auf dem 27. Parteitag der KPdSU, der Ende Februar stattfindet, wird die Sowjetunion unter ihrem Generalsekretär Gorbatschow, der dann gerade knapp ein Jahr lang amtiert, ihre Linie gegenüber den Vereinigten Staaten festlegen. Im November 1986 werden die Kongreßund Gouverneurswahlen in den USA die innenpolitischen Weichen für die Ära nach Reagan stellen; dabei wird das Verhältnis zur Sowjetunion eine wichtige Rolle spielen. Schließlich wird das für den Juni geplante zweite Gipfeltreffen, wenn es denn zu diesem Termin — und überhaupt in diesem Jahr — zustande kommt, zeigen, ob sich die beiden Staaten etwas zu sagen haben, was über die Gespräche ihrer Rüstungskontrolldelegationen, die sich seit dem 16. Januar in Genf wieder treffen, hinausgeht. Zumindest würde ein zweites Gipfeltreffen die verstärkte Gesprächsbereitschaft signalisieren, würde Fehleinschätzungen vermindern und die beiderseitigen Bürokratien mit der Vorbereitung solcher Kooperation — anstatt der Konfrontation — beschäftigen. Aus all diesen Gründen hat der frühere amerikanische Präsident Richard Nixon seit langem jährliche Gipfelkonferenzen der Supermächte gefordert

Eine wichtige Entscheidung fiel schon am 31. Dezember 1985. Zu diesem Datum wäre — theoretisch — das niemals ratifizierte SALT-II-Abkommen ausgelaufen. Beide Seiten wollen seine Beschränkungen weiter einhalten. Zu seinen Gunsten hatten die Vereinigten Staaten bereits im August 1985 ein U-Boot der Poseidon-Klasse verschrottet, nachdem sie ein neues Boot der Trident-Klasse in Dienst gestellt hatten. Im Februar 1986 hat es also durchaus den Anschein, als würde sich das Verhältnis der beiden Supermächte weiter entspannen. Es bleibt bei ihrer Konfrontation ebenso wie bei dem Konflikt; die Formen des Austrags aber scheinen sich zu ändern und gewisse kooperative Elemente stärker zu berücksichtigen. Es wäre falsch, darin eine Rückkehr zu der Entspannungsperiode der siebziger Jahre zu sehen; genau so falsch wäre es indes, wollte man die Abkehr von Strategien, die die erste Reagan-Administration beherrschten, verkennen.

Eine neue Beziehung der beiden Supermächte zueinander scheint sich anzubahnen. Sie hat ihre Grundlage in der kompromißlosen Wahrung militärischer Stärke und deren ständiger Modernisierung. Darüber erhebt sich das Regime eines flexiblen Pragmatismus, der auch Kooperation zuläßt, und zwar dann, wenn sie in dem jeweiligen Interesse liegt. Gedacht wird dabei in erster Linie an die Regionalkonflikte in der Dritten Welt. Der Boykott Libyens durch die Vereinigten Staaten wird zeigen, ob es solche gegenseitigen Interessen gibt und wie weit sie reichen.

Antagonismus und Kooperation

Nun war das amerikanisch-sowjetische Verhältnis seit langem durch Antagonismus und Kooperation gekennzeichnet — gewiß von 1969 bis 1979, wahrscheinlich schon seit 1960 und vermutlich bereits schon seit 1955. Das Mischungsverhältnis variierte, wies aber stets beide Bestandteile auf. Auch die erste Reagan-Administration, die das Verhältnis zur Sowjetunion stark konfrontativ gestaltete, bewahrte mit dem Weizen-handel ein kooperatives Element.

Unterscheidet man zwischen deklaratorischer und operationaler Politik so lassen sich auf der operationalen Ebene in der Periode von 1980 bis 1984 noch weit mehr kooperative Elemente entdecken. Das nukleare Monopol, über das beide Supermächte verfügen, zwingt sie in die faktische Gemeinsamkeit eines Duopols, dessen Verhaltenszwänge nur bei Strafe des gemeinsamen Untergangs außer acht gelassen werden dürfen. In dieser scheinbaren Plausibilität liegt das Kern-Problem der amerikanisch-sowjetischen Beziehungen verborgen.

Die Vereinigten Staaten sind vor die schwierige und schmerzliche Aufgabe gestellt, ihr Weltbild der Tatsache anpassen zu müssen, daß ihnen in der Sowjetunion ein Herausforderer entstanden ist, der laut und drängend nicht nur die Parität einfordert, sondern auch deren Anerkennung durch die Vereinigten Staaten. Dieser Prozeß durchzieht die amerikanisch-sowjetischen Beziehungen wie ein roter Faden, den Chruschtschow mit dem Berlin-Ultimatum von 1958 zu spinnen begonnen hatte. Schon die für 1960 geplante Pariser Gipfelkonferenz sollte dazu dienen, der Sowjetunion erstmals die amerikanische Anerkennung als einer zweiten Supermacht zu bringen. Was sich damals wegen des U-2-Zwischenfalls zerschlug, was in der Kuba-Krise von 1962 von den Vereinigten Staaten noch einmal machtvoll bestritten werden konnte, war um 1970 zum unbestrittenen, unbestreitbaren Fakt geworden: Die Sowjetunion hatte auf dem Gebiet der strategischen Nuklearwaffen mit den Vereinigten Staaten gleichgezogen, sie hatte die strategische Parität erreicht

Moskau gab sich damit nicht zufrieden. Sein eigentliches Ziel ist die politische Parität. Die Vereinigten Staaten sollen anerkennen, daß die Sowjetunion auch politisch gleichberechtigt ist, über dieselben Ansprüche auf Weltführung und Mitsprache verfügt, wie die Vereinigten Staaten. Die USA werden damit auf der ganzen Linie ihrer bisherigen Position durch die Sowjetunion herausgefordert. Sie sind — anders als die Westeuropäer, die als Mittelmächte in der Sowjetunion immer schon eine Großmacht zu sehen hatten — vor die Frage gestellt, wie sie mit einem Herausforderer umgehen sollen, der seine bis zur Mitte der sechziger Jahre gegebene eindeutige Inferiorität hinter sich gelassen, die strategische Parität erreicht hat und die politische Parität einfordert. Die USA sehen sich damit einer geradezu klassischen Machtkonkurrenz ausgesetzt, die in vor-nuklearer Zeit und vor allem in Europa einen klassischen Kriegsgrund dargestellt hätte Sie stellt die Vereinigten Staaten, deren Tradition und außenpolitisches Selbstverständnis von dieser europäischen Tradition abweichen, vor die Frage, wie sie mit dieser Herausforderung umgehen sollen. Dabei betrifft diese Herausforderung nicht nur die militärische Dimension, wo sich die Vereinigten Staaten — wie sie es in den siebziger Jahren de facto taten — mit einem Verlust ihrer Vormachtstellung abfinden könnten. Die Herausforderung betrifft vor allem die politische Position der USA als der Fühfungsmacht des Freien Westens und seiner Legitimität. Von diesem Selbstverständnis sind kaum Abstriche möglich, und schon gar nicht gegenüber der Sowjetunion, die sich als Wahrer einer eigenen, antiwestlichen Legitimität versteht.

Unter diesem Aspekt war es für den sowjetischen Generalsekretär Gorbatschow ein großer Erfolg, daß er sich nach einem halben Jahr Amtszeit mit dem amerikanischen Präsidenten an den Genfer Tisch setzen und durch die langen Gespräche unter vier Augen zusätzlich die Anerkennung durch Ronald Reagan dokumentieren konnte. Daß darin ein Etappensieg der sowjetischen Seite lag, zeigt sich erst dann, wenn man die amerikanisch-sowjetischen Beziehungen auf solche „invisibles" absucht. Sie erst geben den Ereignissen Sinn, enthüllen ihre Bedeutung. Die Sowjetunion wird manche Konzession machen, wenn sie sich dafür die Anerkennung ihrer Gleichberechtigung durch die Vereinigten Staaten einhandeln kann. Auf einem anderen Blatt steht, ob sie sich damit zufriedengeben oder nicht fortschreiten wird über diese Parität hinweg hin zu einer sowjetischen Position von Superiorität.

Effizienz und Kontrolle

Dieser Machtkonflikt im Hintergrund erklärt die große Schwankungsbreite der amerikanischen Sowjetunionpolitik seit dem Amtsantritt der Regierung Nixon. Wechselnde Regierungen und die sie tragenden wechselnden Koalitionen haben versucht, auf diese Herausforderung der Sowjetunion befriedigende Antworten zu geben.

Man wird, will man das Wandlungstempo der amerikanischen Sowjetunionpolitik erklären, noch andere Faktoren heranziehen müssen. Unter ihnen spielt die außerordentliche Fragmentierung des außenpolitischen Entscheidungsprozesses eine besonders große Rolle Diese Fragmen-tierung erlaubt nicht nur, sie institutionalisiert den Einflußwettbewerb zwischen dem Weißen Haus, dem Außen-und dem Verteidigungsministerium. Die Reagan-Administration macht davon keine Ausnahme, wie die Kontroverse zwischen Außenminister Shultz und Verteidigungsminister Weinberger sowie der hohe Verbrauch an Nationalen Sicherheitsberatern zeigt

Der Zersplitterung der Exekutive entspricht auf der Seite der Gesellschaft eine Vielzahl unterschiedlicher außenpolitischer Grundanschauungen. In der Regel werden zwei große Gruppierungen unterschieden durchaus aber auch vier Die Einstellung gegenüber der Sowjetunion läßt sich, so Robert J. Pranger, in sechs Gruppen unterteilenl Die umfassende und langfristige Analyse der außenpolitischen Ein-, Stellungen der amerikanischen Elite durch James N. Rosenau und Ole R. Holsti ergab zumindest drei große unterscheidbare außenpolitische Grundeinstellungen Berücksichtigt man ferner, daß, da in den Vereinigten Staaten konsens-bildende und konsensstabilisierende Parteien im europäischen Sinne fehlen, jede Administration auf einer eigens hergestellten Koalition politischer und gesellschaftlicher Kräfte beruht, so wird das Tempo des Wandels, der sich im übrigen nur zum Teil aus unterschiedlichen außenpolitischen Optionen herleitet, durchaus verständlich. Das amerikanische Herrschaftssystem ist nicht auf Effizienz, sondern auf Kontrolle gerichtet; es will „den Staat“ nicht stärken, sondern schwächen, um auf diese Weise auch die Entwicklung einer Machtpolitik im europäischen Stil zu verhindern. Wenn eine solche Machtpolitik sich dennoch zeigte, etwa in Gestalt der „imperialen Präsidentschaft“ Nixons wurde sie wieder koupiert. Das „Kriegsvollmachtengesetz“ von 1973 war gewiß nicht perfekt, aber durchaus wirksaml

Die Vereinigten Staaten konnten sich dieses Herrschaftssystem solange leisten, solange sie entweder durch eine isolationistische Politik oder durch eine überragende Machtposition außen-politisch nicht unter Druck gerieten. Seit dem Ende der fünfziger Jahre aber begann die Sowjetunion exakt diesen Druck auszuüben. Die USA sehen sich damit vor eine doppelte Frage gestellt: Wie sollen sie ihr außenpolitisches Verhältnis zur Sowjetunion einrichten? Und zweitens: Verlangt der globale Konflikt mit der Sowjetunion nicht auch, die Effizienz des Herrschaftssystems stärker zu betonen als die Kontrolle? Auch dieses Problem wurde von Richard Nixon bereits vorgeführt, und zwar im Watergate-Skandal. Es hat in der einen oder anderen Form auch die nachfolgenden Administrationen belastet, bis hin zu dem Versuch Reagans, Ende 1985 alle höheren Beamten seiner Administration einem Lügendetektor-test zu unterwerfen.

Dieses ordnungspolitische Dilemma der Vereinigten Staaten, angesichts der Bedrohung durch die Sowjetunion zwischen der Erhöhung sicherheitspolitischer Effizienz einerseits und der Beibehaltung, eventuell sogar noch Intensivierung demokratischer Kontrolle andererseits unterscheiden zu müssen, wird hier nicht weiter behandelt. Man muß es aber im Auge behalten, weil es politikwissenschaftlich von großer Bedeutung ist. Sollte sich unter dem Druck des außen-politischen Gegensatzes zur Sowjetunion das amerikanische Herrschaftssystem, die amerikanische Demokratie ändern, so würden die Folgen sich mittelfristig auch in der Außenpolitik niederschlagen.

Rüstungskontrolle und Pragmatismus

Die erste amerikanische Administration, die sich mit der sowjetischen Forderung nach Parität auseinanderzusetzen hatte, war die von Richard Nixon und Henry Kissinger. Bis zum Ausgang der sechziger Jahre konnten die Vereinigten Staaten unbestritten als Weltmacht Nummer Eins gelten. Sie hatten sich seit 1964 zunehmend in den Konflikt in Vietnam verstrickt, dem bis zu seiner Beendigung ihre ganze Aufmerksamkeit galt. Als dieses Trauma langsam wich, stellte Washington fest, daß die Sowjetunion aufgrund ihrer Demütigung in der Kuba-Krise einen Aufrüstungsprozeß eingeleitet hatte, der ihr zu Beginn der siebziger Jahre die nukleare Parität verschaffte und sie perspektivisch auch zu einer maritimen Großmacht werden zu lassen versprach Schon bei dem ersten Treffen zwischen Präsident Nixon und dem sowjetischen Botschafter Dobrynin am 17. Februar 1969 drängte die Sowjetunion auf die Einberufung einer Gipfelkonferenz und die Einleitung eines Rüstungskontrollprozesses, mit dem sich Moskau die amerikanische Anerkennung seiner Parität zu verschaffen suchte

Die Rüstungskontrolle bildete das Eingangstor zur Periode der Entspannungspolitik der siebziger Jahre. Sie darf jedoch nicht mit einer Appeasement-Politik verwechselt werden. Kissinger und Nixon ließen sich auf die nukleare Parität mit der Sowjetunion ein, weil sie die sowjetische Aufrüstung nicht verhindern konnten. Mit Hilfe der Rüstungskontrolle ließ jene sich aber beschränken. Diese Rationalität steht hinter dem SALT-Prozeß, und zwar bis heute. Er liegt, ungeachtet der Rhetorik, im beiderseitigen Interesse. Kissinger versprach sich darüber hinaus eine disziplinierende Wirkung des nuklearen Potentials auf die Außenpolitik der Sowjetunion.

War die Administration Nixon also bereit gewesen, die strategische Parität der Sowjetunion zu akzeptieren und zur Grundlage eines Verständigungsprozesses über die Rüstungskontrolle zu machen, so war sie weit davon entfernt, der Sowjetunion auch die politische Parität zuzugestehen. Im Gegenteil: Kissinger verfolgte mit seiner Linkage-Politik eine Strategie der Selbsteindämmung der Sowjetunion Er versuchte mit einer Vielzahl von Kooperationsabkommen, die Sowjetunion in ein Beziehungsnetz einzubinden, dessen Vorteile sie für den Verzicht auf außen-politische Expansion entschädigen sollten. Auch dies war eine Art der Großmachtpolitik. Dem Gegner wurde Wohlverhalten nahegelegt. Solches wurde ihm durch Belohnungen vor allem im wirtschaftlichen Bereich schmackhaft gemacht und gleichzeitig durch die Androhung der Rücknahme und der Rückwendung zu totaler Konfrontation aufgezwungen. Es war Weltmachtpolitik: „on the cheap“

Es kann hier offen bleiben, ob eine derartige Politik je hätte funktionieren können, ob die Sowjetunion die Kontrolle strategischer Rüstungen und die darin liegende Anerkennung der Parität durch die Vereinigten Staaten so hoch veranschlagt haben würde, daß sie auf Dauer den Status quo bewahrt, auf jegliche Expansion ihres politischen Einflusses verzichtet hätte. Im sowjetischen Begriff der friedlichen Koexistenz ist dieser Verzicht zweifellos nicht angelegt. Auch die — maßgeblich auf sowjetische Entwürfe zurückgehende — „Grundsatzerklärung über die amerikanisch-sowjetischen Beziehungen“ von 1972 enthält diesen Verzicht nicht, jedenfalls nicht in sowjetischer Sicht Vielmehr sieht Moskau darin amerikanische Anerkennung, daß „Gleichheit die Grundlage der Sicherheitsinteressen beider Mächte“ darstellt In Angola 1974 und im Horn von Afrika 1978 hat sich die Sowjetunion entsprechend verhalten. Mit einem gewissen Recht hat der Sicherheitsberater von Präsident Carter, Brzezinski, später festgestellt, daß die Entspannung im „Sand von Ogaden“ begraben liegt

Wahrscheinlich wurde sie schon früher begraben, und zwar durch ihre Gegner in den Vereinigten Staaten. Wie sie sich in den SALT-Verträgen, den zahlreichen Kooperationsabkommen und den jährlichen Gipfeltreffen niederschlug, hatte die Entspannungspolitik zweifellos das Klima zwischen den beiden Supermächten verändert. Zur Konfrontation war ein erhebliches Moment von Kooperation getreten, das die weltpolitische Position der Sowjetunion verbesserte. Wenn die Sowjetunion ihre Zusammenarbeit weltweit anbot, konnte sie ihren Einfluß überall dort geltend machen, wo bisher der des Westens ausschließlich geherrscht hatte.

Die neuralgische Region, in der die Sowjetunion diese Strategie paradigmatisch vorführte, war der Nahe Osten. Wenn es auch dem diplomatischen Geschick Henry Kissingers gelang, die Sowjets aus der Regelung des Yom-Kippur-Krieges herauszuhalten und ihre Kondominium-Pläne zunichte werden zu lassen, so rief die schiere Perspektive einer solchen maßgeblichen Beteiligung der Sowjetunion an der politischen Regelung im Nahen Osten diejenigen Kräfte in den Vereinigten Staaten auf den Plan, die eine solche Konsequenz der Entspannungspolitik für gefährlich und schädlich hielten.

Die Entspannungspolitik als Antwort der Nixon-Kissinger-Administration auf die sowjetische Herausforderung scheiterte damit nicht nur an dem politischen Expansionismus Moskaus; sie scheiterte auch an der Kritik einer inneramerikanischen Koalition, der die Folgen dieser Entspannungspolitik zu weit gingen. Konservative, Liberale und Parteigänger Israels trafen sich mit den Mitgliedern der Führungselite des Kalten Krieges, um die Entspannungspolitik mit den daraus fließenden Folgen für Israel und die amerikanische Weltpolitik zu Fall zu bringen.

Um die Mitte der siebziger Jahre wurde im Zusammenhang mit dem Jackson-Vanik-Amendment die Koalition aktiv, die auf die Herausforderung nicht mit Rüstungskontrolle und Entspannung, sondern mit Aufrüstung und Konfrontation antworten wollte Sie trug maßgeblich dazu bei, daß die Ratifizierung des SALT-II-Vertrages hinausgezögert wurde; mit dem Amtsantritt der Reagan-Administration kam sie an die Schalthebel der amerikanischen Außenpolitik.

Rüstungskontrolle und ideologische Offensive

Zuvor hatte in den Jahren 1976 bis 1980 der demokratische Präsident Jimmy Carter eine alternative Strategie gegenüber der Sowjetunion eingeschlagen. Während Gerald Ford in seinem kurzen Interludium von 1974 bis 1976 zusammen mit seinem Außenminister Kissinger im wesentlichen die Politik von Rüstungskontrolle und Entspannung fortzusetzen versuchte, also der Sowjetunion militärische Parität ausdrücklich zuge-stand und ihren Anspruch auf die politische Parität zumindest hinnahm, bestritt ihr Carter diese politische Parität ausdrücklich. Er ging, zusammen mit seinem Außenminister Cyrus Vance, davon aus, daß die Vereinigten Staaten nicht in der Lage sein würden, der Sowjetunion die militärische Parität zu nehmen. Bei dem in der Sowjetunion herrschenden Grad von Repression war Moskau in der Lage, jeden von ihm für erforderlich gehaltenen Rüstungsaufwand zu treiben, ohne besondere Rücksicht auf die möglicherweise kollidierenden Konsuminteressen der Sowjetgesellschaft nehmen zu müssen. Wer eine weitere sowjetische Aufrüstung verhindern und den Rüstungswettlauf abbremsen wollte, konnte dies nur mit der Sowjetunion, nicht gegen sie, unternehmen.

Konsequent hat die Carter-Administration die Arbeiten an der Kontrolle der strategischen Rüstung vorangetrieben. Während ihr erster Vorschlag vom März 1977, der maßgeblich von Senator Jackson inspiriert worden war, wegen seiner Einseitigkeit und seiner Abweichung von dem bisherigen Ansatz kaum Erfolgsaussichten besaß, konnte die Carter-Administration nach Überwindung zahlreicher Widerstände im Sommer 1979 den SALT-II-Vertrag vorlegen. Wenn er auch das Nuklearpotential beider Seiten nicht nennenswert kürzte, so verhinderte er doch dessen weitere Erhöhung und schloß mit seinen zahlreichen Präzisierungen so manches Schlupfloch Die Qualität dieses Vertragswerks läßt sich daran erkennen, daß es — wie erwähnt —, obwohl es in den Vereinigten Staaten niemals ratifiziert und von der Reagan-Koalition in ihrem Wahlkampf heftig attackiert worden war, bis heute de facto beachtet wird.

Im Gegensatz zu Nixon und Kissinger war Präsident Carter indes nicht bereit, der Sowjetunion die politische Parität zuzugestehen, und zwar nicht einmal de facto, durch schweigende Hinnahme. Präsident Carter begann seine Amtszeit mit einer vehementen Kampagne für die Menschenrechte, die zwar nicht exklusiv, aber doch in erster Linie auf den Kommunismus der Sowjetunion „hoffte war. Carter und glaubte, daß die Ausbreitung der Menschenrechte in der ganzen Welt die Welle der Zukunft sein würde und ... (er) wollte, daß die Vereinigten Staaten an der Spitze dieser Bewegung“ sein sollten Dabei war ihm klar, daß „die Förderung der Menschenrechte querliegen würde zu unseren Beziehungen mit der Sowjetunion und anderen totalitären Regierungen ...selbst zu einigen unserer alten westlichen Alliierten“ Damit bestritt Carter die politische Legitimität der Sowjetunion, bestritt er die politische Gleichberechtigung Moskaus. Er prangerte den Totalitarismus und die Repression an, die das bolschewistische System der Sowjetunion kennzeichnen, und setzte ihnen den überlegenen Anspruch der Freiheit und der Demokratie entgegen, die die Regierungssysteme des Westens charakterisieren. Als dessen Repräsentant hatten sich die Vereinigten Staaten seit 1945 stets verstanden. Jimmy Carter erkannte sehr richtig, daß in dem Antagonismus zwischen Kommunismus und Liberalismus die eigentliche Wurzel des Ost-West-Konfliktes lag und zielte mit seiner Kampagne für die Menschenrechte darauf ab, hier wieder initiativ zu werden.

Carter also antwortete auf die sowjetische Herausforderung mit einer Mischung aus rüstungskontrollpolitischer Kooperation und ideologischer Offensive. Er akzeptierte die militärische Parität der Sowjetunion und offerierte Zusammenarbeit, um den Rüstungswettlauf einzudämmen. Er bestritt ihr aber ausdrücklich die politische Parität und reklamierte statt dessen die überlegene Legitimität des Systems der westlichen Demokratie. Außenminister Vance versuchte, diese Überlegenheit in eine politische Strategie der USA in der Dritten Welt umzusetzen. Wenn er sich auch weigerte, hinter jedem afrikanischen Busch einen Kommunisten zu erblicken, so bemühte er sich doch, die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Probleme in der Dritten Welt lösen zu helfen. Sehr richtig sah er darin die beste Möglichkeit, die Erweiterung des sowjetischen Einflusses in der Dritten Welt zu unterbinden. Für ihn bestand „der beste Weg, die sowjetische und kubanische Ausnutzung der Rassenkonflikte im südlichen Afrika zu verhindern“, darin, daß sich „die Vereinigten Staaten mit dem Prinzip der Herrschaft der Mehrheit identifizierten“ Ebenso sollten die Auslandshilfe und die Außenwirtschaftspolitik der Vereinigten Staaten dazu beitragen, daß wenigstens die gröbsten Nöte in der Dritten Welt gelindert werden würden.

Präsident Carter hatte kaum Zeit, die Tragfähigkeit dieses Ansatzes auszuprobieren. Unmittelbar im Weißen Haus stand der Sicherheitsberater Brzezinski bereit, den Carterschen Ansatz zu verlassen und zu irgendwelcher Art von Konfrontationspolitik zurückzukehren. 1978, im Zusammenhang mit der sowjetischen Luftbrücke für kubanische Soldaten nach Äthiopien, gelang es Brzezinski, das Ruder der amerikanischen Außenpolitik den Händen von Vance zu entwinden und in die eigenen zu nehmen. Brzezinski reflektierte damit den Stimmungswandel, der sich im Innern der Vereinigten Staaten bereits vollzogen hatte. Die Reagan-Koalition mit dem . Committee on the Present Danger* hatte 1975 die Nominierung Reagans zum republikanischen Präsidentschaftskandidaten knapp verfehlt; sie war aber sehr erfolgreich darin gewesen, ihr außenpolitisches Konzept bis in die politische Mitte der Vereinigten Staaten hinein zu verbreiten. Dieses Konzept verwarf jegliches Element von Kooperation und Entspannung mit der Sowjetunion, die als ausschließliche Nutznießerin der bisherigen amerikanischen Politik hingestellt wurde. Die Koalition sah in der Entspannungspolitik nichts weiter als einen groß angelegten Täuschungsversuch der Sowjetunion, mit dem sie die Vereinigten Staaten in Sicherheit wiegen und ihre eigene Aufrüstung vorantreiben wollte. Mit dieser Interpretation wollte sie den alten Konsens aus der Zeit des Kalten Krieges wieder beleben, der die Sowjetunion als einen Gegner angesehen hatte, dem gegenüber allein Mißtrauen, Wachsamkeit, Aufrüstung und Machtpolitik angemessen sein konnten

Die Reagan-Koalition verfolgte mit dieser Kampagne nicht nur außenpolitische Ziele. Im Gegenteil: Das „Buschfeuer“, das Ronald Reagan als Kandidat seit Mitte der sechziger Jahre in den Vereinigten Staaten zu entzünden hoffte sollte die Sozialpolitik der , großen Gesellschaft verbrennen und die traditionelle innenpolitische Wertordnung der amerikanischen Gesellschaft wiederherstellen. Die außenpolitische Komponente wurde diesem Konzept mehr durch das , Committee on the Present Danger'zugeführt, das in der Koalition von Alter und Neuer Rechten die Außenpolitik des extremen Konservati-vismus der Republikanischen Partei zu definieren übernommen hatte.

Diese Interpretation der sowjetischen Außenpolitik schien nachhaltig bestätigt zu werden, als die Sowjetunion im Dezember 1979 militärisch in Afghanistan zu intervenieren begann. Hatte Moskau damit nicht selbst bewiesen, daß es die Entspannungspolitik der Carter-Administration sogar zu Zwecken der militärischen Expansion mißbrauchte? Jimmy Carter selbst gab die Antwort, indem er die Invasion als „eine klare Bedrohung des Friedens“ und eine „fundamentale und anhaltende Wendemarke“ in den amerikanisch-sowjetischen Beziehungen bezeichnete Mit der Anordnung wirtschaftlicher Sanktionen, in deren Kern das Weizenembargo stand, wies Carter Zwangsmaßnahmen als das geeignete Mittel aus, mit dem allein sich sowjetisches Verhalten erfolgreich beeinflussen ließ. Mit Recht konnte sein Sicherheitsberater Brzezinski später sagen, daß die Reagan-Administration nur fortsetzte, was die Carter-Administration ihrerseits bereits begonnen hatte.

Konfrontation und Isolierung

Die Jahre von 1980 bis 1983 stellen eine Baisse in den amerikanisch-sowjetischen Beziehungen dar. Sie wurde noch von Präsident Carter eingeleitet, der sich damit von seiner ursprünglichen Sowjetunionpolitik weit entfernt hatte. Beendet wurde sie von der Reagan-Administration, die sich damit ebenfalls von ihren Ursprungspositionen distanzierte. Reagans Ausgangsposition war ganz eindeutig gewesen: Konfrontation und Isolierung der Sowjetunion erschienen in dieser Zeit als die angemessene Strategie gegenüber einem Gegner, der offensichtlich nichts anderes beabsichtigte, als die Vereinigten Staaten militärisch zu überholen und weltpolitisch zu unterlaufen. Den dahinter liegenden Anspruch der Sowjetunion auf militärische und politische Parität mit den Vereinigten Staaten bestritt Präsident Reagan rundweg. Er verwandelte das gemäßigte Aufrüstungsprogramm, das Carter 1978 eingeleitet hatte, in einen riesigen Rüstungsschub, dem allein in den ersten fünf Jahren 1, 5 Billionen Dollar gewidmet werden sollten. Von vornherein verneinte Reagan eine politische Parität der Sowjetunion. In seiner Rede in Westpoint vom 27. Mai 1981 bezeichnete er diese als eine „böse Macht“ und nahm damit den Begriff „Reich des Bösen“, mit dem er Moskau in einer Rede vom 8. März 1983 in Orlando belegte, schon vorweg

Zumindest in den ersten Jahren versuchte also die Reagan-Administration, ihre Sowjetunion-politik deutlich von der ihrer Vorgänger abzugrenzen und Moskau weder die eine noch die andere Parität zuzugestehen. Dabei muß offen bleiben, ob die Sowjetunion wirklich die gleiche strategische Kapazität besaß wie die Vereinigten Staaten, ganz zu schweigen von der Überlegenheit, die ihr von Reagan bescheinigt wurde. Im amerikanischen Generalstab war man jedenfalls noch Ende 1982 der Auffassung, daß im Bereich der strategischen Nuklearwaffen höchstens eine „essential equivalence" und auf allen anderen Gebieten nach wie vor eine Überlegenheit der Vereinigten Staaten herrsche

Ebenso muß offenbleiben, ob die Reagan-Administration jemals versucht hat, die militärische Überlegenheit der Vereinigten Staaten zu restaurieren. Lediglich im maritimen Bereich erklärte sie öffentlich, sie sei „entschlossen, die maritime Überlegenheit über die Sowjets wiederherzustellen und beizubehalten“ Eindeutig ist, daß die Reagan-Administration Verteidigung und Sicherheit in erster Linie durch die eigene militärische Macht und erst danach, sozusagen zusätzlich, durch Rüstungskontrollvereinbarungen mit der Sowjetunion sicherstellen wollte. Außenminister Shultz sagte noch am 15. Juni 1983, daß die Weltpolitik der Vereinigten Staaten darauf beruhe, die Sowjetunion durch militärische Macht abzuschrecken, anstatt sie in ein Netz der Interdependenz einzubinden Die Strategie verließ sich ausschließlich auf den Zwang, sie schloß die Kooperation weitgehend aus.

Konsequent wurden in den ersten drei Jahren der Reagan-Administration fast alle institutionalisierten Kontakte, die während der Entspannungsperiode zwischen den USA und der UdSSR eingerichtet worden waren, unterbrochen. Davon war auch die kulturelle und wissenschaftliche Zusammenarbeit betroffen. Das amerikanisch-sowjetische Verhältnis ähnelte dem zu Zeiten des Kalten Krieges. George Kennan sah es sogar in einem „furchterregenden und gefährlichen Zustand“, „auf dem Weg zum Krieg“ Nachdem im November 1983 die ersten Pershing-II-Raketen in der Bundesrepublik stationiert worden waren, verließ die Sowjetunion die erst knapp ein Jahr zuvor begonnenen Verhandlungen über die Mittelstreckenraketen in Genf, wenige Tage später auch die über die strategischen Systeme. Der Jahreswechsel 1983/1984 bezeichnet dann aber nicht nur den Tiefpunkt der amerikanisch-sowjetischen Beziehungen, er bezeichnet auch den Zeitpunkt der Wende. In einer Grundsatz-rede vom 16. Januar 1984 und wenige Tage später auch in seiner State of the Union-Botschaft vom 24. Januar warb der amerikanische Präsident für verbesserte amerikanisch-sowjetische Beziehungen. Sie sollten dazu dienen, das Element der Gewalt bei der Konfliktlösung zu vermindern, die Rüstung beider Seiten zu reduzieren und ein besseres Verständnis der Position der jeweiligen anderen Seite zu ermöglichen. Vollzog sich diese Wende zunächst nur auf der Ebene der deklaratorischen Politik, so wurde sie gerade hier besonders deutlich. Im operationalen Bereich hatte sich die Reagan-Administration immer zurückhaltender und pragmatischer gezeigt, als es die starken und kritischen Worte vermuten ließen. Andererseits wurde zunächst nur die Rhetorik korrigiert; an der Aufrüstung und der Zurückhaltung gegenüber der Rüstungskontrolle änderte sich wenig. Allerdings vermehrten sich die Kontakte, wurde das Schweigen zunehmend durch Gespräche ersetzt. Am 28. September 1984 empfing Präsident Reagan zum ersten Mal den sowjetischen Außenminister Gromyko.

Diese Wende — wenn man sie denn so bezeichnet — hatte vermutlich drei Gründe. Präsident Reagan hatte stets erklärt, daß er nach erfolgter Wiederaufrüstung der Vereinigten Staaten das Gespräch mit der Sowjetunion erneut aufnehmen wollte; diesen Zeitpunkt hielt er offensichtlich jetzt für gekommen. Sodann dürften die Präsi35) dentschaftswahlen vom November 1984 ihre Schatten vorausgeworfen haben. Die öffentliche Meinung war längst nicht mehr, wie noch 1981, an Konfrontation und Aufrüstung interessiert. Damals hatten drei von vier Amerikanern Reagans harte Linie gegenüber der Sowjetunion unterstützt Drei Jahre später fand diese Politik nur noch bei 24 bzw. 17% der Bevölkerung Zustimmung

Es gab aber auch handfestere Gründe für eine Kurskorrektur. Die Kritik der westeuropäischen Alliierten an der harten Linie Washingtons wuchs, zumal sie deren Folgen im Sommer 1983 durch den von Reagan verhängten Boykott des Baus der sowjetischen Erdgasröhrenleitung am eigenen Leibe deutlich verspürt hatten. Sodann wuchs der Unmut im Kongreß über die ausbleibenden Rüstungskontrollgespräche; am 4. Mai 1983 hatte das Repräsentantenhaus sozusagen auf eigene Faust eine Resolution verabschiedet, die die Nuklearwaffen beider Seiten auf der damaligen Höhe einzufrieren verlangte

Und schließlich hatte sich gezeigt, daß die Sowjetunion auf den durch verstärkte amerikanische Rüstung erzeugten Druck nicht im gewünschten Sinne reagiert, sondern ihre Position in vielen Bereichen verhärtet hatte Gradmesser dafür war die Entwicklung der Emigration von Juden aus der Sowjetunion, die zehn Jahre zuvor den Anlaß für die Abkehr der Vereinigten Staaten von der Entspannungspolitik gegeben hatte. War 1973 noch 34 733 Juden die Auswanderungserlaubnis erteilt worden, so konnten 1983 nur noch 1 314, 1984 nur noch 896 Juden das Land verlassen Schließlich wies der Abschuß eines koreanischen Verkehrsflugzeuges durch sowjetische Jäger am 1. September 1983 erneut darauf hin, daß die größte Gefahr einer direkten amerikanisch-sowjetischen Verwicklung durch Vorgänge in der Dritten Welt ausgelöst werden konnte.

Realismus, Stärke und Verhandlungen

Wie immer diese Gründe im einzelnen zu verteilen und zu gewichten sind, sie bilden einen Hintergrund, auf dem sich die von Außenminister Shultz in seiner Rede vom 28. Oktober 1984 in Los Angeles entwickelte neue Politik gegenüber der Sowjetunion sehr gut verstehen läßt. Allerdings muß zu diesem Hintergrund auch gerechnet werden, daß sich das sowjetische Verhalten den USA gegenüber im Sommer 1984 drastisch wandelte. Hatten die Sowjets Präsident Reagan in der ersten Hälfte des Jahres 1984 noch als Militaristen und Kriegstreiber hingestellt und gehofft, damit, wie auch durch ihren Abzug von den Genfer Rüstungskontrollgesprächen, auf den anlaufenden amerikanischen Wahlkampf einwirken zu können, so legten sie seit Juni 1984 ein konzilianteres Verhalten an den Tag. Sie richteten sich auf eine zweite Reagan-Administration ein, schlossen im Juli 1984 ein Abkommen über die Verbesserung des Heißen Drahts mit Washington ab und brachten Gespräche über den Kulturaustausch, über neue Konsulate, über die Fischfangrechte der Sowjetunion und über einen Grenzdisput in der Bering-See in Gang

Das amerikanische Interesse an einer Verbesserung der Beziehungen traf also auf eine sowjetische Bereitschaft. Diese Übereinstimmung setzte Außenminister Shultz instand, in seiner Rede in Los Angeles nach der Auflistung der Differenzen mit der Sowjetunion festzustellen: „Es ist offensichtlich in unserem Interesse, mit der Sowjetunion eine Beziehung aufrechtzuerhalten, die so konstruktiv wie möglich ist.“ Shultz brachte die amerikanische Politik gegenüber der Sowjetunion auf die drei Leitbegriffe: „Realismus, Stärke und Verhandlung“. Eine Politik der Stärke, die auf Verhandlungen verzichtet, lehnte er als unrealistisch ab. Nüchterne Verhandlungen mit der Sowjetunion könnten sehr wohl zu beiderseitig nützlichen Ergebnissen führen.

In diesem Punkt ging Shultz sogar noch hinter die Linkage-Politik der Nixon-Administration zurück. Er lehnte es ab, Erfolge in einem Bereich abhängig zu machen von sowjetischem Wohlverhalten in anderen Bereichen. Zwar erwähnte er, daß ein solcher Zusammenhang hergestellt werden könnte — aber nicht prinzipiell, sondern nur aus taktischen Gründen. Andernfalls würde die Linkage-Politik auf eine Selbstbeschränkung der USA hinauslaufen. Wörtlich sagte Shultz: „Es ist für uns nicht immer zweckmäßig, Verhandlungen* abzubrechen und Abkommen auszusetzen. Wenn diese Verhandlungen oder Abkommen geführt und geschlossen wurden mit einem realistischen Blick auf ihren Nutzen für uns, dann sollten sie es wert sein, unter allen — es sei denn außergewöhnlichen — Umständen aufrechterhalten zu werden.“ Shultz veranschaulichte diese These konkret am Beispiel Afghanistan, wo er die amerikanischen Reaktionen als zwecklos bezeichnete, weil sie weder den wirtschaftlichen Interessen der Vereinigten Staaten gedient noch die Sowjetunion aus Afghanistan herausgebracht hätten.

Man muß sich nur der Rolle erinnern, die die sowjetische Invasion Afghanistans beim ersten Wahlkampf Reagans und in den Jahren danach gespielt hatte, um das Ausmaß der Wende zu erkennen, die Shultz hier einleitete. Sie wird noch deutlicher, wenn man die Rede zum Vergleich heranzieht, die Shultz ein Jahr zuvor, am 15. Juli 1983, gehalten hatte. Auch dort hatte er dem Linkage-und Interdependenz-Ansatz, wie er von Kissinger bis Carter verfolgt worden war, eine deutliche Absage erteilt. Diese Absage war aber ganz anders begründet worden, nämlich durch den ausschließlichen Verlaß auf eine militärische Machtposition, die die Sowjetunion verläßlicher abschrecken sollte, als die Kooperation sie einzubinden vermochte. Genau diese Möglichkeit aber bewertete Shultz ein Jahr später noch höher als den Linkage-Ansatz.

Das Kennwort dieser Rede von Shultz ist das Bekenntnis zum Pragmatismus bei der Antwort auf die sowjetische Forderung nach Anerkennung einer politischen Parität für Moskau. Im Bereich der militärischen Parität bleibt die Haltung der Reagan-Administration unverändert. Sie ist auf die Stärkung des militärischen Potentials der Vereinigten Staaten gerichtet, um jeder sowjetischen Herausforderung begegnen zu können. Das kann in manchen Bereichen auch Überlegenheit bedeuten, etwa im Bereich der von Präsident Reagan am 23. März 1983 verkündeten „Strategischen Verteidigungsinitiative“. In jedem Fall bedeutet es kontinuierliche Aufrüstung und Zurückhaltung gegenüber Rüstungskontrollabkommen, die die amerikanischen Potentiale reduzieren. Hierin unterscheidet sich auch nach der Rede von Außenminister Shultz die Reagan-Administration von allen ihren Vorgängern, die gerade die Forderung der Sowjetunion nach Anerkennung ihrer militärischen Parität ernst genommen und auszunutzen versucht haben für den Abschluß von Rüstungskontrollabkommen, für eine „kooperative Rüstungssteuerung“ (Baudissin). Die politische Parität der Sowjetunion aber, ihr Interesse an der Mitsprache bei der Steuerung und Regulierung von Konflikten in der Dritten Welt, trifft jetzt auf eine ganz pragmatische Haltung der Vereinigten Staaten. Sie wollen von Fall zu Fall entscheiden, ob Kooperation oder Konfrontation die bessere amerikanische Taktik darstellt. Bleibt es also durchaus auch bei der Konfrontation, so wird die Kooperation doch nicht mehr ausgeschlossen. In bezug auf die politische Parität nähert sich die Reagan-Administration damit dem Verhalten Nixons.

Man kann die These aufstellen, daß diese Annäherung nicht erst im Herbst 1984 erfolgt ist, sondern auf der operationalen Ebene bereits die ge samte Amtszeit Reagans kennzeichnet Das würde dann bedeuten, daß sich von diesem Zeit punkt an lediglich die Rhetorik der praktischen Politik angepaßt habe. Die These ist interessant überzeugt aber auf einem wichtigen Gebiet der amerikanisch-sowjetischen Beziehungen nicht auf dem der Rüstungskontrolle. Hier unterscheidet sich die Reagan-Administration nach wie vor von ihren Vorgängern, und zwar auf der operationalen Ebene, nicht nur auf der rhetorischen. Es bleibt abzuwarten, ob sich daran angesichts des auf der Genfer Gipfelkonferenz gefaßten Beschlusses, die Rüstungskontrollverhandlungen „zu beschleunigen“, etwas ändert.

Wirtschaftliche Interessen

In einem anderen Bereich hingegen verfuhr die Reagan-Administration von Anfang an ganz pragmatisch: auf dem Gebiet der Wirtschaftsbeziehungen. Den Anfang machte die Aufkündigung des Carterschen Weizenembargos. Präsident Reagan nahm sie am 24. April 1981 vor, kaum daß er drei Monate im Amt war. Reagan bewertete die Exportinteressen der amerikanischen Farmer höher als die Geschlossenheit der amerikanischen Opposition gegenüber der Sowjetunion. Im Fall des Erdgasröhrenembargos (1982) und bei der Vergrößerung und Verschärfung der CoCom-Liste kehrten sich die Prioritäten um, traten die wirtschaftlichen Interessen — die allerdings vornehmlich auf europäischer Seite lagen — in den Hintergrund.

Die Reagan-Administration hat diesen Widerspruch wenig überzeugend damit zu erklären versucht, daß Weizenverkäufe sowjetisches Kapital verminderten, während Erdgaslieferungen es erhöhten Ausschlaggebender dürfte gewesen sein, daß vom Röhrenembargo und von der Einschränkung des Technologieexports vornehmlich die Interessen der Europäer und der europäischen Töchter amerikanischer Konzerne betroffen waren, während das Weizenembargo unmittelbar die amerikanischen Farmer traf.

In dem selektiven Pragmatismus, der die Sowjetunionpolitik der Reagan-Administration kennzeichnete, wurden die Interessen der amerikanischen Farmer auch fernerhin bedacht. Im Juni 1983, zu der Zeit, als alle anderen Beziehungen mit Moskau praktisch suspendiert waren, erneuerten die USA und die UdSSR zum dritten Mal für fünf Jahre das Abkommen über die landwirtschaftliche Zusammenarbeit. Acht Wochen später reiste der amerikanische Landwirtschaftsminister Block in die Sowjetunion und unterzeichnete dort ein Weizenabkommen mit fünfjähriger Laufzeit. Ein Jahr später, am 11. September 1984, erweiterte Präsident Reagan den Lieferungsumfang dieses Abkommens erheblich Die Statistik zeigt, daß die amerikanisch-sowjetischen Handelsbeziehungen insgesamt unter der Verschlechterung der politischen Beziehungen nicht nennenswert gelitten hatten. Sie waren nie sehr extensiv gewesen, bestanden im wesentlichen aus amerikanischen Landwirtschaftsexporten und sowjetischem Export von leichtem Öl. Hatte der Gesamtumfang 1979 3, 6 Mrd. Dollar betragen, so betrug er 1984 3, 3 Mrd.

Dennoch bereitete es offensichtlich Schwierigkeiten, die seit 1984 einsetzende politische Klimaverbesserung auch auf das wirtschaftliche Gebiet allgemein zu übertragen. Auf amerikanischer Seite bremste zunächst das von Verteidigungsminister Weinberger stets vorgebrachte militärische Interesse, keine strategisch wichtigen Güter in die Sowjetunion exportieren zu lassen und das Kriterium des Strategischen" möglichst extensiv aus-zulegen. Weinbergers Widerstand gegen die Handelsgespräche, die der amerikanische Handelsminister Baldrige im Mai 1985 in Moskau führte, konnte nur auf intensives Drängen von Außen-minister Shultz überwunden werden Auf sowjetischer Seite haben die Erfahrungen mit dem Weizen-und dem Erdgasröhrenembargo offensichtlich dazu geführt, längerfristige Wirtschaftskontrakte vornehmlich mit westeuropäischen und japanischen Firmen abzuschließen, Geschäfte mit amerikanischen Firmen dagegen hauptsächlich im kurzfristigen Rahmen zu tätigen

Auf beiden Seiten lebt die Erinnerung an das Jackson-Vanik-Amendment zum amerikanischen Handelsgesetz von 1974, das die Gewährung der Meistbegünstigung an die Sowjetunion von der Erleichterung der jüdischen Emigration abhängig machte. Das Stevenson-Amendment band die Gewährung von Export-Import-Bankkrediten an diese Bedingung. Zwar hatte es 1979 schon einmal Versuche gegeben, diese Beschränkungen zu lockern; sie fielen der Afghanistan-Invasion der Sowjetunion zum Opfer.

Besteht seit der Klimaverbesserung von 1984 erneut auf beiden Seiten Interesse an einer Handelsausweitung, so kann die Reagan-Administration nicht von der Unterdrückung der Menschenrechte in der Sowjetunion die Sowjetunion wiederum nicht von der sie diskriminierenden Behandlung durch das Jackson-Vanik-Amendment absehen. Diese prinzipiellen Beschränkungen sind nicht leicht zu beheben. Innerhalb der durch sie gesetzten Begrenzungen aber hat die Reagan-Administration einen flexiblen Pragmatismus gezeigt und sich dabei in vielen Fällen, wie etwa in dem der Verletzung der Walfangquoten durch die Sowjetunion, gegen Pressionen aus dem Kongreß durchgesetzt

Rüstung und Pragmatismus

Nach der Rede von Außenminister Shultz am 18. Oktober 1984 setzte sich die Pragmatik, die bisher den operationalen Bereich, vor allem den der Wirtschaft, gekennzeichnet hatte, auch in die deklaratorische Politik hinein fort. Knapp vier Wochen danach beschlossen die beiden Supermächte, daß sich ihre Außenminister im Januar 1985 in Genf treffen und die Wiederaufnahme der Rüstungskontrollverhandlungen verabreden sollten. Danach geriet die amerikanisch-sowjetische Kommunikation wieder in schnelleren Fluß. Hatten sich die beiden Außenminister in den Jahren davor nur noch am Rande der UN-Vollversammlung in New York getroffen, so kamen sie 1985 fast jeden Monat zusammen. Wenn Reagan und Gorbatschow in der gemeinsamen Erklärung auf ihrer Gipfelkonferenz im November 1985 sich darüber einig waren, „den Dialog auf den verschiedensten Ebenen auf eine regelmäßige Basis zu stellen und zu intensivieren“ so erhoben sie nur zum Beschluß, was im vorausgegangenen Jahr bereits praktiziert worden war.

Der Dialog wird in erster Linie dem Bereich der politischen Parität gelten, der Weltpolitik also, in der sich die beiden Supermächte begegnen. Auf dem Gebiet der Rüstung führen die USA und die Sowjetunion vorläufig einen stummen Dialog über die militärische Parität. Die Sowjetunion setzt ihre Aufrüstungspolitik fort, in den Augen des amerikanischen Verteidigungsministers „die unaufhörliche Einführung neuer nuklearer und konventioneller sowjetischer militärischer Fähigkeiten“ Das Militärbudget der Vereinigten Staaten hat sich seit 1978 mehr als verdoppelt; der Betrag für die Waffenbeschaffung hat sich dabei verdreifacht. Wenngleich der Kongreß 1986 dem Verteidigungsbudget der Vereinigten Staaten ein Nullwachstum verordnet hat, so hatte er doch zuvor die Aufrüstungspläne der Reagan-Administration zu 95, 7% verwirklicht und dabei die Beträge für acht größere Waffensysteme, angefangen von der MX und der Trident II bis hin zu Reagans Strategischer Verteidigungsinitiative, von 1, 2 Mrd. Dollar 1980 auf die verlangten 20 Mrd. Dollar 1986 erhöht

Wenn auch nach wie vor nicht genau bekannt ist, wer den amerikanischen Präsidenten veranlaßt hat,. 1983 die Strategische Verteidigungsinitiative zu starten so haben die USA SDI in Genf bis-her nicht zur Diskussion gestellt, sich allerdings darauf festgelegt, die Forschung dafür nur in dem durch den ABM-Vertrag begrenzten Rahmen weiterzuführen Auf der Genfer Gipfelkonferenz vom November 1985, von der der amerikanische Abrüstungsbeauftragte Paul Nitze sich zunächst Vereinbarungen, dann jedoch zumindest „Richtlinien“ für die Rüstungskontrollgespräche in Genf versprochen hatte ist — außer der Beschleunigung’ — nichts Konkretes beschlossen worden. Die Positionen sind zu weit entfernt, als daß sie sich auf der Genfer Gipfelkonferenz hätten überbrücken lassen.

Jenseits der Differenzen über Zahlen und Mischungen wird es bei der bis März geplanten laufenden Runde der Genfer START-Gespräche vornehmlich um die Verifikation gehen, vermutlich das schwierigste Problem. Hier gibt es zwar einen interessanten Hoffnungsschimmer, weil die Sowjetunion sich im Februar 1985 zum ersten Mal vertraglich bereit erklärt hat, sowjetische Nuklearfabriken durch die Internationale Atomenergie-Agentur, die in Wien sitzt, inspizieren zu lassen. Sie gab dies durchaus als Beispiel dafür aus, wie ihrer Ansicht nach eine internationale Verifikation auch auf dem Gebiet der Kernwaffen allgemein aussehen könnte Auch der sowjetische Dreistufenplan zur Abrüstung vom 15. Januar 1986 enthält die Bereitschaft zur Inspektion vor Ort. Ob sich diese Bereitschaft auch konkret in den Genfer Verhandlungen bemerkbar machen wird, ist offen.

Ebenso offen ist, ob es an den beiden anderen Tischen in Genf zu Problemlösungen kommen wird. Im Genfer Kommunique war ein Interims-abkommen im Bereich der Mittelstreckenraketen erwähnt worden; denkbar ist, daß man sich beiderseits auf 140 Systeme einigt, auf diejenige Anzahl, die der Westen bei seinem Stationierungsprogramm im Dezember 1985 erreicht hat. Freilich bleibt die leidige Frage der Einbeziehung der französischen und britischen Systeme dabei außer acht. Vollends gedrückt ist die Stimmung am Tisch der Weltraumwaffen. Solange die Vereinigten Staaten nicht bereit sind, SDI zur Disposition zu stellen, und die Sowjetunion sich weigert, wenigstens die Forschung im SDI-Bereich zuzulassen, sind die Aussichten auf eine Verständigung gering.

Über die militärische Parität der Sowjetunion wird also in aller Praxis unilateral durch die jeweilige Aufrüstung entschieden, mit einer nur begleitenden Funktion der Verhandlungen. Die Genfer Gipfelkonferenz hat daran nichts geändert, hat in ihrem Schlußkommunique diese Tendenz vielmehr noch bestätigt. Die Wende im amerikanisch-sowjetischen Verhältnis kam vielmehr dem anderen Bereich, dem der politischen Parität zugute. Hier wurde in Genf die Tendenz zum flexiblen Pragmatismus bestätigt, der auch die Zusammenarbeit zwischen den beiden Supermächten im Bereich der Dritten Welt durchaus zuläßt. Sie verdient eine dementsprechende Beachtung.

Der „regionale Friedensprozeß“

Schon im Vorfeld der Genfer Konferenz war die Tendenz beobachtet und dann als Versuch der USA interpretiert worden, in Genf von dem wichtigen Thema der Rüstungskontrolle abzulenken und statt dessen die regionalen Probleme zu diskutieren. Das mag nicht unzutreffend sein: Politische Entscheidungen dienen immer mehreren Zielen zugleich. Der von Präsident Reagan in seiner Rede vor den Vereinten Nationen am 24. Oktober 1985 vorgeschlagene „regionale Friedensprozeß“ enthielt aber nicht weniger als den Vorschlag, daß „sich Vertreter der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion zusammensetzen ..., um sich über Garantien über bereits erzielte Abkommen Gedanken zu machen“ Zwar sollen die beiden Supermächte den Friedensprozeß zwischen den streitenden Parteien in der Dritten Welt nicht oktroyieren, er muß vielmehr von den Beteiligten selbst eingeleitet und ausgeführt werden. Die beiden Supermächte sollen aber sehr wohl „die laufenden Verhandlungen zwischen den streitenden Parteien unterstützen“ und dann eben ein Abkommen auch garantieren. In einer dritten Phase soll Wirtschaftshilfe den befriedeten Ländern die Rückkehr in die Weltgemeinschaft erleichtern. Präsident Reagan hatte dabei ausdrücklich an Afghanistan, an Kamputschea, Äthiopien, Angola und Nicaragua gedacht, an Konflikte also, an denen die Sowjetunion direkt oder indirekt beteiligt ist. Der Sowjetunion dürfte es leicht fallen, auf amerikanische Engagements hinzuweisen und vor allem den Nahen Osten in die Liste mit-einzubringen. Dies kann den Verfassern der Rede Reagans — auf die dem Vernehmen nach der frühere Präsident Nixon maßgeblichen Einfluß genommen haben soll — kaum entgangen sein. In Vorschlag regionalen Friedenspro dem -eines zesses meldet sich die Nixon-Doktrin wieder zu Wort, dernach die Dritte Welt ihre Probleme vornehmlich selbst lösen soll. Auch die in der Grundsatzerklärung von 1972 getroffene Verabredung der beiden Mächte, „alles in ihrer Macht Stehende zu tun, damit es nicht zu Konflikten oder Situationen kommt, die zur Erhöhung internationaler Spannungen führen würden“ schimmert wieder durch. Beide Supermächte wollten bestrebt sein, so hatten sie es weiter in dieser Grundsatzerklärung beschlossen, „Bedingungen herbeizuführen, unter denen alle Länder in Frieden und Sicherheit leben können und nicht Gegenstand einer Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten von außen werden“.

Einsicht in die Weltlage, in die eigenen Interessen und in die eigenen Möglichkeiten hat also die Reagan-Administration dazu veranlaßt, im Bereich der politischen Parität der Sowjetunion ein rein pragmatisches Vorgehen einzuschlagen. Hier nähert sie sich offensichtlich der Politik der Nixon-Administration an, ohne deren kooperatives Verhalten auf dem Gebiet der militärischen Parität nachzuahmen. Aus Gründen der Ideologie hätte es eigentlich nahegelegen, daß Reagan im Bereich der politischen Parität die offensive Menschenrechtspolitik Carters aufgenommen und weitergeführt hätte. Dazu gibt es Ansätze, beispielsweise im „Project Democracy“, in dem seit 1983 die beiden großen Parteien und die Gewerkschaften zusammenarbeiten, um die Demokratisierung der Dritten Welt zu unterstützen. Sie wurden aber stets überlagert durch die Aufmerksamkeit, die die Reagan-Administration dem internationalen Terrorismus gewidmet hat, für dessen Bekämpfung die sowjetische Kooperation ebenfalls wichtig sein kann.

So hat die Reagan-Administration im Vergleich mit ihren beiden letzten Vorgängern mit der Verbindung von Aufrüstung im militärischen und Pragmatismus im politischen Bereich ein drittes Mischungsverhältnis vorgelegt. Nixon hatte Rüstungskontrolle mit Pragmatismus, Carter Rüstungskontrolle mit offensiver Menschenrechts-politik verbunden. Die Reagan-Administration bietet Aufrüstung flexiblen und Pragmatismus im politischen Bereich an. Auf dieser Dimension hat sie sich der Strategie Nixons und Kissingers wieder angenähert. Sie scheint auszuführen, was ihr Henry Kissinger als Vorbereitung für das Genfer Gipfeltreffen ins Stammbuch schrieb: „Es muß spezielle Übereinkommen geben, die definieren, was die wirklich vitalen Interessen jeder Seite sind und welche Herausforderungen als erträglich gelten können. In der Vergangenheit waren diese Abkommen auf Allgemeinheiten beschränkt, die eine Illusion des Fortschritts geschaffen haben. Jetzt muß ein konkretes und definitives Programm ausgearbeitet werden.“ Die Reagan-Administration folgt in diesem Bereich, wie ihr ihre Kritiker von rechts vorwerfen Nixons Konzept einer „nüchternen Detente“.

Im klassischen Vokabular wird man diesen Begriff wohl am ehesten mit „Realpolitik“ übersetzen können. Er beschreibt ein Konzept, auf das sich die Sowjetunion sehr gut versteht, auf dessen Spielregeln sie sich vermutlich am ehesten einlassen wird. Es verbindet militärische Stärke mit der Wahrnehmung politischer Interessen, deren einziges Regulativ die Vermeidung der direkten Konfrontation darstellt. Ob diese Strategie das Verhältnis der beiden Supermächte im Nuklear-zeitalter auf Dauer gestalten kann, steht auf einem anderen Blatt. Einerseits muß wegen der Gefährlichkeit dieser Waffen die Rüstungsdynamik unter Kontrolle gebracht werden. Andererseits kann die Weltpolitik des Westens nicht davon absehen, daß ihr in der Sowjetunion ein rivalisierendes Legitimitätskonzept weltweit entgegentritt. In beiden Bereichen greift die „Realpolitik“, die das Verhältnis der beiden Supermächte nach Genf kennzeichnet, zu kurz.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Richard Nixon, Superpower Summitry, in: Foreign Affairs, 64 (1985) 1, S. 9.

  2. Dazu Coral Bell, From Carter to Reagan, in: Foreign Affairs, 63 (1985) 3, S. 400ff.

  3. Dazu John M. Collins, U. S. -Soviet Military Balance. Concepts and Capabilities 1960— 1980, New York 1980.

  4. Werner Link, Der Ost-West-Konflikt, Stuttgart 1980, S. 20.

  5. I. M. Destier et. al, Our Own Worst Enemy, New York 1984.

  6. Philip Taubmann, Shultz-Weinberger Feud: A Source of Key U. S. Policy Stalemates, in: International Herald Tribune (fortan zit. IHT) vom 24. April 1985, S. 8.

  7. Der Rücktritt McFarlanes wurde im Frühjahr 1985 durch die Umorganisation des Weißen Hauses, die Regan zum Stabschef machte, vorbereitet. IHT vom 13. /14. April 1985.

  8. Thomas L. Hughes, The Crack-Up: The Price of Collective Irresponsibility, in: Foreign Policy, (Herbst 1980) 40, S. 33 ff. Ferner William W. Whitson, Over-View, in: The U. S. Role in a Changing World Political Economy: Major Issues for the 96th Congress, Joint Committee Print, Washington 1979, S. 129 f.

  9. Richard A. Falk, Beyond Internationalism, in: Foreign Policy, (Herbst 1976) 24, S. 65 ff.

  10. Robert J. Pranger, Six U. S. Perspectives on Soviet Foreign Policy Intentions, in: AEJ Foreign Policy and Defense Review, 5 (1979) 1, S. 2 ff.

  11. James N. Rosenau/Ole R. Holsti, U. S. Leadership in a Shrinking World: The Breakdown of Consensuses and the Emergence of Conflicting Belief Systems, in: World Politics, XXXV (April 1983) 3, S. 368 ff.

  12. Der Begriff nach Arthur M. Schlesinger Jr., The Imperial Presidency, New York 1973.

  13. Jacob K. Javits, War Powers Reconsidered, in: Foreign Affairs, 64 (1985) 2, S. 130ff.

  14. Collins (Anm. 3), S. 115 ff., 178ff., 242 ff.

  15. Raymond L. Garthoff, Detente and Confrontation. American-Soviet Relations from Nixon to Reagan, Washington (Brookings) 1985, S. 69ff., 195. Die umfassende Studie von Garthoff ist von grundlegendem Wert für die Entwicklung des amerikanisch-sowjetischen Verhältnisses.

  16. Dazu Gebhard Schweigler, Von Kissinger zu Carter, München 1982; und Christian Hacke, Die Ära Nixon-Kissinger. 1969— 1974, Stuttgart 1983.

  17. David P. Calleo, The Imperious Economy, Cambridge (Mass.) 1982, S. 119.

  18. Die Erklärung ist abgedruckt in: Europa-Archiv 27 (1972) 12, S. D 289— 291. Sie ist auch zugänglich in Ernst-Otto Czempiel /Carl-Christoph Schweitzer (Hrsg.), Weltpolitik der USA nach 1945. Einführung und Dokumente, Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Band 210, Bonn 1984, S. 327— 329.

  19. Raymond L. Garthoff (Anm. 15), S. 297.

  20. Ebd.

  21. Zbigniew Brzezinski, Power and Principle. Memoirs of the National Security Adviser 1977— 1981, New York 1983, S. 189.

  22. Dazu grundlegend Paula Stern, Water’s Edge. Domestic Politics and the Making of American Foreign Policy, Westport (Conn.) 1979, und neuerdings Raymond L. Garthoff (Anm. 15), S. 406. Dazu Heinz-Jürgen Beuter, Von SALT zu START.

  23. Ein System antagonistischer Rüstungssteuerung, Baden-Baden 1982.

  24. Jimmy Carter, Keeping Faith. Memoirs of a President, New York 1982, S. 144.

  25. Ebd.

  26. Cyrus Vance, Hard Choices. Critical Years in America’s Foreign Policy, New York 1983, S. 257.

  27. Jerry W. Sanders, Peddlers of the Crisis: the Committee on the Present Danger and the Politics of Containment, Boston 1983.

  28. Zu den Einzelheiten vgl. Phil Williams, Detente and US Domestic Politics, in: International Affairs, 61 (Sommer 1985) 3, S. 431 ff., 443 ff.

  29. Dazu David S. Broder, Changing of the Guard. Power and Leadership in America, New York 1980.

  30. Jimmy Carter (Anm. 24), S. 472.

  31. Abgedruckt in: Wireless Bulletin (künftig zit. WB) 100 vom 29. Mai 1981, S. 11.

  32. United States Congress 97/2, Committee on Armed Services, Senate: Structure and Operating Procedures of the Joint Chiefs of Staff, Hearing, 16. Dezember 1982, Washington 1983, Statement Admiral Holloway, S. 5.

  33. Caspar W. Weinberger, Annual Report to the Congress on FY 1983 Budget, 8. Februar 1982, Washington 1982, S. II— 12.

  34. WB 108 vom 2. Juni 1983.

  35. IHT vom 25. Mai 1983, S. 1.

  36. WB 10 vom 16. Januar 1984, S. 2 ff.

  37. Umfrage der Washington Post/ABC, abgedruckt in: Washington Post vom 21. Oktober 1981, S. A 2.

  38. IHT vom 22. Mai 1985. 38)

  39. Einzelheiten in: U. S. Congress Committee on Foreign Affairs, House: Congress and Foreign Policy 1983, Washington 1984, S. 91 f. Dazu Bernd W. Kubbig, (im Erscheinen).

  40. Siehe die Kritik von W. Averell Harriman, Clark M. Clifford und Marshall D. Shulman, in: IHT vom 3. September 1984, S. 4.

  41. Zahlen nach New York Times vom 13. November 1985.

  42. Leslie H. Gelb/Anthony Lake, Diplomacy Restored?, in: Foreign Affairs, 63 (1985) 3, S. 484ff.

  43. Die Rede ist abgedruckt in: WB 196 vom 19. Oktober 1984, S. 4ff., S. 5. Deutsche Auszüge in: Europa-Archiv, 40 (1985) 24, S. D 679 ff.

  44. Coral Bell (Anm. 2), S. 490 f.

  45. Dazu und zum ganzen Problemkreis Michael Mastanduno, Strategies of Economic Containment: U. S. Trade Relations With the Soviet Union, in: World Politics, XXXVII (1985) 4, S. 503 ff., 520f. Zum Technologieaspekt vgl. Jürgen Nötzold, Technologie in den Ost-West-Beziehungen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 2/86 vom 11. Januar 1986, S. 15 ff. Zum Problem des Hochtechnologieexports vgl. Reinhard Rode, Hochtechnologie: Ein Januskopf, ebd., S. 3 ff.

  46. WB 225 vom 4. Dezember 1984, S. 13— 14 u. ff.

  47. IHT vom 20. Mai 1985. Statistical Abstract of the United States 1985, S. 818, mit etwas anderen Zahlen.

  48. IHT vom 20. Mai 1985.

  49. Ebd. vom 1. März 1985, S. 1.

  50. United States Congress 99/1, Committee on Foreign Affairs, House: Developments in Europe, May 1985, Hearing, Washington 1985, Statement Richard R. Burt, S. 6.

  51. Ebd., S. 50.

  52. Abgedruckt in: Europa-Archiv 40 (1985) 24, S. D 689.

  53. United States Department of Defense: Soviet Military Power, Washington 1985. Vorwort Caspar Weinberger. Für eine unabhängige Beurteilung der sowjetischen Aufrüstung seit 1980 vgl. John M. Collins, U. S. Soviet Military Balance 1980— 1985, Washington 1985, S. 53 ff., 66 ff., 79 ff., und passim.

  54. Zahlen des Center for Defense Information, Washington, zit. nach IHT vom 29. Mai 1985.

  55. Ein informierter und ausführlicher Bericht über die Entstehung des Programms findet sich in: San Jose Mercury News vom 17. November 1985, S. 1, 20A to

  56. Zum Problemkreis vgl. United States Congress, Office of Technology Assessment, Ballistic Missile Defense Technologies, Washington, September 1985; und dass. Anti-Satellite Weapons, Countermeasures and Arms Control, Washington, September 1985.

  57. Statement Paul Nitze, in: WB 207 vom 12. November 1985, S. 17ff., und WB 210 vom 15. November 1985, S. 23 ff.

  58. Erklärung des Leiters der Abteilung Internationale Organisationen im sowjetischen Außenministerium Wladimir Petrowski, in: IHT vom 22. Februar 1985.

  59. WB 197 vom 25. Oktober 1985, S. 7. Hier zit. nach dem Teilabdruck in: Europa-Archiv, 40 (1985) 24, S. D 682.

  60. Maclean’s Magazine vom 4. November 1985, S. 27. Den Hinweis auf diese Quelle verdanke ich Reimund Seidelmann.

  61. Die Erklärung ist abgedruckt in: Europa-Archiv, 27 (1972) 12, S. D 289— 291.

  62. IHT vom 6. Mai 1985, S. 5.

  63. Norman Podhoretz, The Reagan Road to Detente, in: Foreign Affairs, 63 (1985) 3, S. 458. Siehe auch die beiden Aufsätze von. Richard M. Nixon, The Case for „hardheaded" Detente, in: IHT vom 23. und 24. August 1982.

Weitere Inhalte

Ernst-Otto Czempiel, Dr. phil., geb. 1927; Professor für Auswärtige und Internationale Politik an der Universität Frankfurt; Forschungsgruppenleiter an der Hessischen Stiftung Friedens-und Konfliktforschung, Frankfurt. Veröffentlichungen u. a.: Amerikanische Außenpolitik. Gesellschaftliche Anforderungen und politische Entscheidungen, Stuttgart 1979; Internationale Politik. Ein Konfliktmodell, Paderborn 1981; Amerikanische Außenpolitik im Wandel. Von der Entspannungspolitik Nixons zur Konfrontation unter Reagan (Hrsg.), Stuttgart 1982; (zusammen mit Carl-Christoph Schweitzer) Weltpolitik der USA. Einführung und Dokumente, Bonn 1984; Friedensstrategien. Internationale Organisation, Demokratisierung und Handel als Mittel des Systemwandels, Paderborn 1986.