I. Vorbemerkung
Die revolutionären Umwälzungen in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg bildeten einen ungewohnten Bedingungsrahmen für deutsche Politik: Von Hitler getroffen, zerbrach unter den Wellenbergen des Kalten Krieges von 1945 bis 1949 das deutsche Schiff im Meer der internationalen Politik in zwei Teile. Aber, wie wir wissen, ging es nicht unter. Beide Teile entwickelten mit Hilfe und unter Druck der großen Mächte jeweils ein Eigenleben, dessen Anblick, wie er sich heute darstellt, damals wohl keiner vorauszusagen gewagt hätte: Die Bundesrepublik als demokratischer Rechtsstaat, international geschätzt, im Kontakt mit Menschen und Staaten. Dagegen bleibt der DDR deren Bevölkerung heute auf mehr als ein halbes Jahrhundert totalitärer Herrschaft zurückblicken muß, weiterhin innere Legitimität und wirkliche äußere Anerkennung vorenthalten.
Dieser disparate Geschichtsbogen, der 1945 von den Siegermächten angesetzt wurde, machte damals einen Rückgriff auf die traditionellen außenpolitischen Grundmuster der Deutschen in Europa unmöglich. Diejenigen, die es versuchten — wie Jakob Kaiser oder Kurt Schumacher —, scheiterten, weil die klassische Mitteleuropa-Tradition für einen deutschen Nationalstaat nicht mehr gegeben war. Allein Konrad Adenauer zeigte sich als Revolutionär der deutschen Politik, weil er früher, konsequenter und umsichtiger als andere auf eine west-und gemeinschaftsorientierte Außenpolitik der Bundesrepublik im Verbund mit den freiheitlichen Demokratien setzte und die Wiederherstellung der Souveränität der Bundesrepublik im Rahmen dieser Völkergemeinschaft konsequent anstrebte. Der Preis für diese neuerlangte und in der deutschen Geschichte noch nie dagewesene Freiheit nach innen und außen war die Einheit Deutschlands. Hierbei gilt es allerdings daran zu erinnern, daß kein deutscher Politiker in den Anfangsjahren der jungen Bundesrepublik — geschweige denn davor — Politik oder gar souveräne Außenpolitik hätte betrei-ben können. Auch noch nach 1949 bestimmten die Alliierten die Richtlinien der Politik in einem besetzten Land ohne wirklich souveräne deutsche Regierung.
Erst auf dieser Folie des Ost-West-Konfliktes und dem damit verbundenen Zwang zu klaren außenpolitischen Entscheidungen, die keine Flucht oder Möglichkeit der Neutralität implizierten, kann die Ost-und Deutschlandpolitik der Bundeskanzler in den vergangenen Jahrzehnten analysiert werden.
Arnulf Baring hat vor Jahren auf folgenden Tatbestand hingewiesen: „Westdeutsche Außenpolitik ist dadurch charakterisiert, daß sie nicht die Resultante gesamtgesellschaftlicher Überzeugungen, nicht auf einem Konsens gesellschaftlicher Führungsgruppen beruhen kann, sondern bis zum heutigen Tage losgelöst, abgehoben von den Kombinationen der Interessengruppen und Parteien gewissermaßen in einem sozialen Hohlraum entworfen und in Kraft gesetzt werden muß.“
Die logische Schlußfolgerung, die er aus dieser Interpretation zieht, lautet dementsprechend: „Wenn man die westdeutsche Außenpolitik, wenn man Bonner außenpolitische Entscheidungen seit 1949 beschreiben will, muß man den jeweiligen Kanzler im Mittelpunkt sehen. Seine ganz persönliche Interpretation der außenpolitischen Gegebenheiten und Notwendigkeiten, also seine Konzeption ebenso wie seine Fähigkeit, sich ein eigenes Macht-und Entscheidungszentrum zu verschaffen, um die eigenkonzipierte Außenpolitik im innenpolitischen Kräftefeld durchzusetzen, sind der Ausgangs-, ja der Angelpunkt jedes Verständnisses dieses Staates."
Eine solche personalisierte, auf den Bundeskanzler zugeschnittene Interpretation der Ost-und Deutschlandpolitik der Bundesrepublik seit 1949 mag Nachteile haben, aber eine Rückbesinnung auf Kontinuität und Wandel in der Rolle der Kanzler selbst scheint derzeit angebracht
II. Die Ära Adenauer (1949 bis 1963)
Nach der Gründung der Bundesrepublik 1949 wurde mit Konrad Adenauer als Bundeskanzler eine außenpolitische Traditionslinie wirksam, die in der deutschen Geschichte zwar angelegt war, aber sich nicht hatte voll entfalten können: die Westorientierung und Westbindung. Konrad Adenauer schob sich politisch in den Jahren von 1945 bis 1949 unaufhaltsam an die Spitze, weil er die drei zentralen Fragen: Was ist außenpolitisch möglich? Was findet innenpolitische Zustimmung? und: Was sichert den parteipolitischen Führungsanspruch? pragmatisch im Stil, aber mit klarer Vision ins Visier nahm. Wie kein zweiter erkannte er die revolutionären Veränderungen in Deutschland, in Europa und in der Welt. Bemühungen um eine gesamtdeutsche und zugleich demokratische Konzeption scheiterten am Willen der deutschen und sowjetischen Kommunisten. Die Folgen für die parteipolitische Entwicklung in Deutschland sollten sich bald zeigen. Jakob Kaiser, der Vorsitzende der CDU in der SBZ, verlor 1947 seine Machtbasis, als er von den Sowjets dort als Vorsitzender der CDU abgesetzt wurde; er verlor damit auch das Rennen um die Führung der Unionsparteien Seine Vision vom Deutschland als Brücke zwischen Ost und West, vom deutschen Nationalstaat, der unmittelbar an die Tradition der Weimarer Republik anknüpfen sollte, zerbrach an der bipolaren Rivalität der Supermächte. Kurt Schumacher, der Vorsitzende der SPD, scheiterte am Konflikt zwischen Reichseinheit und sozialdemokratischer Prinzipientreue, als die SPD in der SBZ kaltgestellt wurde und die Reste seiner Partei mit der KP gezwungenermaßen in die neue SED eingeschmolzen wurden
Während Jakob Kaiser primär an äußeren Widrigkeiten scheiterte, stand Schumacher sich oft selbst im Wege: „Kein anderer prominenter deutscher Politiker ist gegen die Alliierten so aggressiv, so anmaßend und höhnisch aufgetreten wie Schumacher. Entsprechend war die Reaktion." Mit dieser Haltung konnte Schumacher im Drei-Fronten-Krieg gegen Kommunisten, bürgerliche Parteien, gegen die Westalliierten und nicht zuletzt gegen Konrad Adenauer nicht gewinnen.
Aber weniger die gegensätzlichen Auffassungen über Gegenwart und Zukunft Deutschlands, sondern vielmehr die gesamteuropäischen und globalen, aber auch die machtpolitischen und ideologischen Gegensätze zwischen den westlichen Alliierten einerseits und der Sowjetunion andererseits führten dazu, daß beide Teile Deutschlands nicht mehr zusammenzufügen waren, sondern in den Sog der Teilung gerieten und sich dabei einander abstießen. Das Scheitern der Münchener Ministerpräsidenten-Konferenz im Juni 1947 markierte von innen und das Scheitern der Londoner Außenminister-Konferenz im Dezember 1947 markierte sozusagen von außen die Wende in der deutschen Situation — die Wende zur Spaltung, Konfrontation, aber auch zum Neubeginn.
Die Politik der Westorientierung mündete über die Stationen der Pariser Verträge von 1954 und der Römischen Verträge von 1957 in die Westbindung der Bundesrepublik ein und bildet bis heute das außenpolitische Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Diese Westbindung war insofern revolutionär, weil zum ersten Mal in der deutschen Geschichte eine Parallelität von zwei Faktoren wirksam wurde: Die Bundesrepublik verbündete sich mit den klassischen westlichen Demokratien England, Frankreich und den USA und wurde zugleich selbst eine parlamentarische Demokratie liberaler Prägung. Erst beide Komponenten zusammen führten zu einer außenpolitischen Leistung, die Konrad Adenauer zum konservativen Revolutionär der deutschen Politik nach dem Zweiten Weltkrieg werden ließ. Diese Komponente bildete die Grundlage der Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland und darüber hinaus den Ausgangspunkt für eine Politik gemeinsamer westlicher Stärke, die wie ein Magnet auf die sozialistischen Staaten in Mittel-und Osteuropa Anziehung ausüben sollte.
So gesehen, war Westpolitik niemals nur Westpolitik allein, sondern sie hatte auch instrumentalen Charakter für die Ost-und Deutschlandpolitik. Die politisch-ökonomische Stärke und demokratische Attraktivität der Bundesrepublik und des Westens sollten so stark in das 1949 errichtete totalitäre Zwangsregime östlich der Elbe einwirken, daß das dortige Herrschaftssystem, gestützt auf die sowjetische Besatzungsmacht, entweder von alleine zusammenbrechen würde oder die Sowjets unter dem Zwang der Umstände die SBZ aufgeben würden. Diese Vorstellungen von Stärke und Attraktivität waren — wie die Ereignisse 1953 in der SBZ und1956 in Polen und Ungarn zeigten — nicht abwegig. Die Bedingungen des Nuklearzeitalters, die Machtlosigkeit der revoltierenden Bevölkerungen in Osteuropa und gleichzeitig die brutale Rücksichtslosigkeit der Sowjetunion waren aber in dieser Kombination nicht vorhersehbar.
Setzte man in der Ostpolitik der fünfziger Jahre auf Stärke, Eindämmung und Roll Back, so war die deutschlandpolitische Vorstellung bestimmt vom Primat der freien Wahl. Zum einen war dies die unabdingbare Forderung der Westmächte und der Bundesregierung für die Wiedervereinigung Deutschlands, zum anderen implizierte diese Forderung auch das Recht auf freie Wahl des außenpolitischen Standorts für ein demokratisch-pluralistisches Gesamtdeutschland. Diese doppelte Bedeutung des Primats der freien Wahl ist bisher leider zu wenig berücksichtigt worden. Mit größter Wahrscheinlichkeit hätte bei freier Wahl sich ein wiedervereinigtes Gesamtdeutschland nach dem Vorbild der Bundesrepublik für Demokratie und Westorientierung entschieden.
Diese Prämissen sollten für die nächsten Jahre zum festen Bestand der Politik der Bundesrepublik gehören: Ablehnung des Ostzonenstaates wegen fehlender demokratischer Legitimation und Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik für die Interessen des deutschen Volkes. Nur so schienen die legitimen Sicherheitsbedürfnisse der Deutschen und der westlichen Nachbarn miteinander verknüpfbar.
Adenauer sah zwar die Wiedervereinigung als langfristige Aufgabe, aber es durfte keine Wiedervereinigung auf Kosten der Freiheit im Westen und auf Kosten einer Einheit sein, die Deutschland von den Westmächten isoliert und von der Idee der parlamentarischen Demokratie entfremdet hätte. Seine Auffassung wurde in den Anfangsjahren der jungen Republik von der parlamentarischen Opposition, der SPD, ebenso geteilt wie von der großen Mehrheit der Bevölkerung. Nicht nur von Adenauer wurde die Bundesrepublik als der Kernstaat begriffen, an den die SBZ und vielleicht auch Teile der Ostgebiete wieder angegliedert werden sollten. Aber vorrangig blieben Konsolidierung, Westbindung und außen-politische Stabilisierung der jungen Republik an der Seite der atlantischen Demokratien. So herrschte zunächst auch ein Grundkonsens zwischen Adenauer und Schumacher. Beide waren kompromißlos antikommunistisch eingestellt. Schutz, Anlehnung, ökonomischer Wiederaufbau, volle Souveränität und Eingliederung in die westlichen Demokratien zwangen zugleich den westlichen Teil Deutschlands in eine neue Rolle: Deutschland war weder als Ganzes noch in seinen beiden Teilen in der Lage, als Makler im Herzen Europas zu handeln wie in Deutschlands bester Vergangenheit, sondern beide Teile wurden zu vorgeschobenen Grenzposten, ja ideologischen und machtpolitischen Speerspitzen der jeweiligen Supermächte und ihrer Allianzen. überspitzt formuliert, könnte man deshalb sagen, daß unter diesen rigiden Bedingungen von 1949 bis Anfang der sechziger Jahre im engen Sinne gar keine Ost-und Deutschland-politik der Bundesrepublik stattfinden konnte. Sie wäre kontraproduktiv zu Adenauers Zielen gewesen, denn: „Auf außenpolitischem Gebiet liegt unsere Linie fest: Sie richtet sich in erster Linie darauf, ein enges Verhältnis zu den Nachbarstaaten der westlichen Welt, insbesondere auch zu den Vereinigten Staaten herzustellen. Es wird von uns mit aller Energie angestrebt werden, daß Deutschland so rasch wie möglich als gleichberechtigtes und gleichverpflichtetes Mitglied in die europäische Föderation aufgenommen wird. Bei der Durchführung dieser Absichten werden wir besonders eng mit den anderen in den westeuropäischen Völkern sich immer stärker entwickelnden christlich-demokratischen Kräften Zusammenarbeiten.“
Auf diesem Hintergrund wurden die deutschlandpolitischen Forderungen von Otto Grotewohl („Deutsche an einen Tisch") von der westdeutschen Regierung und der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung einschließlich der großen Parteien abgelehnt. Die deutschen Kommunisten in Pankow waren Marionetten, die sich nur nach den Befehlen Moskaus richteten. Am Tisch suchten sie lediglich Gleichberechtigung und Anerkennung, denn beides war für die kommunistischen Statthalter östlich der Elbe unerreichbar. Die Unüberbrückbarkeit der politischen und ideologischen Gegensätze, der tief verwurzelte und besonders emotional aufgewühlte Antikommunismus der Bevölkerung im Westen, die ohnmächtig die totalitären Praktiken jenseits der Elbe mitansehen mußte, machten deutlich, daß es in jener Zeit keine Politik, sondern nur eine Rhetorik der Stärke geben konnte. Man hoffte, daß diese Rhetorik wie die Trompeten von Jericho das Unterdrückungsregime jenseits der Elbe zum Einsturz bringen würden.
Allerdings ermangelte es Adenauer einer nüchtern ausbalancierten Einschätzung der* sowjetischen Macht Ein „seltsam-doppelpoliges Rußland-Bild" schlug sich in Klischeevorstellungen nieder: Einerseits sprach Adenauer vom Koloß auf tönernen Füßen, der unfähig sei, die politischen Probleme der Nachkriegszeit zu lösen, andererseits verfiel er in eine Überschätzung der sowjetischen Bedrohung für die Bundesrepublik Deutschland und Europa. Ängste, Unsicherheiten und Illusionen vermischten sich, aber das rationale Kalkül des Primats der Westorientierung blieb unangetastet. Eines jedoch wurde ganz deutlich: In der Westpolitik entwickelte Adenauer eine kunstvolle, fintenreiche Diplomatie, um mit allen Mitteln Gleichberechtigung und Westintegration für die Bundesrepublik zu erreichen. Dieser aufwendigen, alles prüfenden und erwägenden Westdiplomatie stand eine absolut schroffe und abweisende, ja bisweilen gedankenarme Haltung Adenauers gegenüber, wenn es um die Ost-und Deutschlandpolitik ging.
Sein absolutes Nein beispielsweise zu Stalins Vorschlägen vom März 1952 wurde von den Westmächten geteilt, wobei für die USA bei diesem Vorschlag vermutlich mehr auf dem Spiel stand als für Stalin, dessen Angebot — so wie es schien — ein neutralisiertes, d. h. aus den Militärblöcken ausgeklammertes und innenpolitisch vermutlich parlamentarisch-bürgerlich orientiertes Gesamtdeutschland hätte entstehen lassen können. Adenauer witterte bei diesem Vorschlag die Gefahr des Rückfalls in einen anachronistischen Nationalismus, der die Integration Westeuropas einschließlich der Bundesrepublik Deutschland erschwert, wenn nicht sogar verhindert hätte.
Während Adenauer die sowjetischen Verhandlungsinitiativen von 1952 als Störmanöver interpretierte, die den Abschluß der Westverträge verhindern sollten, sah Jakob Kaiser in ihnen einen Verhandlungsansatz, den man unbedingt nutzen sollte: . Adenauer stellte fest,, oberste Pflicht sei es, jetzt zu schweigen, während Kaiser meinte, man dürfe jetzt nicht schweigen, sondern müsse reden." Schumachers und Kaisers Kritik an Adenauers Nein zur Stalin-Note zeigen, daß dessen Außenpolitik Anfang der fünfziger Jahre noch auf unsicheren Füßen stand. Erfolge stellten sich erst Schritt für Schritt, aber der Verdacht sofort ein, daß Adenauer das nationale Problem bewußt vertagen wollte. Waldemar Besson hat deshalb vom „Verlust der gesamtdeutschen Unschuld“ gesprochen, der dann in den folgenden Jahrzehnten zu einem Mythos der verpaßten Gelegenheiten stilisiert wurde. Zu Unrecht — allenfalls kann man von ungeprüften Gelegenheiten sprechen. 1952/53 veränderte sich die deutschlandpolitische Landschaft nachhaltig. Nach dem Tode Schumachers im August 1952 verließ die SPD den Boden der gemeinsamen Ost-und Deutschlandpolitik und entwickelte Gegen-vorstellungen, die allerdings nicht die gewünschte Resonanz fanden. Adenauers Wahlsieg von 1953 fiel deutlich aus. Der Kanzler hatte von nun an keine innenpolitischen und innerparteilichen Rivalen mehr zu fürchten. Er personifizierte Westintegration, Wohlstand und Souveränität, aber in der SBZ blieb es bei Armut und Unterdrückung. 1953 kam es dann zur Krise des SED-Regimes. Der Flüchtlingsstrom in die Bundesrepublik schwoll an. Der einzige spontane Arbeiteraufstand in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts hatte auch die Politik der Sowjetunion angeschlagen und ihre Position in der Welt isoliert bzw. verschlechtert. Der Westen wurde stärker, aber die Politik der Stärke blieb ohne Erfolg. Auch der verhandlungspolitische Ansatz auf der Außenminister-Konferenz in Berlin im Januar und Februar 1954 zur Lösung der deutschen Frage versandete. Alles bewegte sich nunmehr auf Konsolidierung des Status quo in Deutschland und Europa, weil klar wurde, daß auch die Sowjetunion nicht bereit war, das SED-Regime zugunsten eines neutralisierten, verkleinerten, aber parlamentarisch-demokratisch strukturierten Deutschlands zu opfern. Vielleicht hätte die Sowjetunion die Aufgabe der DDR bis zum Mai 1953 prinzipiell ohne Gesichts-und Prestigeverlust verkraften können. Aber nach dem Aufstand vom 17. Juni 1953 war der totalitäre und repressive Charakter des Regimes in der SBZ weltweit sichtbar geworden. Von nun an konnte die Sowjetunion aus ihrer Sicht eine „Befreiung" nicht mehr zulassen. Auch im Rückblick hat es keinen Sinn, Adenauers Ideen der Westintegration dogmatisch zu versteinern Selbst wenn er eine intensive Prüfung der Stalin-Noten und Ost-West- Verhandlungen gewollt hätte — er hätte die USA und die Westmächte, besonders Frankreich, nicht zum Rückzug aus der Bundesrepublik und für die Idee eines neutralen Gesamtdeutschlands bewegen können. Aber allein dieses Ansinnen schon hätte Adenauers Einfluß und damit die gesamte Zielsetzung seiner Westintegrationspolitik drastisch gemindert. Die Bundesrepublik wäre vermutlich nicht so schnell zum gleichwertigen Verbündeten aufgestiegen, sondern länger in der Rolle des Satelliten verblieben; das Besatzungsstatut wäre vermutlich länger wirksam gewesen. Die Absage an Stalins Noten und der am 26. Mai 1952 unterzeichnete Deutschland-Vertrag und vor allem die Pariser Verträge von 1954/55 verweisen auf die absolute Priorität der Westbindung vor der Wiedervereinigung, wie sie auch im Artikel 7 des Deutschland-Vertrages deutlich wird.
Das Jahr 1955 wurde dann zur Wasserscheide'der Ost-West-Beziehungen der fünfziger Jahre. Adenauers Besuch in Moskau, die Freilassung von Zehntausend Kriegsgefangenen, die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen mit der Sowjetunion, Erfolg und Zwänge der Hallstein-Doktrin sowie das Scheitern des Gipfeltreffens in Genf im Juli verweisen auf die verschiedenen Strömungen. Eine unfriedliche Koexistenz von Entspannungsbemühungen, fortgesetztem Ost-West-Gegensatz und nationaler Ohnmacht in Deutschland prallten weiterhin aufeinander. Allerdings wurde deutlich, daß die großen Mächte nicht Über-windung, sondern Respektierung des Status quo in Europa anstrebten. Abrüstung und Entspannung wurden zur Losung, die Wiedervereinigung stand nicht mehr an der Spitze der Prioritäten.
Adenauer betrachtete diesen Wandel im Westen und das sowjetische Entgegenkommen 1955 beim österreichischen Staatsvertrag mit Mißtrauen; sein Rapallo-Komplex wurde wieder erkennbar. Er interpretierte dies als einen klugen Schritt der Sowjets, den Westen glauben zu machen, daß sie ihre Deutschlandpolitik gewandelt hätten. Aber er sah, daß unter dem Deckmantel eines Paktes über die kollektive Sicherheit in Europa lediglich ein sowjetisches Hegemonialsystem entstehen sollte. Die Auflösung der NATO und der Rückzug der Vereinigten Staaten vom Kontinent — beides zentrale Forderungen der Sowjets — waren für die Westmächte und für Adenauer unannehmbar. So bleibt der Geist der fünfziger Jahre janusköpfig: Für den Westen zum Teil nostalgisch und in bisweilen verklärter Erinnerung, weil Westintegration und Wohlstand greifbar wurden. Aber für die Menschen im Osten Deutschlands waren diese Jahre voll von Zwang, Armut und Unterdrückung. Keine Ost-und Deutschlandpolitik der Bundesrepublik hätte dies vermutlich ändern können
Trotzdem, seit dem Genfer Gipfel 1955 wurde das Klima entspannter. Hoffnungen auf Abrüstung und Anerkennung bzw. Respektierung des Status quo in Europa blühten. Adenauer geriet unter Druck, besonders, nachdem die Sowjetunion in der Note vom 7. Juni 1955 die Entwicklung normaler Beziehungen und die Lösung des nationalen Problems angedeutet hatte. Das dramatische Ergebnis des Moskauer Besuches war die Freilassung der deutschen Kriegsgefangenen; das politisch-rechtlich langfristig wichtigste Ergebnis war die von Adenauer zu Protokoll gegebene Position zur deutschen Frage: Wiedervereinigung und Selbstbestimmung blieben die zentrale Aufgabe. Auch wenn Hallstein-Doktrin und Alleinvertretungsanspruch nach der Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der Sowjetunion modifiziert werden mußten, blieb doch der Anspruch der Bundesregierung erhalten, als einziger freier und demokratisch konstituierter Staat auf deutschem Boden weltweit allein befugt zu sein, in Vertretung des ganzen deutschen Volkes zu sprechen.
Ende der fünfziger Jahre war Adenauers Ost-politik jedoch in eine Sackgasse geraten. Im September 1957 wurde in einer gemeinsamen jugoslawisch-polnischen Erklärung die Oder-Neiße-Linie als endgültig bezeichnet und die Existenz der DDR als zweiter deutscher Staat auch von Jugoslawien anerkannt, das mit der Bundesrepublik seit 1955 diplomatische Be-’ Ziehungen unterhielt Nun rückte die Diskussion um die Hallstein-Doktrin in den Mittelpunkt der ostpolitischen Kontroverse. Auch schoben sich moralische Argumente in den Vordergrund. War es Adenauers große Leistung gegenüber Israel gewesen, den moralischen Aspekt in der deutschen Politik in Form von Wiedergutmachung deutlich werden zu lassen, so hatte diese moralische Dimension leider in der Ostpolitik keine Entsprechung finden können.
Ganz anders verhielt es sich mit der Deutschlandpolitik: Hier war es gerade der moralisch-ethische Alleinvertretungsanspruch, der jeglichen Kontakt mit den Machthabern in Pankow verhinderte. Gegensätze zwischen der Ost-und Deutschlandpolitik der Regierung Adenauer, einerseits — wenn auch zum Teil illusionär — in der Ostpolitik abzuwarten, auch hinsichtlich der Wiederherstellung der Grenzen von 1937, und andererseits die moralisch geführte Argumentation in der Deutschlandpolitik stellen ein Paradoxon dar, das vielleicht bisher zu wenig beachtet wurde. Die Phantasielosigkeit der späten Jahre von Adenauers Ost-und Deutschlandpolitik wurde unübersehbar. Es blieb beim Abwarten. Initiativen in den eigenen Reihen von Kiesinger, Gerstenmaier, Gradl, Lemmer u. a. blieben fruchtlos Adenauers starre Haltung und sein rücksichtsloses Vorgehen gegenüber denjenigen, die eine Auflockerung in der Ost-und Deutschlandpolitik versuchten, blieb nicht ohne Folgen. Einer ganzen Generation von CDU-Politikern hat er den Mut zum eigenen Urteil, zu Zivilcourage und vor allem die Besinnung auf die nationalpolitische Tradition in der eigenen Partei genommen. Bis heute wird nur vom Erbe Konrad Adenauers gesprochen, aber die gesamte nationalpolitische Tradition, als Erbe von Jakob Kaiser verstanden, auf der eine originär christdemokratische Ost-und Deutschlandpolitik aufbauen könnte, bleibt verschüttet
Im Klima jahrzehntelanger Ost-West-Konfrontation ließen sich die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion nur schwer auftauen. Die Berlin-Krise ab 1958, die mit dem Bau der Mauer 1961 ihren Höhepunkt erreichte und dann 1963 abklang, markierte den Krisenhöhepunkt der Ost-und Deutschlandpolitik in der Ära Adenauer. In Deutschland wuchs erneut Kriegsangst. Vor allem schwand dabei das Vertrauen der Bevölkerung in die USÄ Resignation in Sachen Wiedervereinigung und neuer deutschlandpolitischer Aktivismus bilden die scheinbar paradoxen neuen Grundbedingungen zu Beginn der sechziger Jahre als Reaktion auf den Mauerbau. Es war kein Zufall, daß die Anpassung an die Teilung und zugleich eine Politik der kleinen Schritte zum Zwecke menschlicher Erleichterungen seit Ende 1962 in Berlin begann. Der Regierende Bürgermeister Willy Brandt knüpfte zwar in manchem an ältere sozialdemokratische Vorstellungen einer Normalisierung auf der Basis des Status quo an, aber im Unterschied zum Deutschlandplan der SPD von 1959 war ein neuer Realismus erkennbar, der sich auch in der Bejahung der Einbindung der Bundesrepublik in die westliche Gemeinschaft niederschlug
Das Ende der Ära Adenauer bahnte sich an, zugleich bewegte sich in der Ost-und Deutschlandpolitik auf Regierungsebene nichts mehr. Gedankliche und politische Initiativen verlagerten sich auf FDP und SPD. Zu Recht erklärt Hans-Peter Schwarz in seinem großen Werk: „Wer sich die Stimmung am Ende der Ära Adenauer rückblickend vor Augen führt, wundert sich auch noch nachträglich, weshalb die neue Ostpolitik erst Anfang der siebziger Jahre voll zum Durchbruch gekommen ist."
III. Die Regierung Erhard: Jahre der Orientierungslosigkeit (1963 bis 1966)
Unter Adenauers Nachfolger, Bundeskanzler Erhard, trat zunächst große Unsicherheit ein. Erhard war gutwillig, aber seine Achillesferse lag zweifellos in außenpolitischer Unerfahrenheit. So rückte er die Bundesrepublik in eine unkritische Nähe zu den USA, wobei die Beziehungen zu Frankreich und — angesichts des amerikanischen Engagements in Südvietnam — auch die Beziehungen zu den sozialistischen Staaten nicht gerade erleichtert wurden. Auf dem Hintergund der Neuüberlegungen in Sachen Ost-und Deutschlandpolitik bei der SPD, bei der FDP und in der Publizistik büßt selbst das herausragende Ereignis der Regierung Erhard, die Friedensnote von 1966, an Bedeutung ein.
Während Adenauer sich auf die bilateralen Beziehungen zur Sowjetunion konzentrierte, bezogen Erhard und Außenminister Schröder um so mehr auch die übrigen sozialistischen Staaten in Europa in die Ostpolitik mit ein. Dies war eine herausragende Neuerung. In Übereinstimmung mit den veränderten entspannungspolitischen Prämissen der Regierung Johnson sprach sich die Regierung Erhard für eine — vor allem wirtschaftspolitisch verbesserte — Pflege der Beziehungen zu den Staaten des Warschauer Paktes aus. Dabei lag die Vermutung nahe, daß dadurch die DDR isoliert werden sollte. Diese sollte einerseits zu einem politischen Anachronismus werden — dann war die Erhard/Schröder-Politik als Fortsetzung einer modifizierten Politik der Stärke zu verstehen. Andererseits mag auch die Hoffnung mitgespielt haben, daß das DDR-Regime durch Druck der Bruderländer zu Zugeständnissen in der Deutschlandpolitik genötigt werden könnte. Diese Hoffnungen erwiesen sich als trügerisch; das Regime Ulbricht lehnte sich noch stärker an die Sowjetunion an: Ergebnis war die sogenannte Ulbricht-Doktrin
Die weiteren diplomatischen Vorstöße der Bundesrepublik konnten vorerst aus Ost-Berlin abgestoppt werden. Doch zunächst konnten im Zuge der Schröderschen Ostpolitik Handelsverträge mit Polen, Rumänien und Ungarn abgeschlossen werden. 1964 kam es dann zur Unterzeichnung eines langfristigen Abkommens mit Bulgarien, an das sich gleichfalls der Austausch von Handelsvertretungen anschließen sollte. Demgegenüber gerieten Verhandlungen mit der Tschechoslowakei ins Stocken und scheiterten auch am Verlangen der Bundesrepublik nach Einbeziehung Berlins in den Vertrag. Berlin blieb nach wie vor rechtlich und politisch das Nadelöhr und das Spannungszentrum in den Ost-West-Beziehungen. Die Passierscheinverhandlungen des Berliner Senats von 1963 bis 1965 führten dazu, daß die SPD als Regierungspartei energischer und pragmatischer die deutschlandpolitischen Probleme anzupacken gedachte. Freilich gingen manche von Willy Brandts Vorstellungen der Regierung Erhard zu weit. In der CDU überwogen die beharrenden Tendenzen. Ansätze zur Reform der Deutschlandpolitik, die z. B. durch den Vertriebenenminister Gradl angeregt wurden konnten sich nicht durchsetzen. Nach wie vor diktierten die Forderungen nach Wiedervereinigung, freien Wahlen, nach Alleinvertretungsanspruch und Nichtanerkennung der DDR alle Überlegungen. Aber die sechziger Jahre waren auch die Jahre der ost-und deutschlandpolitischen Modelle, von Überlegungen, Thesen und Memoranden, die in den Parteien und vielen gesellschaftlichen Gruppierungen und Institutionen, vor allem auch in Kirchen und Medien, intensiv erörtert wurden.
Diese Aktivitäten standen in scharfem Kontrast zur außenpolitischen Phantasielosigkeit der Regierung Erhard. Erhard wollte sich, ganz wie Präsident Johnson, primär innenpolitischen Reformen widmen. Aber wie Johnson durch Vietnam zur Außenpolitik gezwungen wurde, so mußte sich Erhard mit den ost-und deutschlandpolitischen Versäumnissen befassen. Die Friedensnote vom 25. März 1966 bildete einen neuen Ansatzpunkt, der das Verhältnis von Wiedervereinigung und Abrüstung betraf. Nun gab die Bundesregierung die Forderung auf, wonach Entspannungspolitik in jedem Fall mit Fortschritten in der deutschen Frage verknüpft sein müßte Innenpolitisch brachte die Friedensnote eine neue Gemeinsamkeit zwischen allen Parteien, denn die Opposition trug diese Initiative im Parlament und in der Öffentlichkeit mit. Selbst Konrad Adenauer schien der Entspannungspolitik aufgeschlossener gegenüberzutreten, wie seine Anmerkungen vom März 1966 über die Sowjetunion zeigten
Erhards Sturz 1966 beendete diese Übergangsphase in der Ost-und Deutschlandpolitik, die überwiegend unter dem Aspekt der Versäumnisse gesehen werden kann, aber auch Spurenelemente des Neubeginns enthielt. Der Übergang von Erhard zu Kiesinger macht aber auch eine Ergänzung der Problemstellung notwendig. Es geht nicht nur um die beiden Fragen, inwieweit die Ost-und Deutschlandpolitik nach außen hin vereinbar mit den Zielen und Interessen der anderen Regierungen sei, oder ob sie auf innenpolitische Zustimmung stieß. Darüber hinaus stellt sich auch die Frage, wie die parteiinterne Konstellation bei den Unionsparteien in Sachen Ost-und Deutschlandpolitik aussah.
Das scheinbar ungetrübte Verhältnis zwischen CDU und CSU in der Ära Adenauer wurde vorrangig durch die Autorität und Popularität Adenauers gesichert. Nach Adenauers Rücktritt und Tod verstanden Strauß und die CSU sich als legitime Erben von Konrad Adenauer. So beobachteten Strauß und die CSU mit Argwohn die amerikanischen Bemühungen um Entspannung mit der Sowjetuni-on, die seit Ende der fünfziger Jahre einsetzten. Ergebnis dieser Entwicklung war die neogaullistische Fraktion in der CDU/CSU, die in nicht unbeträchtlichem Maße durch die CSU vorangetrieben wurde. Zum zweiten beobachtete die CSU die ostpolitischen Ansätze innerhalb der CDU seit Beginn der sechziger Jahre mit unverhohlenem Mißtrauen. So ist es kein Zufall, daß der Atlantiker Schröder, der als Außenminister seit 1963 ebenfalls um eine Verbesserung der Beziehungen zu den osteuropäischen Staaten bemüht war, von Strauß und der CSU deshalb heftig kritisiert wurde. 1966 wäre Gerhard Schröder vermutlich Bundeskanzler einer Großen Koalition geworden, hätte Strauß nicht seinen und den Einfluß seiner Partei voll in die Waagschale zugunsten Kiesingers geworfen.
Der Sturz von Bundeskanzler Erhard markierte die erste ernsthafte Herausforderung der CSU an die Adresse der CDU. Vordergründig lag die Ursache im rapiden Autoritäts-und Popularitätsverlust von Erhard, der in seiner atlantischen Orientierung gutgläubig auf amerikanische Unterstützung in schwierigen wirtschafts-und finanzpolitischen Fragen setzte, so beim Devisenausgleich mit den USA für die amerikanische Truppenstationierung. Es war dann aber schließlich nicht die CSU, sondern die FDP, die durch den Abzug ihrer vier Minister am 27. Oktober 1966 den Sturz der Regierung Erhard einleitete. Kiesinger wurde im dritten Wahlgang durch Unterstützung der CSU gewählt. So wurde mit der Bildung der Großen Koalition der politische Handlungsspielraum der CDU gegenüber der CSU geringer, weil Kiesinger als Bundeskanzler sich auf die CSU stützen mußte. Ost-und deutschlandpolitisehen Gemeinsamkeiten oder Aktionsbündnissen zwischen der CDU und der SPD innerhalb der Großen Koalition waren von Anfang an durch die neue Macht der CSU und von Franz Josef Strauß enge Grenzen gesetzt Diese Krise der CDU in der Endphase der Regierung Erhard markiert einen kardinalen Wendepunkt für das Selbstverständnis und den Standort der CDU im Rahmen der Parteienlandschaft: Im Regierungsbündnis mit der FDP war sie vor einer drohenden Herausforderung von Seiten der CSU sicher, solange sie das politische Kräftefeld zwischen liberalen Anforderungen an die FDP und konservativen Ansprüchen der CSU ausbalancieren konnte. Als nun nach Adenauers Rücktritt ein Führungsdefizit deutlich wurde und die ausgleichende und zugleich führende Kraft des Kanzlers durch Erhard nicht beibehalten werden konnte, setzte der Erosionsprozeß ein. Die FDP sah ihre Erwartungen in neue ost-und deutschlandpolitische Überlegungen bei der CDU nicht mehr realisierbar, der CSU hingegen gingen Erhards und Schröders Schritte in Richtung Ostpolitik, wie z. B. bei der Friedensnote, zu weit In der Großen Koalition stand nunmehr dem liberalen Flügel in der CDU — der einer Aktionsgemeinschaft in ost-und deutschlandpolitischen Fragen mit der SPD nicht abgeneigt schien — der wachsende Einfluß der CSU gegenüber; konservative Gruppierungen in der CDU konnten sich gleichfalls ausweiten. Von Anfang an waren Bundeskanzler Kiesinger somit Zügel in der Ost-und Deutschlandpolitik angelegt worden.
IV. Kurt Georg Kiesinger und die Große Koalition: Die Jahre des Übergangs (1966 bis 1969)
Mit der von Bundeskanzler Kiesinger geführten Großen Koalition begann 1966 eine außerordentlich interessante Phase ost-und deutschlandpolitscher Aktivitäten. Kiesinger hatte erkannt, daß die bisherige Politik nach Osten aufs Ganze gesehen in den Unionsparteien erstarrt war. Im Gegensatz dazu drängte man in der SPD auf Reformen und Neuerungen. So fiel Kiesinger als Regierungschef der Großen Koalition die schwierige Aufgabe zu, die schnellen Pferde der SPD sowie die lahmen Gäule der Unionsfraktion gleichermaßen in Trab und im Geschirr zu halten.
Die neue Ostpolitik unter Bundeskanzler Kiesinger ließ sich zunächst gut an. 1967 kam es zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Rumänien, dann im Herbst zum Austausch von Handelsmissionen mit der Tschechoslowakei. Sie geriet dann aber in Schwierigkeiten, weil es der DDR teilweise gelang, die sozialistischen Bruderstaaten vor den Entspannungsofferten der Großen Koalition nachhaltig zu warnen. So verliefen die Beziehungen zu Polen auch deshalb unbefriedigend, weil der Bundeskanzler sich nicht zu einer Anerkennung der Oder-Neiße-Linie durchringen konnte. Dann machte der War-schauer Pakt zunehmend Front gegen die neue Ostpolitik. Unüberwindliche Barrieren wurden aufgebaut, Vorleistungen wurden von der Großen Koalition als Bedingung für den Austausch von Botschaftern gefordert. Neben der Forderung nach einem Verzicht auf atoB mare Bewaffnung ging es vor allem um die Anerkennung der DDR sowie der bestehenden Grenzen in Europa, um die Aufgabe des Alleinvertretungsanspruchs, um die Liquidation der Hallstein-Doktrin und um die Ausklammerung West-Berlins aus den Verträgen und Abkommen.
Um das Problem der Anerkennung zu umgehen, verfolgte die Regierung Kiesinger die Idee des Gewaltverzichts. Gewaltverzicht bot eine rechtliche, aber doch elegante Möglichkeit, den Status quo in Europa zu respektieren, ohne ihn direkt anerkennen zu müssen Gleichzeitig versuchte die Regierung Kiesinger, den Gewaltverzicht bilateral zu verhandeln und nicht, wie vom Warschauer Pakt in Karlsbad proklamiert, von Block zu Block zu etablieren. Eine solche Pauschaler-klärung zum Gewaltverzicht hätte keine bilateralen Differenzierungsmöglichkeiten erlaubt, und deren Verhinderung war das Ziel der Sowjetunion. Deshalb scheiterte dieser Gewaltverzichtsansatz. Unter Berufung auf die Feindstaatenklausel machte die osteuropäische Vormacht die Bundesrepublik wieder zum Prügelknaben der gescheiterten Entspannungsversuche. Der Einmarsch der Sowjetunion und anderer Warschauer Paktstaaten in die CSSR im August 1968 tat ein übriges, um die ersten Ansätze einer Ost-West-Entspannung wieder zu verschütten. Vor allem zeigte der Einmarsch überdeutlich, wo die wirklichen Spannungsursachen in Europa lagen.
Gleichwohl vollzog der Bundeskanzler — auch hier vom sozialdemokratischen Koalitionspartner bisweilen gedrängt — wichtige Entscheidungen in der Deutschlandpolitik, die Wandel erkennen ließen. Kiesinger war der erste Kanzler, der der Ost-und Deutschlandpolitik, insgesamt gesehen, einen angemessenen und aufeinander bezogenen Stellenwert zuordnete. Es ist bezeichnend, daß Kiesinger im Zusammenhang mit der Öffnung nach Osten erstmals in der Tradition von Jakob Kaiser und der Berliner CDU von Deutschland als der Brücke zwischen Ost und West sprach und damit den Absolutheitsanspruch des Westkurses relativierte.
Bundeskanzler Kiesinger paßte die Ost-und Deutschlandpolitik zwar in den neuen Entspannungskurs von Präsident Johnson ein, trat aber gegenüber dem amerikanischen Präsidenten mit Würde und einem Selbstbewußtsein auf, das sich wohltuend von den Freundschaftsbeschwörungen von Bundeskanzler Erhard gegenüber den USA abhob. Nicht nur beim umstrittenen Atomwaffensperrvertrag trat Kiesinger den Amerikanern entschieden, ja sogar hart entgegen Gleichzeitig wurde die Kriegführung der USA in Vietnam mit Distanz beobachtet, ohne einem Anti-Amerikanismus zu erliegen.
In der Deutschlandpolitik bemühte sich Kiesinger um Einbindung des anderen Teils Deutschlands in das neue entspannungspolitische Klima, hielt aber am Alleinvertretungsanspruch fest, auch wenn er diesen nun reduzierte und moralisch interpretierte. Auch lockte Kiesinger mit einer Ausweitung des innerdeutschen Handels und mit Regierungskontakten. Die Ost-und Deutschlandpolitik wurde gedanklich und terminologisch anspruchsvoller, aber noch fehlte der konzeptionelle Guß. Es kam zu Begriffsakrobatik, als die Gegensätze zwischen der CDU/CSU und der SPD sich ab 1968 verstärkten. Als Außenminister Brandt vom anderen Teil Deutschlands als Staat sprach, wurde er von seinem Bundeskanzler kritisiert Das Wort von der Anerkennungspartei'vergiftete von nun an das Verhältnis zwischen Außenminister, einem Teil der Sozialdemokraten und dem Bundeskanzler. Früher sprach Kiesinger vom . Phänomen'DDR, bald darauf vom . Gebilde'. Der Bundeskanzler, der den ost-und deutschlandpolitischen Vorstellungen von SPD und FDP vermutlich näher stand, als mancher an-nahm, mußte auf die beharrenden Kräfte in der CDU und vor allem in der CSU Rücksicht nehmen. Die Front zog sich nicht nur vertikal zwischen SPD und Unionsparteien innerhalb der Großen Koalition hindurch, sondern ging auch horizontal durch die Unionsparteien.
Die Mehrheit der CDU/CSU-Bundestagsfraktion kann seitdem für sich eine nun fast zwanzigjährige Tradition in Anspruch nehmen: In Sachen Ost-und Deutschlandpolitik hat sie nicht als Motor, sondern als Auspuff der Partei gewirkt. So spürte Kiesinger auf der einen Seite die hemmende Kraft seiner Fraktion, auf der anderen die treibende der SPD: Sie wurde personifiziert vom Minister für Gesamtdeutsche Fragen, Herbert Wehner.
Dieser suchte im Zuge einer Aufgabe des Alleinvertretungsanspruchs den Kompromiß mit der DDR Seine Beziehungen zu Bundeskanzler Kiesinger waren für einen er-staunlich langen Zeitraum durch sachpolitische Harmonie gekennzeichnet Das herausragende deutschlandpolitische Dokument jener Zeit, die Rede von Bundeskanzler Kiesinger zum 17. Juni 1967, wurde auch noch in den siebziger Jahren von Herbert Wehner und anderen Politikern der SPD mit Hochachtung erwähnt: „Deutschland, ein wiedervereinigtes Deutschland, hat eine kritische Größenordnung. Es ist zu groß, um in der Balance der Kräfte keine Rolle zu spielen, und zu klein, um die Kräfte um sich selbst herum im Gleichgewicht zu halten. Es ist daher in der Tat nur schwer vorstellbar, daß sich ganz Deutschland bei einer Fortdauer der gegenwärtigen politischen Struktur in Europa der einen oder der anderen Seite ohne weiteres zugesellen könnte. Eben darum kann man das Zusammenwachsen der getrennten Teile Deutschlands nur eingebettet sehen in den Prozeß der Überwindung des Ost-West-Konflikts in Europa.“
Bundeskanzler Kiesinger unterbreitete der DDR am 12. April 1967 16 Vorschläge zur Erleichterung des täglichen Lebens in beiden Teilen Deutschlands. Verhandlungen zum Abbau der Hindernisse im Reise-und Zahlungsverkehr, zur Zusammenarbeit in der Wirtschaft, im Verkehrs-und Transportwesen sowie auf wissenschaftlichem, kulturellem und sportlichem Gebiet sollten ein geregeltes Nebeneinander in Deutschland ermöglichen. Hierbei wird deutlich, daß der Begriff Deutschlandpolitik sich qualitativ verändert hatte: An die Stelle der früheren Forderung nach Wiedervereinigung als schlichte Ausdehnung des Geltungsbereiches des Grundgesetzes trat nun die neue tagespolitische Absicht, die harten Konsequenzen der Teilung für die Bevölkerungen in der DDR und der Bundesrepublik zu mildern. Endgültig hatte man nun in Bonn eingesehen, daß ein Bestreiten der Legitimität des DDR-Regimes zu nichts führte. Ministerpräsident Stoph beantwortete am 10. Mai 1967 den Vorschlag von Bundeskanzler Kiesinger und forderte direkte Verhandlungen über die Aufnahme normaler Beziehungen zwischen beiden Staaten. Stoph lud den Bundeskanzler ein, nach Ost-Berlin zu Verhandlungen zu kommen. Nun, zum ersten Mal, nahm das Bundeskanzleramt das Schreiben Stophs direkt entgegen. Aber der Briefwechsel zwischen Kiesinger und Stoph führte zu keinen Resultaten, sondern zu einer Verhärtung der Fronten. Hierfür gab es zwei Gründe
Zum einen schraubte das Regime in Ost-Berlin im Einvernehmen mit der Sowjetunion den Preis für Kontakte höher und grenzte sich im Sinne der Zwei-bzw. Drei-Staaten-Theorie noch stärker von der gesamtdeutschen Idee ab. Die Regierung Kiesinger konnte nun das zentrale Problem der Anerkennung des Status quo und der Anerkennung der DDR in keinen konzeptionellen Zusammenhang mehr bringen. Während die Regierung Kiesinger Kontakte mit den Behörden der DDR, von unten nach oben sich ausbreitend, anstrebte, wenn die DDR-Regierung Kooperationswilligkeit zeigen sollte, so war die Strategie in Ost-Berlin genau gegensätzlich. Die Annäherung sollte von oben nach unten geschehen: Zuerst sollte die Anerkennung der DDR durchgesetzt werden und dann könnte es zu Kontakten mit den Behörden der einzelnen Ministerien kommen. Nicht zu Unrecht befürchtete Ulbricht eine Aufweichung der Fundamente seiner Herrschaft Gerade der Modus vivendi ohne prinzipielle Anerkennung der DDR hätte ihn bzw.sein Regime gefährden können. Seine starre Haltung blockierte somit die deutschlandpolitischen Ansätze der Regierung Kiesinger.
Zum zweiten konnten aber die Vorschläge der Regierung Kiesinger nicht konsequent zu Ende gedacht werden, weil die beharrenden Kräfte in den Unionsparteien ihrem Kanzler zwar im Bekenntnis zur Entspannung folgten, sich aber weigerten, daraus die entsprechenden Konsequenzen für die Praxis zu ziehen. Solange sich die Ansätze der Großen Koalition auf Rhetorisches beschränkt hatten, war die Führungsaufgabe des Bundeskanzlers leistbar gewesen. Aber nach dem Brief von Ministerpräsident Stoph waren praktische Konsequenzen nötig.
Bundeskanzler Kiesinger scheiterte endgültig in einem Zwei-Fronten-Krieg gegenüber der eigenen Partei und seinem sozialdemokratischen Partner. Energie und Vitalität wurden von der Bevölkerung mit der SPD und der FDP assoziiert. Die CDU erschien als Bremser der Entspannungspolitik, die SPD entwickelte sich zur reformfreudigen Partei, der man eine mutige Neuorientierung nach Osten zutraute. In der Großen Koalition hatte sich die kleine parlamentarische Opposition, die FDP, am deutlichsten entspannungspolitisch profiliert. So bewegten sich SPD und FDP spätestens in den Jahren der Großen Koalition aufeinander zu.
Drei zentrale Fehler unterliefen Kurt Georg Kiesinger, die vermutlich seine Wiederwahl verhinderten: 1. Mit seiner Forderung, die FDP aus dem Parlament „herauskatapultieren" zu wollen, verscherzte er sich alle zukünftigen Koalitionsmöglichkeiten mit den Kräften, die eine Fort-entwicklung der Ost-und Deutschlandpolitik an der Seite der CDU befürwortet hätten. 2. Unter Berücksichtung der innenpolitischen Strömungen in der Bevölkerung unterschätzte er den Willen und die Notwendigkeit zur Reform der Ost-und Deutschlandpolitik.
3. Vermutlich verkannte Bundeskanzler Kiesinger die Veränderungen im Ost-West-Verhältnis, speziell in den amerikanisch-sowjetischen Beziehungen. Nixons Rede vom 25. Juli 1969 auf Guam, auch im eigenen Land zunächst unterschätzt, sowie Gromykos außen-politischeGrundsatzrede vom 10. Juli 1969 signalisierten einen neuen Grad von Entspannungsbereitschaft zwischen den Supermächten. Während führende Politiker der SPD und der FDP nach Moskau reisten und damit auch optisch Initiativen signalisierten, blieben die Unions-Politiker — allen voran Bundeskanzler Kiesinger — skeptisch. Damit hatte der Bundeskanzler trotz positiver Ansätze in allen drei zentralen Fragebereichen keine befriedigenden Antworten gefunden. Er unterschätzte, was außenpolitisch an Veränderungen wirksam wurde; er übersah die Sehnsucht der Bevölkerung nach Aussöhnung und die Bereitschaft zu Regelungen mit den Staaten Mittel-und Osteuropas, und er verkannte die veränderten Konstellationsbedingungen in der parteipolitischen Landschaft.
V. Willy Brandt und die neue Ostpolitik (1969 bis 1974)
Die neue Ost-und Deutschlandpolitik der sozialliberalen Regierungskoalition wurde ab 1969 erst möglich, weil sich die internationalen Rahmenhedingungen verändert hatten: Die USA begannen 1969 unter Präsident Nixon eine Politik der Annäherung gegenüber der Volksrepublik China und der Sowjetunion Dadurch wurde auch die starre Konfrontation in Europa aufgelockert. Die Sowjetunion reagierte zunächst abwartend, dann positiv, weil die amerikanische Politik erhebliche Anreize bot, um politische Stabilität, wirtschaftlichen Fortschritt und Sicherheit nun nicht mehr rein konfrontativ, sondern mit Hilfe der USA und des Westens zu erreichen. Handel, Rüstungskontrolle und Anerkennung des Status quo in Europa standen im Vordergrund der sowjetischen Interessen. Es war das Verdienst der Regierung Brandt/Scheel, daß sie diese veränderten Bedingungen im Ost-West-Verhältnis erkannte, auf den europäischen Rahmen transformierte und auch für die deutschen Interessen nutzbar zu machen suchte. Es galt, nach ergänzenden Methoden in der Ost-und Deutschlandpolitik zu suchen, um dem Prozeß der Spaltung unseres Landes entgegenzuwirken und um langfristig den Auftrag des Grundgesetzes unter veränderten außen-und innenpolitischen Bedingungen aufrechtzuerhalten.
Die Ostverträge von 1970 hatten eine spezifische deutschlandpolitische Funktion: Sie sollten die Interessen der Sowjetunion und der anderen mittel-und osteuropäischen Staaten für die Ziele der Bundesrepublik „erwärmen“. Dies erforderte wiederum von der Bundesrepublik eine Modifizierung der eigenen Ziele und Interessen. Nicht mehr allein das Beharren auf Rechtspositionen und moralischen Postulaten, sondern eine neue Verknüpfung der Interessen sollte versucht werden. Dabei stand der Wille zu vertraglichen Abmachungen im Vordergrund. Ein Abkommen mit der Sowjetunion erhielt absolute Priorität in der Hoffnung, daß die Sowjetunion Einfluß auf die DDR und auf eine pragmatische Deutschland-politik der DDR nehmen würde. Gleichzeitig war die Ost-und Deutschlandpolitik der sozialliberalen Koalition geschickt im Westen verankert Damit wurde die Furcht vor einer Wiederauflage deutscher Schaukelpolitik gebannt. Mit seinem Auftritt im Haag 1969 präsentierte sich Bundeskanzler Brandt westeuropäisch, und er wurde auch nach 1970 nicht müde, immer wieder zu betonen, daß die Ost-politik fest im westlichen Bündnis verankert sei. Indem die Bundesregierung den Beitritt Englands in die Europäische Gemeinschaft unterstützte, gewann sie Englands Zustimmung zur Ostpolitik. Indem sie in den ökonomischen Auseinandersetzungen in der Europäischen Gemeinschaft mit den USA Frankreich den Vortritt ließ, gab sie durch europa-politische Bescheidenheit Raum für französische Auftritte und erreichte damit auch bei Frankreich Verständnis für die Ostpolitik, besonders dann, wenn amerikanische Kritik an dieser deutlich wurde. Auch hierbei wurde sichtbar, daß die neue Ost-und Deutschland-13 Politik weniger atlantisch, sondern im Kern westeuropäisch verankert wurde
In der Substanz selbst zielte die neue Ostpolitik auf sieben konkrete Schritte:
1. auf den Austausch von Gewaltverzichtserklärungen mit der Sowjetunion (wobei nicht die Anerkennung der DDR de jure erforderlich sein würde) sowie eine Verstärkung der wirtschaftlichen Beziehungen mit der Sowjetunion; 2. auf ein Abkommen mit der VR Polen, wobei die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie miteinbezogen wurde;
3. auf ein Viermächte-Abkommen über Berlin, wobei die Verantwortung der drei Mächte für West-Berlin, die Sicherung und Verbesserung der Zugangswege von und nach Berlin und die Verstärkung der Verbindungen zwischen Ost-und West-Berlin sowie zwischen West-Berlin und der DDR angestrebt wurden;
4. auf ein Vertragsnetz mit der DDR, das durch sowjetischen Druck auf das Regime in Ost-Berlin ermöglicht wurde, wobei besondere Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten unterhalb der völkerrechtlichen Anerkennung etabliert wurden;
5. auf menschliche Erleichterungen durch Austausch und Reisen, also Freizügigkeit für Menschen, Informationen und Meinungen;
6. auf Verträge mit anderen Staaten Osteuropas, die, nach der'internationalen Anerkennung der DDR und nach der Aufnahme der beiden deutschen Staaten in die Vereinten Nationen, nun nicht mehr auf die Sperre der sogenannten Ulbricht-Doktrin treffen würden;
7. auf die Teilnahme beider deutscher Staaten an der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit (KSZE) in Europa
Alle diese Schritte wurden geschickt miteinander verknüpft, so daß im August 1970 mit Moskau und im Dezember 1970 mit Warschau, im September 1971 das Berlin-Abkommen und 1971 und 1972 der Verkehrs-bzw.der Grundlagenvertrag mit der DDR unterzeichnet werden konnten und schließlich KSZE und MBFR Gestalt annahmen. Die Verknüpfung dieses komplizierten Vertragsnetzes bildete die herausragende Leistung von Bundeskanzler Willy Brandt, der damit die außenpolitische Tradition deutscher Kanzler, mit den Ländern und Staaten im Osten Ausgleich und Interessenverknüpfung zu suchen, wieder aufgriff.
Unter diesem Aspekt kommt vor allem dem Moskauer Vertrag eine herausragende deutschlandpolitische Bedeutung zu. Zusammen mit dem Berlin-Abkommen stellt er die brillanteste Leistung westlicher Entspannungspolitik für Deutschland dar. Mit dem Berlin-Abkommen von 1971 wurde die amerikanische Entspannungspolitik gegenüber der Sowjetunion beschleunigt, aber gleichzeitig durch die Zusammenarbeit mit den anderen Mächten und der Ostpolitik Deutschlands auch europäisiert. Umgekehrt erhielt die Ost-politik der Bundesrepublik mit dem Berlin-Abkommen Substanz und wurde in die Entspannungsbemühungen des Atlantischen Bündnisses fest eingebettet. Das Berlin-Abkommen muß auch unter einem dynamischen Aspekt der westlichen Entspannungsbemühungen gesehen werden: Brandt und Nixon waren sich im April 1970 einig geworden, daß die deutschen Ostverträge erst dann in ein entscheidendes Verhandlungsstadium treten könnten, wenn es Fortschritte und Verbesserungen für Berlin gäbe. Mit dem Berlin-Abkommen wurde zum ersten Mal gezeigt, daß eine abgestimmte und koordinierte westliche Entspannungspolitik möglich ist, und daß die Sowjetunion erstmals zu substantiellen Zugeständnissen in Sachen Freizügigkeit bereit war. Somit konnte sich die Lage in und um Berlin entspannen.
In einem umfassenden Sinne markierten der Vertrag von Moskau, der Warschauer Vertrag, aber noch deutlicher das Viermächte-Abkommen für Berlin den Schnittpunkt, in dem sich erstmals amerikanische und bundesdeutsche Entspannungsinteressen kreuzten und konkret in Abkommen mit der anderen Seite verknüpft werden konnten. Auch nahm nach Unterzeichnung des Berlin-Abkommens und nach dessen Inkrafttreten die amerikanische Kritik an der bundesdeutschen Ostpolitik ab. Die anfängliche Zurückhaltung — mit der Unterzeichnung der beiden Ostverträge war Willy Brandt 1970 weit vorgeprescht — wurde nun durch Unterstützung abgelöst
Mit Hilfe des Berlin-Junktims gelang es dann dem Westen, Erfolge im Ratifizierungsprozeß der Ostverträge mit Fortschritten in der Berlin-Frage zu koppeln. Erst nach Inkrafttreten des Berlin-Abkommens einschließlich der innerdeutschen Vereinbarungen konnten die Ostverträge ratifiziert werden. Damit rückte die Bundesrepublik in eine Schlüsselposition in den Ost-West-Beziehungen: Sie war vom Mitmacher zum Schrittmacher der Entspan- nungsbemühungen in Europa geworden. Ihr Aufstieg zur europäischen Entspannungsvormacht ist ohne Zweifel eine herausragende Leistung gewesen. In der Anfangsphase der Ost-West-Entspannung bildeten die beiden Ostverträge und das Berlin-Abkommen die Eckpfeiler, die den noch zu bildenden amerikanisch-sowjetischen Entspannungsbogen stützten. Die Ostpolitik der Bundesrepublik zwang die Supermächte unterhalb ihrer bilateralen Interessensphäre zu europäischen Beiträgen, umgekehrt wurde in diesem Wechselprozeß die Ostpolitik atlantisch verankert. Ohne die Ostpolitik der Bundesrepublik wäre der amerikanische Beitrag zur europäischen Entspannung vermutlich geringer ausgefallen. Erst mittels einer geschickten Junktim-Strategie gelang es der Bundesrepublik, die Interessen der Sowjetunion, aber auch die der USA, an die Bundesrepublik zu koppeln. Damit ist Normalisierung verwirklicht worden, wie sie zwischen freiheitlich-demokratischen und autoritär-ideologisch gelenkten Staaten und Gesellschaftsordnungen möglich scheint. Die entscheidende Frage, die sich stellt, ist die, ob es der Bundesrepublik seit 1969 auch gelang, die ostpolitischen Erfolge deutschlandpolitisch zu nutzen, überspitzt könnte man sagen, daß die Ostverträge und die vorbereitenden deutschlandpolitischen Verträge und Abmachungen bis zum Verkehrsvertrag eine Art Trichter bildeten, der auf den deutschlandpolitischen Kern, den Grundlagenvertrag, hinführt Bis zum Verkehrsvertrag zeichnete sich ab, daß folgendes Entspannungskonzept der Bundesrepublik als ein System von kommunizierenden Röhren erfolgversprechend sein könnte: Die Bundesrepublik würde in dem Umfang bereit sein, die DDR und damit auch den Herrschaftsbereich der Sowjetunion anzuerkennen, in dem die DDR und die Sowjetunion Freizügigkeit gewähren würden. Oder anders ausgedrückt: In dem Maße, in dem die DDR und die Sowjetunion bereit sein würden, die Qualität der Grenzen zu verbessern, in dem Maße würde die Bundesrepublik bereit sein, die Grenzen selbst und den Herrschaftsbereich anzuerkennen. Diese Formel bildete den Kern der Überlegungen der Bundesregierung. Für sie war die Regelung des Innenverhältnisses der beiden Staaten in Deutschland zueinander nach Maßgabe von Freizügigkeit und guter Nachbarschaft vorrangig, während die DDR fast ausschließlich an der Regelung des Außenverhältnisses der beiden Staaten zueinander interessiert ist. Völkerrechtliche Aner-kennung und Gleichberechtigung versuchte sie von Anfang an mit der Forderung nach Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten zu verbinden, um so den westlichen Wünschen nach Annäherung einen Riegel vorschieben zu können Der Grundlagen-vertrag spiegelt auch diese unterschiedliche Prioritätensetzung wider.
Herausragendes Element der neuen Ost-und Deutschlandpolitik war der Wille zur Kodifizierung, zur vertraglichen Regelung mit den Staaten Mittel-und Osteuropas, wobei die Problematik in der Abkehr von dem Grundsatz, „nur eindeutige Verträge sind gute Verträge", liegt Damit wurden Unklarheit und gegensätzliche Vertragsauslegung von Anfang an möglich. Auch zeigte die Bundesregierung Bereitschaft, die langfristigen Ziele in der Deutschlandpolitik weniger eindeutig zu definieren. Die traditionellen Zielperspektiven wie Wiedervereinigung, Einheit der Nation, Selbstbestimmung und freie Wahlen konnten in ihrer begrifflichen und langfristigen Bedeutung nicht durchgesetzt werden. Keine kommunistische Regierung hätte vermutlich einem solchen Vertrag zugestimmt. Nur bei Rücksichtnahme auf die Interessen der DDR-Regierung und mittels begrifflicher Ambivalenzen war deshalb eine Kodifizierung der Probleme und Zielperspektiven zwischen beiden Vertragspartnern möglich. Der Grundlagenvertrag ist Ausdruck dieser Gegensätzlichkeiten, die, zum Teil verdeckt hinter gemeinsamen Formeln, zunächst im Verborgenen blieben, zum Teil aber auch offen im Vertrag auftauchen, wie z. B. bei der nationalen Frage und den sich daraus ergebenden Folgeproblemen wie dem der Staatsangehörigkeit. Der Charakter des Grundlagenvertrages ist ambivalent: Nach Auffassung der Bundesrepublik ist er Ausdruck eines Modus vivendi, nach Auffassung der Regierung der DDR ist er ein Teilungsvertrag
Es kann kein Zweifel bestehen, daß seit Beginn der neuen Ost-und Deutschlandpolitik im Bereich Freizügigkeit Fortschritte erreicht worden sind. Aber das Prinzip der Transnationalität als Kernelement der bundesrepublikanischen Entspannungspolitik einerseits und das Kernelement der Abgrenzung und Forderung nach völkerrechtlicher Souveränität der DDR andererseits bilden den Antagonismus des Grundlagenvertrags. Transnationale Entspannungspolitik bedeutet in den Ost-West-Beziehungen nicht nur, daß Regierungen miteinander in Kontakt treten, sondern daß darüber hinaus die Menschen die Auswirkungen der Entspannung konkret erleben sollen. Dies macht die Attraktivität des westlichen Entspannungskonzepts für die Menschen in den sozialistischen Staaten aus, ist aber gleichzeitig die Hauptbedrohung für die dort herrschenden Regime. Von dieser Freizügigkeit versucht die DDR ihre Bevölkerung abzugrenzen, indem sie die staatliche Souveränität betont. Sie fürchtet eine von außen ermutigte und von innen erzwungene Durchdringung und Zersetzung ihrer Zwangsherrschaft.
Die deutsche Realität sollte mittels des Grundlagenvertrags und seiner Folgeverträge in einen neuen nachbarschaftlichen und freizügigeren Aggregatzustand geführt werden. Dies ist leider nicht gelungen Der Grundlagenvertrag und die geringe Zahl der Folge-verträge markieren deshalb auch eher Trennstriche zwischen beiden Staaten, regeln aber nicht die Teilung der Nation annehmbar auf neuer Grundlage. Die deutsche Frage ist nur in geringem Umfang normalisiert, dafür aber um so mehr formalisiert worden. Zugleich widerspricht die Politik der Abgrenzung und die verstärkte Forderung der DDR nach unannehmbaren Maximalzielen dem Grundlagen-vertrag, dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Grundlagenvertrag und dem Grundgesetz.
Der Grundlagenvertrag hat keine zentralen Positionen aufgegeben; er bleibt nach wie vor ein mögliches Instrument transnationaler Entspannungspolitik mit dem Ziel der Freizügigkeit auf mittlere Sicht und mit dem Recht auf Selbstbestimmung unter einer langfristigen Perspektive Allerdings ist der Grundlagenvertrag Ausdruck I einer modifizierten deutschlandpolitischen Konzeption, die in der Hoffnung auf konkrete Erleichterungen drei traditionelle Elemente aufgegeben hat: Kernstaatskonzept, AlleinvertretungsanSpruch und Hallstein-Doktrin. Mit der Aufnahme beider Staaten in die UNO und der darauffolgenden weltweiten völkerrechtlichen Anerkennungswelle für die DDR setzte die Bundesregierung auf ein wachsendes innen-und außenpolitisches Selbstbewußtsein der politischen Führung der DDR in der Hoffnung, eine außenpolitische Selbstbestätigung der DDR würde Freizügigkeit im Innenverhältnis der beiden deutschen Staaten anwachsen lassen. Auch diese Hoffnung war trügerisch.
Kaum war dann die Tinte unter dem Grundlagenvertrag trocken, begann die Zeit der großen Ernüchterung. Der Rücktritt von Willy Brandt 1974 dokumentiert diese neue Leere in der Deutschlandpolitik, die von Henry Kissinger folgendermaßen umschrieben worden ist: „Brandts Warmherzigkeit und Aufgeschlossenheit bildeten ideale Voraussetzungen für eine symbolische Rolle bei der Neuorientierung und Transzendierung der deutschen Nachkriegspolitik ... Doch besaß Brandt nach seinem Bruch mit den alten Stereotypen weder die innere Kraft noch die intellektuellen Fähigkeiten, die Kräfte zu zügeln, die er freigesetzt hatte. Er wurde vielmehr ihr Gefangener und schwelgte in dem Beifall, den sie ihm zollten, anstatt sie mit dem richtigen Sinn für die Proportionen oder eine in die weitere Zukunft gerichtete Kritik zu disziplinieren ... Er (hatte) seine Hauptaufgabe gelöst und jetzt in der Tat nichts mehr zu sagen, sondern (mußte) sich eingestehen, keinen weiteren Beitrag mehr leisten zu können ... Er war ein Paradox: er hatte den Lauf der Geschichte verändert, war aber dadurch selbst überflüssig ... geworden."
Diese Sicht der Dinge ist jedoch einseitig, wenn man bedenkt, daß Bundeskanzler Brandt moralisch und im nüchternen Interessenkalkül der Bundesrepublik gehandelt hat. Außerdem rückte die Bundesrepublik in eine Schlüsselposition der amerikanisch-sowjetischen Entspannungsbemühungen, weil sie die Skepsis der Nixon-Administration und das Drängen der Sowjetunion, wie z. B. in Sachen KSZE, zu überbrücken vermochte. Das Treffen von Bundeskanzler Brandt und Parteichef Breschnew 1971 in Oreanda auf der Krim symbolisierte die neue Position der Bundesrepublik im Geflecht der Ost-West-Beziehungen
VI. Die Ära Schmidt: Jahre der Konsolidierung (1974 bis 1982)
Das Erbe in der Ost-und Deutschlandpolitik von Bundeskanzler Brandt ist kompakt, in Verträge gebündelt, mit selbstbewußtem Stempel versehen gewesen. Aber die Verpakkung begann sich zu lösen. Es entstand die Frage, ob anstelle der vielgepriesenen Normalisierung nicht lediglich ein anspruchsvoller Grad von Formalisierung in den Beziehungen erreicht worden war, nun aber der Inhalt des Pakets sich bei näherem Hinschauen doch als bescheidener entpuppte. Die Mängel im Grundlagenvertrag wurden deutlicher. Die Regierung Honecker intensivierte eine einseitige Auslegung und praktizierte zugleich eine rigide Politik der Abgrenzung. Hoffnungen auf eine schnelle Lösung der ausstehenden Probleme in den Folgeverträgen entpuppten sich als Illusion. Aber nicht nur die Beziehungen zwischen den beiden Staaten in Deutschland stagnierten und mußten Rückschritte hinnehmen, wie etwa durch die verschiedentlichen Erhöhungen der Mindestumtauschsätze und durch Bevormundung der DDR-Bevölkerung. Auch die Intellektuellen-feindlichkeit der Regierung Honecker rief traurige Erinnerungen an die jüngere deutsche *Geschichte wach.
Die Deutschlandpolitik trat auf der Stelle, weil sich auch die Beziehungen zur Sowjetunion verschlechterten. Die Euphorie, die nach dem Besuch von Parteichef Breschnew in Bonn 1973 entstanden war, wich einem resignativen Realismus. Dies wurde auch bei Breschnews Besuch im Jahre 1978 deutlich. Positiv allerdings entwickelten sich die Handelsbeziehungen zwischen der Bundesrepublik und den Ländern des Comecon, insbesondere mit der Sowjetunion. 1973 war die Bundesrepublik zum bedeutendsten westlichen Handelspartner der Sowjetunion geworden. Dieser Trend hielt in der Folgezeit an, obwohl politische Hindernisse weiterhin fortbestanden.
Unter Bundeskanzler Schmidt setzte ein heilsamer ost-und deutschlandpolitischer Realismus ein. Nach der Einkapselung des deutschen Problems durch die Ostverträge war das Interesse der Westmächte an der deutschen Entspannung gesunken. Prinzipiell maß Bundeskanzler Schmidt den Beziehungen mit dem Osten vermutlich weniger Bedeutung bei als denen mit nichtkommunistischen Industrieländern. Hinzu kam, daß die Energiekrisen ab 1973, die verschärften innenpolitischen ökonomischen Probleme und neue außenpolitische Krisen wie z. B. im Nahen und Mittleren Osten, aber besonders in den amerikanisch-westeuropäischen Beziehungen ein übriges taten, um dort das Interesse der Bundesrepublik an mehr Freizügigkeit in Deutschland als nachgeordnet zu empfinden. Ausschlaggebend für die rapide Verschlechterung der Ost-West-Beziehungen auf Supermachtsebene, aber auch aus bundesdeutscher Sicht war jedoch die Tatsache, daß die Sowjetunion die Phase der Entspannung aktiv genutzt hatte, ihr Militärpotential unter der Zielsetzung einer Überlegenheit zu See, zu Lande und in der Luft auszubauen Zugleich setzte sie alles daran — global und regional, direkt oder durch Stellvertreter —, ihre politischen Machtpositionen auszubauen und amerikanische Schwäche zum eigenen Vorteil zu nutzen. Der sowjetische Einmarsch in Afghanistan, die sowjetische Reaktion auf die polnischen Reformbemühungen seit 1981 und die Stationierung von SS-20-Raketen zeigen, daß sie weder geneigt ist, ihre prädominante Stellung innerhalb des Blocks aufzugeben, noch auf außenpolitische Machtexpansion und militärische Überlegenheit zu verzichten.
Die diesbezüglichen Auswirkungen auf die Ost-undDeutschlandpolitik Bundesrepublik waren eindeutig negativ Es war deutlich geworden, daß die Sowjetunion nach der Wende der Beziehungen zu den USA nun auch in Europa ihren Entspannungsimpetus verloren hatte. Der deutschlandpolitische Weg, der Bundeskanzler Brandt noch 1970 mit Hoffnungen nach Erfurt geführt hatte, war steiniger geworden. Als Bundeskanzler Schmidt 1981 nach Werbellin kam, war die deutschlandpolitische Szenerie kafkaesk geworden. Während Bundeskanzler Schmidt und der Parteivorsitzende Honecker ihren Friedenswillen betonten und die Notwendigkeit beschworen, daß Bundesrepublik und DDR gemeinsame Verantwortung dafür tragen, daß von deutschem Boden nie wieder Krieg ausgehen dürfe, bewegte sich in der Deutschlandpolitik fast nichts mehr. Hinzu kam, daß die Polen-Krise auch die deutsch-deutschen Beziehungen belastete. Auch schien die Sowjetunion selbst kein Interesse daran zu haben, daß die DDR ihre Beziehungen zur Bundesrepublik weiter intensiviere. Das führte auch dazu, daß im gesamteuropäischen Kontext der Übergang von der bilatera-len zur multilateralen Phase der Ostpolitik stagnierte.
Während der Amtszeit von Bundeskanzler Schmidt konnte in der multilateralen Phase der Entspannung bei KSZE und bei MBFR kein Durchbruch erreicht werden, obwohl Schmidt mehrfach versuchte, deutsche Interessen nachhaltig einzubringen Das galt für die Folgekonferenzen 1977 in Belgrad ebenso wie für die von 1980/81 in Madrid. Die KSZE konnte keine Eigendynamik entwickeln; zu sehr wurde sie von weltpolitischen Ereignissen abhängig, die sie selbst kaum beeinflussen konnte. Trotzdem hat die KSZE eine gewisse Bedeutung behalten, denn sie ist zu einem Instrument gegenseitiger Information und zum Indikator für den Stand der Ost-West-Beziehungen geworden. Daß die Bemühungen von Bundeskanzler Schmidt um Rüstungskontrolle und Entspannung ohne nachhaltige Wirkung blieben, ist auch zurückzuführen auf die extremen Kursschwankungen der amerikanischen Ostpolitik, wie sie von Ford über Carter zu Reagan zu beobachten waren Gerade unter Präsident Carter gerieten die Beziehungen zu den ÜSA in schwere Turbulenzen. Nicht selten schien es, als ob amerikanische Machteinbußen in den Ost-West-Beziehungen durch eine kluge Entspannungsdiplomatie, wie sie von Giscard d'Estaing und Helmut Schmidt gemeinsam versucht wurde, erfolgreich ausgeglichen würden. Nach dem Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan im Dezember 1979 versuchten Schmidt und Giscard, durch Reisen nach Moskau eine gewisse Vermittlerposition zwischen den beiden Supermächten einzunehmen. Auch wenn die Aktionen der beiden Europäer letztlich erfolglos blieben, so wurde doch deutlich, daß die Westeuropäer ihre entspannungspolitischen Interessen selbstbewußter einbrachten
In der Tat mußte die deutsche Außenpolitik, insbesondere die Ost-und Deutschlandpolitik, während der Regierung Schmidt/Genscher unter immer schwierigeren Bedingungen im Supermachtsverhältnis die Balance zwischen Europa und den USA und zu der • UdSSR, aber auch die Balance zwischen Industrie-und Entwicklungsländern halten. Während der Amtszeit Schmidts hatte sich der weltpolitische Horizont radikal verändert: Die Sowjetunion wurde zu einer gleichrangigen Weltmacht, sie hatte amerikanische Schwäche in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre rücksichtslos genutzt, um ihre sicherheitspolitische Position auszubauen. Gleichzeitig differenzierte der fortgeschrittene Aufstieg der Volksrepublik China die traditionelle bipolare Struktur und erweiterte den außenpolitischen Handlungsspielraum der Mitglieder der Atlantischen Allianz. Zunehmend wurde aber auch erkennbar, daß die Staaten der Dritten Welt selbstbewußter agierten. Zugleich wurde sichtbar, daß die Staaten in Ost-und Westeuropa versuchten, sich aus dem rigiden Ost-West-Gegensatz zu lösen. Gesamteuropäische Entspannungsinteressen wurden, wenn auch taktisch zurückhaltend, so doch substantiell deutlich. Auch in den deutsch-deutschen Beziehungen trat der alte Antagonismus zurück zugunsten der Suche nach neuen gemeinsamen Interessen. Die Regierung Schmidt versuchte, innenpolitisch beruhigend und auf die DDR-Regierung mäßigend einzuwirken in der Hoffnung, daß bei großzügigem Entgegenkommen vielleicht entsprechende Gegenleistungen erreicht werden könnten. Dies war leider nicht der Fall.
Bundeskanzler Schmidt scheiterte schließlich 1982 an folgenden Entwicklungen: So wie er die Mehrheit seiner Partei in Sachen Sicherheitspolitik nicht mehr führen konnte — die Entwicklung des NATO-Doppelbeschlusses zeigte dies —, so schien auch in Sachen Ost-und Deutschlandpolitik bei der SPD ein gefährliches Maß an Illusion sich auszubreiten. Auf diesem Hintergrund wurde das soge-nannte Konzept der gemeinsamen Sicherheit von Egon Bahr auf der Grundlage einer Sb cherheitspartnerschaft problematisch. Aber nicht nur Naivität und Illusion, sondern auch eine Fehleinschätzung der Möglichkeiten gesamtdeutscher Zusammenarbeit wurde deutlich, wenn Egon Bahr erklärte: . Angenommen, die Sowjetunion baut die Neutronenwaffe, dann wird diese in der DDR stationiert werden. In einem solchen Fall könnte man der DDR die Frage stellen, ob sie unter diesen Umständen bereit wäre, zusammen mit der Bundesrepublik gegen die Stationierung von Atomwaffen in beiden deutschen Staaten einzutreten. Das ist eine der in die Zukunft führenden Fragen an die Deutschen in beiden Staaten, die gemeinsame Interessen, Loyalität in ihren beiden Bündnissen und europäische Verantwortung verbinden könnte." Seit Beginn der achtziger Jahre zeigte sich dann, daßdie Deutschlandpolitik auch in der SPD zum Teil in einen romantisch-nationalen Sog geriet Auch von diesen Tendenzen — so schien es — wurde Bundeskanzler Schmidt schließlich überrollt.
Bei Schmidts erzwungenem Rücktritt im Herbst 1982 kam eine Kanzlerschaft zum Ende, deren ost-und deutschlandpolitisches Erbe kompliziert ist Er hat Außenpolitik selbstbewußt im Rahmen der Gegebenheiten durchgeführt. Die Machtverschiebungen von den USA in die Hauptstädte Westeuropas wurden von Bundeskanzler Helmut Schmidt klug genutzt. Er personifizierte deutsche, ja auf eigene Weise preußische Politik im westeuropäischen Gewand. Zwischen Ost und West hatte er in Phasen schwerster Krisen zu vermitteln versucht, ohne die Westbindung der Bundesrepublik jemals in Frage zu stellen. Er symbolisierte für ein knappes Jahrzehnt außenpolitische Stabilität und Verläßlichkeit während einer turbulenten globalen Entwicklung. Mit Helmut Schmidt trat die Bundesrepublik Deutschland in eine verantwortliche weltpolitische Rolle ein. Kein Kanzler in der Nachkriegsgeschichte Deutschlands hat sich so um Aufrechterhaltung und Balance zwischen Sicherheit und Entspannung bemüht wie er, aber keiner hat auch vor den Entwicklungen in der eigenen Partei so kapitulieren müssen wie er. Er scheiterte, weil seine maßvolle Form erwachenden deutschen Nationalbewußtseins von einer Welle diffuser emotionaler Vorstellungen zu Sicherheit und Entspannung in seiner Partei überrollt wurde. Es scheint so, als ob er am Ende seiner Kanzlerschaft keine Kraft mehr besaß, sich gegen die rücksichtslose Demontage seiner Person und Politik zu wehren. Eine neue Indolenz und Unduldsamkeit gegenüber den USA wie gegenüber der Allianzpolitik im allgemeinen wurde in der SPD erkennbar.
VII. Die ost-und deutschlandpolitischen Ansätze der Regierung Kohl
In der ersten Regierungserklärung von Bundeskanzler Kohl wurde Kontinuität betont: „Aktive Friedenspolitik gegenüber den Staaten Mittel-und Osteuropas bleibt Aufgabe deutscher Außenpolitik ... Auf der Grundlage der geschlossenen Verträge und der Schlußakte von Helsinki wird sich die Bundesregierung weiter um echte Entspannung ... bemühen. Wir wollen das in unseren Kräften Stehende dazu beitragen, die Teilung Deutschlands und Europas für die Menschen erträglicher zu machen und gute Beziehungen zu unseren Nachbarn in Mittel-und Osteuropa zu unterhalten."
Wenn er weiter erklärte, daß „wir von Normalisierung und dem im Grundlagenvertrag angestrebten Verhältnis guter Nachbarschaft noch weit entfernt sind" so lag diese Aussage ebenfalls in Stil und Inhalt ganz in der Tradition der vorangegangenen sozialliberalen Bundesregierungen. Der damalige Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen, Rainer Barzel, sprach sich ebenfalls für eine aktive Pacta-sunt-servanda-Politik aus.
Ein Blick auf die konkreten in der Ergebnisse der Regierung Deutschlandpolitik neuen zeigt, daß sie bisher zwar relativ schmal ausgefallen sind, aber ebenso beharrlich und zäh der DDR abgetrotzt wurden, wie dies früher die sozialliberalen Bundesregierungen versucht haben. Form und Atmosphäre der Grenzkontrollen durch die DDR-Behörden wurden verbessert. Nach dem Tod von zwei Transitreisenden im April 1983 und auf Druck und Kritik der Bundesregierung sowie der öffentlichen Meinung hin wurden die Abfertigungsverfahren erleichtert. Auch die Selbstschußanlagen an der Grenze wurden auf Drängen der Bundesregierung völlig entfernt. Nach wie vor gilt aber der Schießbefehl. 1983 erlaubte die DDR 65 000 Menschen die Ausreise in die Bundesrepublik, 1984 waren es immerhin noch knapp 40 000. Damit versuchte die Regierung der DDR, auch oppositionelle Kräfte aus dem eigenen Land zu entfernen. Ob ihr dies gelungen ist oder ob diese Perspektive zu neuen Ausreiseanträgen führen wird, läßt sich derzeit schwer übersehen. Erstaunlich bleibt jedoch die Tatsache, daß sich die Regierungskontakte, z. B. unter den entsprechenden Ressort-Ministern, aber auch auf den unteren Ebenen, erheblich intensivierten. Die Bundesregierung konnte erreichen, daß im September 1983 Jugendliche unter 14 Jahren vom Mindestumtauschsatz befreit wurden. Der Mindestumtauschsatz für Rentner wurde auf DM 15, — reduziert. Im Oktober 1983 kam es zur Unterzeichnung einer Vereinbarung über Maßnahmen zur Sanierung des Flusses Roden im thüringisch-bayerischen Grenzgebiet. Im November 1983 und am 4. März 1985 konnte eine Regelung erreicht werden, die den Postverkehr zwischen den beiden Staaten erleichtert und beschleu19 nigt, den Selbstwählferndienst erweitert und Telefon-sowie Telexverbindungen erhöht. Im Januar 1984 übernahm der Senat von West-Berlin die Verantwortung für die Unterhaltung und Betriebsführung der S-Bahn. Im Juli 1985 kam es zu einer Reihe von Übereinkommen, u. a. zu einer neuen Vereinbarung über den Swing, um den innerdeutschen Handel zu erleichtern bzw. auszubauen. Auch konnte die Haltung der DDR bei der illegalen Einreise von Ausländern nach West-Berlin über den Flughafen Schönefeld beeinflußt werden: Ab Mitte Juli 1985 sperrte die DDR nicht nur den Luftweg, sondern auch die verschiedenen Landwege für illegale Einwanderer über Polen oder die CSSR. Der deutsch-deutsche Reise-und Besuchsverkehr entwickelte sich auch im Zeitraum der Regierung Kohl/Genscher leicht positiv, wenn auch nur einseitig von West nach Ost
Auf der Münchener Umweltkonferenz im Juni 1984 kam es zu Kontakten, die sich positiv auswirkten. Die Gewässerqualität von Havel und Spree soll in Zukunft gemeinsam verbessert werden. Am 13. Dezember 1984 kam es zu einer Regelung über grenzüberschreitenden Kali-Abbau im hessisch-thüringischen Kali-Revier. Die Kontakte zum gemeinsamen Umweltschutz entwickeln sich leider jedoch zu langsam. Die Elbeverschmutzung, die Techniken der Rauchgasentschwefelung und insgesamt die Luftreinhaltung sollen durch gemeinsame Abkommen verbessert werden. Die ehemals gepriesene Berliner Luft wird heute von Schadstoffen aus den südlichen Industriezentren der DDR anteilig zu etwa 40% negativ beeinträchtigt.
Diese Zwischenbilanz steht ganz in der Tradition der Politik der kleinen Schritte der vergangenen sozialliberalen Regierungskoalitionen. Hier lassen sich beim zähen Aushandeln von Fortschritten, aber auch in der zum Teil überdimensionierten positiven Selbstdarstellung von kleinsten Ergebnissen Parallelen zum Verhalten der SPD/FDP-Regierungskoalitionen unter Brandt und Schmidt erkennen. Natürlich stehen noch wichtige Ergebnisse im Bereich der Folgeverträge auf den Gebieten Kultur, Rechtsverkehr sowie Wissenschaft und Technik aus. Gerade die kulturellen Verbindungen sind bisher weit hinter dem Wünschenswerten zurückgeblieben. Neu und überraschend ist insgesamt, daß CDU-Politiker kleinere Ergebnisse als Fortschritte preisen, die sie selbst noch vor wenigen Jahren in der Opposition als ungenügend kritisiert hätten.
Die Ost-und Deutschlandpolitik der Regierung Kohl/Genscher von 1982 bis 1985 zeigt somit eine interessante Mischung aus Kontinuität und Wandel: Stellt man in Rechnung, daß die Mehrheit der CDU/CSU-Fraktion seit 1969 prinzipiell bei der Ablehnung der ost-und deutschlandpolitischen Verträge geblieben ist, so bedeutet auf diesem Hintergrund die Ost-und Deutschlandpolitik der Regierungskoalition Wandel mit Blick auf die eigene Partei. Nach wie vor wird in verschiedenen Äußerungen deutlich, daß ein großer Teil von CDU-Politikern den Verträgen mit Distanz gegenübersteht. Ein erstaunliches Maß an Kontinuität wird jedoch sichtbar mit Blick auf die vergangene Politik der sozialliberalen Regierungskoalitionen.
Diese Kontinuität bewirkte auch weitgehende Zustimmung von der SPD, der nur noch der kritische, aber heute realpolitisch unwichtige Hinweis blieb: „Daß über die staatlichen Grenzen die Geschichts-, Kultur-, Sprach-und Gefühlsgemeinschaft der Deutschen heute stärker und lebendiger ist als vor 10 oder 20 Jahren, daß die Grenzen durchlässiger geworden sind, daß die Zahl der Reisen zugenommen hat, ist das Verdienst unserer Deutschlandpolitik, nicht das Verdienst derer, gegen deren erbitterten Widerstand diese Deutschlandpolitik durchgesetzt werden mußte; nicht das Verdienst derer, die jetzt für die Stagnation der deutsch-deutschen Beziehungen und für ihre Gefährdung durch deutsch-nationale Querschüsse verantwortlich Sind, die von Herrn Kollegen Dregger bis hin zu jenem unsäglichen Blatt reichen, das in jeder Ausgabe den guten Namen der Schlesier beleidigt und in den Dreck zieht"
In Sachen Ostpolitik ist auffällig, wie stark sich dieRegierung Kohl in der Öffentlichkeit um den Eindruck bemüht, den Kontakt mit der Sowjetunion zu betonen. Kohl möchte an die Vermittlerfunktion seiner Vorgänger anknüpfen. Der Bereich der Rüstungskontrolle und die Auswirkungen der Supermachtsbe--Ziehungen auf Europa und Deutschland sollen dadurch günstig beeinflußt werden. So hat die Regierung Kohl im Vorfeld des amerikanisch-sowjetischen Gipfels im November 1985 auf ihre eigenen Verdienste mehrfach hingewiesen, auf diesen Gipfel hingedrängt zu haben. Sicher hat die Regierung Kohl versucht, die Regierung Reagan zu Rüstungskontrollangeboten zu drängen. Auch in Sachen SDI hat gerade Außenminister Genscher, aber auch das Bundeskanzleramt, die Regierung Reagan bedrängt, den SALT-Vertrag bzw.den ABM-Vertrag und SALT II einzuhalten. Auch hat man in Bonn gegenüber der Regierung Reagan stets die Harmel-Philosophie, die Zweigleisigkeit von Sicherheit und Entspannung, betont, aber gegenüber der Sowjetunion war der Einfluß vermutlich gering geblieben. Mißverständliche Positionen in der Regierung und in der CDU/CSU-Bundestagsfraktioh wie in den Parteispitzen von CDU und CSU in Sachen SDI und Entspannung haben die Einwirkungsmöglichkeiten der Bundesrepublik gegenüber der Sowjetunion vermutlich erschwert Kohl selbst hat sich in der Ost-politik um persönliche Kontakte mit der so-wjetischen Führung bemüht Allein die Tatsache der mehrfachen Machtwechsel in Moskau ließ es nicht zu, daß sich eine kontinuierliche Ostpolitik in diesem kurzen Zeitraum entwickeln konnte.
So bleibt abschließend festzuhalten, daß in erstaunlichem Umfang die Regierung Kohl/Genscher in Sachen Ost-und Deutschlandpolitik substantiell wie im Stil Kontinuität zu ihren Vorgängerinnen aufrechterhält. Welchen koalitionspolitischen und innerparteilichen Preis die Regierung hierfür zahlen wird, ist derzeit ungewiß.
VIII. Zusammenfassung und Ausblick
Folgende Grundprobleme sind seit 40 Jahren konstant, aber auch ungelöst geblieben:
1. Nach wie vor leben wir Deutsche in einer Spannungslage, wobei das staatliche Interesse der Bundesrepublik und das nationale Interesse Deutschlands nicht zur Deckung gebracht werden können. Die Grundprobleme der geteilten Nation wirken fort.
2. Die Bundesrepublik hat sich in diesen vergangenen Jahrzehnten zu einem demokratischen und liberalen Rechtsstaat entwikkelt, während die DDR im Machtsystem der Sowjetunion einzementiert bleibt.
Heute lebt ein Teil der Deutschen seit mehr als einem halben Jahrhundert ununterbrochen im Totalitarismus. Im aktuellen politischen Vergleich finden wir zu der Mauer nichts Gleichwertiges im heutigen Staatensystem. Beim historischen Vergleich mit der Chinesischen Mauer bleibt zu bedenken, daß jene gegen Eroberung von außen, nicht aber zur Kontrolle und Unterdrückung von innen gebaut wurde.
3. Nach wie vor können die vier Allierten sich nicht auf eine gemeinsame Zukunft Deutschlands einigen.
4. In beiden Teilen Deutschlands, sowohl im Westen als auch im Osten, konnten die Maximalziele in bezug auf Gesamtdeutsch-land nicht erreicht werden.
5. Seit 40 Jahren stehen wir in einem Ost-West-Konflikt, der in der Substanz konstant geblieben ist. Wandel haben wir nur in den Methoden erlebt. Auch der Wandel zur Entspannung ist primär eine Methodenfrage. 6. Totalitarismus, ideologischer Anspruch auf Machterweiterung und Unterdrückung der Menschenrechte bilden nach wie vor die politische Ursache für Spannungen in Europa. Diese Kontinuitätsmerkmale können aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß es in der Ost-und Deutschlandpolitik auch Wandel gibt. Die deutsche Frage hat sich verändert. Die alte Form der Zielsetzung, Wiedervereinigung in einem neuen deutschen Nationalstaat — also Festhalten am Provisoriumscharakter der Bundesrepublik und an der Beseitigung des Status quo —, diese Forderungen haben an Bedeutung verloren. Der Begriff Deutschlandpolitik rankt sich heute um den der Selbstbestimmung und um die Forderung, die deutsche Option rechtlich offen zu halten. Hinzu kommt, daß wir in beiden Staaten ein gestärktes Gefühl für die gemeinsame deutsche Geschichte spüren können. Politisch haben beide Deutschlands an Selbstbewußtsein gewonnen, und nicht selten scheint es, als wolle eine Regierung die andere ein wenig im gesamtdeutschen Dialog stützen.
Bis zu Beginn der siebziger Jahre war Entspannung eine außenpolitische Möglichkeit unter vielen. Heute ist Entspannung zu einer national-politischen Notwendigkeit geworden, die auf breiten innenpolitischen Konsens rechnen kann, wenn sie realistisch und mit Augenmaß betrieben wird. Dazu gehört allerdings auch, daß die Ost-und Deutschlandpolitik seit Beginn der siebziger Jahre differenzierter als bisher betrachtet wird. Die Polarisierung zwischen den großen politischen Lagern hat abgenommen.
Das entspannungspolitische Wirken der Bundeskanzler von Konrad Adenauer bis zu Helmut Kohl hat vermutlich auch die histori21 sehen Belastungen vermindern helfen können. In der jüngsten Vergangenheit hat auch Bundespräsident von Weizsäcker außen-und entspannungspolitisches Ansehen für die Bundesrepublik ernten können
So könnte man als Fazit feststellen: Die Teilung Deutschlands bleibt für uns unnatürlich, gleichzeitig aber für die Staaten Europas der Stabilisierungsfaktor seit40 Jahren. Das bedeutet, daß diese Bundesrepublik in ihrer Doppelrolle weiterleben und sie konstruktiv nutzen muß. Es ist diehistorische Leistung der Bundesrepublik, ihrer Kanzler und der
Bevölkerung, daß dieser Doppelkonflikt, die Diskrepanz zwischen Wiedervereinigungswunsch und realer Verneinung, weder passiv hingenommen, noch lautstark bekämpft wurde. Selten ist ein Konflikt in der deutschen Geschichte so konstruktiv und produktiv von der eigenen Bevölkerung verarbeitet und außenpolitisch friedlich und verantwortlich zum Wohl aller Völker in Ost und West genutzt worden. Diese Leistung wird nur der anerkennen können, der gleichzeitig die Phantasie für andere Alternativen aufbringen kann. Ein Vergleich mit anderen — nicht nur geteilten — Ländern macht die außenpolitische Leistung der Bundesrepublik Deutschland deutlich.