I. Zur Bewältigung der NS-Justiz
Die Jahrestage 1983 — vor 50 Jahren NS-Machtergreifung —, 1984 — vor 50 Jahren Ermordung Röhms und seiner Gefolgsleute —, 1985 — 40 Jahre Kriegsende — und insgesamt die „Wiederkehr des historischen Bewußtseins" haben endlich im Rechtswesen zur Aufarbeitung der NS-Justiz geführt. Die bis vor fünf Jahren noch verbreitete Auffassung, die von Hitler verachtete Justiz habe sich vom NS-Terror nicht anstecken lassen und versucht, diesen soweit wie möglich zu mildern mußte aufgegeben werden, nachdem festgestellt werden konnte, daß zwischen 1933 und 1945 über 30 000 Todesurteile gefällt wurden So muß denn folgerichtig auch die Justiz in das NS-Terrorsystem einbezogen werden. Die intensive Befassung mit diesem Thema hat dazu geführt, daß allein 1984 mehr Bücher über die NS-Justiz erschienen sind als in den drei Jahrzehnten nach Kriegsende
II. Forschungslücke über den Beitrag der Juristen zum Siege Hitlers
Verständlicherweise konzentrieren sich die Untersuchungen auf die Vorgänge im Rechtswesen seit 1933 unter Einbeziehung der „Gleichschaltung" der Justiz Kaum geprüft wurde bislang das Verhalten der Juristen vor 1933 und ihr Beitrag zur Machtergreifung Hitlers. Daß das Interesse an einer solchen Untersuchung wächst, zeigen die zahlreichen Kommentare zum Tode des Staatsrechtslehrers Carl Schmitt am 7. April 1985.
Allgemein bekannt ist allerdings schon, daß die Justiz wenig Sympathie für die Weimarer Republik empfand. Symptomatisch erscheint hi April 1985.
Allgemein bekannt ist allerdings schon, daß die Justiz wenig Sympathie für die Weimarer Republik empfand. Symptomatisch erscheint hier das Magdeburger Schöffengerichtsurteil vom 23. Dezember 1924, das dem Reichspräsi-denten Ebert aufgrund seiner Tätigkeit beim Munitionsarbeiterstreik vom Januar 1918 „Landesverrat im strafrechtlichen Sinne“ vor-hielt. Wie Jasper ausführt, brachte der unverhohlene Antiparlamentarismus die Richter nicht in Schwierigkeiten, weil sie zwischen dem Wesen des Staates an sich, dem die ganze Treue galt, und der „zufällig auswechselbaren konkreten Staatsform" zu unterscheiden sich angewöhnt hatten 6). Ein braunschweigischer Minister führte 1928 im Landtag aus, von den 108 Richtern seines Landes seien nur acht erklärte Republikaner, die übrigen hundert „schwämmen bei den Rechtsparteien“ 7).
Es gibt aber nur wenige Untersuchungen zur politischen Rechtsprechung und zum Verhal-ten von Richtern und Juristen in der Weimarer Zeit. Am informativsten ist noch immer das vor 20 Jahren erschienene Bändchen: Politische Justiz von 1918— 1933 das jedoch der für den Untergang der Republik bestimmenden Zeit ab 1930 nur wenig Raum widmet. Immerhin hielt Karl Dietrich Bracher das Material von Hannover für ergiebig genug, „die Weimarer Justiz zu einem guten Teil als Voraussetzung und Quellgrund des Dritten Reiches" zu betrachten Einen erheblichen Schritt weiter geht Udo Reifner: Das Rechtssystem habe „den Faschismus transportiert" und: die Nationalsozialisten „brauchten die Juristen" • Zwar seien diese wie die Generäle und Großindustriellen eher „Ordo-Faschisten“ gewesen, seien lediglich für einen autoritären Staat eingetreten, aber: Der „Ordo-Faschismus heiligte die Zwecke des „Anarcho-Faschismus" Unter . Anarcho-Faschismus" ordnet Reifner den harten Kern des Nationalsozialismus um Hitler ein. Er attestiert also den Juristen einen erheblichen Beitrag am Siege Hitlers. Hier sind Bedenken angebracht. Mit der Zusammenziehung von Ordo-und Anarcho-Faschismus wird das Exzeptionelle des NS-Staates im Vergleich mit anderen faschistischen Staaten zurückgedrängt. Man muß sich auch fragen, ob hier wie auch in manchen anderen Untersuchungen die Machtübernahme Hitlers von heute aus beurteilt wird. Die zeitliche Folge des Über-gangs von der Republik zum Hitler-Staat wird dabei als eine kausale wahrgenommen. Zwar war 1932 die Republik kaum noch zu retten, daß aber Hitler siegen würde, war nicht zwingend, nicht einmal wahrscheinlich
III. Der Untergang der Weimarer Republik aus der Sicht der Rechtszeitschriften
Einen Mosaikstein für das Verhalten der Juristen mögen Beiträge aus den allgemeinen Rechtszeitschriften — Deutsche Richterzeitung (DRZ), Deutsche Juristenzeitung (DJZ), Die Justiz — vom September 1930, dem überraschenden Wahlsieg Hitlers, bis zu dessen „Machtergreifung" abgeben. Daß ein Aufschluß von Fachzeitschriften erwartet wird, mag überraschen, denn die heutigen Rechts-zeitschriften würden für eine Untersuchung politischer Phänomene wenig hergeben. Heute wird in den Beiträgen das Fachliche besonders betont; wenden sie sich zumeist nur an den Wissenschaftskollegen, der auf dem gleichen Gebiet arbeitet. Die Rechtszeitschriften der Weimarer Zeit jedoch richteten sich an ein breites Publikum, wenn auch in erster Linie an ein juristisch Vorgebildetes.
Die Beiträge waren kurz und gut zu lesen; sie enthielten immer wieder Hinweise, was an gesellschaftspolitischen Fragen für Juristen von Bedeutung war Dennoch war der politische Bezug weit geringer als bei allgemeinen Zeitschriften.
Der September 1930 bot sich deshalb als Ausgangspunkt an, weil nach den „glücklichen“ Jahren der Republik von 1925 bis 1929 Wirtschaftskrise und Erstarken der Republik-feinde als Warnzeichen unübersehbar wurden. Die Reichstagswahl vom 14. September 1930 brachte die NSDAP gewissermaßen aus dem Nichts von 2, 6% der Wählerstimmen beziehungsweise 12 Abgeordneten bei der Wahl zwei Jahre zuvor auf 18, 3% der Stimmen beziehungsweise auf 107 Mandate. Damit wurde sie zur zweitstärksten Partei.
Diese Wahl hatte auch einen nicht unbedeutenden Einfluß auf den wichtigen Ulmer Reichswehrprozeß, der vom 23. September bis zum 4. Oktober 1930 vor dem Reichsgericht verhandelt wurde. Angeklagt und verurteilt zu geringen Freiheitsstrafen wegen Hochverrats wurden drei Offiziere der Ulmer Garnison, die Hitler „sehr sympathisch“ fanden und Verbindung zum Obersten SA-Chef Pfeffer aufgenommen hatten. Sie hatten auch in anderen Garnisonen für Hitler agitiert und versucht, Offiziere dazu zu verleiten, im Falle von Umsturzversuchen der NSDAP gegenüber Eingreifsbefehlen den Gehorsam zu verweigern Zur Verhandlung wurde auch Hitler als Zeuge geladen, obwohl er zum Beweisthema selbst nichts beitragen konnte. Es war auch keine Zeugenvernehmung im eigentlichen Sinn, sondern er hielt, wie Robert Kempner als Zuhörer berichtete eine zweistündige Rede mit dem Tenor, er werde legal zur Macht kommen — dann aber würden „Köpfe rollen". Der Senat hörte andächtig zu. In der Urteilsbegründung, die entgegen der richterlichen Übung „feuilletonistisch" abgefaßt ist, wird „die in der Hauptverhandlung gegenüber der Voruntersuchung veränderte psychologische Situation" gewürdigt (nämlich der Wahlsieg Hitlers); es heißt dann: „Die Wogen des stürmischen Empfangs, der Hitler auf dem Reichsgerichtsplatz bereitet wurde, schlugen bis in den Sitzungssaal."
Die unterschwellige Sympathie des Senats für die NS-Bewegung ist unverkennbar. Noch größer wird sie bei der Reichsanwaltschaft gewesen sein, die später das von der preußischen Regierung geforderte Hochverratsverfahren gegen NSDAP-Führer sowie gegen den späteren hohen SS-Führer und damaligen Gerichtsassessor Best wegen der Boxheimer Protokolle hintertrieb Allerdings gehörte schon vor 1933 der Oberreichsanwalt Werner heimlich der NSDAP an 1. Die Deutsche Richterzeitung Bei einer Durchsicht der DRZ vom Herbst 1930 bis zum Frühjahr 1933 erweist sich, daß von einer allgemeinen Unterstützung der NS-Bewegung durch die Richterschaft keine Rede sein kann. Man gewinnt sogar eher den Eindruck, daß sich diese mit der republikanischen Staatsform abgefunden hatte. Die so verächtlichen und haßerfüllten Äußerungen gegenüber den Weimarer Institutionen sind von 1927 an kaum noch zu finden Dabei mag von Bedeutung gewesen sein, daß die Justiz nicht mehr so sehr Ziel der Angriffe der „Links" -Presse war wie zuvor. Die Angriffe hatten nachgelassen, nachdem die Fememordverfahren und die im Zusammenhang mit der Aufdeckung der Schwarzen Reichs-wehr mit ihren „nationalen" Fehlurteilen als eine zeitverschobene richterliche Nachlese der Ereignisse in den ersten schweren Jahren der Republik in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre erledigt waren. Natürlich gab es auch Aufsätze über ein Richterbild, das nicht demokratisch geprägt war; aber es fehlten die Spitzen gegen die Republik. Hochtrabend und scharf zugleich trat allerdings der neue Vorsitzende des Deutschen Richterbundes, Reichsgerichtsrat (später Senatspräsident) Linz, auf, der nach 1933 die Richter Hitler zuführen sollte Seine Neujahrsbotschaft von 1932 lautete, der Richterstand sei der einzige, der „bisher allen Versuchungen zum Trotz seine Ehre rein und sein Schild blank erhalten" habe; es lasse sich „fast die ganze Presse als Gegnerin der Richter und Gerichte ansprechen" Linz scheint auch den Richter-bund zu den in der DRZ oft publizierten Verwahrungen gegen Kritik von außen gedrängt zu haben.
Auch in den Beiträgen nach 1930 wird indes Hitler und die NSDAP nicht angesprochen, wohl aber im „Zeitspiegel", einer sehr informativen, kommentierten Übersicht von Berichten aus der Tagespresse zu Rechtsfragen. Bearbeitet wurde sie von Reichsgerichtsrat Hettner, der, anders als sein Vorgänger Reichsgerichtsrat Bewer und sein Nachfolger Linz, eher besonnen und sachlich reagierte. Er verwahrte sich gegenüber diffamierenden Äußerungen Hitlers und des Völkischen Beobachters zu Gerichtsentscheidungen und jüdischen Richtern Der Ulmer Reichswehr-Prozeß wurde nicht kommentiert, der Potempa-Mordfall nur kurz abgehandelt Der „Preußenschlag" — die Absetzung der preußischen Regierung durch Papen — wurde nur im Rahmen einer Presse-schau (zum Staatsgerichtshofsurteil vom 25. Oktober 1932) erwähnt Anfang 1933 wurde über eine Tagung von NS-Juristen sachlich, aber mit einer positiven Tendenz berichtet
Im März 1933 übernahm der Richterbunds-Vorsitzende Linz selbst die Redaktion des „Zeitspiegels". Mit dem April-Heft 1933 hat sich dann die DRZ auf Hitlers Machtübernahme eingestellt; Wrobel hat dies ausführlich geschildert Besonders befremden muß hier der Nachruf von Linz auf den Republikanischen Richterbund, dessen Mitglieder schon damals verfolgt wurden: „An einem möchte ich nicht vorübergehen, das ist die Auflösung bzw. das Verbot des Republikanischen Richterbundes. Er war im Rechtsleben des deutschen Volkes während der vergangenen Jahre eine unliebsame und unwahrhaftige Erscheinung, die mit ihrer Tendenz, die Rechtsprechung einseitig politisch zu gestalten, in den deutschen Richterstand nicht hineinpaßt und mit wenigen Ausnahmen von ihm entschieden abgelehnt worden ist. Sein Verschwinden wird allseitig mit Genugtuung aufgenommen." 2. Die Deutsche Juristen-Zeitung Die DJZ befaßte sich in dem untersuchten Zeitraum weit mehr als die DRZ mit verfassungsrechtlichen und -politischen Fragen, einschließlich denen des Wahlrechts. Carl Schmitt war ständiger Autor, jedoch wurde Politik nicht Politik genannt. So referierte der jüdische Handelsrechtler Max Hachenburg in der . Juristischen Rundschau“, in der er sich 22 Jahre lang zu aktuellen Fragen der Rechtspolitik geäußert hatte, zwar über den Auszug der NSDAP-Abgeordneten aus dem Reichstag oder die Ausfälle des NSDAP-Abgeordneten Kube im preußischen Landtag gegen jüdische Rechtsanwälte dies aber in einer Weise, als handle es sich lediglich um ein Rechtsproblem Selten erfolgten Wertungen wie die von Professor Nawiasky, der am Schluß eines Beitrags die Bürger zur Sammlung der Mitte aufrief oder von Senatspräsident Schetter (übrigens ein Zentrums-MdR), der von einer „unsachlichen Opposition" sprach Der Ulmer Reichswehr-Prozeß wurde nicht besprochen; der Potempa-Mord stellte sich für die DJZ nur als Rechtsfrage Sehr breit aber wurde der „Preußenschlag" und das Staatsgerichtshofsurteil diskutiert und der Standpunkt der Papen-Regierung dabei leicht favorisiert
Sofern auch sonst ein politisches Vorverständnis bei den Autoren durchscheint, weist dies zumeist in die Nähe der Deutschen Volkspartei. Professor Kahl, als Mitarbeiter im Zeitschriftenkopf aufgeführt, war seit 1919 für die Rechtspolitik der DVP verantwortlich; von 1919 bis 1921 saß auch der ständige Autor Professor Graf zu Dohna für diese Partei im Reichstag; beide waren Strafrechtslehrer. Zu vermerken ist auch der Ausspruch von Professor Bilfinger: „Im Augenblick der Gefahr gibt es nur eine Existenz, die deutsche Na- tion." Trotz der Zugehörigkeit zum nationalen Lager ist aber eine Sympathie für die NS-Bewegung nicht zu erkennen.
Wie die DRZ nahm auch die DJZ mit dem Aprilheft 1933 Kenntnis von Hitlers Machtübernahme. Der Herausgeber Liebmann kommentierte dies kurz. Es gab noch nicht die NS-freundlichen Elogen wie in der DRZ. Der „Rundschau" -Kommentator Hachenburg verhielt sich auch weiterhin sehr zurückhaltend. Im Maiheft wurden allerdings die Folgen der Gleichschaltung sichtbar durch zustimmende Beiträge der Professoren Bilfinger, Sauer, Wegner und Koellreutter (dieser stand den Nationalsozialisten allerdings schon vor 1933 nahe). Im gleichen Heft durfte sich aber Hachenburg noch gegen die NS-Judenpolitik wenden Dabei erlebte ihn zum ersten man Mal nicht nur referierend, sondern engagiert Partei ergreifend.
Die DJZ hat weit mehr Mut und Liberalität als die DRZ gezeigt So wurde auch der vor Hitler geflohene Strafverteidiger Alsberg nach seinem Freitod in der Schweiz besonders gewürdigt Als Anfang 1934 der bekannte Kommentarverfasser Senatspräsident a. D. Baumbach, der den Deutschnationalen nahestand, neuer Schriftleiter wurde, änderte sich die Linie der Zeitschrift kaum. Sie besaß noch den Mut, Hachenburg würdevoll zu verabschieden Erst mit dem l. Juni 1934 erfolgte der Umbruch. Die Zeitschrift erschien mit einem neuen Untertitel: Organ der Reichsfachgruppe Hochschullehrer des Bundes Nationalsozialistischer Deutscher Juristen. Der Leiter dieser Fachgruppe wurde zugleich neuer Schriftleiter: Carl Schmitt 3. „Die Justiz“
Die Zeitschrift „Die Justiz", Organ des Republikanischen Richterbundes, gilt noch heute für Freunde und Feinde als „linke“ Publikation Da hatte der Zeitzeuge Tucholsky ein besseres Gespür, der sie in der Weltbühne als ein „bürgerliches Organ" glossierte Tatsächlich wird sie als linksliberal einzuordnen sein. Der Schriftleiter Oberverwaltungsge-richtsrat Kroner und der Herausgeber Profes32 sor Radbruch waren rechte Sozialdemokraten, Professor Mittermaier, ein weiterer Herausgeber, und die ständigen Autoren Ernst Fuchs, der Vater des Freirechts, und Carl Falck, Oberpräsident der Provinz Sachsen und Opfer des „Preußenschlags“, sympathisierten für die Deutsche Demokratische Partei. Allerdings gehörte der Mitherausgeber Professor Sinzheimer zur linken Mitte der SPD und noch weiter links stand der heute wieder als schärfster Kritiker der Weimarer Justiz viel zitierte Professor Gumbel, auch ein ständiger Autor der Zeitschrift.
Diese Namen machen es glaubhaft, wenn diese Zeitschrift als das interessanteste rechtspolitische Organ bezeichnet wird, das es je in Deutschland gegeben hat Denn es beschäftigte sich nicht nur mit der Rechtspolitik, sondern auch mit der allgemeinen Politik; dies vor allem in der Rubrik „Chronik“, geschrieben von Sinzheimer und später von seinem Schüler Ernst Fraenkel. „Die Justiz“ war also weit politischer als ihr Vorbild Juristische Rundschau“ von Hachenburg in der DJZ. Sie war überdies ein rechtspolitisches Forum für demokratische Politiker und nicht-juristisch vorgebildete Persönlichkeiten.
Die Zeitschrift spiegelte die Vorgänge und auch das Bewußtsein der späten Weimarer Jahre weit besser als die DRZ und DJZ wider und damit auch die Ratlosigkeit, die die Republikaner nach dem Wahlsieg Hitlers im September 1930 empfanden. So trat die SPD Anfang 1932 für die Wiederwahl des „Monarchisten“ Hindenburg ein, wozu auch die Justiz brav aufforderte Die 1925 zu Beginn der wenigen „glücklichen“ Jahre der Republik gegründete Zeitschrift büßte nach 1930 zeitweilig ihre klare Prägnanz ein; sie schien bewußt die Augen vor der herannahenden Entwicklung zu verschließen. Als diese dann aber mit Papens „Preußenschlag" eintrat, bewies „Die Justiz" bis zu ihrem gewaltsamen Ende Mut und Engagement Aus der „flauen“ Zwischenzeit ragt ein Beitrag hervor: die Abrechnung Hans Kelsens mit Carl Schmitt: „Wer soll der Hüter der Verfassung sein?“. Dieser Aufsatz mit einem Umfang von 52 Seiten war der längste Beitrag, der geschlossen in der Zeitschrift veröffentlicht wurde; er erschien im Sommer 1931
IV. Carl Schmitt und Hans Kelsen
Hans Kelsen ist neben dem jüngst wieder entdeckten Hermann Heller der demokratische Gegenspieler von Carl Schmitt. Wenn er — „unquestionably the leading jurist of his time“, so der berühmte Roscoe Pound — heute nahezu in Deutschland vergessen ist und darum auch kaum bei den Nachrufen auf Carl Schmitt in der Tagespresse genannt wurde so spricht dies allerdings für einen bedenklichen Grad an Provinzialismus im deutschen Rechtswesen.
Zur Charakterisierung beider Staatsrechtslehrer ist auf die Lebenserinnerungen des Tübinger Literaturprofessors Hans Mayer, sicher des letzten lebenden Zeitzeugen, zu verweisen Mayer ist seiner Ausbildung nach Jurist, hat eine Dissertation über Smends Integrationstheorie geschrieben und seine publizistische Laufbahn mit fundierten staatsrechtlichen Beiträgen in der Zeitschrift „Die Justiz“ begonnen Er wäre wohl Staatsrechtslehrer geworden, hätte ihn nicht die NS-Verfolgung zu einer anderen Profession gezwungen. Eine Zeitlang hat er geschwankt, ob er Schmitt, mit dem er 1930 längere Gespräche geführt hatte, oder Kelsen zum Mentor nehmen sollte; er hat sich dann für den letzteren entschieden.
Kelsen, der Vater der „Reinen Rechtslehre", war dennoch, wie Mayer betont, „kein weltfremder Denkspieler“. Im Vergleich zu Schmitt war er sogar der Praktiker. Er war maßgeblich an der Ausarbeitung der österreichischen Verfassung von 1920, die im wesentlichen noch heute gilt, beteiligt; von 1920 bis 1929 gehörte er dem österreichischen Verfassungsgerichtshof an. Wer gleichwohl annimmt, der esoterische Theoretiker hätte abstrakt und nur für Fachkenner geschrieben, wie es heute, wie angedeutet, im juristischen Schrifttum leider immer mehr üblich wird, muß überrascht sein, wie zupackend und all-gemeinverständlich Kelsen zu formulieren verstand. Er war ein glänzender Stilist und Polemiker und insoweit Schmitt ebenbürtig; an klarer, rationaler Argumentation dem „politischen Theologen und juristischen Mythologen" jedoch überlegen.
So hat Kelsens großer Aufsatz in der Zeitschrift „Die Justiz" noch keine Patina angesetzt; gerade heute wird man ihn wohl mit noch mehr Spannung und Beklemmung als damals lesen. Erregend ist vor allem, wie Kelsen die Tendenz Schmitts zum Totalitarismus aufdeckt. Noch unbefangen, ohne moralisch-sittliche Wertung, konnte Kelsen den Begriff des „totalen Staats" analysieren und ihm den parlamentarischen Pluralismus entgegenstellen; der totale Staat müsse, was Schmitt noch nicht sage, aber letztlich meine, zur Ausschaltung des Parlamentarismus führen. Massiv endete Kelsens Abrechnung: „Aus beiden von der Verfassung eingesetzten Trägern der Staatsgewalt wird ein Feind und ein Freund des Staates; einer, der ihn, d. h.seine . Einheit', zerstören will, und ein anderer, der ihn gegen diese Zerstörung verteidigt, der Verletzer und der Hüter der Verfassung. Das alles hat mit einer positiv-rechtlichen Interpretation der Verfassung nichts mehr zu tun, das ist — im staatsrechtlichen Gewände — die Mythologie von Ormuzd und Ahriman."
Schmitt und Kelsen stießen wieder im Rahmen des Staatsgerichtsverfahrens nach Papens „Preußenschlag" zusammen. Schmitt gehörte zu den Vertretern der Papenregierung; Kelsen und sein Schüler Mayer gehörten zu den Experten der preußischen Regierung -Kelserj zeigte später in der Justiz schonungslos die Schwächen des Urteils auf: Der „goldene Mittelweg", den das Gericht eingeschlagen habe, nämlich eine Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen dem Reichskommis-sar und der preußischen Landesregierung, habe die „Verworrenheit der Rechtslage“ nur gesteigert So wird die Entscheidung auch heute beurteilt; aber das wollten damals viele nicht so sehen. „Die Justiz“ scheint über Kelsens Bewertung so erschrocken gewesen zu sein, daß sie im gleichen Heft einen Anonymus „Civis" (vielleicht verbarg sich der schon genannte Carl Falck dahinter, der oft in schwierigen Lagen für den Republikanischen Richterbund auftrat) gegen Kelsen polemisieren ließ: Das Urteil sei eine brauchbare Grundlage für die Abgrenzung der gegenseitigen Zuständigkeiten
Als die Beiträge Ende 1932 erschienen, waren Schmitt und Kelsen Kollegen in der gleichen Fakultät in Köln. Kelsen, nach Herkunft, Einstellung und Auftreten ein Grandseigneur, hatte persönlich nichts gegen Schmitt und wußte durchaus zwischen dem Ideologen und dem Staatslehrer zu unterscheiden. So stimmte er der Berufung Schmitts nach Köln zu. Schmitt „revanchierte" sich, indem er dafür sorgte, daß Kelsen als einer der ersten jüdischen Gelehrten schon im Frühjahr 1933 seinen Lehrstuhl verlor Während Schmitt als von Göring ernannter Staatsrat und „Kronjurist" des Dritten Reichs große Triumphe feierte, erlebte Kelsen ein bitteres Jahrzehnt. Aus der offiziellen Biographie ergibt sich dies zwar nicht, wohl aber aus einer Mitteilung von Professor Mestiz, der schon als Student in Wien von Kelsen beeindruckt war: „In Genf war er (Kelsen) Professor von 1933 bis 1935 und nahm 1936 einen Ruf an die Prager deutsche Universität an — für seine Lage bezeichnend: um seine Pensionsansprüche zu retten. In Prag hielt er 1936— 1938 Vorlesungen unter ständigen Krawallen und Bedrohungen durch die damals schon nazistischen Studenten. In Havard war er 1940— 1942 an sehr untergeordneten und prekären Stellungen — trotz Roscoe Pounds Urteil. 1943 gelang es ihm endlich, eine dauernde Stellung in Berkeley zu bekommen."
Nach 1945 beteiligte sich Kelsen noch einmal an einer deutschen Diskussion. Er vertrat die Theorie vom Untergang des deutschen Reichs und der Entstehung von zwei neuen Staaten — Argumentationen, die gerade in jüngster Zeit im politischen Raum wieder aufgenommen wurden. Aber er unterlag erneut einer Staatstheorie, die in der Bundesrepublik den Fortbestand des deutschen Reiches sah Dann wendete er sich in den letzten zwei Jahrzehnten seines Lebens — Kelsen ist wie Schmitt über 90 Jahre alt geworden — dem spanischen Rechtskreis zu. Hier und in den USA ist sein Einfluß ungebrochen.
In Deutschland hingegen war Kelsen selbst im republikanischen Lager nur ein grandioser Außenseiter, auch unter den Autoren der Zeitschrift „Die Justiz“. Der wortgewaltige und streitbare Ernst Fuchs hat noch kurz vor seinem Ableben in einem großen Beitrag die Reine Rechtslehre als „kahles Hirngespinst" und „sublimierte Begriffsjurisprudenz zu Pferde" abgetan Aber auch die Herausgeber Radbruch und Sinzheimer waren gegen den „normlogischen Puritanismus" Kelsens Das hinderte sie aber nicht, die Zeitschrift für Kelsens warnende Beiträge zur Verfügung zu stellen.
Heute ist bei uns von dem „leading jurist of his time“ Kelsen nur ein Abschnitt in der Geschichte der Rechtstheorien übriggeblieben; der „provinzielle" Carl Schmitt spielt indes nach wie vor in der deutschen Staatslehre auf dem Weg über Freunde und Schüler eine aktuelle Rolle Er „siegt" noch heute über seinen weltoffenen Gegner.
Wie treffend Kelsen Schmitt charakterisiert hat, ohne sicherlich dessen verhängnisvolle Entwicklung zu ahnen, geht aus seinem großen Beitrag in der Zeitschrift „Die Justiz" hervor. Er mokiert sich hier — wie noch heute Sternberger —, daß Schmitt in seinem Buch „Hüter der Verfassung" „längst bekannte Tatsachen mit einem neuen Namen versehen" habe; es handle sich nämlich um eine Neuauflage von Benjamin Constant, für Zeitgenossen „ein übler Opportunist" Gilt nicht das gleiche für Carl Schmitt, „ein Mann der Stunde”, wie ihn Hans Mayer immer wieder glos- siert Carl Schmitt gerierte sich in seiner Bonner Zeit, als der spätere Verfassungsrichter Professor Friesenhahn und der linke Rechtspolitologe Kirchheimer bei ihm promovierten, als liberaler Republikaner. Mit dem Buch „Hüter der Verfassung" trat er für die „Präsidialdemokratie“ Brüning-Hindenburg ein, um alsdann Rechtsberater von General Schleicher zu werden. Nur wenige Tage nach der Ermordung seines Mentors durch die SS im Zusammenhang mit den Röhm-Morden am 30. Juni 1934 verfaßte Schmitt den berüchtigten Beitrag für „seine“ DJZ: „Der Führer schützt das Recht“ Schließlich ging er so weit, den Rechtslehrern zu verkünden: „Wir müssen den deutschen Geist von allen jüdischen Fälschungen befreien, Fälschungen des Begriffes Geist, die es ermöglicht haben, daß jüdische Emigranten den großartigen Kampf des Gauleiters Julius Streicher als etwas , Un-geistiges'bezeichnen konnten.“
Nicht nur die Warnungen Kelsens vor den Feinden der Republik sind hier aufzuführen; „Die Justiz" hat sich auch konkret mit dem Nationalsozialismus befaßt. So durch Robert Kempner unter dem Pseudonym Procurator über einprägsame Synopsen von Reichsgerichtsurteilen zum Landesverrat von Links und Rechts. Einem gegen einen Kommunisten ergangenen Urteil wurde ein erdachtes gegen einen Nationalsozialisten gegenübergestellt, denn eine tatsächliche Entscheidung gab es hier natürlich nicht Zu einer Verurteilung des Malers Grosz wegen seines Christusbildes mit Gasmaske als Gotteslästerung bildete das Pendant die Aufhebung eines Polizeiverbots gegen den Stürmer wegen einer Geistliche diffamierenden Karikatur Kempner gab Bescheide des Oberreichsanwalts Werner wieder, die anzeigen, wie Hochverratsverfahren gegen Nationalsozialisten verschleppt wurden Als . Justinian" bringt er Auszüge mit Kommentaren aus preußischen Landtags-sitzungen. Zu lesen ist, wie die NSDAP-Abgeordneten Freisler und Kube Richter und Anwälte beschimpften; ihre rechtsfeindliche Haltung wurde also schon damals publik gemacht Es zeigt sich somit auch, daß Kempner seine spätere Rolle als Ankläger in Nürnberg auf den Leib geschrieben war, denn schon vor 1933 war er der unbestechliche Rechtsexperte für den Nationalsozialismus.
Einprägsam schilderte der als Ministerialdirektor von der thüringischen Bürgerblockregierung entlassene spätere hessische Staatssekretär Hermann Brill in einem Aufsatz Erfahrungen mit dem ersten NSDAP-Minister Frick, dem späteren Reichsinnenminister Wilhelm Hoegner, nach dem Kriege bayrischer Ministerpräsident, kritisierte mit kernigen Worten in einem kurzen Beitrag schwammige Tatbestände bei NS-GesetzesVorschlägen
V. Die schleichende Agonie der Republik
Diese kleine Zeitschriftenlese bietet also kein Indiz dafür, daß alle damaligen Juristen Hitler herbeigesehnt oder daß sie sich auf dessen Sieg schon vor 1933 eingestellt hätten. Das wird selbst von der republikanischen „Die Justiz" nicht behauptet, wenn auch diese eine „rechte“ Tendenz bei Gerichtsentscheidungen feststellte, die ab 1930 der NSDAP statt früher den „Völkischen“ zugute kam. In DRZ und DJZ spiegelte sich noch der übliche Juristen-alltag wider; eine Unruhe oder Alarmstimmung ist nicht erkennbar. Aber auch die Alarmglocken bei der Zeitschrift „Die Justiz" wirken außer denen in den Beiträgen des großen Warners Kelsen eher gedämpft. Aufschlußreich ist hier eine Rede des Reichstags-präsidenten Löbe vom 21. Juli 1930, wiedergegeben in „Die Justiz" unter dem Titel „Krise des Parlamentarismus": „Deutschland ist nicht auf dem Wege zur Diktatur, der Ausgang der Wahlen wird die Welt belehren." Als der Beitrag erschien, hatten die Septemberwahlen der Welt bereits bestätigt, daß Deutsch-land einen großen Schritt zur Diktatur hin getan hat Das Fatale ist hier nicht der Irrtum eines Politikers, sondern die Leichtfertigkeit der Prognose. Nach den Regionalwahlen im November 1929 mußte ein rapides Anschwellen der NSDAP-Stimmen erwartet werden; dies hatte auch Sinzheimer in der „Chronik" vorausgesagt Als schmerzliches Verkennen von dem, was wirklich not tat, muß auch gewertet werden, daß ein Jahr später der tapfere Theodor Haubach, als Teilnehmer des Kreisauer Kreises 1945 hingerichtet, der Änderung der Verfassung die Priorität für die Behebung der politischen Krise gab
Weshalb zeigte sich das Rechtswesen trotz seiner Nähe zur Politik und trotz der Tatsache, daß die politische Krise ab 1930 zugleich eine Verfassungskrise war, im wesentlichen so wenig berührt? Gewiß war von Bedeutung, daß das Gift der Diktatur langsam eingeflößt wurde, so daß das Rechtswesen wie auch die Gesellschaft die Gefahr nicht mehr recht wahrnahm. Für Arthur Rosenberg, den linken Biographen der Weimarer Republik, hatte das Parlament schon 1920 abgedankt, als es zuließ, daß der Vertrauensmann der Reichs-wehr, Geßler, das Reichswehrministerium übernahm Alsdann stand das Ministerium für Kanzler und Reichstag nicht mehr zur Disposition. Geßler blieb alle Kabinette hindurch Minister, und als er schließlich 1928 doch abgelöst wurde, trat ein General, Gröner, an seine Stelle. Der zweite Schritt war die Wahl Hindenburgs 1925 zum Reichspräsidenten. Nunmehr konnte kein demokratischer Zivilist mehr in die Wehrpolitik hineinreden. Zu dieser Zeit war die SPD als die maßgebliche „Revolutions'-Partei schon seit anderthalb Jahren nicht mehr an der Regierung beteiligt.
Mit der Konstituierung des Präsidialkabinetts Brüning am 30. März 1930 — also schon ein halbes Jahr vor den verhängnisvollen Septemberwahlen — war der dritte Schritt zum Untergang der Demokratie getan. Regiert wurde nunmehr ohne Parlament über Notverordnungen. Aber dies scheint, wie die Analyse von DRZ und DJZ ergibt, die meisten Juristen nicht berührt zu haben. Das gilt jedoch nicht für den Kreis um „Die Justiz". Mag es auch, wie dargelegt, vereinzelte leichtfertige optimistische Beiträge gegeben haben, so waren sich jedenfalls die Herausgeber des Ernstes der Lage bewußt. Symptomatisch hierfür sind die „Chronik" -Beiträge des dünnhäutigen und sensitiven Sinzheimers, in denen immer wieder das Wort „Krise" auftaucht Schließlich fühlte er sich von der allgemeinen Lage so mitgenommen, daß er seine Arbeit für „Die Justiz" einstellen mußte. Am 14. Juli 1932 schrieb er an Radbruch: „... Der Kultur-abend, der über uns hereingebrochen ist ... Ich bin in der letzten Zeit, ich kann wohl sagen, seit über einem Jahr, vollkommen niedergeschlagen und finde keine Kraft, irgend etwas zu produzieren."
Die „Chronik" übernahm nun sein Schüler Fraenkel; neuer Herausgeber wurde Karl Renner, der österreichische Staatsmann, nach dem Kriege erster Bundespräsident.
Brünings Kabinett war zwar nicht mehr parlamentarisch, aber es war im wesentlichen noch ein Kabinett von Parlamentariern. Nicht mehr übersehbar war der Bruch mit der Republik, als sich am l. Juli 1932 die erste „nationale" Regierung, Papens „Kabinett der Barone“, konstituierte. So ließ dann der erste Staatsstreich, der „Preußenschlag" vom 20. Juli 1932 gegen die Regierung (SPD/Zentrum/Staatspartei) nicht lange auf sich warten. Am 3. Dezember 1932 trat dann ein, was die Juristen der Zeitschrift „Die Justiz“ befürchtet und die meisten — „nationalen" — Juristen erhofft hatten: ein Mann kaiserlicher Tradition übernahm, auf das Heer gestützt, die Macht: General Schleicher wurde Reichskanzler. Die „klassische" Militärdiktatur schien begründet.
VI. Karl Kraus: Zu Hitler fällt mir nichts ein
Zwar fiel der Zeitschrift „Die Justiz", anders als DRZ und DJZ, zu Hitler einiges ein; aber als eine reale Gefahr für die Republik wurde der Mann nicht wahrgenommen. So schrieb Mittermaier noch im Herbst 1932, nachdem er zunächst einen Angriff von rechtsautoritären Strafrechtslehrern wie Gleispach und Schaff-stein gegen eine Strafrechtsreform verschmerzen mußte, ironisch: „Ich fürchte, Schaffstein wird die Zeit einer einheitlichen Weltanschauung nicht erleben." Auch Rechtsanwalt Hirsch sah keine ernsthaften Gefahren, als er im nächsten Heft über die „Verschlechterung der Strafrechtspflege durch Notverordnungen" ausführte: „Wir wollen hoffen, daß die deutsche Linke bis zum Zeitpunkt, an dem die deutsche Reaktion abgewirtschaftet hat, vieles lernt."
Gewiß hat sich „Die Justiz", wie bereits vorstehend beschrieben, mit der NS-Bewegung befaßt; aber von heute aus gesehen erscheint dies doch marginal. Von einer Rechtszeitschrift, die so sensibel auf die Zeitströmungen reagierte, die die Deflation ab 1929 so eingehend anlaysiert hatte und sich sogar in drei Beiträgen mit den damals zwar aktuellen, jedoch relativ marginalen Themen Siedlung und Heimstätte befaßte, hätten Beiträge auch über die Entstehung der NS-Bewegung, die Person Hitlers und die Bedeutung des Führerkults erwartet werden dürfen. Die Gefährlichkeit Hitlers wurde klar unterschätzt. Selbst für Kempner scheint er damals nur ein NS-Führer neben anderen gewesen zu sein „Was hat er auf Sie für einen Eindruck gemacht", wurde Kempner befragt, der sich als Justitiar der preußischen Polizei mit Hitler abzugeben hatte. Die Antwort: „Gar keinen."
Das deckt sich mit dem berühmten Ausspruch von Karl Kraus, das deckt sich auch mit der Ansicht der meisten Personen des öffentlichen Lebens, die damals mit Hitler zu tun hatten, auch oder gerade solcher der rechten Parteien. Die bürgerlichen Juristen konnten kein Organ für einen Mann ohne Ausbildung und Beruf haben, halb Landsknecht, halb Wanderprediger, mit dem kein Verhandlungsgespräch geführt werden konnte, weil er dem Gegenüber seine Monologe aufzuzwingen versuchte Ging es nicht seit Spätsommer 1932 mit der NSDAP abwärts? Sie schrumpfte bei den Reichstagswahlen im November. Die Wirtschaft begann sich zu erholen. Die Reichswehrführung als die reale Macht im Staat hatte für Hitler wenig übrig. Der Untergang der Weimarer Republik mußte also keineswegs zu Hitler führen, darüber sind sich Bracher und Fest bei allen Unterschieden hinsichtlich der Interpretation der Endzeit der Republik einig. Hitlers Machtübernahme war also keine „nationale Revolution" nach der Verklärung von Goebbels, sie war nicht einmal ein Putsch, sondern das Resultat einer von Papen eingefädelten Palast-Kamarilla im Hause Hindenburg Das allgemeine Empfinden mag sich sträuben, einen derart gewichtigen Einschnitt in der Geschichte auf eine banale Intrige zurückzuführen. Das verweist auf die Ideen eines ständigen Autors der Zeitschrift „Die Justiz", des heute wieder gelesenen Philosophen Theodor Lessing. Sein nach 1945 schon zweimal wieder aufgelegtes Hauptwerk heißt „Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen". Lessing, seit 1925 von „nationalen" Studenten verfolgt, floh unmittelbar nach Hitlers Machtübernahme nach Nordböhmen und wurde am 30. August 1933 das Opfer von den Nazis gedungener Mörder — eines der ersten Opfer Hitlers.
Lessing ging vielen Autoren der Zeitschrift „Die Justiz" voran. Die meisten wurden, anders als die der DRZ und DJZ, die fast alle nach 1933 weiter schreiben konnten, wegen ihrer demokratischen Einstellung verfolgt — und erst recht, wenn sie Juden waren. Die Zeitschrift hatte eine Symbiose von deutschem und jüdischem Geist gebildet; von den zehn Autoren, die am meisten publiziert hatten, waren sechs Juden. Stellvertretend soll hier nur auf das Schicksal der Herausgeber hingewiesen werden. Noch glimpflich verlief es für Radbruch und Mittermaier; der erste wurde zwangsemeritiert, der zweite zur Emeritierung gedrängt. Sinzheimer kam 1933 in ein Konzentrationslager; es gelang ihm aber die Flucht nach Holland. Während der deutschen Besetzung lebte er im Untergrund; Leiden und Entbehrungen führten zu seinem Tode kurz nach der Befreiung. Der Schriftleiter Kroner hätte zwar auch emigrieren können, aber offensichtlich schien es ihm unmöglich, außerhalb Deutschlands zu leben. Der 71jährige wurde im Oktober 1942 in dasKonzentrationslager Theresienstadt deportiert und starb dort zwei Wochen später.