Vorabdruck des Einleitungsbeitrages zu dem Buch: Oskar Anweiler (Hrsg.), Staatliche Steuerung und Eigendynamik im Bildungs-und Erziehungswesen osteuropäischer Staaten und der DDR, Berlin Verlag Arno Spitz, Berlin 1986, Reihe . Osteuropaforschung“; hrsgg. von der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde, Bd. 21.
Wie weit reicht die staatliche Planungsund Steuerungskapazität im Bildungs-und Erziehungswesen angesichts komplexer gesellschaftlicher Strukturen, differenzierter Bildungsansprüche und ökonomisch-technischer Herausforderungen?
Wie reagiert die Bildungsverwaltung auf diese unterschiedlichen Aufgaben im Rahmen einer zentralistischen oder einer stärker dezentralisierten politischen Verwaltungsordnung? Als Garant der politisch-ideologischen Geschlossenheit des Systems einerseits oder als effizientes Instrument innovatorischer Pläne andererseits?
Auf welche Weise artikuliert sich Schulkritik „von unten“, wie wird sie wahrgenommen und möglicherweise in schulpolitische Aktionen umgesetzt?
Gibt es — innerhalb oder auch außerhalb des staatlichen Bildungs-und Erziehungssystems — gesellschaftliche Freiräume für pädagogisches Handeln, ergeben sich daraus auch Möglichkeiten einer — gleichwie im einzelnen gearteten — „pädagogischen Autonomie“? Solche Fragen zu stellen, heißt bereits von der Annahme auszugehen, daß in den kommunistisch regierten Staaten in Europa (einschließlich der Sowjetunion) das Bildungsund Erziehungswesen weniger „monistisch" ist, als häufig angenommen wird, ohne daß deswegen bereits die Gültigkeit des theoretischen Modells eines sozialistischen bzw. kommunistischen „Pluralismus" vorausgesetzt werden muß.
Die Bemühungen um eine gesellschaftstheoretische Fundierung der wissenschaftlichen Analyse kommunistischer Bildungspolitik und Pädagogik haben nach der Kritik am Totalitarismuskonzept längere Zeit geruht und dort, wo sie später wiederaufgenommen worden sind, in erster Linie die Entwicklung in der DDR zum Ausgangspunkt für allgemeinere Schlußfolgerungen genommen die teilweise anders geartete Situation in Polen, Ungarn oder der Tschechoslowakei beispielsweise jedoch weniger berücksichtigt. Die folgenden Überlegungen knüpfen an früher vorgetragene Gedanken zur historisch-komparativen Analyse sozialistischer Bildungssysteme an und versuchen, diese aufgrund jüngerer Entwicklungen und Erfahrungen in den Ländern des „realen Sozialismus" weiterzuverfolgen Dabei heben die im Titel dieses Beitrages genannten drei Leitlinien — politische Steuerung, gesellschaftlicher Pluralismus und pädagogische Autonomie — Grundgedanken hervor, ohne den Anspruch eines systematischen Überblicks erheben zu wollen.
I. Zentrale Steuerung und „Selbstregulierung"
Die Bildungssysteme staatssozialistischer Prägung sind — bis auf die kurze Periode einer rätedemokratischen Schulverfassung unmittelbar nach der russischen Oktoberrevolution — durch ein hohes Maß an staatlicher Planung und zentraler politischer Steuerung gekennzeichnet Das kommunistische Regime in Rußland wie die nach Ende des Zweiten Weltkrieges errichteten „volksdemokratischen" Ordnungen konnten dabei an die zentralistischen Strukturen der Lenkung und Verwaltung im Schul-und Hochschulwesen ihrer jeweiligen Vorgänger anknüpfen: an die Tradition des russischen Zarenreiches, die in den Nachfolgestaaten wirksamen Verwaltungsstrukturen der Österreichisch-Ungarischen Monarchie oder an das preußische Erbe des Deutschen Reiches.
In der Sowjetunion gab es bis etwa 1930 zwar Ansätze für einen begrenzten Bildungsföderalismus, sie erloschen aber im Zuge der zentralen Wirtschaftsplanungspolitik, der Konzentration der politischen Macht unter Stalin und aufgrund der maßgeblichen Rolle der Russischen Sowjetrepublik im Bildungsbereich In Polen, der ÖSSR Ungarn, Rumänien ebenso wie in SBZ/und Bulgarien der DDR herrscht seit der Etablierung der neuen Regime ein streng zentralistisches staatliches Bildungssystem in der Tschechoslowakei — seit 1969 in scheinföderalistische Strukturen gekleidet—, entsprechend den für den gesamten Staatsaufbau und das Wirtschaftssystem gleichermaßen geltenden hierarchischen Leitungsprinzipien im Gewände des „demokratischen Zentralismus“.
Die zentrale politische Steuerung ist nicht gleichbedeutend mit einer einheitlichen, alle Bereiche und Ebenen des Bildungswesens umfassenden Verwaltung. Für die UdSSR ist vielmehr eine zentralistische „Versäulung" der Bildungsverwaltung in drei relativ unabhängige Apparate kennzeichnend: für das Schulwesen, die Berufsbildung sowie das Hoch-und Fachschulwesen. Ähnlich verhält es sich in der DDR, während es in anderen Staaten entweder zwei oder nur ein Ministerium für den Bildungsbereich gibt.
Für die politische Steuerung im Bildungsbereich scheint die jeweilige administrative Struktur nicht von ausschlaggebender Bedeutung zu sein, da erstere vornehmlich von den zentralen Gremien der Kommunistischen Partei selbst ausgeht, in deren Apparat wiederum die Bildungsangelegenheiten in den entsprechenden Abteilungen des Zentralkomitees ressortieren. So verhältnismäßig wenig bisher über die formellen und vor allem informellen Beziehungen zwischen Partei-und Staatsapparat an der Spitze des Bildungswesens aus den einzelnen kommunistisch regierten Staaten bekannt ist, so eindeutig ist jedoch die politische Führungs-und Steuerungsrolle der Kommunistischen Partei als solcher festgelegt; das gilt auch für Jugoslawien mit seinem föderalistischen Staatsaufbau und der Selbstverwaltungsstruktur im Bildungswesen
Von der politischen Steuerung wie von der Verwaltung ist die Planung im Bildungsbereich zu unterscheiden. Organisatorisch ist sie in der Regel einerseits mit den Wirtschafts-und Sozialplanungsbehörden, andererseits mit der Bildungsverwaltung verbunden; sie folgt ferner den territorialen und teilweise den sektoralen Gliederungen des Planungsapparats. Dabei zeigen sich erhebliche Mängel in der Abstimmung der administrativen Planung eines Teilbereichs (z. B. Berufsschule) mit den anderen Sektoren des Bildungswesens, was sich auf regionaler und örtlicher Ebene besonders in der Arbeitskräftenachwuchsplanung mit deren Folgewirkungen negativ niederschlägt. Ein größerer eigenständiger Spielraum für die regionalen Instanzen erscheint daher — wie im Falle Un-garns — nur folgerichtig zu sein; das Problem besteht aber darin, wie vermieden werden kann, daß schon vorhandene Entwicklungsunterschiede zwischen einzelnen Territorien durch eine Regionalisierung der Ressourcen- und Allokationsplanung nicht noch größer werden (so etwa im Falle Jugoslawiens).
Mit Ausnahme Jugoslawiens lassen sich für die anderen sozialistischen Staaten in den drei bisher genannten Bereichen verschiedene Grade der Zentralisierung ausmachen: — in der Bildungspolitik, d. h.der politischen Steuerung, herrscht ein durchgehend hohes Maß zentralisierter Entscheidungen und Direktiven für das gesamte Bildungs-und Erziehungswesen; — in der Bildungsplanung gibt es zentrale Grundentscheidungen und Rahmenbedingungen mit unterschiedlicher Delegierung der Kompetenzen an nachgeordnete territoriale Instanzen;
— in der Bildungsverwaltung herrschen vertikale Strukturen in teilweise separaten „Verwaltungssäulen“, die auf mittlerer und unterer Ebene durch horizontale Kooperation ergänzt werden können.
Die bisher skizzierte zentralistische Struktur der Bildungssysteme in den staatssozialistischen Ländern hat ihren Grund zu einem erheblichen Teil in den politischen und gesellschaftlichen Integrationsaufgaben, die dem Bildungswesen zugeschrieben werden. Dazu zählt in erster Linie die postulierte ideologische Einheit in den Bildungs-und Erziehungszielen sowie den daraus abgeleiteten Bildungsinhalten, wie sie z. B. in den Schulen durch einheitliche Lehrpläne repräsentiert werden. Die angestrebte ideologische Geschlossenheit des Weltbildes als pädagogische Aufgabe bestimmt auch sehr stark die Forderung nach „einheitlichen didaktischen Prinzipien“ und damit auch nach einer einheitlichen Ausbildung der Lehrer aufgrund zentraler Studienpläne. Das Einheitsprinzip im Schulaufbau („Einheitsschule") wiederum beruht auf der Leitidee der größtmöglichen gesellschaftlichen Gleichheit. Es gehört zu den wichtigsten Überzeugungen der Bildungspolitik auf marxistisch-leninistischer Grundlage, daß nur durch eine zentrale Steuerung der Bildungspolitik und eine weitgehend einheitliche Organisationsstruktur des Bildungswesens die genannten politisch-ideologischen Postulate realisiert werden können. Das jugoslawische Beispiel zeigt allerdings auch, daß auf der theoretischen Grundlage des Marxismus auch andere praktische Konsequenzen (das Selbstverwaltungsmodell) möglich sind.
Grob gesehen wird das Bildungswesen von drei zwar miteinander verbundenen, aber nicht immer in die gleiche Richtung wirkenden Entwicklungen außerhalb des Bildungssystems selbst beeinflußt: der wirtschaftlichen und technischen Entwicklungsdynamik und daraus resultierenden Modernisierungsnotwendigkeiten, den gesellschaftlichen Erwartungen, der „Nachfrage“ nach Bildung, und schließlich vom kulturellen Wertewandel in der Gesellschaft Die staatssozialistischen Systeme gehen im Prinzip von einer politischen Steuerungsnotwendigkeit und -fähigkeit sowie von der Planbarkeit aller drei genannten Bereiche aus — abgekürzt wird dann von Wirtschafts-, Gesellschafts-oder Kulturplanung gesprochen.
Das Bildungswesen ist demnach in ein umfassendes Planungs-und Entwicklungsmodell eingebunden. Da jedoch die Entwicklungen in Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur nicht synchron und nicht einheitlich zielgerichtet verlaufen und der Grad ihrer Steuerbarkeit erheblich differiert, ergibt sich für die Bildungspolitik die Notwendigkeit, ein eigenes Steuerungs-und Zielorientierungskonzept zu entwickeln, welches die verschiedenen Ansprüche aufnimmt und zu integrieren versuchen muß. Wenn das Modell einer zwar „komplexen“, aber doch zentralen umfassenden Gesellschaftsplanung vorherrscht, kann auch die Bildungspolitik nur nach diesem Muster verfahren, d. h„ sie wird einer zentralistischen Steuerung huldigen; sie muß aber auch bestrebt sein, wegen der unterschiedlichen Anforderungen von außen, die einen Ausgleich erheischen, eigene Entscheidungsräume zu gewinnen und zu behaupten. Der administrative Apparat, mit dessen Hilfe die Steuerung betrieben und das Funktionieren des Bildungswesens gewährleistet werden soll, garantiert daher auch eine gewisse „institutioneile Autonomie“ des Bildungssystems als solchem.
Die hier in einem allgemeinen Zusammenhang einer Theorie der Bildungspolitik und des Bildungswesens angesprochenen Fragen haben in letzter Zeit auch in den wissenschaftlichen Bemühungen um eine Theorie der Lenkung und Verwaltung des Bildungswesens ihren Niederschlag gefunden. Dabei lassen sich deutlich zwei unterschiedliche Konzepte ausmachen: dasjenige einer „Leitungswissenschaft"und dasjenige einer organisationstheoretischen Lehre der „Selbstregulierung“. Beiden ist die erwähnte Betrachtung des Bildungswesens als eines abgegrenzten institutionellen Bereichs (mit eigenen Zwecken und Regeln) durchaus gemeinsam, aber sie unterscheiden sich wesentlich in der Sichtweise. In der „Leitungsforschung" sowjetischen Typs dominiert das Modell der überlieferten zentralistischen Leitungsstruktur des Bildungswesens während die polnischen Theoretiker der „Selbstregulierung" den Nachdruck auf das Zusammenwirken leitender und ’selbstverwaltender Organe, mit einem erheblich größeren Spielraum letzterer, legen. Nach diesem Modell sollen die Befugnisse der Schulaufsicht begrenzter, ihre Effizienz aber gesteigert werden, die pädagogische Eigenständigkeit der einzelnen Institution und der in ihr Tätigen größer und die Verbindung mit der konkreten sozialen Umwelt der Schule enger werden Der Begriff der „Selbstregulierung" im Bildungswesen wird dabei mit einem Systembegriff verbunden, der auf der Vorstellung einer „gesellschaftlichen Homöostase" beruht
Ohne hier auf die generelle Problematik derartiger organisationssoziologischer Modelle für die Analyse von Erziehungs-und Bildungsprozessen, die sich in bestimmten Institutionen abspielen, eingehen zu wollen läßt sich für Polen zeigen, daß das Selbstregulierungskonzept den Versuch einer theoretischen Antwort auf die akute polnische Gesellschafts-und Bildungskrise Anfang der achtziger Jahre darstellt — es ist gleichsam zwischen dem radikalen Selbstverwaltungsprogramm der „Solidarität“ einerseits und der überlieferten zentralistischen Bildungsverwaltung andererseits angesiedelt. Interessant ist, daß die Ebene der bildungspolitischen Entscheidung, d. h.der politischen Steuerung, in diesem Konzept ausgeklammert bleibt; über die Ebene derBildungsplanung herrscht noch Unklarheit, doch dürfte der gesamtstaatliche Aspekt dominant bleiben; nur im Rahmen der Bildungsverwaltung werden weiterreichende Änderungen zugunsten dezentraler Elemente und eine Stärkung der untersten Einheiten im Bildungswesen (Schulen, Hochschulen) angestrebt.
Interessant ist, daß in Ungarn auch die Planungsebene unter dem Gesichtspunkt der Regionalisierung stärker dezentralisiert wird, um damit besser den wirtschaftlichen und sozialen Wandlungen in den jeweiligen Gebieten entsprechen zu können. Es hat hier den Anschein, als ob man in der politischen Führung des Landes im Interesse einer dynamischen Modernisierung den Spielraum territorialer Planungs-und Entscheidungsgremien im Bildungswesen erweitert hat, bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der zentralen Direktiven und Kontrollen in allen inhaltlichen Fragen (Lehrpläne, Lehrbücher, Examina usw.)
Im Falle Jugoslawiens wiederum besteht zwar die einheitliche politisch-ideologische Ausrichtung, aber gleichzeitig ein Bildungsföderalismus — als drittes tritt die wiederum weitgehend gemeinsame Basis der Selbstverwaltung (als das eigentliche „gesellschaftliche" Element) hinzu. Damit kompliziert sich das Verhältnis von Planung und Verwaltung im Bildungswesen zusätzlich, so z. B. in Fragen der Finanzierung der verschiedenen Einrichtungen
Es bleibt abzuwarten, ob und inwieweit die Schulreform in der Sowjetunion und die stark auf Modernisierung und Innovation setzende neue politische Führung unter Gorbatschow auch in der Bildungsplanung und Bildungsverwaltung die Kompetenzen der unteren und mittleren Organe erweitern und stärken wird Die 1984 erlassenen Direktiven zur Verbesserung und Effizienzsteigerung der Bildungsverwaltung sehen zwar eine gewisse Stärkung der lokalen Volksbildungsorgane vor, aber der Grundsatz des „demokratischen Zentralismus" wird im gleichen Atemzug als unverletzlich hervorgehoben. Eine theoretische Auseinandersetzung mit dem polnischen Konzept der „Selbstregulierung" hat offen-sichtlich noch nicht stattgefunden, obwohl sich manche Überlegungen und Anregungen in die „Leitungsforschung" integrieren ließen.
II. „Gesellschaftlicher Pluralismus“ und Erziehung
In allen sozialistischen Staaten wird das „monistische" Bildungssystem, d. h. das einheitliche, nach gleichen politischen und ideologischen Grundsätzen geleitete öffentliche Bildungswesen, durch verschiedene gesellschaftliche Ansprüche und auf unterschiedliche Weise gleichsam „pluralistisch“ unterlaufen. Das „standardisierte" Schulsystem steht „häufig im Widerspruch zum Pluralismus der Anschauungen, Meinungen, Werte und Ziele, die in der Gesellschaft, in der die Schule wirkt, funktionieren“
Zur allgemeinen Kennzeichnung der zu beschreibenden Entwicklungen wird hier der Ausdruck „gesellschäftlicher Pluralismusu'verwendet. Da der Pluralismusbegriff in der politikwissenschaftlichen und politischen Diskussion seit langem und kontrovers verwendet wird, soll zunächst festgehalten werden, daß sich der hier gemeinte „gesellschaftliche Pluralismus" als ein deskriptiver und nicht präskriptiver Begriff versteht und auch nicht notwendig mit einer bestimmten „pluralistischen Gesellschaftstheorie“ verbunden sein muß. Allerdings könnte man — in Umkehrung des Titels eines Aufsatzes über „die dreifache Herausforderung des Pluralismus durch den Marxismus“ — durchaus von einer „Herausforderung des Marxismus durch den Pluralismus" sprechen und dieser Herausforderung vielleicht sogar einen höheren Realitätsgehalt als der anderen zumessen. Damit soll angedeutet werden, daß der Idee des Pluralismus in einem bestimmten Verständnis durchaus eine politische Brisanz innewohnen kann, wie gerade die Entwicklung in Polen gezeigt hat, die im übrigen auch von dem Versuch begleitet war, eine marxistisch fundierte Theorie des Pluralismus zu erarbeiten
Die Basis des gesellschaftlichen Pluralismus stellt zunächst die Tatsache einer Gliederung der bestehenden sozialistischen Gesellschaften nach Klassen, Schichten oder Gruppen dar, wie sie z. B. von der Sozialstrukturforschung dieser Länder seit längerem auch empirisch untersucht wird. Dieser nahezu banale Sachverhalt verliert etwas von der Feststellung bloßer Faktizitäten, wenn man ihn auf dem Hintergrund früherer marxistischer gesellschaftlicher Fortschrittstheorien sieht, wonach der Übergang zur kommunistischen, d. h. klassenlosen Gesellschaft „gesetzmäßig“ erfolgen würde und die bestehenden sozialen Unterschiede daher „absterben“ müßten. Der Realitätszuwachs, den die empirische Sozial-forschung den Ideologieverwaltern vermittelt, hat bereits zur Ablösung derartiger linearer Entwicklungsmodelle und zur ideologischen Ausdifferenzierung der „entwickelten sozialistischen Gesellschaft“ sowie zur Anerkennung länger fortdauernder und zum Teil neu entstehender sozialer und vor allem kulturell/bildungsmäßiger Unterschiede im Sozialismus geführt.
Dadurch gewinnt aber die Tatsache solcher gesellschaftlicher Differenzierungen insofern an Bedeutung, als nunmehr auch die Frage nach vorhandenen Differenzierungen in bestimmten Denk-und Verhaltensweisen und die Rolle von Bildung und Erziehung in dem Prozeß ihrer Herausbildung gestellt werden muß. Es wird inzwischen gesehen, daß innerhalb der „sozialistischen Lebensweise“ — einem überwölbenden ideologischen Konzept — verschiedene spezifische Lebensweisen aufgrund der sozialen Lage, des Bildungsstandes, den allgemeinen Arbeits-und Lebensbedingungen im Betrieb oder Wohngebiet usw. bestehen, die den Erziehungs-und Bildungsprozeß stark bestimmen Während dem Erziehungs-und Bildungswesen einerseits die Aufgabe einer gesellschaftlichen Homogenisierung gestellt wird, die ein relativ einheitliches „gesellschaftliches Bewußtsein" einschließt, besteht daneben die Notwendigkeit, die vorhandenen individuellen Unterschiede in der Begabung, Leistungsbereitschaft und „Lebensplanung''als solche anzuerkennen und „gesellschaftlich nutzbar“ zu machen.
An dieser Stelle muß auch auf die unterschiedlichen Voraussetzungen und jeweiligen nationalen Besonderheiten des vorhandenen gesellschaftlichen Pluralismus hingewiesen werden. Während sich in Polen der gesellschaftliche Pluralismus in erster Linie als ein politisch/kultureller Pluralismus artikulierte und seine soziale Basis seit den siebziger Jahren nicht nur in der Intelligenz, sondern vor allem in der gebildeten Arbeiterklasse fand (gestützt von der katholischen Kirche), existiert in der Sowjetunion ein eher „latenter Pluralismus" sozialer und nationaler Gruppen, der mit dem polnischen kaum verwandt ist. Es mangelt dem gesellschaftlichen Pluralismus in der Sowjetunion sowohl an öffentlichen Artikulationsmöglichkeiten als auch an bestimmten ideellen Traditionen, wie sie gerade im kulturellen Bereich wesentlich sind. Nicht zufällig ging es in Polen während der Periode der „gesellschaftlichen Erneuerung“ 1980/81 in so starkem Maße um die Revision des manipulierten Geschichtsbildes und des Geschichtsunterrichts an den Schulen, während umgekehrt in der Sowjetunion gerade die historisch-patriotische Komponente als Stabilisierungsfaktor des sowjetischen Systems benutzt wird. Der „nationale Pluralismus" allerdings, der in der herrschenden Theorie der nationalen Beziehungen in der Sowjetunion anerkannt wird und im Bildungswesen eine starke Stütze findet, kann zu dem sowjetpatriotischen „Monismus" auch in Gegensatz geraten, was sich besonders in der Sprachen-frage zeigt
Wenn bisher so stark auf den gesellschaftlichen Pluralismus in Form unterschiedlicher geistiger Werte und Orientierungen abgehoben worden ist, so auch deshalb, weil sich im Bildungswesen gerade darin der Pluralismus manifestiert. Innerhalb der jeweiligen Gesellschaften und Nationen der sozialistischen Staaten gibt es unterschiedliche Grade einer „nicht-offiziellen pluralistischen Kultur“, die teilweise — wie z. B. in der Sowjetunion, der Tschechoslowakei oder der DDR -* überhaupt nicht in die offiziellen Schullehrpläne hineinreicht, teilweise — wie in Jugoslawien, Ungarn oder Polen — gleichsam am Rande des Bildungssystems toleriert wird. Nur in Polen behauptete die katholische Kirche einen eigenen kulturellen und pädagogischen . Aktionsraum", der trotz aller Behinderungen fortbesteht und bisher wesentlich zur Existenz einer „parallelen Bildung" in der Bevölkerung beigetragen hat
Es gilt noch einen anderen Aspekt des gesellschaftlichen Pluralismus in seiner Bedeutung für Erziehung und Bildung wenigstens kurz zu beleuchten. Wie schon erwähnt, haben verschiedene empirische jugend-, bildungs-und familiensoziologische Untersuchungen in den meisten sozialistischen Staaten Wandlungen, Beharrungen und neue Formen bestimmter Wertorientierungen und Verhaltensweisen nachgewiesen. So konnten z. B. die „Lebensplanforschungen" in der UdSSR den Zusammenhang von arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen, Veränderungen in der Struktur des Bildungswesens sowie von Erwartungen und tatsächlichem Verhalten Jugendlicher bei der Berufswahl näher ermitteln und damit auch der Bildungspolitik wichtige Hinweise geben
In allen sozialistischen Staaten ergaben solche Untersuchungen ein interessantes, wenn auch nicht überraschendes Resultat: Mit der Ausdehnung und Verlängerung der allgemeinen Schulzeit sind die Bildungsaspirationen, d. h. die Wünsche nach Fortsetzung einer Ausbildung auf gehobenen Stufen, in einem Maße gewachsen, daß auf vielen Gebieten ein Mangel an Arbeitskräftenachwuchs herrscht, auf anderen ein Überschuß an Interessenten und Bewerbern.
Auch für die DDR beispielsweise, die in technischer und arbeitsorganisatorischer Hinsicht innerhalb der sozialistischen Staaten an der Spitze steht, heißt es aufgrund entsprechender Untersuchungen: „Empirisch wird ...deutlich, daß es z. B. in zunehmendem Maße Schwierigkeiten bereitet, Arbeitskräfte, vor allem jüngere Menschen mit Zehnklassenabschluß, für unattraktive, körperlich schwere, monotone und inhaltsarme Tätigkeiten zu gewinnen, die der Entfaltung der Schöpferkraft recht enge Grenzen setzen. Während einerseits die derzeitigen materiell-technischen Grundlagen der Produktion objektiv eine Gruppe von Werktätigen erfordern, die jenen Typ unattraktiver Arbeit asführen, ist die Persönlichkeitsentwicklung auch im Hinblick auf die Arbeitsbedingungen und Arbeitsinhalte durch ein rasch wachsendes Niveau der Bedürfnisse gekennzeichnet"
Die eher kurzfristige Lösung der Wirtschaftsund Bildungsplaner besteht in der forcierten in die Mangelberufe und in der versuchten Umstrukturierung des Schulwesens (wie in der UdSSR 1984). Langfristig müssen die Arbeitsplatzbedingungen entschieden verbessert werden. Einstellungsveränderungen unter Schulabgängern könnten auf eine realistische Anpassung der Ausbildungs-und Berufswünsche hindeuten, ändern aber offenbar noch nichts Wesentliches an den bisherigen Präferenzen für bestimmte gehobene Bildungsabschlüsse unter den Angehörigen der Intelligenzschicht.
Schließlich sei noch auf einen gesellschaftlichen Pluralismus eigener Art hingewiesen, der sich als „Dualismus der Generationen“ charakterisieren ließe, durch andere Merkmale (sozialer, kultureller Art) aber durchkreuzt wird. Die „Erwachsenengesellschaft" und die . Jugendgesellschaft", um es verkürzt so auszudrücken, leben auch in den sozialistischen Staaten, obwohl das von der offiziellen Ideologie geleugnet wird, häufig in zwei getrennten Welten. Wenn in Polen z. B. die angestrebte „kulturelle Erziehung“ als Teil der Bildungsaufgabe die „Bruchstellen zwischen Schule und Gesellschaft“ kitten soll dann verbirgt sich dahinter auch ein Intergenerationenproblem, ein Gegensatz zwischen „offizieller" Kultur und jugendkulturellen Ausdrucksformen, die zum Teil gesellschaftlichen Protestcharakter tragen. Aus dieser Sicht wird Erziehung in den öffentlichen Institutionen um so stärker als repressiv und intolerant empfunden, je mehr das Trugbild gesellschaftlicher Harmonie nach außen beschworen wird.
Wenn man von der Existenz verschiedener „Ordnungs-und Konfliktmuster im Erziehungsfeld" ausgehen kann, wie am Beispiel der DDR gezeigt worden ist — und dies läßt sich mindestens in demselben Maße auch für die anderen sozialistischen Gesellschaften vermuten —, dann wird deutlich, daß unterhalb des standardisierten öffentlichen Erziehungssystems, welches in erster Linie durch die Schulen repräsentiert wird, eine Pluralität von Erziehungsweisen besteht Diese Erziehungsweisen entziehen sich zum größten Teil der politischen Steuerung und werden auch durch die Bemühungen der „pädagogischen Propaganda", d. h. einer ideologisch begründeten Eltern-und Erwachsenenbildung und -beratung in Erziehungsfragen, nur teilweise erreicht und beeinflußt Dem uniformierenden Einfluß der Bildungsinstitutionen steht somit ein differenziertes „Erziehungsfeld" gegenüber — die individuelle Entwicklung und Sozialisation wird von beidem geprägt.
III. „Pädagogische Autonomie“ als Korrektiv?
Das bereits skizzierte Konzept der „Selbstregulierung" im Bildungswesen und die Tatsache eines gesellschaftlichen Pluralismus in der Erziehung lassen sich zu der Frage verbinden, ob und in welchem Maße eine „pädagogischeAutonomie" innerhalb der sozialistischen Bildungssysteme denkbar, möglich oder vorhanden ist. Daß es sich dabei nicht um eine spekulative Frage handelt, zeigen sowohl die in Polen 1980/81 erhobenen Forderungen nach einer „sich selbstverwaltenden und autonomen Schule" als auch die im Verlauf der sowjetischen Schulreformdiskussion 1983/84 geäußerten kritischen Stimmen gegen die herrschende Bevormundung von Leh- rern und Schülern. So vielfältig und in den Verbesserungsvorschlägen keineswegs einhellig die Stimmen der Schulkritik hier und in anderen sozialistischen Staaten auch sein mögen, gemeinsam ist ihnen das Mißbehagen an einer herrschsüchtig auftretenden administrativen und politischen Kontrollapparatur und der Wunsch nach selbstverantworteten Gestaltungsräumen in der pädagogischen Praxis im Interesse der Kinder und Jugendlichen selbst.
Der Begriff der „pädagogischen Autonomie“ ist nicht ohne weiteres mit den beiden überlieferten und gängigen Autonomiebegriffen in der Erziehungswissenschaft gleichzusetzen: der Idee einer „autonomen Pädagogik“ als eines relativ selbständigen Kulturgebietes mit der Spezifik des „Erzieherischen“ in der deutschen geisteswissenschaftlichen Pädagogik einerseits, der „relativen Autonomie" des Bildungswesens als eines gesellschaftlichen Teilsystems (mit seinen Legitimations-und Reproduktionsfunktionen) in der Bildungssoziologie andererseits Der Autonomiebegriff, der aus der Rechtssphäre stammt, verliert notgedrungen bei der Übertragung auf andere Bereiche an Schärfe und Eindeutigkeit, ohne daß deswegen sein Kern aufgegeben werden muß. Dieser besteht nun zweifellos in der Anerkennung und Wahrnehmung gesicherter Freiheitsräume für gesellschaftliches Handeln; der Begriff der pädagogischen Autonomie ist daher vor allem ein Abwehr-und Selbstbehauptungsbegriff gegen ein Übermaß staatlicher Macht; mit ihm verbindet sich der Anspruch auf Eigenständigkeit des pädagogischen Handelns.
Es ist offenkundig, daß „pädagogische Autonomie" in dem hier dargelegten Verständnis in den bestehenden staatssozialistischen Bildungssystemen vor allem die Funktion eines kritischen Korrektivs gegenüber den bestehenden Strukturen und Mechanismen in der Leitung und Kontrolle des Bildungswesens besitzt Dabei kann man sich entweder auf Postulate und Formen einer breiten gesellschaftlichen Mitwirkung im Rahmen sozialistischer Schulverfassungen vom Rätetypus berufen oder auf die besonders im Gedanken der Hochschulautonomie wirksamen aufklärerisch-liberalen Rechts-und Wissen-
Schaftstraditionen oder schließlich auch auf den spezifisch reformpädagogischen Gedanken vom „Wohl des Kindes" als dem Maßstab der Erziehung. In allen Fällen verbindet sich damit der Anspruch auf stärkere Selbstverantwortung der beteiligten und betroffenen Personen sowie auf erweiterte Rechte der Institutionen bei der Regelung ihrer Angelegenheiten. Wie erwähnt, sind die Forderungen nach einer pädagogischen Autonomie insbesondere im Verlauf der polnischen „Erneuerungsbewegung" unter Führung der „SolidarnoSC" erhoben, begründet und in Verhandlungen mit den lokalen Schulbehörden und dem Bildungs-und Erziehungsministerium durchzusetzen versucht worden Die programmatischen Erklärungen und konkreten Forderungen, die von den Vertretern der „Solidarno", aber auch von Mitgliedern der früheren Lehrergewerkschaft vorgebracht worden sind, und ebenso das Verhalten der politischen Instanzen und der Schuladministration machten deutlich, wie stark einerseits die Eigendynamik der gesellschaftlichen Bewegung war und wie sehr andererseits eine grundlegende Änderung der bestehenden Strukturen im Schulwesen von politischen Veränderungen des gesamten Systems abhing.
Die „Autonomisierung" des Schulwesens insgesamt — durch eine landesweite „Gesellschaftliche Kommission" als Kontrollinstanz des Ministeriums — und die „unabhängige und autonome" einzelne Schule als Basis eines Selbstverwaltungssystems waren schon konzeptionell kaum vereinbar mit den Prinzipien des existierenden und ideologisch durch den IX. Parteitag der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP) im Juli 1981 bekräftigten einheitlichen und in allen wesentlichen Fragen zentral geleiteten Bildungssystems. Daß die politische Führung aber auch noch nach Verhängung des Kriegszustandes zumindest zu verbalen Zugeständnissen bereit war, zeigt die im Februar 1982 erlassene Instruktion für das Schuljahr 1982/83, in der ausdrücklich von der „Entwicklung der Auto-nomie aller Schulen und Erziehungsstätten sowie ihrer Pädagogischen Räte“ die Rede war — ein Nachhall der „SolidarnoSC“ -Forderungen. Das im Mai 1982 verabschiedete Hochschulgesetz hat in noch weit stärkerem Maße den Grundsatz der institutionellen Selbstverwaltung mit den sich daraus ergebenden partizipatorisch-demokratischen Folgerungen anerkannt. Das Schicksal dieses Gesetzes mit seinen Novellierungen vom Juli 1983 und Juli 1985, welche eine drastische Einschränkung der Hochschulautonomie bezweckten, zeigt andererseits, daß unter den wieder gefestigten Machtverhältnissen die Idee autonomer Institutionen gerade im Bildungsbereich als Quelle eines kritischen Potentials angesehen und daher bekämpft wird
Der Gedanke der pädagogischen Autonomie war in Polen Ausdruck des gesellschaftlichen und weltanschaulichen Pluralismus und auch mit Vorstellungen über die Weiterentwicklung des politischen Systems zu einem „sozialistischen Pluralismus" verbunden. Ihm wohnte demzufolge eine über den engeren Bereich der Schulen und Hochschulen hin-ausweisende Dynamik inne, er hatte den Charakter einer Protest-und Kampfparole. Es war vor allem diese politische Dimension, die ihm einerseits Resonanz, andererseits Ablehnung entgegenbrachte.
Wie schon angedeutet, finden sich wesentliche Elemente der „pädagogischen Autonomie", ihres unmittelbaren politischen Charakters entkleidet, auch in der Theorie der „Selbstregulierung" im Bildungswesen, die mit dazu beitragen soll, die „Organisationskultur“ d. h. die Qualität der Verwaltungsarbeit und der pädagogischen Tätigkeit in den Bildungsund Erziehungsinstitutionen, zu verbessern Man könnte von einer Pragmatisierung der ursprünglichen Idee sprechen, die damit auch für die politische Führung akzeptabel wird, da sie weitgehend auf rechtliche Garantien einer institutionalisierten Autonomie verzichtet und die „pädagogische Autonomie" in erster Linie mit dem mehr oder minder großen individuellen Spielraum des Lehrers in der Unterrichtstätigkeit gleichsetzt Deren Grenzen wiederum ergeben sich in erster Linie aus den Möglichkeiten informeller Sanktionen, besonders politischer Natur, mit denen die Schulverwaltung operieren kann. Wenn auch die 1982 erlassene neue „Charta des Lehrers" die arbeitsrechtliche Lage der Lehrer in Polen erheblich verbessert hat, so bleibt die politisch-ideologische Kontrolle nach wie vor bestehen und wirksam.
Auf dem Hintergrund der skizzierten polnischen Problematik könnte es nicht gerechtfertigt erscheinen, die schulkritischen Stimmen und die Forderungen nach Erweiterung der pädagogischen Selbstverantwortung aus der Sowjetunion ebenfalls mit dem Begriff der „pädagogischen Autonomie" in Zusammenhang zu bringen. Man kann es trotzdem tun, wenn man sich bewußt bleibt, daß — wie schon im Falle des „gesellschaftlichen Pluralismus“ — die historischen und gegenwärtigen Voraussetzungen in beiden Ländern verschieden und demzufolge auch die Erscheinungs-und Ausdrucksformen pädagogischer Autonomiebestrebungen anders sind.
Da seit der Etablierung der „kommunistischen Staatspädagogik" schon wenige Jahre nach der Oktoberrevolution die Forderung nach „pädagogischer Autonomie" von der offiziellen sowjetischen Pädagogik als reaktionär und klassenfeindlich abgestempelt wurde die Nähe zum ebenfalls abgelehnten Gedankengut der „freien Erziehung" erschwerend hinzukam und schließlich unter gegenwärtigen Bedingungen solche Ideen als „linke Abweichungen" heftig kritisiert werden, gibt es in der Sowjetunion keine explizite Forderung nach einer „pädagogischen Autonomie" mit den darin enthaltenen Elementen einer grundsätzlichen Kritik am bestehenden System. Es gibt aber ein breites „Unbehagen an der Schule", eine Vielzahl kritischer Einzel-stimmen und eine Reihe von Verbesserungsvorschlägen, die das „Schulklima", besonders das Lehrer-Schüler-Eltern-Verhältnis, aber auch das Verhältnis von Schule und „Obrigkeit“ betreffen Hierbei handelt es sich nicht nur um seit jeher bekannte Klagen über die „papierne Kreativität" der Schulverwaltung, die pädagogisch wenig hilfreiche Tätigkeit der Schulinspektoren oder die bürokratischen Leitungsmethoden des Schulleiters sondern es wurden auch prinzipiellere Fragen der Schulerziehung aufgeworfen, die dann auch den Verantwortungs-und Gestaltungsraum der Pädagogen und der einzelnen Schule betreffen. Die Publikationen des in den letzten Jahren breiten Leserkreisen bekannt gewordenen georgischen Psychologen und Schulleiters Amonaschwili, des Verfechters einer so von ihm genannten „humanen Schule", ebenso wie die Entwürfe für eine „Schule der Zukunft“ des 1983 verstorbenen russischen Pädagogen Kostjaschkin gehen allesamt von der Notwendigkeit einer größeren individuellen Eigenverantwortung der Lehrer, einer zu befördernden größeren Selbständigkeit der Schüler und einer Erweiterung kollektiver Gestaltungs-und Freiheitsrechte der Schule als Ganzes aus
Die Schulreformdirektiven von 1984 greifen davon nur die allgemeine Forderung nach verbesserten „Bedingungen für die schöpferische Arbeit der Direktoren der allgemeinbildenden Schulen und der Berufsschulen bei der Gestaltung des Bildungs-und Erziehungsprozesses" auf und enthalten das Versprechen, daß die Schulinspektoren künftig den Strom „verschiedener Meldungen, Berichte und Anfragen“ reduzieren würden, um nicht „die pädagogischen Kollektive von ihrer lebendigen und schöpferischen Arbeit in Unterricht und Erziehung abzuhalten“ Einen Schritt zur Stärkung der Verantwortung und größeren Selbständigkeit der untersten Verwaltungsebene könnte die angekündigte Erweiterung der Kompetenzen der Abteilungen für Volksbildung bei den Exekutivkomitees der Sowjets in den ländlichen Bezirken und den Städten sein (insgesamt ca. 6 000 mit etwa 40 000 hauptamtlichen Kräften). Ansonsten jedoch hat es nicht den Anschein, als ob im sowjetischen Schulwesen der Bereich der „Selbstregulierung“ gegenüber dem herrschenden der „Regulierung von oben“ in erheblichem Umfang erweitert werden soll, wie es den Vorstellungen reformfreudiger Kräfte entspräche? Es bliebe dann bei einer „nicht offiziellen pädagogischen Autonomie" die im wesentlichen in der Interaktion zwischen Lehrern und Schülern stattfinden kann, aber auch dort von den restriktiven Bedingungen der gesamten inneren Schulverfassung nicht frei bleibt.
IV. Schlußbetrachtung
Abschließend sei noch einmal auf die Bedeutung der unter den Leitgedanken der politischen Steuerung, des gesellschaftlichen Pluralismus und der pädagogischen Autonomie stehenden Überlegungen für eine historisch-vergleichende Betrachtung der sozialistischen Bildungs-und Erziehungssysteme im ganzen hingewiesen. Sie besteht in zweierlei Hinsicht: Einmal kann damit stärker als bei Analysen der Strukturen des Bildungswesens, die zu statischen Deskriptionen neigen, der Wandel in Zielorientierungen, realen gesellschaftlichen Bedingungen und pädagogischen Prozessen betont werden; neben bestimmten Konstanten, die durch ideologische Prinzipien wie politisch-bürokratische Machtstrukturen festgelegt sind und daher relativ starr er-scheinen, geraten dabei vor allem jene Kräfte ins Blickfeld, die von außen und im Bildungswesen selbst wirken und die eine gewisse Eigendynamik entfalten können. Zum anderen zeigt ein Vergleich zwischen den sozialistischen Staaten selbst, daß zwischen zentraler Steuerung, „Selbstregulierung" und Selbstverwaltung in Theorie und Praxis ein breites Spektrum besteht, so daß von einem Grund-modell sozialistischer Lenkung, Planung und Verwaltung im Bildungsbereich nur in einem sehr allgemeinen Sinne gesprochen werden kann. Die Anfang der siebziger Jahre vor allem von Theoretikern der Vergleichenden Pädagogik in der DDR und der UdSSR unternommenen Versuche, das Modell eines sozialistischen Bildungssystems zu entwerfen, sind mehr oder weniger in der normativen Aufzäh-lung von „Wesensmerkmalen“ steckengeblieben und haben zu keinen Vergleichsstudien größeren Stils geführt Es bleibt daher eine wichtige Aufgabe der Vergleichenden Bil-dungsforschung, auf der Grundlage empirisch orientierter Einzelstudien auch zu einer vertieften theoretischen Analyse gegenwärtiger sozialistischer Gesellschaften und ihres Bildungs-und Erziehungswesens beizutragen