Am 15. September 1985 jährte sich zum fünfzigsten Mal der Tag. an dem in Nürnberg das nationalsozialistische „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre" — kurz „Blutschutzgesetz" genannt — erlassen wurde. Im folgenden sollen seine Vorgeschichte, Entstehung, sein Inhalt und seine Anwendung durch die damalige Justiz behandelt werden.
Die Forderung des Parteiprogramms der NSDAP vom 26. Februar 1920, daß nur ein Mensch „deutschen Blutes“ deutscher Staatsbürger sein könne und jeder andere als Gast „unter Fremdengesetzgebung" stehen müsse, auch auf das Gebiet des Strafrechts zu übertragen und die „Reinerhaltung der Rasse" mit strafrechtlichen Mitteln zu erzwingen, war keineswegs neu. Diese Forderung hatte schon Alfred Rosenberg in seinem „Mythus des 20. Jahrhunderts" vertreten.
Am 13. März 1930 brachte die nationalsozialistische Fraktion unter Frick im Reichstag den Entwurf eines „Gesetzes zum Schutz -der deut schen “ ein, Nation wonach „wegen Rassenverrats mit Zuchthaus" und dauerndem Entzug der bürgerlichen Ehrenrechte bestraft werden sollte, „wer durch Vermischung Angehöri mit -gen der jüdischen Blutsgemeinschaft oder farbiger Rassen zur rassischen Verschlechterung und Zersetzung des deutschen Volkes beiträgt oder beizutragen droht [! ]"; in besonders schweren sollte auch auf Todesstrafe Fällen erkannt werden können -Mag dieser radikale auch nur eine situationsbedingte Demonstration in der Debatte um das neue Republikschutzgesetz gewesen sein, der damals keine Aussicht auf Verwirklichung hatte, so steckte in ihm doch ein ernst zu nehmender Kern nationalsozialistischer Programmatik. Daß diese Überlegungen von Seiten nationalsozialistischer Juristen durchaus ernst genommen wurden, zeigen die Vorschläge des preußischen Justizministers Kerri und seines Staatssekretärs Freisler zur Strafrechtsreform, die im September 1933 in der Denkschrift „Nationalsozialistisches Strafrecht" veröffentlicht wurden. Zum „Schutz von Rasse und Volkstum" wurden darin Tatbestände aufgestellt, von denen der erste und wichtigste später im Nürnberger Blutschutzgesetz verwirklicht werden sollte: der „Rasseverrat", d. h. die Eheschließung und der außer-eheliche Geschlechtsverkehr zwischen Deutschblütigen und „Angehörigen fremder Blutsgemeinschaften".
Als diese radikalen Forderungen der preußischen Denkschrift im Juni 1934 in der amtlichen Strafrechtskommission zur Erörterung kamen, wurden sie gegen Freislers Widerstand abgelehnt und in den Entwurf eines neuen Strafgesetzbuchs zunächst nicht aufgenommen. Die konservativen Mitglieder der Strafrechtskommission wie der Reichsjustizminister Gürtner u. a. verneinten die Tauglichkeit Instrument das des als Parteiziel der Unterbindung einer „Rassenmischung“ zu erreichen: Dafür sollten vielmehr die Aufklärung eingesetzt der Erziehung und werden. Vor allem bei einem strafrechtlichen Verbot des außerehelichen Geschlechtsverkehrs zwischen Juden und . Ariern" sahen sie verheerende Nebenwirkungen voraus, die später auch tatsächlich eintreten sollten. So äußerte der Berliner Strafrechtslehrer Kohlrausch: „Erpressungen, Denunziationen usw. von den Partnern einer auseinandergegangenen Verbindung oder von dritter Seite würden nicht nur eine erschreckende Zahl erreichen, sondern auch ein ganz besonders unerfreuliches, ja widerwärtiges Gesicht annehmen." Natürlich hätte die politische Führung auch zu diesem Zeitpunkt schon ihren Willendurchsetzen und die Aufnahme einer entsprechenden Bestimmung in das Strafgesetzbuch fordern oder ein besonderes Gesetz erlassen können. Für die Unterlassung waren überwiegend außenpolitische Bedenken hinsichtlich der Rückwirkungen im Ausland maßgebend; die Zeit wurde dafür noch nicht als reif angesehen. Auch die Justizleitung mußte sich bei ihrer ablehnenden Haltung auf Argumente beschränken, die Aussicht hatten, von der Führung akzeptiert zu werden, und hob daher im Einvernehmen mit dem Auswärtigen Amt in der Folgezeit stets außenpolitische Gründe hervor. Wie aber aus diesen Erörterungen gleichfalls hervorgeht, war sie sich völlig darüber klar, daß die Durchführung des Parteiprogramms auf diesem Gebiet ohne radikale strafrechtliche Bestimmungen nicht erreicht werden konnte und die Führung deren Erlaß früher oder später fordern werde, sobald ihr der Zeitpunkt dafür opportun erschien. Schon deshalb konnten auch im September 1935 die inhaltlichen Forderungen zum Blutschutzgesetz für das Justizministerium keine Überraschung darstellen, sondern allenfalls der überstürzt festgesetzte Termin für ihre Realisierung. Solange die „Ariergesetzgebung“ auf das Gebiet des Ehe-und Geschlechtslebens nicht ausgedehnt wurde, hatten jedenfalls die Gerichte und Behörden hier nach geltendem Recht zu verfahren. In einem Runderlaß vom 17. Januar 1934 ermahnte Reichsinnenminister Frick die Reichs-und Landesbehörden ausdrücklich, die gesetzlichen Schranken, die die Reichsregierung mit der „Ariergesetzgebung" gesteckt hatte, genau zu beachten und „ohne Verzug" zu handeln, „wenn nach den zur Zeit maßgebenden Bestimmungen die Voraussetzungen für die Vornahme einer Amtshandlung (z. B. Eheschließung ...) erfüllt" seien, und zwar auch dann, „wenn sie vielleicht nationalsozialistischen Auffassungen nicht voll zu entsprechen scheinen“ Die Standesbeamten hatten also weiter „Mischehen" zu schließen, und für die Nichtigkeit, Anfechtbarkeit oder Scheidung solcher Ehen galten auch weiterhin die einschlägigen Paragraphen des BGB.
Auf Fricks Runderlaß nahm auch das Reichsgericht Bezug, als es in einem Urteil vom 12. Juli 1934 die Klage eines Ehemannes ab-wies, der die jüdische Abstammung seiner Frau bei seiner Eheschließung im Jahre 1930 gekannt hatte, aber die Ehe nunmehr anfechten wollte, weil er die Bedeutung der Rassen-verschiedenheit erst durch die Aufklärung nach der „nationalsozialistischen Revolution" habe erkennen können. Das Reichsgericht wies darauf hin, daß auch künftig das Eingehen von „Mischehen" nicht verboten sei und daß die Gerichte ferner „nicht befugt [seien], den nationalsozialistischen Anschauungen über diejenigen Grenzen hinaus Geltung zu verschaffen, die die Gesetzgebung des nationalsozialistischen Staates sich selbst gezogen hat“. Das Gericht hob damit die gegensätzliche Entscheidung des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 2. März 1934 auf, obwohl Harts Frank als Reichsjuristenführer die Karlsruher Richter öffentlich für ihre „mutige Entscheidung“ und ihr „erstes ganz großes Verdienst" auf diesem Gebiet gelobt hatte Das Urteil des Reichsgerichts wurde vom Bund Nationalsozialistischer Deutscher Juristen und von der Akademie für Deutsches Recht kritisiert; der Vorsitzende des Akademie-Ausschusses für Familien-und Eherecht zog aus seiner Kritik das Fazit: „Die Notwendigkeit der Unterbindung weiterer Blutsvermischung des deutschen Volkes ist klar erkannt; eine ausreichende gesetzliche Handhabe fehlt. Sie wird kommen, weil sie kommen muß."
In den folgenden Monaten wurde daher dieser Fragenkomplex von der Parteipropaganda bei jedem sich bietenden Anlaß in den Vordergrund gerückt, wobei sich vor allem der fränkische Gauleiter Julius Streicher und sein antisemitisches Organ „Der Stürmer" mit Meldungen über die „Schändung" deutscher Mädchen durch Juden hervortaten. Streicher suchte Frick auf, um ihn in einer „kameradschaftlichen Aussprache" zum Erlaß eines entsprechenden Verbots zu bewegen; er argumentierte, „daß schon bei einem einzigen Beischlaf eines Juden mit einer Arierin die Schleimhäute ihrer Scheide durch den artfremden Samen derartig . imprägniert'würden“, daß die Frau nie mehr „reinblütige Arier“ gebären könne
Die einzelnen Maßnahmen, mit denen die Propaganda für ein strafrechtliches Verbot der sogenannten „Rassenschande" von der nationalsozialistischen Bewegung ab Herbst 1934 angeheizt wurde, können hier nicht aufgeführt werden: Zu ihnen gehörten zahlreiche Kundgebungen, Entschließungen und Telegramme von NS-Organisationen an das Reichsinnenministerium und das Reichsjustizministerium. An dieser Kampagne beteiligte sich ab April 1935 auch das erst wenige Wochen vorher gegründete Organ der SS „Das Schwarze Korps".
In diesen Monaten kam es verschiedentlich zu Fällen von Lynchjustiz gegen Juden, die „Arierinnen“ als Geliebte hatten oder heiraten wollten. Bei diesem Kesseltreiben seitens der Bewegung war es kein Wunder, daß im Früh-sommer 1935 schließlich einzelne Standesbeamte ihre Mitwirkung beim Aufgebot oder der Schließung von „Mischehen" trotz Fricks Runderlaß vom Januar 1934 verweigerten. Als die Betroffenen daraufhin gemäß dem Personenstandsgesetz beim zuständigen Amtsgericht beantragten, den Standesbeamten zur Vornahme der gesetzlich vorgeschriebenen Amtshandlung anzuhalten wurde auch die Justiz involviert. Einige Amtsgerichte ordneten Aufgebot und Eheschließung an, da „der Standesbeamte eine Eheschließung nicht ablehnen [dürfe], wenn keines der gesetzlichen Ehehindernisse vorliege", die im BGB „erschöpfend und ausschließlich" geregelt seien Andere Amtsgerichte wiederum erklärten die Ablehnung des Aufgebots für begründet.
So z. B. Amtsgericht Bad Sülze erklärte das (Mecklenburg): Obgleich „rein formalgesetzlich" kein Verbot für eine Eheschließung bestehe, verstoße sie jedoch „gegen die wichtigsten Gesetze des Staates, die in der Reiner-haltung und Pflege des deutschblütigen Volkes bestehen. Eine derartige Ehe ist daher durch und durch unsittlich.“ Folglich könne „von einem Beamten nicht verlangt werden, daß er zu einer solchen Handlung seine Hand bietet“
Das Amtsgericht Wetzlar sah den einschlägigen Parteigrundsatz als „bindenden Rechts-satz“ an; die Berufung auf den „formalgesetzlichen Zustand" schlage nicht durch: „Nationalsozialistische — das ist arteigene — Rechts-anschauung hat demgegenüber wieder das artgemäße Gesetz des Sollens aufgerichtet als Anforderung an jeden einzelnen, seine innere Haltung und äußere Lebensführung allein auf das Wohl seines Volkes auszurichten und dessen Belangen sich unterzuordnen. Dieser Satz ist bindendes geltendes Recht [1] des Dritten Reiches ... Mit diesem Rechtssatz steht die Eheschließung eines deutschblütigen Mannes mit einer Jüdin in unlösbarem Widerspruch."
Demgegenüber führte das Amtsgericht Königsberg in einem Beschluß zugunsten der Vornahme einer Eheschließung aus, daß neue Rechtsgrundsätze „nicht schon durch ihre Aufstellung, sondern erst dadurch, daß sie zum Gesetz erhoben werden, allgemeine Rechtsverbindlichkeit" erlangten. Es wurde vom Landgericht Königsberg, das diesen Beschluß nach einer Beschwerde des Regierungspräsidenten aufhob, dahin gehend belehrt, es sei nicht das Entscheidende, „daß Rechtsgrundsätze zum Gesetz erhoben werden ..., sondern daß sie auf Grund allgemeiner Rechtsüberzeugung aufgestellt sind, rechtfertigt ihre Anwendung ... Die Tatsache, daß trotz bestehenden Rechtsgrundsatzes infolge der durch die Notwendigkeit abstrakter und doch klarer Gesetzesabfassung erforderlichen Zeit die Verkündung nicht so bald erfolgen kann [1], kann nicht dazu verleiten, ein auf Grund allgemeiner Rechtsüberzeugung mißbilligtes Verhalten noch für zulässig zu erachten und ihm sogar die gerichtliche Sanktionierung zu geben. Daß aber gerade die Eheschließung zwischen einem Juden und einer Arierin in Widerspruch zu deutscher Rechtsauffassung steht, kann niemandem zweifelhaft sein.“
Diese Entscheidungen der Gerichte lagen ganz auf der Linie, die das Reichsrechtsamt der NSDAP offen propagierte: daß nämlich „die Rechtsgrundsätze ... nach nationalsozialistischer Anschauung bindendes Recht“ darstellten Solche Feststellungen zielten darauf ab, die eindeutige Grenze, die die Gesetzgebung für die rechtliche Stellung und Behandlung der Juden gezogen hatte, zu unterminieren. Aus der Korrespondenz zwischen dem Reichsinnenministerium und dem Reichsjustizministerium geht hervor, daß sich Frick als der für Rassefragen zuständige Innenminister Mitte Juli 1935 entschlossen hatte, in absehbarer Zeit ein gesetzliches Verbot von „Mischehen“ zu erlassen, und daß um diese Zeit auch das Reichsjustizministerium für sein Ressort bereits einen Gesetzentwurf vorbereitet hatte oder an einem gemeinsamen Entwurf zumindest beteiligt war In einem Runderlaß des Reichsinnenministers an die Standesbeamten, der unter dem Datum 26. Juli 1935 herausgegeben wurde, hieß es daher auch eindeutig, daß die Reichsregierung beabsichtige, „die Frage der Verehelichung zwischen Ariern und Nichtariern binnen kurzem [! ] allgemein gesetzlich zu regeln“. Bis dahin sollten die Standesbeamten „in allen Eheschließungsfällen, in denen ihnen bekannt ist oder nachgewiesen wird, daß der eine Beteiligte Vollarier, der andere Volljude ist, das Aufgebot oder die Eheschließung bis auf weiteres" zurückstellen
Daß das angekündigte Gesetz auf sich warten ließ, hatte seinen Grund offensichtlich darin, daß sich die beteiligten Stellen über die Einbeziehung und Behandlung der Mischlinge nicht einig waren. Deshalb hatte sich Fricks Erlaß zunächst auch eindeutig auf „Volljuden“ und „Vollarier" beschränkt, d. h. auf Personen, deren sämtliche Eltern und Großeltern entweder Juden oder . Arier“ waren. Bei der Ausarbeitung des Gesetzes war die Ministerialbürokratie bestrebt, diese Beschränkung auf „Volljuden" beizubehalten, während der Stellvertreter des Führers und der „Reichsärzteführer“ die Forderung der Partei vertraten, daß auch „Judenstämmlinge", d. h. Mischlinge, von den Bestimmungen erfaßt werden müßten und bestehende „Mischehen" entweder aufgelöst oder die arischen Ehepartner den Juden gleichgestellt werden sollten
Hatte es die Bewegung geschafft, auf dem Gebiet der „Mischehen" die Ingangsetzung des Gesetzgebungsverfahreijs für ein Verbot zu erzwingen, indem sie bei Verwaltung und Justiz über die Zulässigkeit dieser Ehen eine völlige Rechtsunsicherheit hervorgerufen hatte — die Zerstörung der Rechtseinheit durch die sich widersprechenden Entscheidungen der Gerichte war für die Justiz ein unerträglicher Zustand —, so sollte sie nicht ruhen, bis auch der außereheliche Geschlechtsverkehr Deutscher mit „Nichtariern" in das Verbot einbezogen wurde. Ende Juli forderte Heydrich im Namen des Geheimen Staatspolizeiamts „mit Rücksicht auf die Unruhe [d. h. die von örtlichen Parteistellen inszenierten Ausschreitungen], die in der Bevölkerung durch das rasseschänderische Verhalten deutscher Frauen" entstehe, vom Justizministerium erneut, „daß alsbald... auch der außereheliche Geschlechtsverkehr zwischen Ariern und Juden unter Strafe gestellt wird"
Der weiteren Verzögerung des angekündigten Gesetzes, die durch das Tauziehen zwischen den beteiligten Ministerien und der Parteiführung über extreme Forderungen der Partei — Zwangsscheidung von „Mischehen", Geltung der Bestimmungen auch für die Mischlinge bis hin zu den „Achteljuden" und Sterilisierung oder sogar Todesstrafe für „Rasseschänder" — verursacht worden war, setzte Hitler auf dem „Reichsparteitag der Freiheit" im September 1935 ein plötzliches Ende.
Ursprünglich wollte Hitler durch den Reichstag, der zum Abschluß des Parteitages am 15. September nach Nürnberg einberufen worden war, nur das vom Innenministerium vorbereitete Reichsflaggengesetz verabschieden lassen. Es ist anzunehmen, daß die mehrere Tage in seiner Umgebung weilenden Führer der Bewegung die Chance wahrnahmen, ihn von der dringlichen Notwendigkeit der . Judengesetze“ zu überzeugen. Auch mochte Hitler die bisherigen außenpolitischen Bedenken gegen derartige Gesetze zu diesem Zeitpunkt — nach der Rückkehr des Saarlandes, nach dem Ausbleiben ernsthafter Reaktionen auf die Wiedereinführung der Wehrpflicht sowie nach der Durchbrechung der Isolierung Deutschlands und der Erschütterung der militärischen Bestimmungen des Versailler Vertrages durch das Flottenabkommen mit Großbritannien — als hinfällig angesehen haben. Jedenfalls wurden die zuständigen Referenten des Reichsinnenministeriums am Vortage der Reichstagssitzung plötzlich nach Nürnberg gerufen und mußten dort einen zur Vorlage bei Hitler bestimmten Entwurf formulieren Der Entwurf sollte außer dem Verbot von Ehen und außerehelichem Geschlechtsverkehr zwischen Juden und . Ariern" auch ein Verbot der Beschäftigung „arischer" Dienstmädchen in jüdischen Haushalten einschließen, um sie vor „rasseverderblichen geschlechtlichen Gefährdungen" zu schützen.
Die erste Vorlage des Innenministeriums wurde von Hitler abgelehnt und die Ausarbeitung von vier Entwürfen mit unterschiedlicher Schärfe befohlen. Um den von der Ministerialbürokratie vertretenen „mildesten" Entwurf, der u. a. nur „Volljuden" betraf, bei Hitler durchzubringen, suchte der Staatssekretär im Reichsinnenministerium Pfundtner die Unterstützung Außenminister v. Neuraths und Gürtners, die beide auch in Nürnberg weilten. Ob Hitlers Entscheidung für die „mildeste"
Vorlage auf diese Bemühungen zurückzuführen ist, bleibt ungewiß. Anzunehmen ist dagegen, daß die Möglichkeit, den „rasseschänderischen" außerehelichen Geschlechtsverkehr auch mit Gefängnis zu bestrafen — die Vorlage des Innenministeriums hatte hier ausschließlich die schärfere Zuchthausstrafe vorgesehen —, auf der Einwirkung des Justizministers beruht. Jedoch strich Hitler im Entwurf eigenhändig die Bestimmung, daß das Gesetz nur für „Volljuden" gelten sollte, ordnete aber an, sie in die Meldung des „Deutschen Nachrichten-Büros" (DNB) über die Nürnberger Gesetze aufzunehmen. Diese Prozedur sollte den Gerichten verschiedentlich Schwierigkeiten bereiten, da sich Betroffene in einschlägigen Fällen auf die offiziöse DNB-Notiz beriefen bis der im Gesetz verwendete Begriff der . Juden" durch die Verordnung vom 14. November genau definiert wurde.
Das Blutschutzgesetz vom 15. September 1935 (RGBl. I S. 1146) verbot die Eheschließung (§ 1) und den außerehelichen Verkehr (§ 2) zwischen . Juden“ und „Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes". Trotzdem geschlossene Ehen waren nichtig, auch wenn sie „zur Umgehung dieses Gesetzes“ im Ausland geschlossen worden waren. Vor dem Inkrafttreten des Gesetzes, d. h. vor dem 17. September 1935 geschlossene Ehen blieben vom Verbot unberührt. Ferner durften Juden „weibliche Staatsangehörige deutschen oder artverwandten Blutes unter 45 Jahren“ nicht in ihrem Haushalt beschäftigen (§ 3) und weder die „Reichs-und Nationalflagge“ (Hakenkreuzfahne) hissen noch die Reichsfarben (Schwarz-Weiß-Rot) zeigen (§ 4).
Während eine als „Jude“ geltende Person beim Verstoß gegen das Beschäftigungsverbot oder das Flaggenverbot mit Gefängnis bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft wurde, stand auf verbotener Eheschließung Zuchthaus. Strafrechtlich verfolgt wurde nicht nur die Heirat eines Juden mit einem deutschblütigen Staatsangehörigen, sondern auch mit einem Staatsangehörigen „Vierteljuden'1, d. h. einem Mischling, der nur einen volljüdischen Großelternteil hatte. Bestraft wurden beide Partner und — soweit sie wissentlich der — als Gehilfen Standesbeamte sowie die Trauzeugen.
Für den Tatbestand des außerehelichen Geschlechtsverkehrs war wahlweise Gefängnis oder Zuchthaus vorgesehen; bestraft sollte jedoch nur der Mann werden (§ 5 Abs. 2), auch der „deutschblütige" Mann, der mit einer Jüdin verkehrte. Daß die beteiligte Frau straffrei ausgehen sollte, gleich ob es sich um Mittäterschaft, Anstiftung oder Beihilfe handelte, beruhte auf einer ausdrücklichen Entscheidung Hitlers, der der Auffassung war, daß im Geschlechtsleben nur der Mann aktiv und verantwortlich handele. Diese Entscheidung hatte für die Justiz auch eine praktische Seite, da eine Überführung meist nur durch die Aussage der beteiligten Frau möglich war, die bei Zusicherung von Straffreiheit natürlich leichter zu erhalten war. Außerdem durfte sie damit auch das Zeugnisverweigerungsrecht nicht in Anspruch nehmen und konnte bei ihrer Aussage unter Eid gestellt werden. Als die Gerichte jedoch Frauen, die die Strafverfolgung durch falsche Angaben zu vereiteln gesucht hatten, zwar nicht wegen der Haupt-tat, aber wegen Begünstigung verurteilten, intervenierte Hitler beim Reichsjustizministerium. Die Folge war eine entsprechende Ergänzungsverordnung zum Blutschutzgesetz vom 16. Februar 1940 die eine Bestrafung wegen Teilnahme oder Begünstigung verbot. Damit war die Frau zwar vor gerichtlicher Bestrafung, aber keinesfalls vor Schutzhaft bewahrt. Die Gestapo nahm nämlich jüdische wie deutsche beteiligte Frauen unterschiedlich lange in Haft, angeblich um einer Wiederholung der „Rassenschande“ vorzubeugen. Sie war auch nach Erlaß der auf dem ausdrücklichen Willen Hitlers beruhenden Ergänzungsverordnung nicht bereit, von ihrer Praxis abzugehen.
Mit diesem Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre vom September 1935 hatte die Gesetzgebung das Strafrecht eindeutig in den Dienst der nationalsozialistischen Rassenideologie gestellt und den Grundsatz der Rechtsgleichheit des Staatsbürgers vor dem Gesetz zerstört. Das Reichsinnenministerium selbst stellte fest, daß die Strafbestimmungen des Blutschutzgesetzes im oberschlesischen Abstimmungsgebiet keine Anwendung finden könnten, „da dies eine Diskriminierung der jüdischen Rasse bedeuten würde“ wie sie dort nach dem vom Völkerbund überwachten „DeutschPolnischen Oberschlesien-Abkommen“ vom 15. Mai 1922 rechtlich bis 1937 unmöglich war.
Bis zum Jahresende 1940 wurden 1 911 Personen wegen „Rassenschande" verurteilt, und : Wa: 1935 = 11 1938 = 434 1936 = 358 1939 = 365 1937 = 512 1940 = 231
Aber das Gesetz richtete nicht nur durch seine unmittelbare Anwendung Unheil an; wegen der Verfolgung des außerehelichen Geschlechtsverkehrs löste es darüber hinaus üble Schnüffeleien in intimsten Lebensbereichen und Denunziationen aus, die meist niederen Motiven wie Sexualneid, Eifersucht, persönlicher Rache, geschäftlicher Konkurrenz oder sogar erpresserischer Absicht entsprangen. Davon abgesehen, wurde die Strafzumessung bei diesem Delikt — der ein ungewöhnlich weiter Strafrahmen von einem Tag Gefängnis bis zu 15 Jahren Zuchthaus zur Verfügung stand — im Laufe der Jahre schärfer. Die Gerichte verhängten normalerweise dafür Gefängnis, bis sich das Geheime Staatspolizeiamt im März 1936 beim Justizministerium beschwerte, daß „die bisher von Gerichten erkannten Strafen, die in den meisten Fällen lediglich zwischen 6 Wochen und 11/2 Jahren Gefängnis liegen, eine abschrekkende Wirkung bisher verfehlt“ hätten und nicht geeignet seien, „die Reinhaltung deutschen Blutes als Voraussetzung für den Fortbestand des deutschen Volkes zu sichern“; Heydrich forderte, daß die Staatsanwälte künftig „grundsätzlich Zuchthausstrafen“ beantragen sollten Der als Staatssekretär im Reichsjustizministerium für die Strafrechts-pflege verantwortliche Freisler ergriff Lenkungsmaßnahmen, die den Anteil der Zuchthausstrafen in der Folgezeit ansteigen ließen Außerdem ging die Gestapo ab Mitte 1937 daran, ihr zu milde erscheinende Urteile dadurch zu „korrigieren", daß sie „Rassenschänder“, die ihre Freiheitsstrafe verbüßt hatten, anschließend in Schutzhaft nahm
Neben der Verhängung höherer Strafen wurde mit der Zeit auch der Tatbestand des „außerehelichen Verkehrs" extensiver ausgelegt. Bestimmte die Erste Ausführungsverordnung zu diesem Gesetz, daß darunter „nur der Geschlechtsverkehr“ zu verstehen sei So bezog bereits der Kommentar von Stuckart und Globke "auch beischlafähnliche Handlungen, zB gegenseitige Onanie ein, wenn er auch sonstige Handlungen erotischer Art, z.B. Küsse, Umarmungen, unzüchtige Berührungenso nicht als dazugehörig ansah Auf Antrag des Oberreichsanwalts entschied schließlich der „Große Senat für Strafsachen" des Reichsgerichts diese grundsätzliche Rechtsfrage am 9. Dezember 1936 dahin gehend, daß auch solche Betätigungen unter diesen Begriff fielen, „durch die der eine Teil seinen Geschlechtstrieb auf einem anderen Wege als durch Vollziehung des Beischlafs befriedigen will" Neben der Befassung der Ermittlungsbehörden und Gerichte mit den intimsten und heikelsten Fragen verursachte diese Definition eine ständige Ausdehnung des Bereichs der strafbaren Handlungen auf diesem Gebiet Eine ähnliche Entwicklung nahm die Bestrafung eines im Ausland vollzogenen außerehelichen Geschlechtsverkehrs. Nach der grundsätzlichen Regelung im StGB (§ 4 Abs. 2) hätte eine solche . Auslandstat“ nach Rückkehr der Beteiligten ins Inland nur dann bestraft werden können, wenn sie auch nach dem Recht des betreffenden Staates verboten gewesen wäre. Aber schon am 2. April 1936 verfügte Freisler auf eine Anfrage des Oberstaatsanwalts in Stuttgart, daß er gegen eine Anklageerhebung dann „keine Bedenken geltend zu machen“ habe, wenn sich die Partner zur Umgehung des Verbots vorübergehend ins Ausland begeben hätten. Da es sich hier um den typischen Versuch handele, „durch die Maschen des Gesetzes zu schlüpfen“, und „das gesunde Volksempfinden in derartigen Fällen Bestrafung fordert", sei hier eine entsprechende Gesetzesanwendung aufgrund des im Juni 1935 eingeführten Analogieparagraphen (§ 2 StGB n. F.) voll gerechtfertigt Seine Verfügung brachte Freisler sämtlichen Generalstaatsanwälten und Oberstaatsanwälten zur Kenntnis
In der Rechtsprechung machte der Große Strafsenat des Reichsgerichts allen Unklarheiten auf diesem Gebiet am 23. Februar 1938 ein Ende, als er — allerdings ohne den Analogieparagraphen zu bemühen — entschied, daß ein Jude jedenfalls dann zu bestrafen sei, . wenn er die deutsche Staatsangehörige veranlaßt hat, zu diesem Zweck vorübergehend zu ihm ins Ausland zu kommen". Der Senat argumentierte, daß das Ziel des Blutschutzgesetzes als „eines der Grundgesetze des nationalsozialistischen Staates ... auf das äußerste gefährdet“ sei, wenn hier die Möglichkeit einer Bestrafung nicht anerkannt werde Noch weiter ging der 4. Strafsenat des Reichs-gerichts in seinem Urteil vom 14. Oktober 1938. Er erkärte, eine Tat werde dort begangen, wo die Verletzung des Rechtsgutes eintrete. Gegenstand des Schutzes im Blut-schutzgesetz aber sei „das im deutschen Volke kreisende, zu ständiger Vermischung bestimmte deutsche Blut als ein lebendiger Organismus". Da durch die rassenschänderische Tat „das deutsche Staatsvolk als blutmäßig einheitlicher . Organismus'regelmäßig unmittelbar verletzt“ würde, würde „sie nicht nur an dem Ort begangen, an dem sich der Geschlechtsverkehr vollzog, sondern auch im Gebiete des Deutschen Reiches als dem Orte des strafbaren Erfolges“ Durch derartig extensive Auslegung und durch ihre verschärfte Anwendung hatten die strafrechtlichen Bestimmungen des Blutschutzgesetzes einen wesentlichen Anteil an der sozialen Isolierung der jüdischen Minderheit in Deutschland.
Schließlich sollte dieses Gesetz sogar zum Instrument nationalsozialistischer Judenvernichtung werden, als das Sondergericht Nürnberg-Fürth im März 1942 einen Juden wegen „Rassenschande" zum Tode verurteilte. Dieser Prozeß, der in der deutschen Rechtsgeschichte eine traurige Berühmtheit erlangte, sei im folgenden näher dargestellt:
Im Jahre 1941 war der 68jährige Kaufmann und Vorsitzende der israelitischen Kultusgemeinde in Nürnberg, Leo Katzenberger — verheiratet und Vater zweier bereits erwachsener Kinder—, in Untersuchungshaft genommen worden. Er wurde beschuldigt, mit Irene Seiler, die in dem Anwesen Spittlertorgraben 19, das ihm bis 1938 gehörte, zur Miete wohnte und dort eine Fotowerkstatt betrieb, intime Beziehungen unterhalten zu haben. Da die Ermittlungen der Polizei keine Beweise für einen Geschlechtsverkehr erbrachten, wurde die Frau im Juli 1941 vom Untersuchungsrichter unter Eid vernommen.
Die Ermittlungen ergaben, daß Katzenberger die in Guben lebende Familie der Frau seit vielen Jahren kannte und von ihrem Vater gebeten worden war, auf die Tochter ein fürsorgliches Auge zu haben und ihr mit Rat und Tat zur Seite zu stehen, als sie im Jahre 1932 als 22jährige nach Nürnberg zog. Daraus hatte sich ein vertrauliches, Vater-Tochter-ähnliches Verhältnis entwickelt. Die Frau erhielt von Katzenberger gelegentlich kleinere Geschenke, er gewährte ihr auch vorübergehend Mietstundungen; mit der Zeit ergaben sich zwischen beiden auch zärtliche Umgangsformen. Im Urteil hieß es darüber, sie habe „sich auch öfters dem Katzenberger auf den Schoß gesetzt, das sei so ihre Art, da denke sie sich nichts dabei“ Beide gaben diese Zärtlichkeiten und auch freundschaftliche Küsse zu, bekräftigten jedoch, daß ihnen dabei jegliche geschlechtlichen Beweggründe gefehlt hätten. An ihren Beziehungen änderte sich auchnichts, als die Frau 1938 ihren späteren Mann kennenlernte und im Juli 1939 heiratete. Auf Einladung des Ehemannes war Katzenberger Anfang 1940 noch zweimal in der Seilerschen Wohnung gewesen. Beim letzten Besuch im März hatten sie ihn gebeten, nicht mehr zu kommen, da ihnen von der Kreisleitung der NSDAP deswegen Vorhaltungen gemacht worden waren. Auch bei dieser Verabschiedung gab ihm die Frau in Gegenwart ihres Mannes einen Kuß.
Die Anklage war bereits vor der zuständigen Strafkammer des Landgerichts erhoben worden, als der Vorsitzende des Nürnberger Sondergerichts, Landgerichtsdirektor Rothaug — ein fanatischer Verfechter nationalsozialistischer Ziele, der es 1943 zum Reichsanwalt beim Volksgerichtshof bringen sollte —, davon Kenntnis erhielt, daß der Untersuchungsrichter den Haftbefehl gegen Katzenberger aufgrund der beeidigten Aussage der Frau Seiler aufzuheben beabsichtigte Er bewog daraufhin die Staatsanwaltschaft, die Anklage zurückzunehmen, von der im November 1938 eröffneten Möglichkeit Gebrauch zu machen, die Strafsache vor das Sondergericht zu bringen und mit der Anklage gegen Frau Seiler — die wegen Meineidverdachts in Untersuchungshaft genommen wurde — zu verkoppeln: Durch diesen geschickten Schachzug war die Frau zur Beschuldigten geworden und fiel damit als Zeugin für Katzenberger aus.
Wie aus verschiedenen Bemerkungen Rothaugs hervorgeht, war er von vornherein entschlossen, ein Exempel zu statuieren und den Juden zum Tode zu verurteilen Entsprechend nahm die Hauptverhandlung am 13. März 1942, bei der hohe Funktionäre von Partei und Staat als Zuschauer anwesend waren, unter seinem Vorsitz den Charakter einer antisemitischen Kundgebung an. Rothaug erging sich in Haßreden gegen die Schuld des Weltjudentums am gegenwärtigen Kriege, bezeichnete die Einlassungen des Angeklagten als „echt jüdische Unverschämtheit“, schnitt ihm wiederholt das Wort ab und drohte ihm bereits während der Verhandlung die physische Vernichtung an. Die Aussagen von Entlastungszeugen bagatellisierte er und zog sie ins Lächerliche, während er die Aussagen anderer Zeugen durch Vorhalte und Suggestivfragen in die gewünschte Richtung lenkte und Belastungszeugen als Beispiel dafür lobte, „wie sich ein von nationalsozialistischem Geist durchdrungener Volksgenosse verhalten“ sollte. Auch die Angeklagte wurde von Rothaug beschimpft, da sie sich außerhalb der Volksgemeinschaft gestellt habe. Sie wurde mehrmals unterbrochen und jede natürliche Erklärung für Vorgefallenes von ihm schroff zurückgewiesen. Es war offensichtlich, daß Rothaug auch nur den geringsten Zweifel an der Schuld Katzenbergers von vornherein unterdrücken wollte Folglich wurde auch im Urteil ohne schlüssigen Beweis ausgeführt, daß die zehnjährigen Beziehungen zwischen den Angeklagten „ausschließlich geschlechtlicher Natur“ gewesen seien, daß beide „an nicht mehr feststellbaren Tagen und in nicht bestimmter Zahl wiederholt Geschlechtsverkehr“ hatten, daß aber Katzenberger auch dann schon „den vollen gesetzlichen Tatbestand der Rassenschande erfüllt" hätte, wenn er nur die erwähnten „Ersatzhandlungen''(Zärtlichkeiten) vorgenommen hätte — diese Feststellung war die verhängnisvolle Folge der Rechtsprechung des Reichsgerichts auf diesem Gebiet.In der Pause zwischen Beweisaufnahme und Plädoyers ließ Rothaug den Ankläger ins Beratungszimmer kommen, um ihn nochmals auf das Prozeßziel festzulegen das er — wie er selbst bei der anschließenden Urteilsverkündung ausführte — darin sah, daß „die physische Vernichtung des Rassenschänders Katzenberger die einzige gebotene Antwort auf sein Verhalten" sei Da aber die Verhängung der Todesstrafe nach dem „Blutschutzgesetz" nicht möglich war, wurde die Volksschädlingsverordnung vom 5. September 1939 (RGBl. I S. 1679) herangezogen. Danach konnte in besonders schweren Fällen bzw. bei besonderer Verwerflichkeit der Tat zum Tode verurteilt werden, „wer unter Ausnutzung der zur Abwehr von Fliegergefahr getroffenen Maßnahmen ein Verbrechen oder Vergehen gegen Leib, Leben oder Eigentum" (§ 2) oder „wer vorsätzlich unter Ausnutzung der durch den Kriegszustand verursachten außergewöhnlichen Verhältnisse eine sonstige Straftat“ (§ 4) beging.
Da sich Katzenberger nach Kriegsbeginn mehrmals nach Einbruch der Dunkelheit in die Seilersche Wohnung begeben hatte, habe er — so folgerte das Gericht — unter Ausnutzung der Verdunkelung gehandelt und da der „rasseschändende Angriff... gegen den Leib der deutschen Frau gerichtet“ gewesen sei, handele es sich auch um ein „Verbrechen gegen den Leib“; folglich habe sich der Angeklagte nach § 2 der Volksschädlingsverordnung vergangen. Da sich Katzenberger darüber hinaus die Einberufung des Ehemannes zur Wehrmacht zunutze gemacht habe — Seiler war im September 1939 zu einer Kraftfahrzeugstaffel eingezogen worden, konnte aber bis 1940 abends und sonntags zu Hause sein—, habe er auch die Kriegsverhältnisse ausgenutzt und damit gegen den § 4 der Verordnung verstoßen. Er sei auch seiner Persönlichkeit nach — als „Tätertyp“ — ein Volks-schädling: „Sein seit vielen Jahren ausgeführtes rasseschänderisches Treiben wuchs sich unter Ausnützung der durch den Kriegszustand geschaffenen Gesamtlage zu volks-feindlicher Einstellung aus, zu einem Angriff gegen die Sicherheit der Volksgemeinschaft in der Kriegsgefahr."
So wurden Katzenberger aufgrund der Volksschädlingsverordnung und des „Blutschutzgesetzes" zum Tode, Frau Seiler wegen Zeugen-meineids zu zwei Jahren Zuchthaus unter Anrechnung der erlittenen Untersuchungshaft verurteilt In seinem Plädoyer hatte der Staatsanwalt ausgeführt, daß Hitler zwar die Bestrafung der Frau bei „Rassenschande“ nicht wünsche; wenn aber „eine deutsche Frau nicht davor zurückschreckt, einen Meineid zu schwören, nur um den Juden vor Strafe zu schützen, könne es keine Nachsicht geben"
Das Urteil erweckte selbst bei Freisler Bedenken. Da das Urteil vom Führerhauptquartier — wo das Ergebnis des Prozesses zunächst nur durch Presseberichte bekannt geworden war — telefonisch beim Reichsjustizministerium angefordert wurde, mußte es mit den Akten durch einen Mitarbeiter der Nürnberger Generalstaatsanwaltschaft schnellstens zu Freisler nach Berlin gebracht werden. Freisler, der zunächst weder das Urteil noch den Grund für Hitlers Ersuchen kannte und gerade in diesen Tagen durch Hitlers Intervention im Fall Schlitt — der zu Hitlers Ausfällen gegen die Justiz in der Reichstagsrede vom 26. April 1942 führen sollte — in höchstem Grade verunsichert war, gab dem überbringenden Oberstaatsanwalt nach kurzem Studium der Entscheidung zu verstehen, daß er die Anwendung der Volksschädlingsverordnung auf diesen Fall rechtlich für bedenklich hielt Auch auf einer zwei Wochen später stattfindenden Besprechung der Oberlandesgerichtspräsidenten und Generalstaatsanwälte in Berlin bezeichnete er die Schlußfolgerungen des Nürnberger Sondergerichts als „etwas kühn“ Nachdem sich aber her-ausgestellt hatte, daß sich Hitlers Anfrage lediglich auf die Bestrafung der Frau Seiler bezog, da ihm fälschlich berichtet worden war, daß sie wegen Teilnahme an der „Rassenschande“ verurteilt worden sei, und dem Justizministerium Anfang April mitgeteilt worden war, daß Hitler die Bestrafung der Frau wegen Meineids nicht beanstande war für Freisler auch die letzte weggefallen, gegen das Urteil etwa die Nichtigkeitsbeschwerde einzulegen; er ließ das Urteil gegen Katzenberger am 3. Juni 1942 vollstrekken. Aber noch Ende Juli machte er auf einer strafrechtlichen Fortbildungswoche in Straß-bürg einen der beiden richterlichen Beisitzer im Katzenberger-Prozeß „auf die rechtliche Bedenklichkeit der auf die Volksschädlingsverordnung gestützten Verurteilung aufmerksam“: Die Anwendung der Verordnung auf diesen Fall sei „gerade noch gegangen“, habe aber „auf Messers Schneide" gestanden Diese Vorgänge machen deutlich, daß Rothaug und die Justizleitung im Falle Katzenberger selbst nach nationalsozialistischen Rechtsbegriffen das Gesetz aufs äußerste strapaziert und die Strafgerichtsbarkeit zum Instrument nationalsozialistischer Judenvernichtung gemacht hatten, noch ehe der Justiz durch die 13. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom Juli 1943 die Ahndung aller strafbaren Handlungen von Juden — und damit auch der Verstöße gegen das „Blutschutzgesetz” — genommen und in die Zuständigkeit von Himmlers Polizei gegeben wurde und die Juden in Deutschland damit endgültig außerhalb des Strafrechts gestellt wurden.