Ebenso wie die Bundesrepublik Deutschland ist die Deutsche Demokratische Republik ein Produkt des Kalten Krieges. In den beiden Staatsgründungen des Jahres 1949 manifestierte sich letztlich die Tatsache, daß es den Siegern von 1945 nicht gelungen war, Übereinstimmung über die „Deutschland als Ganzes" betreffenden Fragen zu erzielen -Einbindung und Sicherung des jeweiligen politisch-ökonomischen und geostrategischen „Besitzstandes" schien die zumindest vorläufige, kompromißhafte Lösung der deutschen Frage zu sein.
Beide politische Ordnungen verkörperten — und tun dies bis heute — exemplarisch den fundamentalen ideologischen, gesellschaftlichen und politischen Ost-West-Gegensatz. Die Existenz vor allem der DDR hing in ihren ersten Jahren maßgeblich von der internationalen Garantie und Protektion seitens der Sowjetunion ab. Hinzu gesellte sich hier die innere Labilität, die sich in der bis 1961 anhaltenden Massenfluchtbewegung und den Schwierigkeiten bei der sozio-ökonomischen Umgestaltung wie der politischen Herrschaftssicherung äußerte.
Von entscheidender Bedeutung war in diesem Zusammenhang die nationale Frage, das Problem der Wiederherstellung der deutschen Einheit Die spezifische Konkurrenzsituation zweier grundverschiedener sozio-politischer Systeme im Nachkriegsdeutschland und der daraus resultierende, bis in die Gegenwart andauernde innerdeutsche Konflikt setzten die Ost-Berliner Führung unter starken Druck, zumal der westdeutsche Staat unmittelbar nach Gründung der DDR klarstellte: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ... bis zur Erreichung der deutschen Einheit insge-
I. Einleitung
samt die alleinige legitimierte staatliche Ordnung des deutschen Volkes."
Die Kontinuität des hier verkündeten Alleinvertretungsanspruchs währte im Grunde genommen bis 1969. Die inneren Schwankungen, die politische und wirtschaftliche Unterlegenheit der DDR gegenüber der Bundesrepublik determinierten die Lage des „zweiten" deutschen Staates wesentlich, das heißt, sie begründeten das elementare Bedürfnis nach Festigung der inneren und äußeren Legitimität, worin eine Grundkonstante der Innen-wie der Außenpolitik — deren Interdependenz sich im vorliegenden Falle beispielhaft nachweisen läßt — zu erblicken ist Auch wenn das Legitimitätsdefizit nach der vertraglichen Regelung der deutsch-deutschen Beziehungen geschwunden ist, muß ungeachtet des derzeit relativ stabilen Status quo in dem im Grundlagenvertrag festgeschriebenen prinzipiellen Dissens zur Deutschlandfrage doch ein wandelbares, offenes Element der Labilität im Nebeneinander Bonns und Ost-Berlins gesehen werden. Trotz der Aufgabe des Alleinvertretungsanspruches hält die Bundesrepublik am besonderen, innerdeutschen Verhältnis fest und erklärt die Vereinigung der Staaten deutscher Nation zum — sogar verfassungsrechtlich normierten — Ziel bundesdeutscher Politik. Dessenungeachtet ist die Anerkennung der staatlichen und gesellschaftlichen Realität des anderen deutschen Gemeinwesens zum consensus omnium gediehen, was nicht zuletzt in seiner Akzeptanz als selbständiges, in sich geschlossenes sozio-politisches System durch die Wissenschaft zum Ausdruck kommt.
Wenn im folgenden Perspektiven und Bedeutung der deutschen Frage in der Sicht der DDR, wie sie sich im Laufe ihrer über 35jährigen Geschichte darbieten, skizziert werden, so tritt neben die eben genannte Grundannahme die hinreichend überprüfte und belegte These der absoluten Dominanz der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands im Arbeiter-und-Bauern-Staat Da die Kontrolle und Leitung aller staatlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Prozesse — und damit das politische Machtmonopol — in den Händen der SED liegt, scheint es gerechtfertigt, hinsichtlich der im Rahmen dieses Beitrages zu behandelnden Thematik SED und DDR begrifflich synonym zu setzen und das Hauptaugenmerk auf die Verlautbarungen der SED in verschiedenster Form zu richten.
Mit der historischen Entwicklung, den teilweise gravierenden gesellschaftlichen und politischen Veränderungen seit 1949, gehen auch unterschiedliche Akzentuierungen bzw. handfeste Wandlungen der deutschlandpolitischen Vorstellungen einher. Diesbezügliche Konzeptionen spiegeln nicht zuletzt den vielschichtigen Prozeß legitimationsheischender Herrschaftsgewinnung der marxistisch-leninistischen Staatspartei wider. Hier bedarf es allerdings der notwendigen Unterscheidung zweier größerer Perioden der DDR-Geschichte. Zweifellos stellt der 13. August 1961 ein entscheidendes Datum dar, bilden die Ereignisse dieses Jahres die grundlegende politische Zäsur: Nach einer von Terror und Zwang geprägten „revolutionären" Phase der Macht-sicherung wurden Anfang der sechziger Jahre mit der endgültigen Zerschlagung der alten Strukturen die Voraussetzungen für eher evolutionäre Umformungen geschaffen Recht eng an die offizielle SED-Periodisierung angelehnt, folgt auch die bundesdeutsche Geschichtswissenschaft dem gängigen, durchaus plausiblen Muster, das den Zeiträumen 1961 bis 1971 („auf dem Wege zur entwickelten sozialistischen Gesellschaft") und 1971 bis heute („Gestaltung/weitere Gestaltung der entwikkelten sozialistischen Gesellschaft") jeweils eigenständige Bedeutung zuspricht
Interessanterweise waren die Positionen zur nationalen Frage beinahe deckungsgleich mit den angeführten Daten maßgeblichen Änderungen unterworfen, was allerdings nicht nur in den inneren, gesellschaftlichen Entwicklungen, sondern unübersehbar auch in exogenen Faktoren seinen Grund hatte. Aufgrund des evidenten Zusammenhangs zwischen allgemeiner politischer und gesellschaftlicher Entwicklung und deutschlandpolitischen Zielvorgaben mag somit zweckmäßigerweise der Aufriß dieser komplexen Materie dem genannten chronologischen Muster folgen und sich an den Eckdaten der DDR-Geschichte orientieren.
II. Erste Phase: Nationale Einheitspolitik unter den Bedingungen der „sozialistischen Revolution" (1949— 1961)
Die Errichtung der DDR bildete den Abschluß einer gemeinhin als „antifaschistisch-demokratische Umwälzung" bezeichneten Periode. In dem Zeitraum von 1945 bis 1949 waren mit weitreichenden Anfängen grundlegender Umgestaltung des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens in der sowjetisch be-setzten Zone Deutschlands die inneren Ausgangsbedingungen für die Etablierung einer volksdemokratischen Ordnung geschaffenworden Prägnantester Ausdruck der Sowjetisierung war die Orientierung der SED hin zur leninistischen Staatspartei — der „Partei neuen Typus“ — 1948/49 gewesen, wodurch alle Vorstellungen von einem besonderen deutschen Weg zum Sozialismus eine klare Absage erhalten hatten. Damit korrelierte nicht zuletzt die Verneinung faktischer nationaler Einheitspolitik, wiewohl verbal entschieden gesamtdeutsche Positionen vertreten wurden.
In diesem Zusammenhang ist in der Literatur folgende interessante, diskussionswürdige These zu finden Die frühe historische Entwicklung der SBZ/DDR weise zwei parallele Hauptstränge auf, und zwar 1. die tatsächliche Politik nationaler Einheit, sowie 2. die legitimatorische Absicherung des Separierungsprozesses; indem sich die „volksdemokratische Gruppe“ um Walter Ulbricht gegen die „Einheitsgruppe" Grotewohls durchsetzte, käme der nationalen Propaganda lediglich die taktische Rolle der Verschleierung des strategischen Ziels zu: Schaffung des sowjetisierten Teilstaates — eine Zielsetzung, die in der SED spätestens seit 1948 vorherrschte.
Ohne Zweifel lassen sich zur Untermauerung dieser These gute Gründe anführen, doch darf nicht außer acht gelassen werden, daß das Selbstverständnis des jungen Staates — wie es sich gerade im Verhältnis zur Bundesrepublik darstellen mußte — nur ein „deutsches", das heißt in einer spezifischen nationalen Tradition stehendes sein konnte. Dazu gesellte sich bei aller realen politischen Defensive nichtsdestoweniger der im folgenden darzustellende offensive ideologische Anspruch auf ein sozialistisch zu revolutionierendes Gesamtdeutschland. 1. Gesamtdeutsche Optionen und Ostintegration Am 7. Oktober 1949 konstituierte sich der aus dem 3. Volkskongreß (15. /16. Mai 1949) hervorgegangene „Deutsche Volksrat" gemäß der am selben Tag in Kraft gesetzten Verfassung zur „Provisorischen Volkskammer" des nunmehr zweiten Staates auf deutschem Boden. Das zentrale Dokument der neuen Republik, ihre Geburtsurkunde gewissermaßen, ist natürlich in der Verfassung zu sehen. Sie war bereits im März 1949 von dem noch durch den 2. Volkskongreß gewählten „Deutschen Volksrat“, der wiederum einen Verfassungsausschuß als Konstituante eingesetzt hatte, im Entwurf als gesamtdeutsches Verfassungswerk beschlossen und vom 3. Volkskongreß am 30. Mai 1949 angenommen worden
Welcher Art sind nun die Aussagen zum eigenen Selbstverständnis, zur deutschen Frage — zwei zwangsläufig miteinander korrespondierenden Aspekten? Schon die Präambel gibt einen ersten Anhaltspunkt: „Von dem Willen erfüllt, die Freiheit und die Rechte der Menschen zu verbürgen ... und den Frieden zu sichern, hat sich das deutsche Volk diese Verfassung gegeben" (Hervorhebungen von mir, RWS). Und Artikel 1 Absatz 1 stellt lapidar fest: „Deutschland ist eine unteilbare demokratische Republik“; Absatz 4 in diesem Sinne: „Es gibt nur eine deutsche Staatsangehörigkeit". Die Verfassung war also sowohl hinsichtlich ihrer legitimatorischen Herleitung als auch ihrer Zielbestimmung eindeutig als eine gesamtdeutsche konzipiert So beteuerte denn auch Ministerpräsident Grotewohl in seiner Regierungserklärung: „Wir werden den Weg des deutschen Volkes zu einem einheitlichen, demokratischen und friedliebenden Deutschland zu finden wissen“ und wies die Schuld an der deutschen Spaltung den Westmächten zu. Während unmittelbar nach der Staatsgründung die Ausgestaltung der SED-Herrschaft vorangetrieben wurde, leitete man eine Deutschlandpolitik ein, die betont nationale Züge trug. Im Zuge der Instrumen- talisierung der „Nationalen Front“ durch die „Partei neuen Typus“ konstituierte sich ihr Führungsgremium, der „Nationale Rat“, am 3. Februar 1950 und verkündete zwölf Tage später das „Programm der Nationalen Front des demokratischen Deutschland" -
Zwei wesentliche Aussagen prägen dieses Dokument: 1.der bereits in der Namensgebung manifeste Anspruch, die „Lebensinteressen der Nation“ zu vertreten (S. 537); 2. die DDR soll das Modell für ein vereintes Deutschland auf demokratischer Grundlage sein, wobei der erfolgreiche Kampf um Einheit und Unabhängigkeit der Testen, unverbrüchlichen Freundschaft mit der Sowjetunion“ bedürfe (S. 533 f.). Wo diese Ausführungen ihren Ursprung haben, verdeutlicht das wenige Monate darauf auf dem III. Parteitag der SED verabschiedete „Manifest an das deutsche Volk", welches sich inhaltlich im wesentlichen mit dem Programm der Nationalen Front deckt Der Parteitag selbst proklamierte den Weg zur Einheit mittels Schaffung der . Aktionseinheit der deutschen Arbeiterklasse“ für den „anti-imperialistischen Kampf“, beschloß aber gleichzeitig mit dem Entwurf des Fünfjahresplanes (1951— 1955) die „Generallinie für den Aufbau des Sozialismus"
Noch im gleichen Jahr wurde die DDR deutschlandpolitisch aktiv: Im Anschluß an die Prager Außenministerkonferenz (Oktober 1950) richtete Grotewohl einen Brief an Bundeskanzler Adenauer, in dem er die Bildung eines paritätisch besetzten „Gesamtdeutschen Rates" forderte, der unter anderem die Einsetzung einer provisorischen Regierung für ganz Deutschland vorbereiten sollte Ähnlich war der Tenor des Appells der Volkskammer an den Bundestag vom September 1951 gehalten, der mit den Worten endete: „Es lebe das einheitliche, unabhängige, demokratische und friedliebende Deutschland! Deutsche an einen Tisch!" 15) Die so bezeichnete „Deutschean-einen-Tisch-Aktion“ 1950/51 intendierte unzweifelhaft, den zweiten deutschen Staat in Aushöhlung des bundesdeutschen Alleinvertretungsanspruches international aufzuwerten und Mitsprachemöglichkeiten in der deutschen Frage zu erlangen. Im folgenden Jahr bewegte sich die DDR im Fahrwasser der Sowjetunion, die vor dem Hintergrund der sich abzeichnenden Einbeziehung der Bundesrepublik in das westliche Bündnis beginnend mit der Note vom 10. März 1952 ihre deutschlandpolitischen Aktivitäten forcierte. Allerdings war diesen Bemühungen kein Erfolg beschieden. Parallel zu solchen außen-und deutschlandpolitischen Turbulenzen zeigte die im Juli 1952 abgehaltene 2. Parteikonferenz der SED weitergehende sozio-ökonomische Strukturveränderungen an. Der „planmäßige Aufbau des Sozialismus" wurde zur grundlegenden Aufgabe erhoben was die Angleichung an das System der UdSSR bedeutete.
Nach den großen Verunsicherungen des Jahres 1953 — die Partei sah sich genötigt, ihre Herrschaftsmethoden flexibler zu gestalten, obgleich die Grundstruktur der politischen Diktatur und zentralen Planwirtschaft erhalten blieb — machte sich gegen Jahresende ein Wandel im Verständnis der Rechtslage Deutschlands bemerkbar. Trotz aller Einheitsparolen, die ständig vorgetragen wurden, benutzte Ulbricht auf der 16. Tagung des Zentralkomitees der SED im September 1953 erstmals — soweit ersichtlich — die Formel von der Existenz faktisch zweier Staaten in Deutschland Zwei Monate später wiederholte er die Zwei-Staaten-These vor der Volkskammer: „Es gibt gegenwärtig in Deutschland zwei Staaten: ... die westdeutsche Bundesrepublik ... Und es gibt einen friedliebenden, demokratischen Staat, die Deutsche Demokratische Republik"
In der Tat hatte die Eigenstaatlichkeit der DDR auch durch die UdSSR Bestätigung gefunden. Nachdem die Berliner Außenministerkonferenz der Vier Mächte (Januar/Februar 1954) in der Deutschlandfrage keine Fortschritte gezeitigt hatte, war Moskau ent-schlossen, die staatliche Selbständigkeit der DDR offen zu demonstrieren. Am 25. März 1954 wurde der Arbeiter-und-Bauern-Staat schlichtweg für souverän erklärt Hierzu nahm die Ost-Berliner Regierung zwar dahin gehend Stellung, daß die Politik der Wiedervereinigung fortgeführt werde, aber immerhin: „Die Deutsche Demokratische Republik ist jetzt ein souveräner Staat, der... eine Politik ...des Friedens und der Sicherheit in Europa durchführt."
Das folgende, für die Nachkriegsentwicklung in Deutschland bedeutsame Jahr 1955 beendete vorläufig die äußere unsichere Stellung der DDR. In der sowjetischen Deutschland-politik setzte sich die Position durch, daß von einem längeren Nebeneinanderbestehen zweier deutscher Staaten auszugehen sei und die Wiederherstellung der nationalen Einheit von einer Verständigung und Annäherung Bonns und Ost-Berlins abhängig zu machen sei. Darüber hinaus hatte die Sowjetunion auf den beiden Genfer Konferenzen (Juli-Gipfel, Treffen der Außenminister im Oktober/November 1955) die Lösung der deutschen Frage zunehmend von den Problemen der europäischen Sicherheit abhängig gemacht, wenngleich die Vier Mächte ihre gemeinsame Verantwortung für Deutschland als Ganzes anerkannt hatten. Nichtsdestoweniger war bereits im Mai der Status quo deutscher Zweistaatlichkeit durch die Eingliederung sowohl der Bundesrepublik mit dem Inkrafttreten der Pariser Verträge (5. Mai 1955) in die NATO als auch der DDR mit dem Beitritt zur War-schauer Vertragsorganisation (14. Mai 1955) in das sozialistische Verteidigungssystem besiegelt worden.
Neben diesem Akt politisch-militärischer Integration fixierten die Äußerungen Chruschtschows und der Freundschaftsvertrag DDR-UdSSR die Zwei-Staaten-Theorie endgültig und verbindlich. Der Erste Sekretär der KPdSU unterstrich am 26. Juli 1955 auf dem Marx-Engels-Platz in Ost-Berlin — er befand sich auf der Rückreise von der Genfer Gipfelkonferenz — die gültige sowjetische Grundhaltung, wenn er von der Entstehung zweier Staaten unterschiedlicher Ordnung auf deutschem Boden sprach, weshalb die „mechanische Vereinigung beider Teile Deutschlands ... eine unreale Sache“ sei und die deutsche Frage „nicht auf Kosten der DDR" gelöst werden könne Auch der Vertrag vom 20. September 1955 gewährte nochmals die volle Souveränität und gestand der DDR die Freiheit zu „in der Entscheidung über Fragen ihrer Innenpolitik und Außenpolitik, einschließlich der Beziehungen zur Deutschen Bundesrepublik .. ," Gleichzeitig hielt Artikel 5 die deutsche Frage offen, indem er die Herstellung der nationalen Einheit „auf friedlicher und demokratischer Grundlage" anzustreben zusagte.
Einschlägige Stellungnahmen der SED und der Nationalen Front im Anschluß daran reflektierten die gewandelten außenpolitischen Gegebenheiten Einmal wurde die Rechtmäßigkeit und Souveränität der DDR augenfälligerweise oft herausgestellt, andererseits unverdrossen die deutsche Einheit letztlich unter Zugrundelegung der politischen und sozialen Bedingungen, wie sie östlich der Elbe herrschten, postuliert. Welches geradezu nationalistisch anmutende Pathos dabei Verwendung fand, veranschaulicht die Programmerklärung der Nationalen Front beispielhaft. Sie sieht in der DDR den deutschen Staat, welcher „der Zukunft des einigen, demokratischen Vaterlandes entgegengeht“ (S. 570), und wartet sogar mit der metaphysisch anmutenden Sentenz auf, die DDR sei „der Staat der vom Militarismus und Faschismus erlösten Deutschen“ (S. 577), mithin „souveräner deutscher Staat der Freiheit, ... das Vaterland des Volkes“ (S. 578). Hierdurch fanden die jahrelang praktizierten rituellen Übungen zur Einheitsfrage ihre Fortsetzung. 2. ModifizierteDeutschlandpolitik im Sinne der Zwei-Staaten-Theorie Daß es in der Folgezeit für Ulbricht vor allem darum zu tun war, das Erreichte zu sichern, zeigte seine Politik enger Anlehnung an die Sowjetunion. Der SED-Chef stellte seine absolute Loyalität in schwieriger Lage (Aufstand in Ungarn) unter Beweis und vermochte so seine Stellung in der Partei gegen internen Widerstand zu festigen. Die im März 1956 abgehaltene 3. Parteikonferenz, in deren Beratungen Wirtschaftsprobleme im Mittelpunkt standen und abschließend die Direktive für den zweiten Fünfjahresplan (1956— 1960) verabschiedet wurde, demonstrierte die weitergehende Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft. Ganze zehn seines etwa 200 Seiten umfassenden Referats hatte Ulbricht dem Deutschlandproblem gewidmet, dabei die „nationale Souveränität des Arbeiter-und-Bauern-Staates" konstatiert und die Normalisierung der Beziehungen „Deutsche Demokratische Republik — Deutsche Bundesrepublik" gefordert
Den Vorstellungen zur Normalisierung sollte der eine entscheidende Modifikation in der Deutschlandpolitik beinhaltende Vorschlag, eine Konföderation beider Staaten auf gleichberechtigter Grundlage zu bilden entsprechen. Der deutsch-deutsche Staatenbund stellte hiernach die „einzig mögliche Brücke zur Wiedervereinigung" dar Die damit verbundene Absicht, staatliche Anerkennung zu erlangen, hatte bereits Grotewohl am 2. November 1956 vor der Volkskammer zu erkennen gegeben. Der Regierungschef hielt die Wiedervereinigung „ohne Verhandlungen mit der Deutschen Demokratischen Republik“ für ausgeschlossen und forderte die Verständigung auf staatlicher Ebene Indessen blieb die 1957 mehrfach vorgetragene Konföderationsidee ohne Resonanz; im Gegenteil, die Bundesrepublik Deutschland wußte ihren Anspruch, die einzig legitimierte Vertreterin der deutschen Nation zu sein, durchzusetzen, was die erstmalige Anwendung der „Hallstein-Doktrin" zeigte, als die diplomatischen Beziehungen zu Jugoslawien abgebrochen wurden, nachdem Tito die DDR am 10. Oktober 1957 anerkannt hatte.
Inzwischen ging die SED von einer Komplizierung der deutschen Frage aus. Ihrer Politik lag die Einschätzung zugrunde, der nationale Grundwiderspruch zwischen Militarisierung im Westen (Spekulationen über eventuelle atomare Bewaffnung der Bundeswehr) und Friedenspolitik im Osten habe sich vertieft. Auf dem V. Parteitag (Juli 1958), der den Beweis für die Überlegenheit des Sozialismus in der DDR zur ökonomischen Hauptaufgabe erhob, wurde die Friedenssicherung „zum Hauptinhalt der Deutschlandfrage" erklärt, wobei die Verknüpfung des Kampfes um Frieden mit dem weiteren Aufbau des Sozialismus unverzichtbare, quasi-komplementäre deutschlandpolitische Elemente darstellten.
Gleichzeitig verlieh die Resolution des Partei-tages in gewohnt pathetischer Weise dem Ringen um die deutsche Einheit den Rang einer „geschichtlichen Aufgabe der DDR"
Der nach wie vor lebendige Konföderationsgedanke erhielt durch die Ereignisse um die Jahreswende 1958/59 erneut Auftrieb. Es war aber die Schutzmacht UdSSR, die das Heft in der Hand hielt und offensiv gegen das westliche Lager auftrat. In Umsetzung seiner fulminanten Rede im Moskauer Sportpalast (10. November 1958) richtete Chruschtschow am 27. November 1958 gleichlautende Noten an die Westmächte, in welchen er diesen den Bruch der Prinzipien des Potsdamer Abkommens vorwarf, ultimativ ihren Rückzug aus Berlin verlangte und die Bildung einer deutschen Konföderation anregte Moskaus Bemühungen im Kontext des Berlin-Ultimatums verstärkten sich durch die Vorlage eines Friedensvertragsentwurfes am 10. Januar 1959 Darin wurde zwar festgestellt, daß die Deutschen in „zwei Staaten mit verschiedener sozialökonomischer Ordnung" lebten (S. 750), aber im „Interesse der Deutschen Nation“ (S. 751) der Abschluß eines Friedensvertrages mit beiden Staaten bzw. einer zu schaffenden Konföderation „ein notwendiger ... Schritt zur Wiederherstellung der nationalen Einheit Deutschlands" (S. 756) wäre.
Wie die Außenministerkonferenz in Genf (Sommer 1959) anschaulich demonstrierte, verebbten dagegen die internationalen Diskussionen über die deutsche Teilungsproblematik. Von nun an traten endgültig die Fragen der Sicherheit und des Friedens in den Vordergrund, während die Relevanz der deutschen Frage ihrem Nullpunkt zustrebte. Dennoch ließ die SED nicht locker und blieb weiterhin initiativ. Unter der Prämisse, daß nicht eigentlich die Tatsache der Existenz zweier deutscher Staats-und Gesellschaftsordnungen den nationalen Widerspruch ausdrückten, der nervus rerum vielmehr im Gegensatz von Arbeit und Kapital auch und gerade in der Bundesrepublik auszumachen sei, versuchte das ZK vergeblich, in einem offenen Brief an die Arbeiterschaft Westdeutschlands („Deutschlandplan des Volkes") Einfluß auf dortige, vermeintliche potentielle Bündnis-partner zu nehmen. Selbstverständlich bildete auch hier wieder der Konföderationsvorschlag in Verbindung mit sicherheitsfördern-den Maßnahmen das Herzstück der inzwischen hinlänglich bekannten deutschlandpolitischen Palette, was sich in gleicher Weise in dem am 6. Juli 1961 von der Volkskammer „in Erfüllung ihrer nationalen Pflicht“ vorgestellten „Deutschen Friedensplan" niederschlug
Alle diese propagandistischen Aktivitäten siedelten zu der Zeit in einem innenpolitischen Klima erheblicher Schwierigkeiten. Der Rückgang der wirtschaftlichen Produktivität Ende der fünfziger Jahre zusammen mit den Vorgängen um die landwirtschaftliche Zwangskollektivierung („sozialistischer Frühling auf dem Lande" — 1961) lösten massive Unzufriedenheit und eine gesteigerte Flucht-bewegung nach Westen aus. Um das Ausbluten der DDR und weitere Erschütterungen des politischen Systems zu verhindern, sahen sich die Spitzen der kommunistischen Parteien des Ostblocks gezwungen, die Westgrenze und vor allem das „Loch“ in Berlin dichtzumachen. In der Nacht vom 12. auf den 13. August 1961 war es soweit: In einer „koordinierten Aktion“ übernahm man den „militärischen Schutz der Staatsgrenzen der DDR“, um so die „direkten Störeinwirkungen des Imperialismus der BRD“ einzuschränken, obwohl Walter Ulbricht noch zwei Monate vorher öffentlich versichert hatte: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten"!
Aus ihrer Sicht zog die SED damit die notwendigen Konsequenzen. Nunmehr konnte sie den „Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse" weiterführen und eine neue historische Wegstrecke beschreiten.
Nach zwölf Jahren teilweise existentieller Gefährdung hatte sich die DDR endlich als selbständiger, formal souveräner Staat etabliert und die SED ihre Herrschaft gesichert. Zugleich war das sozio-ökonomische Gefüge fundamental verändert und die vollständige Integration in das sozialistische Staatensystem vollzogen worden. Ohne tiefergreifende ideologisch-theoretische Reflexion bekannte sich die SED nach wie vor zur Existenz der deutschen Nation, wenngleich 1953/55 die politische und völkerrechtliche Ausformulierung der Zwei-Staaten-Theorie stattgefunden hatte. Danach existierten auf dem Gebiet des ehemaligen Deutschen Reiches zwei autonome Staaten, die aber einer Nation angehörten.
Analog zur interalliierten Politik versuchte die DDR vorwiegend in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre mit der Bundesregierung über den vorherrschenden Themenkatalog: Sicherheit, Abrüstung, Gewaltverzicht ins Gespräch zu kommen. In der Annahme, daß die Konföderation das angemessene Mittel zur Erreichung des Zieles der Einheit bei gleichzeitiger Friedenssicherung darstellte, versuchte die SED im Sinne der Zwei-Staaten-Theorie aktualisierte Deutschlandpolitik zu betreiben und hier ständig aktiv zu bleiben. Fortschritte in der nationalen Frage wurden allerdings von der Entwicklung in der Bundesrepublik abhängig gemacht. Da der sozialistische Aufbau in der DDR absolute Priorität genoß, war demzufolge eine gesamtdeutsche Zukunft ausschließlich unter den Bedingungen des Sozialismus denkbar. Ernsthafte, faktische Einheitspolitik kann deshalb kaum unterstellt werden. Vielmehr glaubte Ost-Berlin, durch direkte Verhandlungen mit Bonn über den zu bildenden Staatenbund bzw. die vorgeschalteten Maßnahmen eine politische wie rechtliche Aufwertung zu erfahren und damit die Legitimität des Regimes nach außen zu stärken. Bei alldem pflegte die Partei-und Staatsführung ein dezidiert nationales Selbstverständnis mit spezifischen deutschen Implikationen.
III. Zweite Phase: Die Zäsur von 1961. Auf dem Weg zum „sozialistischen deutschen Nationalstaat“
Für das deutsch-deutsche Verhältnis und die innere Formierung der DDR waren mit der Verriegelung der Westgrenzen und den Wandlungen auf internationaler Ebene neue Rahmenbedingungen entstanden. Aufgrund zunehmender ökonomischer Potenz und politischer Stabilität avancierte Ost-Berlin bald zu einer Art Juniorpartner Moskaus. Walter Ulbricht, unangefochten erster Mann in Partei und Staat (seit Piecks Tod 1960 Vorsitzender des Staatsrates), vollzog die im Anschluß an den XXII. Parteitag der KPdSU verstärkt fortgesetzten Entstalinisierungsmaßnahmen nach, was das innere Klima graduell verbesserte: bisher vorherrschende Polizeistaatsmethoden wurden durch ideologische Überzeugungsarbeit ergänzt Zwar fand das System bei der Bevölkerung weiterhin keine Aner43 kennung, dennoch war diese nun gezwungen, sich mit dem „Regime" zu arrangieren.
Die Deutschland-und Außenpolitik wurde Anfang der sechziger Jahre maßgeblich von den Veränderungen im Verhältnis zwischen Ost und West bestimmt. Zweifellos erschwerte die jetzt lancierte Koexistenz-Politik die Lage der DDR, so daß die Interessen-identität Moskau-Ostberlin auf Grenzen stieß, wenngleich die DDR punktuell eine pragmatische Deutschlandpolitik betrieb, wie es sich in zwei Passierscheinabkommen mit dem West-Berliner Senat (Dezember 1963, September 1964) manifestierte. Nach wie vor bildete aber der Mangel an politischer und rechtlicher Anerkennung außerhalb des Ostblocks das Hauptproblem. Dieses Defizit korrelierte mit dem Erfordernis, der Bevölkerung eine akzeptable Identität vermitteln zu müssen, was zwangsläufig deutliche Abgrenzungen zum westdeutschen Staat zur Folge haben mußte. So stand die (Er-) Klärung der in Deutschland entstandenen Situation am Beginn eines grundlegend neuen geschichtlichen Abschnittes. Hand in Hand hiermit ging das konstante Bestreben, diplomatische Anerkennung durch das kapitalistische Ausland im allgemeinen und die Bundesrepublik Deutschland im besonderen zu finden. 1. Klärung der nationalen Frage im Umfeld des VI. Parteitages der SED Die Lage in der DDR nach 1961 erforderte eine politisch-ideologische Selbstbesinnung der herrschenden Eliten. Sie hatten die Aufgabe, den Widerspruch von nationaler Zukunftsperspektive und Ausbau der sozialistischen Ordnung in der DDR aufzulösen und den laufenden Prozeß der Verfestigung des Zustandes deutscher Zweistaatlichkeit plausibel darzulegen. Dies geschah in systematischer Weise mit der öffentlichen Vorstellung, „Diskussion" und Verabschiedung dreier grundsätzlicher Dokumente im Umfeld des VT. Parteitages der SED (15. bis 21. Januar 1963).
Am 16. /17. Juni 1962 tagte der LV. Nationalkongreß der Nationalen Front und beschloß per einstimmigem Votum seiner 2332 Delegierten das bereits drei Monate zuvor im Entwurf veröffentlichte Papier: „Die geschichtliche Aufgabe der Deutschen Demokratischen Republik und die Zukunft Deutschlands", meist kurz und bündig „Nationales Dokument“ geheißen Nicht minder bedeutsam — vor allem für die Entwicklung und Rolle der Geschichtswissenschaft — war der während des 16. ZK-Plenums (Juni 1962) vorgestellte „Grundriß der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung", der besonders aussagekräftig die beginnende Konstituierung des „nationalen Geschichtsbildes" illustrierte, wie es in der 1966 erschienenen achtbändigen „Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung" seinen Höhepunkt fand Den Schlußpunkt der ganzen Debatte stellte dann das erste Parteiprogramm der SED dar, das der VI. Parteitag 17 Jahre nach der Parteigründung endlich verabschiedete Alle drei genannten Dokumente sollten die auf der Tagesordnung stehende Klärung des Verhältnisses von Sozialismus, Imperialismus und Nation herbeiführen. Ihre inhaltliche Analyse fördert drei zentrale Punkte zu Tage: 1. ein Geschichtsbild im Sinne des Historischen Materialismus; 2. gegenwärtige Lageanalyse; 3. Handlungsanleitung und deutschlandpolitische Zielsetzung.
Ad 1.: Die deutsche Geschichte seit Mitte des 19. Jahrhunderts ist geprägt durch den Grundwiderspruch von Kapital und Arbeit Während die Arbeiterklasse als Trägerin des sozialen Fortschritts dem friedlichen Mehrheitsinteresse gedient hat, stürzten die unterdrückenden Klassen aus Profitgier und Machtinteresse die Nation in imperialistische Raubkriege. Darum hat die Bourgeoisie ihren nationalen Führungsanspruch verwirkt und besitzt die DDR, wo das Proletariat die Herrschaft errungen hat, die „historische Mission", daß in „ganz Deutschland die Arbeiterklasse die Führung übernimmt... und die nationale Frage im Sinne ...des gesellschaftlichen Fortschritts gelöst wird" (Programm, S. 109), da in der Bundesrepublik immer noch der Imperialismus herrscht Ad 2.: Gegenwärtig befindet sich ein bedeutender Teil der Menschheit in der Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus. In selbst aufgrund Deutschland bestehen der nationalen Spaltung durch den Imperialismus zwei Staaten grundverschiedener gesellschaftlicher Ordnung. Diese besondere Lage macht vorläufig die friedliche Koexistenz erforderlich. Ad 3.: Friedenssichernde Maßnahmen und die Verwirklichung der Konföderation sollen den Übergang zu einem sozialistischen Gesamt-deutschland bilden. Krieg als Mittel der Politik scheidet aus, aber gemäß den historischen Gesetzmäßigkeiten wird der Sozialismus auch in Westdeutschland siegen. Somit ist es unerläßlich, die DDR — Kernstaat des künftigen Deutschland — zu stärken:
„Der vollständige ... Aufbau des Sozialismus in der DDR ist eine grundlegende Bedingung ... für die Wiedervereinigung der in zwei Staaten gespaltenen Nation“ (Programm, S. 161).
Auf der Grundlage dieses marxistisch-leninistischen Geschichts-und Politikverständnisses wurde die Herausarbeitung zweier entgegengesetzter Entwicklungslinien (progressive und reaktionäre) das entscheidende Merkmal für die Interpretation von Geschichte und Gegenwart Deutschlands. Danach ist die nationale Frage hauptsächlich eine Klassenfrage, die Frage nach dem Verhältnis der Klassen zur Nation, wobei „die Arbeiterklasse mit ihrem Kampf für die Durchsetzung der geschichtlichen Gesetzmäßigkeiten zugleich die Interessen der ganzen Gesellschaft und Nation (vertritt)"
Obwohl explizit die Dichotomie „DDR-BRD“ mit allen einschlägigen Inhalten gepflegt wurde: Jeder (der deutschen Staaten, RWS) verkörpert ein grundsätzlich anderes Deutschland" (Nat. Dokument, S. 27), betrachtete man die innerdeutsche Grenze als „nicht identisch mit den Staatsgrenzen", sondern sah deren Verlauf „mitten durch Westdeutschland" da auch die progressiven Kräfte in der Bundesrepublik die Zukunft der deutschen Nation repräsentierten. Hier offenbarte sich in reinster Form der ideologisch offensive gesamtdeutsche Anspruch der SED, wiewohl der VI. Parteitag die Weichen eindeutig auf Sozialismus („umfassender Aufbau des Sozialismus") und Stabilisierung der DDR stellte. Tatsächlich hatte sich jetzt unwiderruflich die Ulbrichtsehe Position durchgesetzt, wonach die Entwicklung der DDR von der westdeutschen nicht abhängig gemacht werden könne. Daraus ergab sich nunmehr die gewünschte Notwendigkeit, die Bevölkerung zu mobilisieren und für die sozialistische Zielsetzung zu gewinnen. Diese — legitimatorische — Funktion erfüllte die in den Jahren 1962/63 mit großem Aufwand in Szene gesetzte nationale Diskussion mit all ihren Aspekten. Gleichwohl war der — propagandistisch verschleierte — Gegensatz von verbaler Einheitspolitik und realer Divergenz unübersehbar. 2. Bewegung in der Nationsfrage Im Anschluß an den VI. Parteitag wurde die Politik „gesamtdeutscher Gespräche“ ohne Erfolg fortgesetzt. Die Bundesregierung ignorierte entsprechende Vorstöße aus Ost-Berlin und weigerte sich, offiziell in einen Dialog einzutreten. Auch der Versuch, mit der bundesdeutschen Opposition Kontakt aufzunehmen und so in das innere Geschehen der Bundesrepublik einzugreifen, schlug fehl. Das im Februar 1966 begonnene Zwiegespräch SED-SPD brach die SED im Juni ab, da sie für ihre Maximalposition — Schaffung der Einheit der Arbeiterklasse — keine Chancen sah und zudem befürchten mußte, in der eigenen Bevölkerung zu große Erwartungen wachgerufen zu haben Insgesamt blieb die DDR in diesen Jahren außenpolitisch noch weitgehend isoliert, auch wenn der neue Freundschaftsvertrag mit der Sowjetunion (12. Juni 1964) das Selbstbewußtsein des Ulbricht-Regimes sichtlich gestärkt hatte.
Nach den deutschlandpolitischen Mißerfolgen des Jahres 1966 folgte dann eine merklich schärfere Distanzierung gerade von der Regierung der Großen Koalition, die mit dem VII. Parteitag der SED (17. bis 22. April 1967) — der unter dem aufschlußreichen Motto: . Alles für die Deutsche Demokratische Republik, unser sozialistisches Vaterland!" zusammentrat — ihren Höhepunkt erreichte. Vorrangig standen wirtschafts-und gesellschaftspolitische Fragen zur Entscheidung, doch nahm Ulbricht auch zur nationalen Frage Stellung Er prangerte die . Alleinvertretungsanmaßung" der Bundesrepublik an, forderte die völkerrechtliche Anerkennung der DDR und ging wie selbstverständlich davon aus, daß die Vereinigung der sozialistischen DDR mit der . imperialistischen BRD'„natürlich nicht real“ (S. 64) und deshalb „mit dem Nebeneinanderleben zweier deutscher Staaten ... für einen längeren Zeitraum zu rechnen" sei (S. 65).Im ganzen gesehen signalisierte der VII. Parteitag die weiterführende, eigenständige Entwicklung des Arbeiter-und-Bauern-Staates. Verknüpft mit der Ulbrichtschen Konzeption des „entwickelten gesellschaftlichen Systems des Sozialismus" und der „sozialistischen Menschengemeinschaft“, die eine relativ autonome sozialistische Periode propagierte, erfüllte der Parteikongreß von 1967 die Funktion der „inneren Anerkennung". Dennoch wurde an der Einheit der Nation festgehalten. Allerdings kam die Bundesrepublik in den Ruch, „konföderationsunwürdig" zu sein — der Konföderationsgedanke war nach knapp zehnjähriger Lebensdauer ein letztes Mal am 31. Dezember 1966 eingebracht worden von nun an rückte die Forderung nach der Herstellung völkerrechtlicher Beziehungen zwischen beiden „souveränen Staaten deutscher Nation" in den Vordergrund.
Mittlerweile hatte die politische und speziell völkerrechtliche Beschäftigung mit dem Problem der Stellung beider deutscher Staaten zur Nation nicht unwesentliche Änderungen in der Beurteilung dieses Fragenkomplexes erfahren. Bis Anfang der sechziger Jahre hatte die Existenz einer einheitlichen Nation als Trägerin des Selbstbestimmungsrechts außerhalb jeder Debatte gestanden Dem widersprach nunmehr Gerhard Kegel, Mitarbeiter des ZK der SED, mit der brisanten Behauptung, es gebe zwei deutsche „Nationalstaaten" als Träger des Selbstbestimmungsrechts in Deutschland Da im allgemeinen Nationen und Völker Subjekte des Selbstbestimmungsrechts sind, ergaben sich für marxistisch-leninistische Juristen spezifische Schwierigkeiten. Wie bereits Alfred Kosing beklagte auch Rudolf Arzinger den Mangel der Stalinschen Nationsdefinition, „die gegenwärtige Lage der deutschen Nation richtig zu erfassen" (S. 243), er ging aber weiterhin von der Existenz der deutschen Nation aus: In Deutschland bestehe „gegenwärtig eine Nation und gleichzeitig bestehen zwei Subjekte des völkerrechtlichen Selbstbestimmungsrechtes" (S. 394). Obwohl also in Deutschland zwei Staatsvölker mit völkerrechtlicher Qualität auszumachen sind, besitzen diese per se keinen Nationsstatus.
Der entscheidende Aspekt der zwischen dem VI. und VII. Parteitag der SED geführten Diskussion bestand in der Tatsache, daß der soziale Kern des Rechtes auf Selbstbestimmung hervorgehoben und somit unter anderem vom gesellschaftlichen Entwicklungsstand seiner Subjekte abhängig gemacht wurde. Auf diese Art und Weise untermauerten die DDR-Völkerrechtler die seit 1955 gültige Zwei-Staaten-Theorie und bereicherten sie um eine weitere Variante. Hingegen konnten die Ergebnisse hinsichtlich der Frage nach der nationalen Einheit — angesichts zweier selbständiger Subjekte des Selbstbestimmungsrechts — nicht befriedigen. Noch vertrat die SED gesamtdeutsche Positionen, wie die entrüsteten Reaktionen auf Zweifel aus Bonn, die DDR künde die Einheit der Nation auf und betrachte die Bundesrepublik Deutschland als Ausland, hinreichend belegten 3. Der sozialistische Staat deutscher Nation Inzwischen hatten verschiedene gesetzgeberische Akte die rechtliche Stellung nach innen gefestigt und darüber hinaus die Absicht, die immer wieder betonte spezifisch sozialistische Staatsordnung auszubauen, bekräftigt Einen vorläufigen Schlußstrich zog das „Gesetz über die Staatsbürgerschaft der Deutschen Demokratischen Republik" vom 20. Februar 1967: „In Übereinstimmung mit dem Völkerrecht entstand mit der Gründung der DDR die Staatsbürgerschaft der DDR.“ übereinstimmend wurde die Doppelfunktion des Gesetzes charakterisiert, nämlich einmal bewußtseinsbildend auf die DDR-Bewohner hinsichtlich der „sozialistischen Errungenschaften" zu wirken, zum anderen „der annexionistischen und völkerrechtswidrigen westdeutschen Alleinvertretungsanmaßung auf das entschiedenste entgegenzutreten" Den Höhepunkt der Rechtsentwicklung bildete zweifelsohne die sozialistische Verfassung vom 9. April 1968 Sie sollte nach dem Willen ihrer „Väter" die gewandelte, qualitativ neue politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Lebensordnung in der DDR verfassungsrechtlich reflektieren. Welches sind nun aber die Aussagen zum nationalen Selbstverständnis? Hier lassen sich zwei einander widersprechende Linien ausmachen: Ein gesamtdeutsches Bekenntnis beinhalten die Präambel (Verantwortung für die „ganze deutsche Nation"), Artikel 1 („Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat deutscher Nation“) und Artikel 8 Absatz 2 (Herstellung „normaler" deutsch-deutscher Beziehungen und „Überwindung ...der Spaltung ... auf der Grundlage der Demokratie und des Sozialismus"). Dem stehen die Festschreibung und Weitergestaltung des sozialistischen Gesellschaftssystems (Art. 2), die Entwicklung der sozialistischen Nationalkultur (Art. 18) und die Pflege der „Prinzipien des sozialistischen Internationalismus“ sprich: feste Ostintegration (Art. 6, 2) gegenüber.
Im Jahre 1968 bestätigte sich somit eine Entwicklung, die spätestens seit dem VII. Parteitag erkennbar geworden war. Sie kann mit „sozialistischer Integration" beschrieben werden, was die uneingeschränkte außenpolitische Orientierung an der Sowjetunion und gleichzeitige innere Konsolidierung unabhängig von der bundesdeutschen Entwicklung bedeutete. Mit der Bundesrepublik konnte es jetzt nur noch Verständigung in völkerrechtlicher Form geben. Diese Linie bestärkten zusätzlich die Prager Vorgänge, denen die SED scharf distanziert gegenüberstand, da sie Gefahren für das eigene Regime sah. Nachdem die UdSSR dem „Prager Frühling" in gewalttätiger Anwendung der „Breschnew-Doktrin“ von der eingeschränkten Souveränität der sozialistischen Staaten ein rasches Ende gesetzt hatte, behielt Ost-Berlin seinen kompromißlosen deutschlandpolitischen Kurs bei, an dem auch die aufgeschlossenere Haltung der Großen Koalition nichts zu ändern vermochte.
Der Bonner Ostpolitik, die zwar praktische Fragen zum Gegenstand von Verhandlungen erklärte, aber die Aufnahme diplomatischer Beziehungen ablehnte, wurde Aggressivität bescheinigt Auf der 11. ZK-Tagung (29. /30. Juli 1969) konstatierte Ulbricht trutzig: „Heute sind sie beide (die deutschen Staaten, RWS) souveräne Staaten, Völkerrechtssubjekte und als solche international anerkannt": und anläßlich des 20jährigen Jubiläums der Staatsgründung hob er hervor, daß „die sozialistische Gesellschaftsordnung der DDR" dem „westdeutschen Spätkapitalismus" um eine ganze historische Periode voraus sei Während Lobreden über die positiven Entwicklungen in allen Bereichen des öffentlichen Lebens der DDR mit ätzender Polemik gegen 'die „zurückgebliebene" Bundesrepublik wechselten, fehlten ausdrückliche Hinweise auf die Wiedervereinigung gänzlich. Zwar besaß die Formel: DDR = sozialistischer Staat deutscher Nation (und damit das Bekenntnis zur Nation) noch Gültigkeit, doch fand sie immer seltener Anwendung.
Parteichef Ulbricht beschritt dann in der nationalen Frage neue Wege, als er auf einer am 19. Januar 1970 in Ost-Berlin abgehaltenen internationalen Pressekonferenz verkündete, die sangeblich noch einheitliche Nation" sei eine „Fiktion": „Zwischen den Krupps und den Krauses, zwischen den Milliardären und Multimillionären und dem werktätigen Volk gibt es keine nationale Einheit." Bis dahin war dies die prononcierteste Abkehr von der gemeinsamen nationalen Basis, die unzweifelhaft ihre Ursache in dem wenige Tage zuvor von Bundeskanzler Brandt erstatteten Bericht zur Lage der Nation (14. Januar 1970) hatte. Schon in der Regierungserklärung der neuen Koalition vom 28. Oktober 1969 hatte Brandt in Anerkennung der deutschen Zweistaatlichkeit gleichwohl auf „besonderen, innerdeutschen Beziehungen" bestanden, was Ulbricht während des 12. ZK-Plenums (12. /13. Dezember 1969) verurteilt und als „neue Variante der Alleinvertretungsanmaßung" zurückgewiesen hatte
Im Bericht zur Lage der Nation unterstrich der Chef der Bundesregierung, daß es keine völkerrechtliche Anerkennung der DDR geben werde und nannte 1. das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen, 2. das Streben nach nationaler Einheit und Freiheit, 3. die Zusammengehörigkeit mit West-Berlin und 4. die Verantwortlichkeit der Vier Mächte für Deutschland als Ganzes „unverzichtbare Orientierungspunkte" bundesdeutscher Deutschlandpolitik.
IV. Dritte Phase: Entwicklung und theoretische Fundierung der Zwei-Nationen-Theorie
Nach dem Regierungswechsel in Bonn 1969 befand sich die DDR in einer besonders heiklen Situation: Die neue Bundesregierung war jetzt bereit, den zweiten deutschen Staat als solchen anzuerkennen und mit der DDR-Führung konkret Verhandlungen aufzunehmen, um ein friedliches Nebeneinander herbeizuführen. Während Brandt allerdings zuerst praktische, das heißt humanitäre, kulturelle und wirtschaftliche Probleme erörtert wissen wollte, forderte Ministerpräsident Willi Stoph auf den Treffen der beiden Regierungschefs in Erfurt (19. März 1970) und Kassel (21. Mai 1970) als ersten Schritt die völkerrechtliche Anerkennung der DDR.
Trotz der offensichtlich unüberwindlichen Gegensätze war die SED gezwungen, in Analogie zu dem nach 1969 dynamisch fortschreitenden globalen Entspannungsprozeß mit der Bundesrepublik, die durch die Abschlüsse des Moskauer und des Warschauer Vertrages (12. August bzw. 7. Dezember 1970) den Grundstein für ein unbelasteteres Verhältnis zur Sowjetunion und zu Polen gelegt hatte, ein Arrangement zu treffen. Aufgrund der Einbindung in die sozialistische Staaten-welt und der damit verbundenen Abgrenzung vom kapitalistischen Westen sowie der notwendigen Gestaltung der friedlichen Koexistenz gewann die deutsche Frage in ihrer Mehrdimensionalität neue Relevanz. Gerade die forcierte Verständigungspolitik der Regierung Brandt/Scheel mit dem Osten und die Überzeugung Bonns von der „Lebendigkeit der Wirklichkeit einer deutschen Nation“, welche in der gemeinsamen Geschichte, den Familienbanden, der Kultur und dem Gefühl der Zusammengehörigkeit zum Ausdruck komme verursachte die Virulenz der Nationsproblematik für die SED.
Aus dieser Zwangslage resultierte die offene Absage an die Einheit der Nation. Alle einschlägigen Äußerungen betonten von nun an den entscheidenden, nämlich sozialökonomischen Unterschied beider deutscher Staaten, die Qualität der DDR als sozialistischer Nationalstaat und ihre „unwiderrufliche" Bindung an das internationale sozialistische System. Zwar interpretierte noch der 1970 publizierte zweite Band des „Sachwörterbuchs zur Geschichte Deutschlands und der deutschen Arbeiterbewegung" den Bestand der deutschen Nation „auf zwei unterschiedlichen sozialen Entwicklungsstufen" (S. 127), übertrug also die dichotomische Typologie „kapitalistische Nation — sozialistische Nation" (S. 126) nicht auf die Situation in Deutschland, doch verschaffte Ulbricht selbst dieser Anschauung politische Geltung: Neben der wiederholten Absage an „fiktive“ nationale Gemeinsamkeiten und „besondere innerdeutsche Beziehungen“ stellte er fest, daß „in der DDR sich der Prozeß der Herausbildung der sozialistischen Nation" vollzöge, hingegen die Bundesrepublik „den verbliebenen Teil der alten bürgerlichen deutschen Nation unter den Bedingungen des staatsmonopolistischen Herrschaftssystems“ verkörpere Indem das Schema der — wie oben (III 2.) gezeigt — bereits zu Beginn der sechziger Jahre vorgenommenen wissenschaftlich-ideologischen Differenzierung in sozialistische und kapitalistische Nationen als Erscheinungsformen der modernen Nation auf das geteilte Nachkriegsdeutschland Anwendung fand, wurde der Keim für die konkrete Ausformung der Zwei-Nationen-Theorie gelegt. 1. Nationale Frage, Koexistenz und Abgrenzung Anfang der siebziger Jahre Die am 3. Mai 1971 (16. ZK-Tagung) vollzogene Ablösung Ulbrichts als Parteichef beendete eine Phase relativ eigenständiger gesellschaftlich-ideologischer Konzeptionen und deutschlandpolitisch kompromißloser Positionen. Unter der Führung Erich Honeckers wuchs die Botmäßigkeit der DDR gegenüber der UdSSR, deren Dialog mit dem Westen jetzt ungestörter verlaufen konnte. Dafür unterstützte Moskau die durch den VIII. Parteitag der SED (15. — 19. Juni 1971) legitimierte verstärkte Abgrenzungspolitik zum westdeutschen Staat. Honecker, Berichterstatter des ZK an den Parteitag, führte zur deutschen Frage unter anderem aus: „Mit...dem Aufbau der sozialistischen Gesellschaft entwickelt sich ein neuer Typus der Nation, die sozialistische Nation"; er widersprach vehement der Behauptung, es bestehe eine deutsche Nation: „davon kann selbstverständlich keine Rede sein." Und die Entschließung des Parteitages erklärte hierzu: „Zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der BRD, zwei voneinander unabhängigen Staaten mit entgegengesetzter Gesellschaftsordnung, vollzieht sich gesetzmäßig ein Prozeß der Abgrenzung."
In Fortführung dieser Linie verlauteten parallel zu den deutsch-deutschen Verhandlungen 1971/72 (Transitabkommen, Verkehrsvertrag, dann Grundvertrag) äußerst scharfe Töne aus der SED-Spitze: Erstmals am 6. Januar 1972 qualifizierte Honecker bei einem Truppenbesuch auf Rügen die Bundesrepublik Deutschland expressis verbis als Ausland, während Albert Norden, ZK-Sekretär für Propaganda, sechs Monate später beinahe soweit ging, die historische deutsche Nation zu leugnen Sein entschiedener Klassenansatz, der solchermaßen die Existenz zweier Nationen bereits in der Vergangenheit — die der Unterdrücker und die der Unterdrückten — ausmachte, setzte letztlich Klasse und Nation gleich. Indem Norden auf Stalin zurückgriff negierte er für das gegenwärtige Deutschland die Gemeinsamkeit des Territoriums, des Wirtschaftslebens und sogar von Geschichte und Kultur. Diese Ausführungen stellten eine klare Extremposition dar und indizierten somit die erst am Anfang stehende Nationsdiskussion in der SED.
Indes prägten drei prinzipielle Aussagen mehrere Stellungnahmen zu Nation und nationaler Frage vom März 1973 1. Nach der
Spaltung der einheitlichen (kapitalistischen) Nation hat sich „die Arbeiterklasse der DDR...“ als „Nation konstituiert" und den „sozialistischen Nationalstaat DDR geschaffen" (Norden, S. 417); 2. zwischen Bundesrepublik und DDR vollzieht sich ein „gesetzmäßiger" Prozeß der Abgrenzung; 3. die sozialistische Integration ist Ausdruck stetiger Annäherung der sozialistischen Nationen.
Schließlich griff Hermann Axen, ZK-Sekretär für internationale Verbindungen, in seinem ausführlichen Referat „Der VIII. Parteitag der SED über die Entwicklung der sozialistischen Nation in der DDR" das vorliegende Problem systematisch auf und versuchte, Grundzüge einer „historisch-ökonomischen, materialistischen" Nationstheorie zu entwickeln. Er bemühte die „Klassiker" Marx, Engels und Lenin, um zu dem Schluß zu gelangen, daß im Falle Deutschlands die ethnischen, sprachlichen und kulturellen Gemeinsamkeiten zwar nicht unwichtig seien, aber nicht „das Wesen der Nation" kennzeichneten (S. 197). Vielmehr komme der sozialökonomischen Grundverfassung der Primat zu, weshalb die beiden deutschen Staaten völlig verschiedene Nationstypen repräsentierten: Die klassenantagonistische kapitalistische Nation bzw. die sozialistische Nation, „eine von antagonistischen Widersprüchen freie Einheit freundschaftlich verbundener Klassen" (S. 199).
Die sozialistische Nation DDR wurde allerdings nicht als ein abstraktes Etwas, sondern fest in der deutschen Geschichte verwurzelt betrachtet, deren humanistische, demokratische und revolutionäre Traditionen der sozialistische deutsche Staat, fortführt und „auf eine höhere Stufe" hebt.
Der nach außen geführte ideologische Klassenkampf hatte unterdessen auch im Innern Spuren hinterlassen. Im Anschluß an den VIII. Parteitag war die schrittweise Eliminierung der Vokabeln „deutsch" und „Deutschland" aus dem öffentlichen Leben zu beobachten. So wurden beispielsweise im Mai 1971 der „Deutschlandsender" in „Radio DDR" und ein Jahr später die „Nationale Front des demokratischen Deutschland" in „Nationale Front der DDR" umbenannt sowie generell die Verwendung der Kürzel „BRD" und „DDR" zur Regel Auch die das „einig Vaterland" besingende Becher-Hymne fiel der Abgrenzungskampagne zum Opfer und durfte nur noch instrumental vorgetragen werden. Derlei auf innere Stabilität zielenden Maßnahmen in Verbindung mit der starken Betonung der Zugehörigkeit zum sozialistischen Staatensystem waren offenbar die unerläßliche Vorbedingung für die zu gestaltende friedliche Koexistenz mit der Bundesrepublik.
Die Grundlagen der deutsch-deutschen Beziehungen fanden endlich am 21. Dezember 1972 eine vertragliche Fixierung, doch vermochte die DDR damit nicht die Liquidierung der nationalen Frage zu erreichen Wenngleich der Riegel der internationalen Isolation gesprengt wurde — noch im Dezember 1972 nahmen 21 Staaten, darunter die Schweiz und Österreich, diplomatische Beziehungen mit Ost-Berlin auf — und die Anerkennung als gleichwertiger Staat nicht mehr in Frage stand (Art. 1, 4 und 6 des Vertrages), drang die DDR mit ihrer Maximalforderung nach voller völkerrechtlicher Anerkennung nicht durch. Im Gegenteil, sie mußte den Grunddissens in der nationalen Frage (Präambel) und die Statuierung von Sonderbeziehungen (Art. 8 und 9) hinnehmen. Trotz dieses Kompromißcharakters, den der Grundlagen-vertrag insgesamt besaß, sah dagegen die DDR durch ihn die deutsche Frage gelöst und ihre völkerrechtliche Stellung bestätigt, wohingegen der andere Vertragspartner auf der deutschen Einheit beharrte und das Vertragswerk als Modus vivendi interpretierte. 2. Verfassungspolitische Konsequenzen Den seit dem VIII. Parteitag der SED erfolgten elementaren Wandel der internationalen wie der inneren politisch-gesellschaftlichen Gegebenheiten zu analysieren und zu interpretieren, oblag als zentrale Aufgabe der marxistisch-leninistischen Ideologie. So galt es nicht zuletzt, den Wortlaut der Verfassung von 1968 in Übereinstimmung mit der ideologisch gedeuteten Realität zu bringen. Das am 27. September 1974 beschlossene „Gesetz zur Ergänzung und Änderung der Verfassung der DDR" trug diesem Bedürfnis Rechnung. Augenfällig und einschneidend, wenn man die Verfassung des „sozialistischen Staates deutscher Nation“ zum Vergleich heranzieht, sind vor allem die Aussagen zum Selbstverständnis der DDR. Der Verfassungsgeber nahm nunmehr keinerlei nationaJe Bestimmung vor und strich jeglichen gesamtdeutschen Bezug. Dagegen wurden die Prinzipien des „sozialistischen Internationalismus" wieder normiert — jetzt sogar in verstärkter Form: „Die Deutsche Demokratische Republik ist für immer und unwiderruflich mit der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken verbündet", und: „Die DDR ist untrennbarer Bestandteil der sozialistischen Staatengemeinschaft" (Art 6 Abs. 2).
Die seit dem Ende der sechziger Jahre und besonders seit dem VIII. Parteitag anhaltende Tendenz der Ostblock-Integration erreichte sodann mit dem Abschluß des neuen Freundschaftsvertrages DDR — UdSSR (7. Oktober 1975) ihren Höhepunkt Das Vertragswerk brachte — in rechtsverbindlicher Form — sowohl die vollkommene Anpassung an den Kreml als auch die Bestätigung der nach Unterzeichnung der KSZE-Schlußakte (1. August 1975) gefestigten internationalen Stellung der DDR zum Ausdruck. Während hier der Begriff der sozialistischen Nation im Zusammenhang mit der Formel von der . Annäherung der sozialistischen Nationen“ auftaucht (Präambel), verhält sich die revidierte Verfassung in dieser Hinsicht abstinent, was wohl auf die noch nicht beendete Nationsdiskussion zurückzuführen ist Zu Beginn des Jahres 1974 erschien erstmals ein wissenschaftlicher Beitrag, der die These des VIII. Parteitages der SED, „daß bereits zwei selbständige ...deutsche Nationen ... existieren“, abstützen sollte Zwar verwendeten die Verfasser zur Charakterisierung des Prozesses der DDR-Nationswerdung noch Prädikate wie „herausbilden", „entwickeln" und „formieren", was es als offen erscheinen ließ, ob die sozialistische Nation bereits besteht oder sich noch ausbildet, doch impliziert die Abhandlung die Existenz zweier klassen-bestimmter Nationen. Immerhin handelte es sich dabei eingestandenermaßen um „deutsche" Nationen, was ideologische und politische Kopfschmerzen bereitete, zumal die Verfassung vom 7. Oktober 1974 diesbezüglich ein Vakuum aufwies. Dem Zustand verbreiteter Ratlosigkeit an der Basis Abhilfe zu schaf-fen beabsichtigte wohl Honecker, als er auf dem 13. ZK-Plenum die Unterscheidung von Staatsbürgerschaft (DDR) und Nationalität (Deutsch) einführte, deren theoretische Begründung prompt nachgeliefert wurde
Hiernach beschreibt der Begriff „Nationalität“ den Gesamtkomplex ethnischer und kultureller Eigenschaften, der zwar eine notwendige, aber nicht bestimmende Seite der eine dialektische Einheit vielfältiger Faktoren bildenden Nation darstellt (S. 1224). Die DDR ist unbezweifelt deutscher Nationalität in diesem Sinne, doch hat sie sich mit der sozialistischen Nation „zwangsläufig" zu einer Einheit verbunden (S. 1227). Den entscheidenden Unterschied zur Bundesrepublik bedinge die sozioökonomische Grundstruktur, überdies unter-lägen selbst die Denk-und Lebensweisen einem spezifisch sozialistischen Wandel, bleibe also damit die Homogenität der (gesamt-) deutschen Nationalität nicht unbeeinträchtigt. Damit mündete die theoretisch-politische Diskussion um Nation und deutsche Frage in ihre Schlußphase. 3. Die Beendigung der Nationsdiskussion Auf dem IX. Parteitag (18. — 22. Mai 1976) präsentierte sich eine selbstbewußte, ihre wachsende Führungsrolle unterstreichende SED. Erich Honecker, in sichtlich gestärkter Position, bekräftigte den von Koexistenz und Integration geprägten status-politischen Kurs der DDR wobei die conditio sine qua non der Verständigung mit dem Westen, insbeson -dere der Bundesrepublik, totale Verneinung aller gesamtdeutscher Gemeinsamkei -ten bildete. Der Parteichef wies die These „revanchistischer Kräfte in der BRD", die auf -ei nem Offenhalten der deutschen Frage beharrte, zurück: „Da ist nichts mehr offen. Die Geschichte hat längst ihr Wort gesprochen.“ So reflektierte denn auch das neue Parteiprogramm vom 22. Mai 1976 — in dem das gesamte Spektrum der damals aktuellen Grund-positionen der DDR-Staatspartei zu Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur in verdichteter Form seinen Niederschlag fand — die gewandelten, während der letzten Jahre entwickelten Standards zur deutschen Frage v
Gleichsam als ergänzender Kommentar war rechtzeitig zum IX. Parteitag eine systematische, detaillierte Monographie Alfred Kosings erschienen Kosing, Dozent am Institut für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, widmete jetzt auch der Begriffs-und Definitionsgeschichte der Nation Raum und setzte sich breit mit „idealistischen Nationstheorien" auseinander. Im Mittelpunkt stand natürlich die Explikation der historisch-materialistischen Theorie der Nation unter Berücksichtigung all ihrer wesentlichen Gesichtspunkte. Zusammengefaßt beinhaltete das wissenschaftlich-ideologisch abgesicherte, politisch propagierte Argumentationsmuster zur deutschen Nachkriegssituation folgende fünf Kernthesen:
1. Die nationale Frage im deutschen Nationalstaat bestand im Widerspruch zwischen imperialistischer Bourgeoisie und revolutionärer Arbeiterbewegung; sie wurde nicht gelöst und mündete in die Katastrophe von 1945.
2. Nach dem Zweiten Weltkrieg spalteten die imperialistischen Kräfte die deutsche Nation;
die Arbeiterklasse konstituierte sich durch die sozialistische Revolution in der DDR zur Nation, was zur Entstehung der sozialistischen deutschen Nation führte, während in der Bundesrepublik die kapitalistische deutsche Nation fortbesteht.
3. Die sozialistische Nation in der DDR ist deutscher Nationalität, ihr Wesen wird konstitutiv von den sozialistischen -Produktions verhältnissen der und einhergehenden damit Gesellschaftsstruktur die -bestimmt; progres siven Traditionen der Vergangenheit finden in der DDR ihre staatliche Verkörperung, sie ist demzufolge nicht geschichtslos, sondern fest in der deutschen Geschichte verwurzelt 4. Das DDR-Staatsvolk ist die Substanz der sozialistischen Nation und das Subjekt des nationalen Selbstbestimmungsrechtes; als solches bildet es den die ökonomischen und politischen Prozesse leitenden sozialistischen Nationalstaat DDR mit eigenem Territorium und uneingeschränkter Souveränität.
5. Zwei gesetzmäßige, parallele Tendenzen bestimmen die weitere Entwicklung der sozialistischen deutschen Nation:
— das . Aufblühen“ der Nation und des nationalen Lebens, d. h. die ethnisch-kulturellen Faktoren (Nationalität) erfahren qualitativ veränderte Ausprägungen, die sich in Kultur, Lebensweise und Mentalität der Gesellschaft niederschlagen (sozialistisches Nationalbewußtsein, sozialistischer Patriotismus, sozialistische Nationalkultur); — die Annäherung der sozialistischen Nationen, die sich in Folge der Gleichartigkeit der sozialökonomischen Bedingungen, des internationalen Charakters des Sozialismus in den wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Bereichen vollzieht; die DDR ist deshalb integraler Bestandteil des internationalen sozialistischen Systems und insbesondere mit der Sowjetunion eng verbunden (proletarischer bzw. sozialistischer Internationalismus).
Beide Tendenzen verschärfen den Gegensatz zur kapitalistischen Bundesrepublik und machen ihn unüberbrückbar.
Innerhalb weniger Jahre hatten die SED-Gesellschaftswissenschaften eine in sich geschlossene materialistische Nationstheorie begründet, wobei die Ergebnisse der in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre in der UdSSR geführten Nationsdiskussion zum Gutteil Berücksichtigung fanden
Um die Existenz zweier deutscher Nationen glaubhaft machen zu können, gewann der Primat des ökonomischen vor den ethnisch-kulturellen Elementen so starke Bedeutung, daß der Begriff der Nation beinahe obsolet wurde. Die gleichermaßen logischen wie empirischen Schwierigkeiten illustriert das von der SED gern zitierte Beispiel der Existenz mehrerer Nationen deutscher Nationalität, wie DDR Bundesrepublik, Österreich und Schweiz (partiell). Wenn aber die drei letztgenannten nicht nur ihrer Nationalität, sondern zudem ihrer sozialen Grundverfassung (Kapitalismus) nach gleichwertig sind, was konstituiert sie dann zu eigenständigen Nationen? Hier nimmt die Zielsetzung, das subjektive Moment des Bewußtseins und des Willens, Nation zu sein, auszublenden, überdeutlich Gestalt an. Gerade die Zurückweisung der bundesdeutschen Position, die beharrlich die bewußtseinsmäßige Einheit der deutschen Nation behauptet, veranschaulicht das fortbestehende Dilemma der SED-Abgrenzungsdoktrin.
V. Schlußbetrachtung: Akzentverlagerungen in der Nationsfrage — grundlegender Wandel oder taktische Anpassung?
Bis zum Ende der sechziger Jahre hatte die DDR ideologisch offensive gesamtdeutsche Positionen vertreten und um internationale Anerkennung gerungen. Die in die globale Politik der Entspannung gebettete konkretisierte Koexistenz mit der die Zwei-Staaten-Theorie seit 1969 akzeptierenden Bundesrepublik begründete — endgültig durch die KSZE — die weltweite völkerrechtliche Legitimierung Ost-Berlins sowie die Anerkennung des politischen und territorialen Status quo. Andererseits erforderte die damit einhergehende „unwiderrufliche" Einbindung in das sozialistische Lager und die unbeirrte, innere Entwicklung („Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft") eine Neubestimmung der deutschen Frage. Konsequenterweise wurden die ohnehin schon modifizierten Vorstellungen über nationale Einheit aufgegeben und die Zwei-Nationen-Doktrin verbindlich fixiert.
Das Konzept der Klassennation war geeignet, die Bundesrepublik als Ausland zu bestimmen und erfüllte vorrangig die innenpolitische Funktion der Herrschaftslegitimation. Daraus leitete die DDR-Führung mithin das Postulat normaler völkerrechtlicher Beziehungen unter den Bedingungen der friedlichen Koexistenz zwischen kapitalistischen und sozialistischen Staaten ab, wogegen die bundesdeutsche Seite unverändert an dem Postulat besonderer Beziehungen zweier Staaten, die nicht Ausland füreinander seien, festhielt Ungeachtet dieser den Grunddissens in der nationalen Frage widerspiegelnder entgegengesetzter Axiome verfolgten beide deutsche Staaten während des letzten Jahrzehnts eine Politik pragmatischer, partieller Kooperation. Seitens der DDR dominierte neben wirtschaftlichen Interessen und insgesamt der Pflege des Status quo in evidenter Weise die Sicherheitsthematik das formalisierte deutsch-deutsche Verhältnis. Das von Bundeskanzler Schmidt und SED-Chef Honecker bereits auf der KSZE-Schlußsitzung übereinstimmend festgestellte gemeinsame Interesse am Erhalt des Friedens führte den Dialog mit dem bisher einzigen bilateralen „Gipfel" im* Dezember 1981 zu einem Höhepunkt Weder der Bonner Regierungswechsel 1982/83 noch der „Stationierungsbeschluß“ des Bundestages im November 1983 verringerten die Kooperationsbereitschaft Ost-Berlins, wie der Brief Honeckers an Kanzler Kohl vom 5. Oktober 1983 und die gemeinsame Erklärung beider Politiker in Moskau vom 12. März 1985 (Treffen am Rande der Begräbnisfeierlichkeiten für Tschernenko) anschaulich zeigten
Auch wenn der außen-und deutschlandpolitische Spielraum der DDR in den letzten Jahren gewachsen ist und innerhalb des östlichen Bündnisses das durchaus autonome Interesse an der internationalen (Sicherheits-) Lage formuliert wurde, bremste die Sowjetunion ihren Juniorpartner im Sommer 1984, indem sie den geplanten Besuch des Generalsekretärs der SED in der Bundesrepublik Deutschland verhinderte und so Grenzen aufzeigte. Bei allem Willen zu normalisierten Beziehungen und der akzeptierten „Verantwortungsgemeinschaft" der beiden deutschen Staaten für den Frieden in Europa darf nicht übersehen werden, daß die Kooperationsvariable der Abgrenzungskonstanten klar untergeordnet ist: „Sie (Bundesrepublik und DDR, RWS) verkörpern die verschiedenen Gesellschaftsordnungen des Sozialismus und des Kapitalismus, gehören unterschiedlichen Bündnissystemen ... an. Daß es so ist, und daß es wegen seiner Bedeutung für das internationale Kräftegleichgewicht, für die Stabilität Europas so bleiben muß, wird heute selbst von Politikern betont, die man keineswegs als Freunde des Sozialismus bezeichnen kann."
Was die Nationsfrage betrifft, so besitzt die 1976 festgelegte Grundposition nach wie vor prinzipielle Gültigkeit. Allerdings erfährt das nationale Selbstverständnis des Arbeiter-und-Bauern-Staates durch die seit etwa 1978 zu beobachtenden intensiven Bemühungen, eine „Nationalgeschichte der DDR“ zu begründen gewisse Modifikationen. Inzwischen verfährt die SED-Geschichtswissenschaft weniger selektiv und interpretiert die deutsche Geschichte nicht mehr ausschließlich nach dem Zwei-Klassen-Schema. Vielmehr ist die DDR „tief und fest in der ganzen deutschen Geschichte verwurzelt“; gleichwohl sei sie historischer „Wendepunkt", da „der Sozialismus in der DDR Erbe und Fortsetzer alles Guten, Fortschrittlichen, Humanen und Demokratischen in der Geschichte (ist), weil er selber Fortschritt, Demokratie und Humanität verkörpert“ Das den Prozeß der sozialistischen Nationswerdung einordnende erweiterte Geschichtsverständnis zielt somit auf Beseitigung des Ruchs des Künstlichen, der nach wie vor dem zweiten deutschen Staat anhaftet. Die in diesem Zusammenhang speziell geführte Diskussion um „Erbe und Tradition" soll zudem klarstellen, daß die DDR ihrer historischen Herkunft nach zwar deutsch ist, aber exklusiv in der progressiven Kontinuität deutscher Geschichte steht Unübersehbar und auch eingestandenermaßen erfüllt das hier manifestierte Interpretationsmuster die Funktion der Bildung und Pflege eines spezifisch sozialistischen Nationalbewußtseins Obwohl seit Jahren die Begriffe „deutsche Geschichte“ und „deutsches Volk" unbefangen und nicht selten Verwendung finden, muß ein richtungsweisender Positionswechsel in der nationalen Frage entschieden verneint werden. Unter den Bedingungen des alles überlagernden Ost-West-Konfliktes weiß die DDR sehr wohl um ihre Möglichkeiten und Grenzen, weiß sie, an wessen Seite ihr Platz ist. Grundsätzlich eröffnet die Konzeption der Klassennation nichtsdestoweniger zwei Optionen: Einmal kann sie die fortdauernde Abgrenzungspolitik bei gleichzeitiger Ost-integration rechtfertigen, zum anderen vermag sie das ideologische Rüstzeug zu liefern, gegebenenfalls den jetzigen Kurs zu revidieren und die Deutschlandfrage zu reaktualisieren Gegenwärtig und auf absehbare Zeit sind allerdings keine zwingenden Gründe erkennbar, welche die Hinwendung zur letzteren Grundposition opportun erscheinen lassen.