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Die Brüder Grimm und die deutsche Politik | APuZ 1/1986 | bpb.de

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APuZ 1/1986 Artikel 1 Die Brüder Grimm und die deutsche Politik Nationalbewußtsein und Nationalstaat der Deutschen Johann Gottfried Herder — Nationsbegriff und Weltgefühl

Die Brüder Grimm und die deutsche Politik

Wilhelm Bleek

/ 32 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

1985/86 werden die 200. Geburtstage von Jacob und Wilhelm Grimm gefeiert. Dabei gedenkt man zumeist der Sammler der „Kinder-und Hausmärchen“ und der Begründer der Germanistik. Die Brüder Grimm nahmen jedoch auch am politischen Geschehen ihrer Zeit teil und wurden sporadisch in der Politik aktiv. Während der Befreiungskriege war Jacob kurhessischer Legationssekretär unter anderem beim Wiener Kongreß; als zwei der „Göttinger Sieben“ errangen die Grimms politische Berühmtheit durch ihren Protest gegen den Verfassungsbruch des hannoverschen Königs im Jahr 1837; 1848 wirkte Jacob in der Frankfurter Nationalversammlung an den Bemühungen um die Einigung Deutschlands unter einer liberalen Verfassung mit. Aber auch die vielfältigen wissenschaftlichen Arbeiten der Grimms auf den Gebieten der deutschen Sprache, Literatur und Rechtsgeschichte hatten einen politischen Hintergrund, sollten die Einheit und Selbstbewußtwerdung Deutschlands fördern. Jede der nachfolgenden politischen Generationen in Deutschland hat sich ihr eigenes Bild von den Brüdern Grimm gemacht. Das wilhelminische Bürgertum zog sie zur Glorifizierung des obrigkeitsstaatlichen Kaiserreiches heran; im Nationalsozialismus wurden die vaterländischen Interessen der Grimms zu nationalistischen und völkischen Einstellungen umgedeutet. In der Bundesrepublik überwiegt die Tendenz, mit den Grimms die Notwendigkeit einer sprachlichen Völkerverständigung und insbesondere der Erhaltung der Einheit Deutschlands als einer Sprach-nation zu begründen. Die DDR hingegen sieht in ihnen Exponenten des fortschrittlichen Bürgertums, dessen Traditionen im zweiten deutschen Staat erhalten würden. So wetteifern beide deutschen Staaten um das Erbe der Brüder Grimm und arbeiten gleichzeitig bei der Bewahrung ihres Nachlasses zusammen, z. B. bei der Fertigstellung des monumentalen „Deutschen Wörterbuches“. Nicht nur in ihren Märchen, auch in der Diskussion um ihr wissenschaftliches Werk und seine politische Bedeutung leben die Brüder Grimm fort.

Gelehrtendasein im Schatten der Politik

„König Drosselbart“ (1967), den „Gestiefelten FReueirg/2. 5 te«, A 0, -(ec 1 Nkhou o---2 Kater“ (1968), „Jorinde und Joringel" (1969), » A--Heheta*, -1 gingüd 8pd i 2m -. tFFRLEEHHEEVITTAETRR, A-END, „Brüderchen und Schwesterchen“ (1970), „Die --yuwrdlkemdw 3207 Re wirÄH. Bremer Stadtmusikanten“ (1971) und nach einem —EEIMEIT LIEBENP, b b • --CaraFRE HEVTSBRE)

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Jacob und Wilhelm Grimm wirkten zeitlebens in zwei nebeneinander liegenden Gelehrtenstuben, erst in Kassel, dann in Göttingen, schließlich in Berlin. Das war der Ort, an dem sich dieses berühmte Brüderpaar am wohlsten fühlte und aus dem es gelegentlich von Dorothea Grimm, Wilhelms Frau, herausgescheucht wurde, damit die Männer „nicht hinter dem Wörterbuch verschimmeln“. Am zweitliebsten hielten sie sich von Jugend an in Bibliotheken mit ihren Schätzen an Büchern und Handschriften auf; Bibliothekare waren sie an die 30 Jahre lang und wären es auch gerne geblieben. Und wenn wir uns die Brüder Grimm außerhalb dieser Bücherwelt vorstellen, dann auf der Wanderung durch die Dörfer und Landschaften ihrer hessischen Heimat, auf der Suche nach Märchen, Sagen und anderen Überlieferungen, deren Sammlung, Bewahrung und Deutung ihnen zum Lebensziel geworden war.

Politik und gar politische Aktivitäten passen nicht in das herkömmliche Bild der beiden Grimms. Dabei stand ihr Leben von Anfang an im Schatten der Politik, sei es des großen Weltgeschehens oder der örtlichen und kleinstaatlichen Ereignisse, die den Alltag der Brüder um so nachhaltiger beeinflußten.

Als Jacob vier und Wilhelm drei Jahre alt war, brach in Paris am 14. Juli 1789 die Französische Revolution aus, deren Schockwellen bald auch Hessen-Kassel erreichten, in dem der Vater Grimm als Verwaltungsbeamter in Hanau und später Steinau wirkte. Nach dem frühen Tode des Vaters besuchten die Brüder in der Landeshauptstadt Kassel das Lyzeum und studierten an der Universität Marburg zwischen 1802 und 1806 Rechtswissenschaft.

In dieser Zeit erlebten sie den Expansionswillen des napoleonischen Frankreich, dem schließlich auch ihr Heimatstaat zum Opfer fiel: Das Kur-fürstentum Hessen wurde 1807 dem Königreich Westfalen unter Napoleons jüngstem Bruder Jerome Bonaparte einverleibt. Zwar erhielt Jacob, nachdem auch die Mutter gestorben war und er als ältester Bruder die Verantwortung für fünf jüngere Geschwister trug, eine Stelle als Bibliothekar der Privatbibliothek Jeromes. Doch die Abneigung der Brüder gegen die Fremdherrschaft war unübersehbar. Noch Jahre später klagte Wilhelm in seiner Selbstbiographie (1830) über den befremdlichen Wandel in Kassel: „fremde Menschen, fremde Sitten, auf der Straße und auf den Spaziergängen eine fremde, laut geredete Sprache“.

So begrüßten die Brüder, inzwischen durch erste Veröffentlichungen hervorgetreten, den sich seit 1812 abzeichnenden Wandel des Kriegsgeschehens. Als im Frühjahr 1814 die alliierten Heere nach Paris vorrückten, zog Jacob Grimm als kur-hessischer Legationssekretär mit, um requirierte Kulturgüter nach Hessen-Kassel zurückzuholen. Den jüngeren Bruder hielt nur seine schwächlichere Konstitution von dem Eintritt in den diplomatischen Dienst für das Vaterland ab. Im Herbst dieses Jahres ging Jacob in gleicher Stellung nach Wien, wo der Kongreß der Fürsten und Staatsmänner über eine neue europäische Ordnung beriet. Doch seine Hoffnung auf eine freie Reichsverfassung wurde bald zunichte. Die Enttäuschung darüber schlug sich auch in Beiträgen zu dem von Joseph Görres herausgegebenen „Rheinischen Merkur“ bis zu dessen Verbot 1816 nieder.

In diesem Jahr zogen sich die Brüder endgültig an die Bibliothek in Kassel zurück. Das diplomatische Geschäft während der Befreiungskriege hatte Jacob ernüchtert und die sich abzeichnende restaurative Entwicklung Nachkriegsdeutschlands beide enttäuscht. Auf zwei nachgeordneten Stellen als Bibliothekare fanden sie Zeit und Muße, ihre breite wissenschaftliche Forschungstätigkeit zu entfalten. Als Wilhelm dann mit 39 Jahren heiratete und das neue Eheglück die brüderliche Eintracht nicht gefährdete, eher noch bestärkte, schien die Familien-und Gelehrtenidylle fern der Politik auf Dauer gesichert. Doch die Willkür der Fürsten warf die beiden Grimms in die Politik zurück.

Bürgerlicher Gewissensprotest gegen monarchische Willkür

Zum Jahreswechsel 1829/30 übernahmen Jacob und Wilhelm Grimm an der hannoverschen Landesuniversität Göttingen zwei Stellen als Professoren und Bibliothekare, nachdem sie in Kassel vom Kurfürsten bei der Besetzung der Bibliotheksleitung übergangen worden waren. Damit schienen nach langen Entbehrungen auch die äußeren Voraussetzungen für die Entfaltung ihres Gelehrtenberufs gegeben, — die Grimms forschten und lehrten an einer der angesehensten deutschen Universitäten und brauchten sich nicht mehr um ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Doch weniger als acht Jahre später waren sie stellungslos und vertrieben. Die Brüder Grimm waren, ohne daß sie es wollten, zum Mittelpunkt eines in ganz Deutschland Aufsehen erregenden politischen Skandals geworden.

Was hatte diesen plötzlichen Schicksalsschlag verursacht? Mitte 1837 löste sich mit dem Tode König Wilhelms IV. die über hundertjährige Personalunion von England und Hannover auf, bestiegen aufgrund unterschiedlicher Erbfolgeregelungen Königin Victoria auf der britischen Insel, in Hannover hingegen ihr Onkel Ernst August den Thron. Dieser hochkonservative Anhänger feudalstaatlicher Ideen verweigerte den Eid auf das 1833 mit der Ständeversammlung ausgehandelte Staatsgrundgesetz, hob dieses auf und entband die Beamten vom Eid auf diese Verfassung.

Das war die Stunde der berühmten „Göttinger Sieben“, darunter die Brüder Grimm. Sieben von damals 32 Göttinger Professoren unter Führung des ordentlichen Professors der Geschichte und Politik Friedrich Christoph Dahlmann erklärten am 17. November 1837, nach ihrem Wissen und Gewissen sei das Staatsgrundgesetz noch gültig und daher könnten sie nicht einseitig von ihrem Verfassungseid entbunden werden. Obwohl die Universitätsspitze diese Erklärung zu verheimlichen und verharmlosen suchte, gelangte sie bald an die Öffentlichkeit und wurde als Protest aufrechter Professoren gegen monarchische Willkür gepriesen. Der königliche Zorn über die ungehorsamen Untertanen folgte auf dem Fuß; er gipfelte in dem Entlassungs-und Ausweisungsbefehl gegen die nach Ansicht Ernst Augusts hochverräterischen Professoren. Am 17. Dezember 1837 überschritten Dahlmann, Jacob Grimm und der Literaturhistoriker Georg Gottfried Gervinus, begleitet und gefeiert von zahlreichen Studenten, die hannoversch-kurhessische Grenze südlich von Göttingen.

Der mutige Protest wurde zu einem in ganz Deutschland sichtbaren öffentlichen Fanal — hatten doch nicht radikale Studenten, sondern geachtete Gelehrte der monarchischen Willkür-herrschaft die Stirn geboten. Geldsammlungen zugunsten der Sieben wurden organisiert und vielerlei Hilfe angeboten.

Der Göttinger Protest stellte die „politischen Professoren“ an die Spitze der liberalen Bewegung des Vormärz. In den im Vergleich zu Westeuropa ökonomisch wie sozial rückständigen Groß-, Mittel-und Kleinstaaten Deutschlands wurden Professoren zu den wichtigsten Exponenten der bürgerlichen Gesellschaft und ihres Drängens nach politischer Reform. Vom Katheder der deutschen Universitäten aus, der fast einzigen gesamtdeutschen Institution, unterrichteten Professoren die studentische Jugend und darüber hinaus die entstehende bürgerliche Öffentlichkeit über die Ideen des „guten Staates“ und der „gerechten Verfassung“. Sie forderten die Teilhabe des Bürgertums an politischer Verantwortung und die staatliche Einheit Deutschlands.

Viele dieser „politischen Professoren“ waren auch in fachlicher Hinsicht akademische Lehrer der Politik(wissenschaft), wie Dahlmann, der eigentliche Autor der Göttinger Protestation und engste Freund der beiden Grimms in ihrer Göttinger Zeit. Diese Politikprofessoren lehrten die Politik und waren zugleich in ihr tätig, z. B. in den Volksvertretungen ihrer Staaten. Theorie und Praxis der Politik lebten sie als persönliche Einheit.

Ihren Protest gegen den königlichen Verfassungsbruch allerdings verstanden die Göttinger Sieben als eine im Wesen unpolitische Tat; darin waren sich der Politiklehrer Dahlmann, die beiden Germanisten Grimm und ihre Mitunterzeichner einig. Er war für sie Ausdruck ihrer ethischen Gesinnung.

Um keinen Zweifel an ihren Motiven aufkommen zu lassen, verfaßten Dahlmann und Jacob Grimm Rechtfertigungsschriften, die im April 1838 nach Schwierigkeiten mit den Zensurbehörden deutscher Einzelstaaten in der Schweiz erschienen. Die Quintessenz von Jacob Grimms Erklärung „Über seine Entlassung“ findet sich schon in dem Motto dieser Schrift, dem von den Grimms veröffentlichten Nibelungenlied entnommen: „War sint die Eide körnen?“ — Wohin sind die Eide gekommen?

Die Brüder Grimm — Jacobs Schrift war von seinem jüngeren Bruder gegengelesen worden — legten Wert darauf, weder von der politischen Partei der Liberalen noch der Demokraten ein-vernommen zu werden. Ihnen ging es einzig und allein um die Bindung an den Eid, die nicht durch einen monarchischen Federzug hinfällig werden könne. Als Professoren würden sie die Achtung vor sich selbst und den Studenten verlieren, würden sie sich der monarchischen Willkür aus Opportunitätsgründen fügen. In einem Brief vom 26. Dezember 1839 an Bettina von Arnim, ihre langjährige Freundin und Förderin, stellte Jacob Grimm nochmals die Motive ihrer Göttinger Eideserklärung klar: „Über unsere Göttinger Protestation brauche ich fast nichts weiter zu sagen. Sie scheint und schien mir von jeher kinderleicht zu beurteilen. Es kommt dabei nur auf Recht und Gewissen an. Keine Politik und Klugheit hat mitzusprechen, was sich auch so ausdrücken läßt: Gerecht und gewissenhaft zu handeln, ist am Ende politisch und klug und wird vor Gott gerechtfertigt werden.“

Im Göttinger Verfassungskonflikt prallten zwei Welten aufeinander. Auf der einen Seite war es der feudalistische Dünkel des Monarchen, der in den Untertanen nur käufliche und verkäufliche Subjekte sah. Noch Jahre nach der Amtsenthebung und Ausweisung der Göttinger Sieben äußerte König Ernst August: „Professoren, Huren und Tänzerinnen kann man überall haben, wo man ihnen einige Taler mehr bietet.“ Auf der anderen Seite stand die Gesinnungs-und Überzeugungstreue von bürgerlichen Gelehrten, die mit Dahlmanns Worten aus seiner Rechtfertigungsschrift „Zur Verständigung“ (Basel 1838) „den unsterblichen König, den gesetzmäßigen Willen der Regierung“ auch gegen den „sterblichen König“ verteidigten, wenn dieser Recht und Verfassung brach.

Die Göttinger Sieben, und das gilt insbesondere für die Brüder Grimm, mögen ihren Schritt noch so unpolitisch und antirevolutionär verstanden haben, sie wurden durch die Protestation doch zu anerkannten Sprechern des rechtsstaatlichen Liberalismus. Sie weckten in der vormärzlichen Zeit von Repression und Restauration Erwartungen und Hoffnungen, die auf Erfüllung drängten.

Sehnsucht nach dem „freien einigen Vaterland“

1841 wurden die beiden Grimms von dem neuen preußischen König Friedrich Wilhelm IV., dem „Romantiker auf dem Thron“, als besoldete Mitglieder der Akademie der Wissenschaften nach Berlin berufen. Nun konnten sie sich wieder unbeschwert ihren vielfältigen Arbeiten auf dem breiten Feld der Germanistik widmen. Germanistik umfaßte im Verständnis dieser beiden brüderlichen Väter des Faches sowohl deutsche Sprache als auch das deutsche Recht und die deutsche Geschichte, Germanistik verknüpfte Gegenstand und Methodik aller drei Disziplinen, wobei die historische Methode dominierte.

Der politische Impuls, der hinter diesem Wissenschaftsprogramm der Germanistik stand, wurde überdeutlich, als man im September 1846 in dem altehrwürdigen Kaisersaal des Frankfurter Römers zur ersten Germanistenversammlung zusammenkam. Jacob Grimm, einstimmig durch Akklamation zum Vorsitzenden gewählt, meinte in seiner Eröffnungsrede zwar, die „eigentliche Politik“ sollte bei den Verhandlungen draußen bleiben, aber Fragen der Geschichte, des Rechts und der Sprache, „die an das politische Gebiet streifen“, sollten mit wissenschaftlicher Strenge aufgenommen werden.

Beispielhaft für solche wissenschaftliche Behandlung politischer Fragen war die Stellungnahme der versammelten Germanisten zu der seit Jahrzehnten schwelenden Auseinandersetzung um Schleswig-Holstein. Dabei ging es darum, ob das vom dänischen König in Personalunion regierte Herzogtum Schleswig in den dänischen oder den deutschen Staatsverband einzugliedern sei. Für die Germanisten mit Jacob Grimm an der Spitze gab es darauf nur eine Antwort: Nicht nur sei die mittelalterliche Vertragsbestimmung zu halten, daß Schleswig und Holstein „up ewig ungedeelt“ sein sollten, auch war es für Jacob Grimm ganz selbstverständlich, „daß Deutschredende zu uns gehören, uns nicht sollen abgerissen werden“, wie er am 16. August 1846 an Gervinus schrieb.

Jacob Grimm drängte es nicht in die Politik, doch wenn das Geschick des Vaterlandes auf dem Spiel stand, entzog er sich nicht dem Ruf. So geschah es auch, als die Märzrevolution von 1848 den Weg zu einer nationalstaatlichen Einigung aller Deutschen unter einer liberalen Verfassung eröffnete. Jacob Grimm wurde durch den 29. rheinpreußischen Wahlbezirk, der Mülheim/Ruhr und Essen umfaßte, in die Nationalversammlung in Frankfurt am Main gewählt.

Am 24. Mai 1848 nahm er in der Paulskirche seinen Platz an hervorgehobener Stelle, in der ersten Reihe im Mittelgang auf einem gesonderten Sitz gegenüber der Rednertribüne und dem Präsidium, ein. Er traf dort drei seiner sechs Göttinger Mitprotestanten wieder, Dahlmann, Gervinus und den Staatsrechtler Wilhelm Eduard Albrecht. Mit ihnen und der Mehrzahl der 49 Universitätsprofessoren, die der Nationalversammlung angehörten, schloß er sich der sogenannten Kasino-Partei an, die sich wie alle Parlamentsfraktionen der Paulskirche nach ihrem Versammlungslokal nannte. Diese politische Gruppierung des rechten Zentrums trat für das Programm einer rechtsstaatlichen und konstitutionellen Monarchie ein, wie es Jacob Grimm in dem Dankesschreiben vom 21. Mai 1848 an die Wahlmänner seines Wahlkreises kurz und bündig umrissen hatte: „Ich bin für ein freies einiges Vaterland unter einem mächtigen König und gegen alle republikanischen Gelüste. Das Nähere werden mir mein Herz und die Zeit eingeben.“

Viermal ergriff Jacob Grimm in der Nationalversammlung das Wort, darunter zweimal zu Verfassungsfragen. Grimm wollte wie die meisten deutschen Liberalen seiner Zeit bei der Verfassungsgebung an die Geschichte anknüpfen, nicht um überholte Zustände zu restaurieren, sondern alte deutsche Volksrechte wiederzubeleben und fortzuentwickeln. In diesem Sinne schlug er am 4. Juli 1848 vor, den „Grundrechten des deutschen Volkes“ einen ersten Artikel voranzustellen: „Alle Deutschen sind frei, und deutscher Boden duldet keine Knechtschaft. Fremde Unfreie, die auf ihm verweilen, macht er frei.“ Dieser Antrag wurde zunächst durch Akklamation angenommen, dann aber mit 192 gegen 205 Stimmen verworfen. Vielen Angeordneten erschien die Verknüpfung der staatsbürgerlichen Freiheitsgarantie mit dem nationaldeutschen Bekenntnis zu eng, dabei hatte Jacob Grimm nur mittelalterliche Rechtsvorstellungen aufgenommen.

Seine längste Rede in der Nationalversammlung hielt Jacob Grimm am 1. August 1848 „Über Adel und Orden“. Standesunterschiede, aber auch Zivilorden seien in einer staatsbürgerlichen Vereinigung von Freien überholt. Auch mit diesem Antrag konnte sich der ältere Grimm nicht durchsetzen; der Mehrheit seiner Parlamentsgenossen war er zu radikal.

Mit seiner zweiten Rede vom 9. Juni 1848 und dem darin enthaltenen Antrag hingegen war Jacob Grimm zunächst erfolgreich gewesen. Es ging um das große Ziel der deutschen Einheit im allgemeinen und die schleswig-holsteinische Frage im besonderen. Nach der staatsrechtlichen Eingliederung Schleswigs in Dänemark hatten die Schleswig-Holsteiner zum Widerstand aufgerufen und die deutschen Zentralorgane zu einem Bundeskrieg gegen Dänemark veranlaßt.

Jacob Grimm erklärte unter Berufung auf seine wissenschaftlichen Arbeiten, daß die Schleswiger seit jeher durch Geschichte und Sprache Deutschland verbunden seien. Er beantragte, den Krieg gegen Dänemark solange fortzuführen, bis die gerechten deutschen Ansprüche auf ein ungeteiltes Schleswig anerkannt seien, und forderte eine Erklärung der Nationalversammlung, daß man sich niemals die Einmischung eines fremden Volkes gefallen lassen würde.

Doch Preußen, das diesen Bundeskrieg durchzuführen hatte, schloß Ende August 1848 eigenmächtig einen Waffenstillstand mit Dänemark. Gegen dieses Abkommen erhob die Mehrheit der in der Paulskirche versammelten Abgeordneten des deutschen Volkes entschiedenen Protest. Auf Initiative Dahlmanns, eines langjährigen Vorkämpfers für die schleswig-holsteinische Sache, beschloß am 5. September 1848 eine heterogene Mehrheit von linken Abgeordenten und Teilen des Zentrums wie der Konservativen die Ablehnung des Waffenstillstandsabkommens entgegen den warnenden Hinweisen des von der Mitte getragenen Reichskabinetts auf die politischen Zwänge. Da aber Dahlmann nach diesem faktischen Mißtrauensvotum keine neue Regierung zustandebrachte, war die Nationalversammlung schließlich zu einem Umfall gezwungen und stimmte am 16. September mit Mehrheit dem Vollzug des Waffenstillstandsabkommens zu. Realpolitische Einsicht siegte über Überzeugungstreue. Für Jacob Grimm war damit der Augenblick zum Rückzug aus der aktiven Politik gekommen. Am 2. Oktober 1848 legte er sein Mandat nieder und kehrte nach Berlin zurück. Das war weniger ein Akt des Protestes gegen eine bestimmte Politik als vielmehr Ausdruck der Resignation vor den Überforderungen des politischen Alltages und Kompromisses. Schon in seiner ersten Rede in der Paulskirche am 29. Mai 1848 über die Geschäftsordnung hatte er seine Ungeduld über den langsamen Fortgang der parlamentarischen Geschäfte und insbesondere der Ausschußberatungen geäußert. In Grimms Augen hatte die Nationalversammlung bloß zu deklarieren, was dem Volksgeist längst bewußt war, eine Verfassung der Einheit und Freiheit aller Deutschen. Was dann in Frankfurt zwischen den Fraktionen und in Deutschland zwischen den Volksvertretungen und den Fürsten tatsächlich ablief, war für Grimm Ausdruck diplomatischen Geplänkels sowie machtpolitischer Ränke und nur geeignet, die Forderungen der Zeit zu verschleiern und zu verwässern. Nicht zuletzt beruhte der Rückzug Jacob Grimms aus der Politik, der ein Anhänger eines zugleich starken und verantwortungsvollen Königtums war, auf der Enttäuschung über die Eitelkeiten und Schwächen der Fürsten. Dazu zählte an erster Stelle der preußische König, der seine deutsche Aufgabe nicht begriff und die ihm angebotene Kaiserkrone als einen „Reif aus Dreck und Lettern gebacken“ ablehnte.

Ein Jahr nach dem hoffnungsvollen Schreiben an seine Wähler an der Ruhr konnte Grimm im Mai 1849 nur feststellen, daß weder ein freies noch ein einiges Vaterland und auch kein im Wortsinne mächtiges Königtum zustande gekommen war. Immer wieder klagte er wie 1858 in einem Brief an Georg Waitz, den Göttinger Historiker: „Wie oft muß einem das traurige Schicksal unseres Vaterlandes in den Sinn kommen und auf das Herz fallen und das Leben verbittern. Es ist an gar keine Rettung zu denken, wenn sie nicht durch große Gefahren und Umwälzungen herbeigeführt wird.“ Dabei dachte Grimm in seinen letzten Lebensjahren weniger an eine „Revolution von oben“, mit der Bismarck dann die nationalstaatliche Einheit herbeiführte, sondern er hatte mehr einen radikalen Umschwung von unten im Auge.

Die patriotische Bedeutung von Sprache und Geschichte

Nach den politischen Erregungen und Enttäuschungen des Jahres 1848/49 sehnte sich Jacob Grimm nach der Ruhe im Kreise der brüderlichen Familie und der Betätigung in der Gelehrtenstube in Berlin. Die Arbeiten, die dort auf ihn und den Bruder warteten, waren dabei keineswegs ohne politische Bedeutung. An erster Stelle stand die gewaltige Aufgabe des „Deutschen Wörterbuches“. Es sollte den gesamten neuhochdeutschen Wortbestand von Martin Luther bis Johann Wolfgang von Goethe erfassen.

Schon die Entstehung dieses Projektes signalisierte seine politischen Bezüge. Als die beiden Brüder 1838 durch den Verfassungsputsch des hannoverschen Königs stellungs-und einkommenslos geworden waren, nahmen sie das Verlagsangebot an, eine Sammlung des deutschen Wortschatzes zu erstellen. Jacob nannte das Wörterbuch in einem Brief an den Bruder „die Frucht unserer Verbannung“. Die beiden ahnten die Bürde, die sie übernahmen, aber nicht deren schließlichen Umfang. Drei Jahre nach Jacobs Rückzug aus der Paulskirche konnte die erste Lieferung, 1854 der erste Band erscheinen. Jacob Grimm schrieb in seinem Vorwort, die Masse der Wörter würde „wie tagelang feine, dichte Flokken vom Himmel fallen“ und die Brüder ein-schneien. Als am 16. Dezember 1859 Wilhelm im 74. Lebensjahr starb, hatte er als der bedächtigere von beiden gerade den von ihm übernommenen einzigen Buchstaben D abschließen können. Jacob als der ältere und drängendere Bruder bearbeitete die Buchstaben A, B, C und dann E und F; er starb am 20. September 1863 im 79. Lebensjahr über der Redaktion des Wortes „Frucht“.

Jacob Grimm ließ in dem berühmten Vorwort zum 1. Band des Wörterbuches (1854) keinen Zweifel an den politischen Hoffnungen und Motiven aufkommen, die sich mit dem philologischen Mammutwerk verbanden. Er fühlte sich „durch erstarkte Liebe zum Vaterland und untilgbare Begierde nach seiner festeren Einigung“ bewegt und legte das Werk „auf des geliebten Vaterlandes Altar“. Das Wörterbuch sollte den Ruhm der deutschen Sprache und des deutschen Volkes erhöhen, „welche beide eins sind“. So mündete das Vorwort in dem patriotischen Aufruf: „Deutsche geliebte Landsleute, welches Reichs, welches Glaubens ihr seiet, tretet ein in die euch allen aufgethane Halle eurer angestammten, uralten Sprache, lernet und heiliget sie und haltet an ihr, eure Volkskraft und Dauer hängt in ihr. Noch reicht sie über den Rhein bis in das Elsasz bis nach Lothringen, über die Eider tief in Schleswigholstein, am Ostseegestade hin nach Riga und Reval, jenseits der Karpathen in Siebenbürgens altdakisches Gebiet. Auch zu euch, ihr ausgewanderten Deutschen, über das salzige Meer gelangen wird das Buch und euch wehmütige, liebliche Gedanken an die Heimatsprache eingeben oder befestigen, mit der ihr zugleich unsere und euere Dichter hinüberzieht, wie die englischen und spanischen in Amerika ewig fortleben.“

Für Jacob und Wilhelm Grimm war die Sprache das einigende Band der Deutschen, die durch so vieles wie Religion und staatliche Ordnungen getrennt wurden. Die Brüder standen unter dem Einfluß der Ideen von Johann Gottfried Herder und der Romantik, daß sich in Sprache, Literatur und Geschichte und ganz allgemein in der Kultur der Geist eines Volkes verkörpere. Mit späteren Begriffen kann man die Grimms als die Treuhänder der deutschen „Kulturnation“ bezeichnen, die sich allerdings nach deren Verfaßtheit in einer „Staatsnation“ (Friedrich Meinecke) sehnten.

Heute würde man formulieren, daß die Arbeit der beiden Brüder der Bewahrung, Wiederentdeckung und Fortentwicklung der deutschen Sprache als einem wesentlichen Fundament der „deutschen Identität“ galt.

Sprache umfaßte für sie nicht bloß das Medium, sondern -auch den Inhalt der privaten wie der öffentlichen Kommunikation; in der Sprache verwirklichen sich Menschen wie Völker. Dabei schwangen bei den Grimms wie bei Herder noch keine expansionistischen und nationalistischen Überheblichkeiten mit, wie eine heutige Sicht des zitierten Schlusses des Vorwortes zum Wörterbuch, aber auch der ersten Strophe des Deutschlandliedes vermuten läßt, das der ihnen befreundete Hoffmann von Fallersleben verfaßte. Ihr Interesse an der Sprache war patriotisch und kosmopolitisch zugleich, sie erforschten und förderten zahlreiche andere germanische, slawische und romanische Sprachen.

Im Mittelpunkt des Lebenswerkes der Brüder Grimm stand allerdings die Sammlung und Erforschung der deutschen Sprache und ganz allgemein der deutschen Überlieferungen. Dazu zählten nicht nur germanistische Arbeiten im engeren Sinne wie Jacobs „Deutsche Grammatik“ (erstmals 1819) mit dem Gesetz der Lautverschiebung, dem international bekannten „Grimm’s Law“, und die Herausgabe von zahlreichen alt-deutschen Literaturzeugnissen wie dem Hildebrandlied durch Wilhelm (1830). Auch die Sammlung der „Kinder-und Hausmärchen“ (erstmals 1812) und der „Deutschen Sagen“ (1816) und Jacob Grimms Erforschung deutscher Mythen (1835) gehörten dazu.

Und schließlich sammelten und edierten die beiden Brüder, die ja Rechtswissenschaft studiert hatten und in lebenslanger Freundschaft mit ihrem akademischen Lehrer, Friedrich Karl von Savigny, dem Begründer der historischen Rechts-schule, standen, auch zahlreiche rechtshistorische Zeugnisse. Jacob veröffentlichte 1828 an die 1000 Druckseiten „Deutsche Rechtsaltertümer“ und gab ab 1840 vier Bände von „Weistümern“ aus dem Kreis bäuerlicher Rechtsüberlieferung heraus. Wie die Sprache sollte auch das Recht nicht konstruiert und gesetzt, sondern dem Volk vom Munde abgeschaut und aus der Überlieferung geschöpft werden.

Die Grimms wie ihre Freunde und Zeitgenossen in der Romantik glaubten an und hofften auf die organische Fortentwicklung des geschichtlichen Lebens. Für sie fiel, wie es Jacob im Vorwort zum 1. Band des „Deutschen Wörterbuches“ (1854) ausdrückte, sowohl „auf zahllose Stellen unserer Gegenwart Licht aus der Vergangenheit“ als auch von heute her Licht auf manche „im Dunkeln liegende(n) Flecken und Gipfel der alten Sprache“. Für die beiden Grimms war Geschichte nichts Abgeschlossenes, kein Museum und keine Antiquitätensammlung, sondern barg die Wurzeln der Gegenwart.

Die Brüder verstanden daher ihre breit angelegten historischen Arbeiten nicht nur als Produkte wissenschaftlicher Gelehrsamkeit, sondern auch als „durch und durch politisch“, wie Jacob über seine 1848 erschienene „Geschichte der deutschen Sprache“ sagte. In der Erforschung der Vergangenheit fanden sie Trost für die unerquickliche Gegenwart und Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Für die Geschichte im allgemeinen galt, was Wilhelm für das Märchen im besonderen feststellte: Daraus ergebe sich eine gute Lehre, eine Anwendung für die Gegenwart. Bei aller Enttäuschung und Verzagtheit über die politischen Zustände hofften die Brüder Grimm doch auf die Wiederkehr der „Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat“ — so der Anfang vom „Froschkönig oder der eiserne Heinrich“, dem ersten Märchen ihrer Sammlung.

Die vaterländischen Brüder als Wegbereiter des Kaiserreiches

Noch zu ihren Lebzeiten erfuhren die Brüder Grimm vielfältige öffentliche Verehrung — und es spann sich manche Mär um dieses erstaunliche Gelehrtenpaar. Erst recht nach ihrem Tode rückte ihr Leben und Wirken in den Bereich der Mythen. Bis heute macht sich jede Generation der Deutschen ihr eigenes Bild von Jacob und Wilhelm Grimm.

Bescheiden und einfühlsam, wie es dem Wesen der Brüder entsprach, fielen noch die Nekrologe im Jahr 1859 und 1863 aus. In ihnen wurde insbesondere die stille Gelehrsamkeit, die Universalität der Forschungsgebiete, der Einklang von wissenschaftlichen und politischen Intentionen und die geschwisterliche Treue der Brüder hervorgehoben. Georg Waitz, als Professor der Geschichte der Nachfolger Dahlmanns in Göttingen, stellte zweieinhalb Monate nach dem Tode Jacob Grimms in der Gedenkrede vor der dortigen Gesellschaft der Wissenschaften noch das persönliche und akademische Porträt des Verstorbenen in den Mittelpunkt. Nur zu Beginn seiner Rede erlaubte er sich einen Bezug auf die Politik: Jacob Grimm sei „ohne Zweifel einer der populärsten Männer in Deutschland“ gewesen und habe „den bedeutendsten Anteil an der Weckung vaterländischen Sinnes gehabt“. Waitz konstatierte aber: „Er (Jacob Grimm) hatte kein Gefallen an politischen Dingen.“

Doch wenig später schon glorifizierten die Repräsentanten des wilhelminischen Bürgertums die Brüder Grimm und nahmen sie für ihr politisches Weltbild in Anspruch. Beispielgebend wurde der Berliner Germanist Wilhelm Scherer, der erste Biograph der Brüder, der auch 1885 in der Berliner Universität die Rede aus Anlaß von Jacobs 100. Geburtstag hielt. Er stilisierte auf der einen Seite die Beschaulichkeit ihres Gelehrtenlebens und erhob sie auf der anderen Seite zu Vorkämpfern der nationalstaatlichen Errungenschaften seiner Gegenwart. Scherers biographischer Artikel über Jacob Grimm schloß 1879 mit dem Resümee: „Prunklose Genialität, häuslich und heimatlich gebunden“. Die beiden Brüder zusam-men ergaben für ihn „das Bild eines unvergleichlichen Strebens im Dienste deutscher Wissenschaft, zur Ehre der Nation“.

Den „Knüppel aus dem Sack“ ließ August Raszmann, als er 1871, dem Jahr der Gründung des kleindeutschen Kaiserreiches, in der Allgemeinen Encyklopädie der Wissenschaften und Künste von Erseh und Gruber seinen biographischen Artikel über Jacob Grimm als „Heros der Wissenschaft“ in der Apotheose münden ließ: „Würde es ihm vergönnt gewesen sein, unsere glorreichen Tage noch mitzuerleben, wo unser Volk im gigantischen Kampfe seine Einheit errang, die kaum einer heißer ersehnte als er, und die auch die von ihm mit Zuversicht erhoffte , stille, frohe Zeit 4 bringen wird, wo das Große und Herrliche, das einst der deutsche Geist in seiner Sprache und seinem Recht, seinem Glauben und seiner Poesie, seinen Sitten und Sagen geschaffen und dem er vor Allen durch seine Werke zum Heil und Stolz unseres Volkes die Fesseln gelöst und Bahn gebrochen hat, erst in seiner ganzen, vollen Kraft auf das Vaterland zurückstrahlen wird — von welcher Freude und Begeisterung würde seine edle, tiefpatriotische Seele entzündet worden sein.“

So wurden aus den zwar heimatverbundenen und patriotischen, aber doch nationalistischen Überheblichkeiten abholden Brüdern, die bei aller Dankbarkeit ihre Skepsis gegenüber den Machtallüren Preußens nie verbargen und auf ein alle Deutschen umfassendes Reich freiheitlicher Verfassung gehofft hatten, Kronzeugen für die klein-deutsche Einigung in einem Obrigkeitsstaat unter preußischer Suprematie. Es wurde ihnen ein „Optimismus“ (Scherer) und ein Hurrapatriotismus untergeschoben, der ihrem bescheidenen und eher skeptischen Wesen ganz fremd gewesen war. Seitdem galten die beiden Grimms dem Bürgertum des Wilhelminischen Kaiserreiches als beispielgebende Verkörperung seines Selbstbildes: besinnlich, fleißig und gottesfürchtig nach innen, aber gigantisch, genialisch und heroisch nach außen.

Völkische Heroen im Nationalsozialismus

So nimmt es nicht wunder, daß Jacob und Wilhelm Grimm schließlich aufrückten zu Inkarnationen des „deutschen Geistes“ und des „deutschen Wesens“, deren Wiederherstellung sich der Nationalsozialismus und seine akademischen Wegbereiter und Gefolgsleute zum Ziel machten. Zwar hatte man seine Schwierigkeiten bei der Jahrhundertfeier der Göttinger Protestation im Jahr 1937, warf der Einspruch der sieben Profes9 soren gegen den Verfassungsbruch des hannoverschen Königs doch ein Licht der Fragwürdigkeit auf die nationalsozialistische Eidespraxis der Jahre 1933/34 und entsprach nicht der zeitgenössischen Maxime unbedingten Gehorsams der Volksgenossen. Doch die gängige Interpretation der Inhalte und Intentionen des Grimmschen Werkes fügte sich ein in die allgemeine Tendenz der Deutschtümelei, die schon Jahrzehnte vor der nationalsozialistischen Machtergreifung in der Germanistik vorherrschend geworden war.

Das Wissenschaftsprogramm einer breit angelegten Germanistik, das die beiden Brüder begründet hatten, wurde zur Forderung nach einer „Deutschwissenschaft“ als umfassender Wissenschaft vom „deutschen Wesen“; ihre induktive und intuitionistische Vorgehensweise wurde als Legitimation mystifizierender Methoden herangezogen; ihr Bemühen um die Bewahrung der deutschen Sprache diente als Rechtfertigung einer schematischen Hatz auf Fremdwörter.

Die vaterländischen, aber doch zugleich universalistischen Intentionen der Brüder Grimm wurden damit zu nationalistischen, dann völkischen und schließlich sogar rassistischen Anliegen verkürzt und umgebogen. Das wird schon aus einer Titelabfolge von Büchern und Zeitschriftenartikeln deutlich, die in der Zeit des Dritten Reiches von renommierten Grimm-Forschern veröffentlicht wurden: Begnügte sich 1935 Will-Erich Peuckert bei der von ihm herausgegebenen Sammlung von Werken der Brüder mit dem Untertitel „Ewiges Deutschland“, so sprach Willi Berger 1937 von „Jacob Grimm und seine(r) völkische(n) Gedankenwelt“ und publizierte Wilhelm Schoof 1941/42 Gedanken zu „Volk und Rasse bei Jacob Grimm“. Völkisches Vokabular, nationalistische Expansionsansprüche und rassistische Überheblichkeiten wurden in das Werk der Brüder Grimm hineininterpretiert, denen es doch nur um die Bewahrung des kulturellen und insbesondere des sprachlichen Erbes der Deutschen gegangen war.

Die Bundesrepublik und die Protagonisten der Kulturnation

Nach dem Untergang der nationalsozialistischen Herrschaft im Mai 1945 mußte sich die Auseinandersetzung der Deutschen mit ihrer Vergangenheit auch auf die Rolle der Germanistik während des Dritten Reiches erstrecken. Am weitesten ging dabei 1966 Walter Boehlich, für den dieses akademische Fach von Anfang an von der „Krankheit des Nationalismus“ befallen gewesen war. Nach Boehlich führte ein gerader Weg, der von antiaufklärerischen und antirevolutionären Ideen gepflastert war, von den Brüdern Grimm bis hin zu den Nazi-Germanisten. Den Göttinger Protest von 1837 tat Boehlich als, Ausfluß von Religion und „Germanentum“, die Teilnahme Jacob Grimms an der Paulskirche als „eher lau“ ab. „Nein, ein revolutionärer Charakter war Jacob Grimm nicht.“ Daraus folgte für ihn im schlichten Umkehrschluß, daß die Grimms den Tag von Versailles, die Einigung Deutschlands nur von oben her, sicherlich bejubelt hätten. Weil die Grimms keine Revolutionäre waren, mußten sie für Boehlich Anhänger des Obrigkeitsstaates gewesen sein.

Diese pauschalen und unhistorischen Bemühungen, mit dem Bade der nationalistisch infizierten Germanistik auch gleich die Brüder Grimm als deren akademische Väter auszuschütten, waren nach 1945 allerdings die Ausnahme. Es überwog die Tendenz, sich nach den Irrwegen der deutschen Germanistik wieder ihrer lauteren Ursprünge zu erinnern.

Den Tenor dazu setzte 1948 Carl Zuckmayer in seinem Büchlein über die Brüder Grimm, deren Leben und Wirken für ihn dem Untertitel dieser biographischen Skizze zufolge „ein deutscher Beitrag zur Humanität“ war. Für Zuckmayer verkörperten die beiden Grimms mit ihrem bescheidenen, brüderlichen, stillen und zugleich für die Suche nach der Wahrheit begeisterungsfähigen Wesen die bessere Seite der Deutschen, an die es wieder anzuknüpfen gelte. Ohne Zweifel empfand Zuckmayer sich wie viele seiner in die Emigration gegangenen Schriftstellerkollegen als in der Tradition der Brüder stehend, waren sie doch ebenfalls vor der Willkür der Herrscher geflohen und kamen jetzt in das Vaterland zurück, um beim demokratischen Wiederaufbau zu helfen, auch mit den Mitteln der Poesie und der Germanistik.

Die Brüder Grimm als gewissenstreue und humanistisch gesinnte Sprachforscher:'Dieses Verständnis bildete auch die Grundlage der Rede Richard von Weizsäckers am 26. August 1985 zur Eröffnung des VII. Internationalen Germanisten-kongresses in Göttingen. Die Sprache, das klang in der Rede des Bundespräsidenten immer wie-B der an, ist kein Vehikel der nationalstaatlichen Abgrenzung und Arroganz, sondern Medium der Verständigung zwischen Menschen und Völkern. Nicht zuletzt ist es die deutsche Sprache, die bei allen Abweichungen insbesondere im offiziellen Sprachgebrauch die Klammer zwischen den Deutschsprechenden in der Bundesrepublik und der DDR, aber auch in Österreich, der Schweiz und zu den Ausländsdeutschen bildet.

Das Leben der Brüder Grimm für die deutsche Sprache ist das offizielle Hauptmotiv für die Bewahrung ihres Andenkens in der Bundesrepublik. Diesem Aspekt ihres Wirkens verdankten sie es im Mai 1961, daß sie aus Anlaß des endlich erfolgten Abschlusses des „Deutschen Wörterbuches“ zu Helden des Titelblattes und der Titelgeschichte des „Spiegels“ aufrückten. Im Jubiläumsjahr 1985 hat sich der Ruhm von Jacob und Wilhelm Grimm als Sprachwissenschaftler in dem sensationellen Verkaufserfolg der 33bändigen Taschenbuchausgabe des „Deutschen Wörterbuches“ niedergeschlagen, von der innerhalb eines guten Jahres 18 000 Exemplare verkauft wurden. Die Originalausgabe beim S. Hirzel Verlag in Leipzig hat von 1954 bis heute eine Verkaufszahl von knapp 5 000 erreicht.

Als Rechtshistoriker und als politisch Tätige wurden die Grimms jedoch weitgehend ignoriert. Nur einmal, im Jahr 1957, rückte ihr Protest des Jahres 1837 wieder in das Bewußtsein der breiten Öffentlichkeit, als 18 Professoren des Göttinger Max-Planck-Instituts für Physik einen Appell an die Bundesregierung richteten, auf die geplante Bewaffnung der Bundeswehr mit Atomwaffen zu verzichten. Doch ansonsten sind die Grimms in Westdeutschland wie in aller Welt vor allem die Sammler und Herausgeber der „Kinder-und Hausmärchen“, die man kennt.

Die öffentliche Aneignung der Märchenbrüder erfolgt in der Bundesrepublik besonders durch die ironisierende Verwertung der Motive, aber auch durch die Entschlüsselung der Inhalte der Märchen. Es ist bekannt, daß Wilhelm in den Märchen allzu direkte sexuelle Anspielungen glättete und verbarg. Die moderne Psychoanalyse hat es sich zur Aufgabe gemacht, diese meist sehr offenbaren Geheimnisse zu dechiffrieren, wobei die Grenze zwischen ernstgemeinter Forschung und humorvoller Satire oft fließend ist.

So hat der Frankfurter Politikwissenschaftler Iring Fetscher langweilige Dauersitzungen in der universitären Selbstverwaltung dazu ausgenutzt, Grimms Märchen aus der Sicht der philologischen Textkritik, der Psychoanalyse und des historischen Materialismus fortzuschreiben und zu deuten („Wer hat Dornröschen wachgeküßt?“, 1972) und damit eine Auflagenzahl erreicht, an die er mit seinen fachwissenschaftlichen Veröffentlichungen kaum zu denken wagt.

Die vorder-und hintergründigen Inhalte von Grimms Märchen haben Stoff für zahlreiche Film-und Fernsehproduktionen — auch im Gefolge der Sex-Welle des bundesdeutschen Films der sechziger Jahre — hergegeben. Im doppelten Jubiläumsjahr 1985/86 macht eine Ausstellung „Der Grimm auf Märchen“ deutlich, wie sehr die Märchen die Phantasie von Karikaturisten, Malern, Schriftstellern, ja selbst Feministinnen beflügeln. Alle diese Zeugnisse der bundesrepublikanischen Medienlandschaft spiegeln die Tatsache wider, daß die Grimmschen Märchen auch heute noch zum Hausschatz unserer Alltagskultur gehören. Sie sind aber auch Produkte mancher Bedürfnisse und Eigenheiten unserer Gesellschaft, die den Brüdern sicherlich befremdlich erschienen wären.

Die DDR und die demokratischen Humanisten

Im Vergleich zur Bundesrepublik ist die Rezeption der Brüder Grimm in der DDR eindeutiger, gleichförmiger, traditioneller und wissenschaftlicher, in gewisser Weise deutscher. Die überaus positive Würdigung Jacob und Wilhelm Grimms wurde schon durch die Altväter der in der DDR herrschenden Ideologie vorgegeben. Karl Marx und Friedrich Engels griffen bei ihren sprach-und rechtsgeschichtlichen Arbeiten immer wieder auf die Werke der Grimms zurück, wie man ihrem Briefwechsel entnehmen kann. Als vor einem Jahr, am 4. Januar 1985, der 200. Geburtstag Jacob Grimms auch in der DDR gefeiert wurde, wählte das „Neue Deutschland“ zum Titel seines Jubiläumsartikels die Bemerkung des seinerzeit in Manchester lebenden Engels in einem Brief vom 4. November 1859 an den in London wohnenden Marx. Engels bat Marx um die Rücksendung von Jacob Grimms „Geschichte der deutschen Sprache“ und kommentierte: „der alte Kerl ist aber wirklich famos“. Grundlegend für die politische und wissenschaftliche Einschätzung der Grimms in der DDR wurde die Gedenkrede von Leo Stern zum 100.

Todestag von Jacob Grimm. Leo Stern, prominenter Altkommunist und Ordinarius für neuere Geschichte an der Universität Halle-Wittenberg, hielt diese Rede am 26. September 1963 in der Deutschen, der vormals Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, der auch die beiden Grimms angehört hatten.

Der Nestor der marxistisch-leninistischen Geschichtswissenschaft im zweiten deutschen Staat wandte sich gegen das gängige apolitische und esoterische Grimm-Bild, insbesondere die romantisierende Verniedlichung der Brüder zu „Spitzweg-Figuren“. Ihm hingegen kam es darauf an, den geistigen und politischen Standort der Grimms, ihres Lebens und ihres Werkes, in der deutschen Geschichte herauszuarbeiten. Stern kam zu dem Ergebnis, daß bei Jacob Grimm eine „zunehmende Läuterung von der patriotisch-konservativen Grundhaltung seiner Jugend-und ersten Mannesjahre zum gemäßigten Liberalen, ja zum Demokraten mit ausgesprochenen antifeudalen, republikanischen Auffassungen im vorgerückten Alter“ zu beobachten gewesen sei. Jacob Grimm sei ein großer deutscher Gelehrter, wenn auch kein Politiker gewesen. Doch sein Werk, sein Briefwechsel und sein sporadisches Auftreten in der aktiven Politik zeugten, so beschloß Stern seine Gedenkrede, von einem „klaren politischen Engagement von Jacob Grimm für die Sache des Volkes, der Freiheit, des Fortschritts, der Demokratie und des Humanismus“.

An diese Vorgaben halten sich Politiker, Germanisten und Historiker der DDR bei ihrer Einschätzung der Brüder Grimm bis heute. Die Grimms werden sowohl gegen apolitische Verkürzungen zu Märchenonkeln und Stubengelehrten als auch gegen verbalradikale Denunziationen als Nationalisten oder gar Präfaschisten in Schutz genommen. In ihrem Leben und Werk seien vielmehr grundsätzliche Positionen des progressiven Bürgertums ihrer Zeit zum Ausdruck gekommen. In politischer — nicht in methodischer — Hinsicht hätten sie mehr in den Traditionen der fortschrittlichen Aufklärungsbewegung als denen der konservativen Romantik gestanden (Burkhart Löther 1977). Ihnen wird von der DDR mit Herder der Ehrentitel „Philologen der Nation“ verliehen.

Bei so viel positiver Einschätzung war es nur folgerichtig, daß der Name der beiden Grimms 1979 von der DDR für einen Preis in Anspruch genommen wurde, der vom Minister für Hoch-und Fachschulwesen an Germanisten, Deutschlehrer, Autoren von Lehrbüchern und Medienprogrammen auf dem Gebiet Deutsch als Fremdsprache und Übersetzer verliehen wird, die sich „um die Förderung der Arbeit mit der deutschen Sprache und der Germanistik im Ausland“ besondere Verdienste erworben haben.

Seitdem wird der „Jacob-und Wilhelm-Grimm-Preis der Deutschen Demokratischen Republik“

jährlich an bis zu sechs Personen oder Kollektive des In-oder Auslandes im Rahmen einer Feier-stunde verliehen, in der durch den Festvortrag eines DDR-Germanisten die wissenschaftliche Bedeutung des Grimmschen Werkes, durch die Ansprache des Ministers die politischen Bezüge zur DDR-Politik der Gegenwart herausgestellt werden. Das ist nicht immer leicht, wenn auf der einen Seite konzediert werden muß, daß die Brüder Grimm Anhänger einer umfassenden deutschen Sprachnation waren, auf der anderen Seite die westdeutsche Parole von der „Einheit der (Kultur-) Nation“ zurückgewiesen und die Ausprägung einer „eigenständigen sozialistischen deutschen Nationalkultur“ in der DDR behauptet wird.

Die selektive Wahrnehmung der politischen Aneignung der beiden Grimms durch die DDR wird auch deutlich, wenn man die Liste der bisherigen Grimm-Preisträger durchgeht: Von 1980 bis 1985 haben sechs Personen aus der DDR, 16 aus den anderen kommunistischen Staaten, fünf aus blockfreien Ländern, sieben aus Staaten des westlichen Bündnisses, aber noch niemand aus der Bundesrepublik den Preis erhalten. So weit geht offensichtlich der „Beitrag zur wissenschaftlichen Zusammenarbeit mit der Deutschen Demokratischen Republik und zur Völkerverständigung“, wie es bei der Stiftung des Grimm-Preises Anfang 1979 hieß, noch nicht, daß Germanisten und Deutschlehrer aus dem anderen Deutschland geehrt werden könnten.

Die offizielle und akademische Inanspruchnahme von Leben und Werk der Brüder Grimm für die Politik des zweiten deutschen Staates und das Renommee seiner Wissenschaften ist Teil des umfassenden Bemühens der DDR, sich als Verkörperung und Erfüllung aller progressiven und humanistischen Traditionen der deutschen Geschichte zu sehen. Ganz offen hat das 1975 Kurt Hager, der für die Kultur zuständige Sekretär des ZK der SED, ausgesprochen, als er die DDR als „Erben alles Großen und Unvergänglichen der Kultur des deutschen Volkes“ bezeichnete. Diese Geschichts-und Klassikerrezeption dient den legitimatorischen Bedürfnissen des zweiten deutschen Staates, sie spiegelt aber auch das Selbstverständnis seiner Herrschenden wider. Unter diesem Vorzeichen wurde 1981 ein Schinkel-Jahr, 1982 ein Goethe-Jahr, 1983 zugleich ein Luther-und ein Marx-Jahr und 1985 ein Bach-Händel-Schütz-Jahr gefeiert und wird 1985/86 gleich ein Doppeljahr zu Ehren der Brüder Grimm zelebriert. Damit wird gleichzeitig die DDR, die diese Geistesgrößen in Ehren hält, gefeiert. Es sei dahingestellt, ob die Brüder Grimm Gefallen an so viel Aufmerksamkeit fänden. Zu Lebzeiten jedenfalls haben sie sich öffentlichen Auftritten und Ehrungen eher entzogen.

Zwischendeutscher Wettbewerb und deutsch-deutsche Zusammenarbeit im Zeichen der Grimms

So wetteifern die beiden deutschen Staaten, ihre Politiker, Germanisten und Journalisten um die posthume Gunst der Brüder Grimm. Jeder beansprucht für sich, der legitime Verwalter ihres Er-bes zu sein und wirft der anderen Seite vor, es zu mißbrauchen und zu verfälschen. Und beide Staaten berufen sich darauf, daß Jacob und Wilhelm Grimm wesentliche Stationen und Taten ihres Lebens auf ihrem Territorium verbracht haben: Die Bundesrepublik feiert am Geburtsort Hanau, in Kassel und Marburg an den Stätten langjähriger Studien und Forschungen sowie in Göttingen an dem Ort, der den Brüdern politische Berühmtheit eintrug; die DDR kann mit der Berliner Akademie der Wissenschaften und der Universität diejenigen Institutionen vorweisen, in denen die Brüder 20 Jahre lang die Ernte ihres Lebens einbrachten.

Die Konkurrenz der beiden deutschen Staaten um die Brüder Grimm geht bis in die Ausgaben-politik ihrer Briefmarken. In den sechziger Jahren kam es zu einem postalischen Wettstreit von Bundesrepublik und DDR bei der Berücksichtigung von Märchen auf jenen kleinen Produkten der Gebrauchsgraphik, denen oft großer politischer Symbolgehalt zukommt.

Den Anfang machte 1959 die Deutsche Bundespost, als sie für ihre jährliche Serie von Wohlfahrtsmarken drei Motive aus dem Märchen „Die Sterntaler“ und dazu das bekannte Doppelporträt von Jacob und Wilhelm aus dem Jahre 1843 in der Radierung ihres Malerbruders Ernst Lud-, wig Grimm auswählte.

Es folgten „Rotkäppchen“ (1960), „Hänsel und Gretel“ (1961), „Schneewittchen“ (1962), „Der Wolf und die sieben Geißlein“ (1963), „Dornröschen“ (1964), „Aschenputtel“ (1965) und „Der Froschkönig“ (1966). Doch als dann im Jahr 1966 die Deutsche Post der DDR mit einem Kleinbogen von sechs Werten zu „Tischlein deck dich“ die Grimmschen Märchenmotive entdeckte, schien das Thema der Bundespost verleidet, brachte sie lediglich noch 1967 „Frau Holle“ und 1982 eine einzelne Briefmarke mit den „Bremer Stadtmusikanten“ heraus. „König Drosselbart“ (1967), den „Gestiefelten FReueirg/2. 5 te«, A 0, -(ec 1 Nkhou o---2 Kater“ (1968), „Jorinde und Joringel" (1969), » A--Heheta*, -1 gingüd 8pd i 2m -. tFFRLEEHHEEVITTAETRR, A-END, „Brüderchen und Schwesterchen“ (1970), „Die --yuwrdlkemdw 3207 Re wirÄH. Bremer Stadtmusikanten“ (1971) und nach einem —EEIMEIT LIEBENP, Ausflug in die Märchen von Andersen und Tolstoi „Rumpelstilzchen“ (1976), „Sechse kommen durch die Welt“ (1977) und „Rapunzel“ (1978).

Als 1985/86 das Grimm-Jahr anstand, würdigte es die Bundespost mit dem Abdruck der von Jacob Grimm verfaßten Manuskriptseite zum Wortkomplex „Freiheit“ im „Deutschen Wörterbuch“ neben dem Autorenporträt aus dem ersten Band dieses Werkes (1854), während die DDR außer dem Porträt eine Auswahl von Motiven aus sieben Märchen zum Abdruck brachte.

Man kann gespannt sein, ob die Märchenanalytiker und -entschlüsseler auch die Briefmarken zum Gegenstand ihrer tiefschürfenden Bemühungen machen und damit einen Beitrag zur Untersuchung der politischen Kultur der beiden deut-sehen Staaten leisten werden. Denn sicherlich hatte es seine Bedeutung, daß die Bundesrepublik ihre Märchenmarken mit den „Sterntalern“, die DDR aber mit „Tischlein deck dich“ begann. Fest steht jedenfalls, daß die Grimms mit 62 Briefmarken aus der DDR, 38 aus der Bundesrepublik und 16 aus West-Berlin einen beträchtlichen Teil der deutschen Markenproduktion des letzten Vierteljahrhunderts für sich verbuchen können.

Neben der Konkurrenz um das Erbe der Grimms steht aber auch die Zusammenarbeit beider deutscher Staaten zum Zwecke seiner gemeinsamen Bewahrung. Das erstaunlichste Beispiel für diese deutsch-deutsche Kooperation ist die endlich geglückte Vollendung des „Deutschen Wörterbuches“. Dieses monumentale Unternehmen hatte nach dem Tode seiner Initiatoren die banalsten und zugleich die außergewöhnlichsten Schwierigkeiten zu überwinden, angefangen von der Materialfülle — allein in den Jahren 1908 bis 1912 sammelten Göttinger Studenten 2 Millionen Belegzettel — bis hin zum Abtransport dieser Belege am Ende des Zweiten Weltkrieges durch die Rote Armee aus zwei Bergwerkschächten in Mitteldeutschland und zur Rückführung nach Deutschland dank der Initiative des damaligen Nestors der sowjetischen Germanisten.

Mit vereinten Kräften gingen eine Arbeitsstelle in Ost-Berlin und eine in Göttingen daran, das große Werk abzuschließen. Im Frühjahr 1961 war es so weit, lag die 380. und letzte Lieferung zu dem Wörterbuch vor, 123 Jahre nach dem Beginn der Arbeit durch die Brüder Grimm und 109 Jahre nach Erscheinen der ersten Lieferung.

Und noch erstaunlicher war, daß „im Jahr der deutschen Teilung 1961“, wie es die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ schon vor dem 13. August 1961 fast prophetisch nannte, die Berliner Akademie der Wissenschaften in der DDR und die Göttinger Akademie der Wissenschaften in der Bundesrepublik beschlossen, eine Neubearbeitung des „Deutschen Wörterbuches“ in Angriff zu nehmen, deren Vollendung trotz der modernen Arbeitsmittel im Hinblick auf den gewachsenen Quellenberg sicherlich wieder ein Jahrhundertwerk wird.

Andere Teile des Erbes der Brüder Grimm warten noch darauf, von den Deutschen in Ost und West, sei es gemeinsam oder getrennt, gesichtet und bewahrt zu werden. So hütet die Stiftung „Preußischer Kulturbesitz“ in der Staatsbibliothek in West-Berlin 92 Kisten mit dem handschriftlichen, vor allem dem brieflichen Nachlaß der Brüder, aus dem noch vieles zu entdecken und veröffentlichen ist. Und nur wenige Kilometer entfernt, aber jenseits der Berliner Mauer, haben 1983 Mitarbeiter der Bibliothek der Humboldt-Universität damit begonnen, die 6 000 Bände aus dem Privatbesitz der Grimms mit deren Randnotizen und Widmungen wieder zu einer einheitlichen Bibliothek zusammenzufassen, nachdem diese beim Erwerb im Jahr 1867 entgegen dem Wunsch der Brüder auf die verschiedensten Magazine zerstreut worden waren. Am 1. Januar 1986 ist an der Humboldt-Universität eine „Forschungsstelle Brüder Grimm“ eingerichtet worden.

Insbesondere aber wären die Brüder Grimm und das Bild, das wir uns von ihnen machen, ein lohnendes Thema für die allmählich zwischen Wissenschaftlern aus der Bundesrepublik und der DDR in Gang kommende akademische Diskussion. Auch wenn man noch nicht zu gemeinsa-, men Schlußfolgerungen käme, könnten die Brüder über ihren 200. Geburtstag hinaus das Gespräch zwischen Deutschsprechenden anregen. „Und wenn sie nicht gestorben sind, leben sie noch.“ (Das Märchen vom „Fundevogel“)

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Fussnoten

Weitere Inhalte

Wilhelm Bleek, Dr. phil., geb. 1940; Professor für Politische Wissenschaft (Politische Systeme in Deutschland: Bundesrepublik Deutschland und DDR) an der Ruhr-Universität Bochum; 1984/85 Gastprofessor für Deutschlandstudien an der University of Toronto/Kanada; Briefmarkensammler; Vater von Philipp und Emily.