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Ende des grünen Zeitalters? | APuZ 45/1985 | bpb.de

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APuZ 45/1985 Die grüne Welle Ende des grünen Zeitalters?

Ende des grünen Zeitalters?

Marie-Luise Weinberger

/ 24 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Grünen in der Bundesrepublik sind das Ergebnis der Institutionalisierung und teilweisen Parlamentarisierung der neuen sozialen Bewegungen der siebziger Jahre: Frauenbewegung, Umwelt-und Anti-AKW-Bewegung, Selbsthilfe-und Alternativbewegung sowie nicht zuletzt der Friedensbewegung. Als industriekritische und antimodernistische Partei formulierten die Grünen radikale Anti-Thesen zur bestehenden ökonomischen und gesellschaftlichen Ordnung. Innerhalb der grünen Partei haben sich fünf Strömungen herausgebildet: — Die traditionell links orientierten Okosozialisten, bei denen nach wie vor marxistischer Antirevisionismus dominiert und die sich in grundsätzlicher Systemopposition zur herrschenden bundesrepublikanischen Ordnung befinden; — die Radikalökologen, die sich durch Kompromißlosigkeit, Apokalypsebeschwörungen, moralischen Rigorismus auszeichnen und aus dem Industriesystem aussteigen wollen; — die ökolibertären, die für eine Öffnung der Grünen hin zu konservativen Wähler-schichten plädieren; — die Realpolitiker, die für parlamentarische Bündnisse und für eine radikaldemokratisch-ökologisch orientierte Reformpolitik eintreten; — die Frauen, die die zerstrittenen (Männer-) Flügel durch eine „Hausfrauisierung von Politik" befrieden sollen. Die Wähler im Saarland, in Nordrhein-Westfalen und in Berlin haben den Grünen gezeigt, daß mit fundamentalistischen Verweigerungskonzepten kein Staat im Staate Bundesrepublik zu machen ist. Die Grünen stehen am Scheideweg: Wird aus der Bewegungsund Protestpartei eine Parlamentspartei? Hierzu bedarf es der Entwicklung einer politik-und regierungsfähigen Programmatik Wollen die Grünen ihre Zukunft nicht schon hinter sich haben, müssen sie ihr bisheriges Politik-und Organisationsverständnis in entscheidenden Punkten revidieren.

„Politische Utopie muß im Prozeß der Verwirklichung immer den Ort der herrschenden gesellschaftlichen Wirklichkeit suchen." Wolf-Dieter Narr

I. Einleitung

Ihr Aufstieg war kometenhaft: Mühelos nahmen die Grünen eine Wahlhürde nach der anderen. Und dies, obwohl sie gegen alles waren: gegen Wachstum, gegen Atomkraft, gegen die Industriegesellschaft. Es schien, als ob sich immer mehr Bundesbürger der Zivilisationskritik der jungen Protestpartei unkritisch anschließen wollten. Alle machten mit: APO-Opas, frustrierte Hausfrauen, kniebundbehoste, heimatliebende Naturfreunde, lila Feministinnen, studentische Spontis, Missionare der neuen Innerlichkeit, ehemalige K-Gruppen-Mitglieder mit Weltrevolutionsvisionen, biedere Bauern, Jugendliche und SPD-Aussteiger. So bunt wie dieses Erscheinungsbild ist auch die inhaltliche Ordnung; einig ist man sich nur über die Grundwerte: öko-logisch, basisdemokratisch, gewaltfrei und sozial. Doch der Reiz des Neuen ist dahin. Die Wähler in Nordrhein-Westfalen und im Saarland haben den Grünen verdeutlicht, daß mit fundamentalistischen Überlebensforderungen kein Staat im Staate Bundesrepublik zu machen ist. Die Grünen stehen am Scheideweg. Wird aus der grünen Protest-und Bewegungspartei eine Parlaments-und Programm-partei? Können die Grünen die Anliegen der neuen sozialen Bewegungen realpolitisch durchsetzen, auch unter dem Zwang zu Kompromissen? Schaffen die Grünen die Reform ihrer eigenen Radikalität — die beschwerliche Reise von der Utopie zur Wirklichkeit?

II. Die Grünen — Ausdruck einer gesellschaftlichen Krisensituation oder Indikator eines epochalen Wandels?

Die Grünen sind das Ergebnis der Institutionalisierung und Parlamentarisierung der außerparlamentarisch agierenden neuen sozialen Bewegungen (NSB) der späten siebziger und frühen achtziger Jahre: Bürgerinitiativbewegung, Umwelt-und Anti-AKW-Bewegung, Frauenbewegung, Selbsthilfe-und Alternativ-bewegung und die Friedensbewegung. Diese Bewegungen richteten sich aus soziologischer Sicht eher defensiv gegen die „Kolonialisierung der Lebenswelt" (Habermas) und gegen die vorherrschende ökonomische und bürokratische Rationalität Als weitere Gründe für das Entstehen der Grünen und der neuen sozialen Bewegungen werden in der sozialwissenschaftlichen Literatur angeführt u. a.: — Wertwandel und Paradigmenwechsel (Inglehart, Hildebrandt/Dalton, Raschke) — Durchbruch der hedonistischen Ethik (Bell)

— Kulturkreise des Westens (Löwenthal)

— wohlfahrtsstaatliche Anspruchsdynamik (Klages) Aber auch der Hegemonie-und Innovationsverlust des sozialliberalen Regierungsprojektes führte dazu, daß sich die Grünen als vierte Partei im bundesdeutschen Parteiensystem etablieren konnten. Gegen den industriegesellschaftlich-sozialstaatlichen Legitimismus der Sozialdemokratie bildeten sich zwei gesellschaftliche Gegenentwürfe heraus: der wachstumsgläubige Neokonservatismus und das wachstumskritische grüne Politikmodell Der Neokonservatismus ist industrie-gesellschaftlich orientiert, aber anti-sozialstaatlich eingestellt. Er setzt bewußt auf die „am Produktionsprozeß unmittelbar beteiligten Schichten, die ein Interesse daran haben, das kapitalistische Wachstum als Grundlage des sozialstaatlichen Kompromisses zu verteidigen" und nimmt billigend die Spaltung der Gesellschaft in Erwerbstätige und Nicht-Erwerbstätige in Kauf.

Der grüne Politikentwurf dagegen setzt auf die „bunt zusammengewürfelte Peripherie auf der anderen Seite“ auf die „antiproduktivistische Allianz: (Haus-) Frauen und Arbeitslose, Alte, Schüler und Studenten, Homosexuelle und Behinderte, Ausländer und Angehörige des alternativ-kulturellen Milieus. Zu ihnen gesellen sich die Angehörigen der neuen Mittelschichten der Sozial-und Dienstleistungsberufe: die „Therapeutokratie“ mit ihrer „white-collar-Radikalität". „Der ausgeprägte Schwerpunkt der Grünen im Bereich der Nicht-Erwerbstätigen und der Sozialberufe deutet darauf hin, daß eine in der Alltagserfahrung und im Werthorizont vom produktivistischen Leistungskern der Industriegesellschaft deutlich abgegrenzte Trägerschaft für eine eigenständige politische Formation bereitsteht. Mit etwas Mut zur überspitzten Formulierung könnte man diese von den verdinglichten Sachzwängen einer technisierten und bürokratisierten Arbeitswelt freigesetzten Bevölkerungsgruppen — in Anlehnung an die Handlungstypen bei Habermas — die . kommunikative Klasse'nennen. Ebenso wie das kollektiv-instrumentelle Handeln in der Fabrikwelt die egalitär-solidarischen Wert-muster der Arbeiterbewegung präformierte, finden die Strukturprinzipien der alternativen Politik ihre Grundlage in der sozialen Lebens-welt dieser post-industriellen Schichten: Die Praxis der Versammlungsdemokratie ist nur bei einer vergleichsweise freien Zeiteinteilung der Mitgliedschaft längerfristig funktionsfähig; die beruflichen Tätigkeitsbereiche dieser Aktivistengruppen zeichnen sich zumeist durch relativ überschaubare Dimensionen aus, so daß zwanglose Verständigung (Konsensprinzip) anstelle formalisierter Hierarchien möglich erscheint; in der persönlichen Wertskala sind immaterielle Ziele wie Selbstverwirklichung, Unabhängigkeit und Lebensgenuß vor dem als entfremdet geltenden Streben nach Geld, Macht und Prestige angesiedelt."

Das neue Weltbild, das von den Anhängern der Grünen entwickelt wird, läßt sich wie folgt umreißen: — Antimodernismus: Ablehnung der wachstumsorientierten Konsum-und Wegwerfgesellschaft und des technischen Fortschritts als Motor industrieller Entwicklung. Die linke Kapitalismuskritik wird durch eine Kritik des Lebensstils der silent majority ergänzt. — Anti-Nuklearismus und Pazifismus: Prinzipieller Widerstand gegen die militärische und zivile Nutzung der Kernenergie. Plädoyer für grundsätzliche Gewaltfreiheit. — Dezentralisierung -und Basisdemokratie: Grundsätzlicher Vorrang der kleinen Einheit und Selbstbestimmung für jeden.

— „Betroffenheitskultur": Bekenntnis zur Emotion und zum subjektiven Handeln und der Versuch, untereinander gewaltfreie, demokratische und solidarische Umgangsformen zu praktizieren

Im Sinne dieser Analyse sind die Grünen nicht nur Ausdruck einer gesellschaftlichen Krisensituation, sondern möglicherweise Indikator eines epochalen gesellschaftlichen Umbruchs. Doch grau ist alle Theorie — wenden wir uns der Praxis der Grünen zu. Hier haben sich vier wichtige Strömungen herausgebildet: Die roten und radikalökologischen Fundamentalisten, die konsequent aus dem herrschenden System aussteigen wollen; die Realpolitiker, die unsere Industriegesellschaft reformieren wollen; die ökolibertären, die auf konservative Wählerschichten zielen; und schließlich die Frauen, die zum axialen Faktor der grünen Partei werden sollen, um damit die politische Integration der auseinander-strebenden Strömungen zu gewährleisten.

III. Innerparteiliche Strömungen bei den Grünen

1. Die Fundamentalisten oder: Traditionalisierung und Theologisierung von Politik Zu dieser Strömung innerhalb der grünen Partei zählen die Ökosozialisten und Radikalökologen. Die marxistisch-dogmatischen Ökosozialisten befinden sich in grundsätzlicher Systemopposition zu Kapital und bürgerlichem Staat — das alte Rot in neuem, schicken, grünen Gewand. Bei ihnen nach vor dominieren wie marxistischer Antirevisionismus, die Kritik Rosa Luxemburgs am Reformismus sowie die eindimensionale Betonung der Eigentums-frage und des Klassenkampfes Die Grünen müssen den Ökosozialisten zufolge eine „Systemüberwindungsstrategie“ entwickeln, die die Bedürfnisse unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen — seien es Tierschützer, Landwirte oder Stahlarbeiter — gegen die Interessen des Kapitals formuliert und durchsetzt. Die wirtschaftspolitischen Vorstellungen dieser Gruppierung: „Die Abschaffung der Atommeiler, umfassende industrielle Entgiftungsprogramme und Stillegungen in der chemischen Industrie und bei industriellen wie auch privaten Verbrennungsprozessen, Entgiftung der Böden und Gewässer, Einleitungsverbote und Verhinderung neuer Techniken in der Betriebssphäre wie der Einsatz der neuen Medien und der Genmanipulation, Abkehr von der heutigen Agrarindustrie, Aufbau von Landschaftsschutz und regional angepaßten Techniken statt großflächiger Betonierungen, Aufbau regionaler Wohn-und Wirtschaftsstrukturen statt mitunter unerträglicher Industrieansiedlungen.'

Neben dem Plädoyer für eine dezentrale Produktion tritt man für einen Abbau des Export-staates Bundesrepublik ein (gleichzeitig aber der soll Wohlfahrtsstaat Bundesrepublik ausgebaut werden) und spricht sich z. B. für ein garantiertes Mindesteinkommen für jeden und — ganz hedonistisch — für Arbeit nach Lust und Laune aus. Gesteuert und geplant wird in einer solchen grünen Wirtschaftsordnung a) individualistisch von den Betroffenen selbst und b) korporatistisch durch Branchen-räte, Wirtschafts-, Sozial-und Umwelträte. Am Beispiel des vergesellschafteten Stahlbereichs läßt sich die Widersprüchlichkeit einer solchen grünen Wirtschaftspolitik zeigen: Auf der einen Seite sollen die überzähligen (weil unrentablen) Kapazitäten weiterbestehen, gleichzeitig soll aber ein umfassendes Humanisierungsprogramm (35-Stunden-Woche, Verzicht auf Schichtarbeit und Frühverrentung) eingeleitet werden Die einfache Frage, wer das bezahlen soll, wird wohlweislich nicht beantwortet. Bei den Vergesellschaftungsmissionaren und Technologiekassandras dominiert als Politiker-Typus der ehemalige studentische K-Gruppen-Funktionär, der seit den siebziger Jahren eifrig bemüht ist, die deutsche Arbeiterschaft endlich zur Revolution zu bewegen. Die Schubkraft der Systemveränderung geht in diesem Politikmodell von den neuen sozialen Bewegungen aus, die außerparlamentarisch agieren. Der Frauenbewegung, der Umwelt-und der Anti-AKW-Bewegung sowie der Friedensbewegung steht in Zukunft noch großes bevor: Sie sollen nun auch noch „zum einzigen relevanten Träger des proletarischen Klassenkampfes" werden

Den Radikalökologen geht es nicht so sehr um marxistische Kategorien, sondern vielmehr um ein „Lebensrecht“ für die Natur und „ökologische Gerechtigkeit“: „Ohne ökologische Gerechtigkeit kann es keine soziale Gerechtigkeit geben ... Analog dem menschlichen Grundrecht auf Leben ist der Natur und ihren vielfältigen Lebewesen ein Rechtsstatus einzuräumen. Dieser bestimmt in Konfliktfällen die Abwägung der beiderseitig legitimen Interessenansprüche.“

Kompromißlosigkeit, Fünf-vor-zwölf-Denken, moralischer Rigorismus und Verbotspolitik kennzeichnet das Politikverständnis der fundamentalistischen Ökologen. Und: Alle Hoffnung wird darauf verwendet, daß die Menschen — angespornt durch dauerhaftes Missionieren — innerlich und real aus dem Industriesystem aussteigen und ökologisch bewußt in kleinen, selbstverwalteten Einheiten leben und arbeiten. Nur so, und nicht durch Schielen nach Mehrheiten, findet man den letzten rettenden Ausweg aus der Katastrophe. Auch in friedens-und sicherheitspolitischen Fragen gebärdet man sich radikal: Sofortiger Austritt aus der NATO sowie rigorose Entmilitarisierung und ein Bruch der herrschenden Blocklogik sind angesagt; statt dessen wird soziale Verteidigung bzw. prinzipielle Gewaltlosigkeit gefordert. In wirtschafts-und sozialpolitischen Fragen ist man weitgehend konzeptionslos. Auch hier reduzieren sich die Vorstellungen auf einen naiven und hilflosen Fundamentalismus: „Die Grünen waren immer da stark, wo sie den Preis an Natur, Landschaft, Umweltqualität, Menschenschicksalen, Ressourcenvergeudung, Zukunftslasten für diese Politik benannt haben.“

Kurzum: Hier wird eine Theologisierung von Politik betrieben, die sich (wie auch bei den roten Traditionalisten) nicht ernsthaft auf politische Realitäten einläßt oder gar den Versuch unternimmt, alternative und durchsetzbare Politikkonzepte zu entwickeln. So dominieren bei den Fundamentalisten dieser Couleur auch die „guten Hirten“, die „radikalen Frömmler“ und die „alternativ Unschuldigen mit manichäischer Weltauffassung", deren utopische Alternativen oftmals fatal-totalitäre Züge tragen

Den Aufstieg dieser naiven Idealisten und deren Unschuldsrhetorik kommentiert der französische Soziologe Pierre Bourdieu: „Es ist das neue akademische Kleinbürgertum, das mit Wertvorstellungen bricht, die, von einer westeuropäischen politischen Tradition entwikkelt, noch immer im Westen herrschen" Anstatt den Diskurs der Aufklärung und der Moderne weiterzuentwickeln, will man unsere Gesellschaft in einen alle selig machenden Lindenhof verwandeln, in dem statt Interessenausgleich Moral und Tugend höchste Priorität darstellen und in dem sich alle in Bezugsgruppen friedlich die Hände reichen. „Was bei den Grünen Fundamentalismus genannt wird, ist, mehr als alles andere, eine Instrumentalisierung der Politik für die Zwecke der Ich-Findung, ein sich politisch gebender Ästhetizismus, der auf der Vorstellung beruht, die Welt, dieses ökologische Jammertal, sei letztlich nichts anderes als Anlaß, Gleichnis, Material für die Suche nach der eigenen Identität." 2. Die Frauen oder:

Hausfrauisierung von Politik Vertreterinnen) dieser Strömung fallen weniger durch inhaltliche Divergenzen auf, denn durch die positive Bewertung einer Eigenschaft: die der Weiblichkeit. Warm, unentfremdet, persönlich, wahrhaftig, unverstellt soll es bekanntlich in der „Betroffenenkultur" der neuen sozialen Bewegungen zugehen. Die friedfertige Frau kann dies allemal besser als der männliche Chauvinist. Ganz im Sinne der derzeit modischen Theorien von Frauen als Überlebensträgerinnen sollen die grünen Frauen eine wichtige Vermittlerrolle zwischen den realpolitischen, fundamentalistischen und ökolibertären Streithähnen spielen.

In praxi ist dieser Ansatz bei der Bundestagsfraktion im Rahmen des einjährigen Feminats erprobt worden — und eine neue Form der politischen Arbeitsteilung ist getestet worden: Die Frauen verbesserten mit sozialarbeiterischem Engagement und entsprechendem Ambiente das „Betriebsklima“ (genau wie die Hausfrau in der Familie) und hielten damit die Fraktionsmaschine still und leise in Gang. Obwohl die sechsköpfige Frauschaft nicht mit dem Anspruch angetreten ist, als „Obermutter" der Fraktion zu agieren, sind sie genau in diese Rolle gedrängt worden. Sich anbahnende Konflikte wurden im Vorfeld geglättet; es wurde ausgeglichen. Statt Intrigantentum wollten die grünen Frauen Ehrlichkeit und Offenheit erproben; anstatt Ellenbogen zu benutzen, setzten sie auf Kooperation und Gruppendynamik. Statt Härte zeigten sie Verbindlichkeit. Die machiavellistischen Oberstrategien dagegen bestimmten öffentlichkeitswirksam die grünen Inhalte, stellten im Plenum des Bundestages ihr rhetorisches und schauspielerisches Talent vor „Mir hingegen ist es nicht ganz wohl bei der Vorstellung, daß Frauen heutzutage nicht mehr nur ihr eigenes Wohnzimmer schön gemütlich halten, sondern plötzlich die ganze Welt dazu machen sollen. Statt, daß die emotionalen Leistungen im privaten Bereich neu verteilt werden, dehnen sie sich aus: Die Aufhebung des Unterschieds zwischen Öffentlichkeit und unmittelbarem Lebensbereich, die „Hausfrauisierung’ von Politik sozusagen, erhöht lediglich die Mehrfachbelastung der Frauen ins Grandiose."

Doch diese Hausfrauisierung und Emotionalisierung von Politik wollen die grünen Frauen nicht länger hinnehmen. Nach einem knappen Jahr Feminat sind sie härter geworden, strenger, autoritärer; sie haben gelernt, daß Nicht-ausüben-Wollen von Macht zum Minderheitenlobbyismus führt; sie haben erfahren müssen, daß es der Konfrontation und Kontroverse bedarf, um sich durchzusetzen. Anders herum: frau muß auch primär . männliche'Eigenschaften einüben, wenn sie politisch zur Geltung kommen will. Trotz alledem: Der weibliche Fraktionsvorstand hat sich für die Grünen in jedem Fall gelohnt. Neben dem Umweltthema wird den Grünen in punkto Gleichberechtigung der Frauen die höchste Glaubwürdigkeit eingeräumt. Gerade die jungen Frauen zwischen 15 und 30 sympathisieren mit dem Politikverständnis und den Aktionsformen der grünen Partei. „Hier entsteht ein weibliches Politisierungspotential — fernab von den traditionellen Parteien —, das in den kommenden Jahren für die politische Kultur in der Bundesrepublik eine bedeutsame Rolle spielen wird", heißt es in einer Untersuchung des Sinus-Instituts für das Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit. Vielleicht bildet sich hier sogar eine neue „weibliche Mehrheit, die allerdings dann keine schweigende sein wird"

Diese Prognose läßt sich empirisch mit einem politischen Bewußtseinswandel untermauern. Orientierten sich früher Frauen traditionell politisch eher konservativ, ist heute gerade das Gegenteil der Fall: 54, 1% der jungen Frauen zwischen 15 und 30 plädieren für eine rot-grüne Mehrheit auf Bundesebene. Bei den 25-bis 35jährigen sind dies immerhin noch 50, 5% Aufgrund dieser Ergebnisse stellen Frauen einen zentralen Faktor für die Zukunft der Grünen dar. Das haben auch die Parteistrategen erkannt: Sie plädieren für die Bildung einer grünen Mitte, die als Bindeglied zwischen den verfeindeten männlichen Lagern fungieren und die aktiv von Frauen getragen werden soll 3. Die Okolibertären oder:

Verbürgerlichung von Politik Die ökolibertären repräsentieren den verbliebenen bürgerlichen Flügel innerhalb der grünen Partei. Inhaltlich stehen sie für einen liberalen Humanismus, der an republikanisch-freiheitlichen Traditionen anknüpft. Obwohl anarchistische Traditionen in ihren Reihen keine Rolle spielen, nennen sie sich libertär. Die Kritik der ökolibertären, bei denen Angehörige der klassischen bürgerlichen Mittelschichten und ältere Bürger deutlich überrepräsentiert sind, gilt vor allem sozialistischen Veränderungsvorstellungen: „Das sozialistische Projekt kann gar nicht anders, als auf weitere Beschleunigung des Fortschritts zu setzen." Und: „In diesem Sinne ist die viel-besungene Verbindung von Ökologie und Sozialismus in der Tat gefährlich. Denn in ihr täten sich zwei autoritäre Strömungen zusammen: der biologische ökologismus und der gute alte erziehungsdiktatorische Jacobinismus der Sozialisten." Eine weitere Feststellung: „Zwar gibt es die soziale Frage wirklich, sie ist heute aber ein Folgeproblem des Industrialismus, mithin auch ein Problem zweiter Ordnung." Bei mehr als zwei Millionen offiziell registrierten Arbeitslosen (plus „Stiller Reserve"), der Marginalisierung von bedeutenden Teilen der Bevölkerung sowie angesichts der Streichung im Sozialbereich ist das eine zynische Feststellung.

In ökolibertären Stellungnahmen finden sich häufig — ähnlich wie in konservativ-liberalen Veröffentlichungen — Polemiken gegen die Gewerkschaften, gegen den bürokratisch-etatistischen Sozialstaat und gegen gesellschaftliche Neuerungen via staatlichen Bürokratien. Der sozialökologische Umbau der Gesellschaft soll mit marktwirtschaftlichen Mitteln und Mechanismen erfolgen. Deshalb ist es nicht verwunderlich, wenn sich einige prominente ökolibertäre für schwarz-grüne Koalitionen aussprechen

Die inhaltlichen Orientierungen der ökolibertären beruhen auf einer Einschätzung des grünen Wählerpotentials: „Zwar ist die grüne Partei auf organisatorischer Ebene noch ziemlieh fest in den Händen von Kadern mit marxistisch-leninistischer Geschichte — ihre Klientel gehört aber zu einem großen Teil eindeutig dem neuen Mittelstand an ... Die fundamentaloppositionelle Partei wurde also nicht zuletzt durch das gehobene neue Bürgertum, dem der um konkrete Erfolge eher unbesorgte Radikalismus der szenischen Linken fremd ist, ins Parlament gehievt." 4. Die Realpolitiker oder:

Säkularisierte Bewegungsaktivisten Für die Vertreter der realpolitischen Richtung heißt die Entwicklungsperspektive der Grünen: Parlamentarisierung, Bündnis, Kompromiß. Nach ihrer Einsicht kann man nicht ungestraft Wahlen gewinnen und dann so tun, als ob nichts wäre. Die neuen sozialen Bewegungen sind durch die Grünen ins parlamentarische System integriert worden. Nun muß konsequenterweise der nächste Schritt folgen: Institutionalisierung und Professionalisierung. Die Erkenntnis dieser Notwendigkeit führt zwangsläufig auch zu Konsequenzen in organisationspolitischer Hinsicht: Das basisdemokratische Politikmodell muß reformiert werden. Inhaltlich geht es den Realpolitikern um einen sozialreformerischen Weg in Richtung auf eine ökologische und radikaldemokratische Gesellschaftsordnung.

Teile der Realos kritisieren das marxologisehe „Klippschulniveau" der dogmatisch-roten Fundamentalisten ebenso wie den Geist von Bethel, der über den radikalökologischen Weltverbesserern schwebt. Nicht Hort des Protestes und Tummelplatz für rückwärtsgewandte Ideologen und Linienpolizisten (und deren Drang zu einer Aktivistendiktatur) sollen die Grünen künftig sein, sondern Hoffnungsträger als alternative Volkspartei, die 10% der Bevölkerung anspricht. Handlungstyp bei den Realpolitikern ist der säkularisierte Bewegungsaktivist, der sich vom Sponti zum Oberstrategen gemausert hat. Realpolitiker sind aber auch die grünen Abgeordneten in den allermeisten Kommunal-und Landesparlamenten sowie im Bundestag. Der Grund: Sie bekommen (die bislang immer verhaßten und geleugneten) Sachzwänge schnell zu spüren, wenn sie grüne Forderungen in konkrete exekutive Anweisungen umsetzen sollen. So ist im Rechenschaftsbericht der Bundestagsfraktion zu lesen, daß die viel-beschworenen Aktivitäten der Basis nicht auf das schlüpfrige Bonner Parkett übertragen werden können. Ein Beispiel dazu: „Draußen heißt es Austritt aus der NATO und Auflösung der Bundeswehr: drinnen wird in zäher Kleinarbeit um die Verringerung des Rüstungsetats gekämpft. Die parlamentarischen Brötchen müssen notgedrungen kleiner gebacken werden im Vergleich zu den Programmgrundsätzen."

Im Bundestag gelten die Grünen als bienen-fleißige und emsige Fraktion: Über 33 große Anfragen, 568 kleine Anfragen und 193 Anträge haben die Grünen bis September 1985 im Bundestag gestellt. Aber nur in einem Punkt haben sich die Grünen in der bisherigen Bundestagsarbeit mit einem Antrag durchsetzen können: Sie haben einen Import-stopp für Meeresschildkröten erreicht.

Den Grünen weht der Wind jetzt härter ins Gesicht als früher, da die anderen Parteien beginnen, grüne Themen aufzunehmen und in ihre parlamentarische Arbeit und politische Programmatik zu integrieren. So lehnte z. B. die CDU/CSU-Fraktion im Innenausschuß des Deutschen Bundestages zwar den grünen Entwurf für ein Waschmittelgesetz zunächst ab, aber nur um kurz darauf einen zu zwei Dritteln vom grünen Papier abgeschriebenen eigenen Entwurf zu präsentieren. Das gleiche Verfahren wurde bei den Gesetzesinitiativen zum Abwasserabgabengesetz, der Bodenschutznovelle und bei Frauenthemen angewandt

IV. Der Wähler: Fundamentalismus — nein danke!

Bei den diesjährigen Landtagswahlen im Saarland, in Nordrhein-Westfalen, bei den Abgeordnetenhauswahlen in Berlin und bei den hessischen Kommunalwahlen sind die unterschiedlichen inhaltlichen Konzepte und Strategievorstellungen innerhalb der grünen Partei auf dem „Wählermarkt" zur Abstimmung gestellt worden. Fundamentalistische Cocktails mit Zugaben wurden im Saarland, in Berlin und in Nordrhein-Westfalen gemixt. In Berlin präsentierte sich die Alternative Liste als eine Zeigefingersekte, die rigorose Verbotspolitik (autofreie Stadt, Abzug der alliierten Truppen) betrieb. Im traditionell konservativen Saarland wollten die Grünen nach dem Koalitionsangebot von Oskar Lafontaine erst gar nicht in den Landtag. Die Erkenntnis lautete: „Nur mit außerparlamentarischem Druck könne man etwas nicht mit ändern und zwei Alibiministern.'' Die Grünen mystifizierten die Bewegung und starrten gleichzeitig wie das Kaninchen auf den rot-grünen Oskar Lafontaine. Das realpolitische Ergebnis der Verweigerungsstrategie: Die Grünen mußten sich mit 2, 4 Prozentpunkten begnügen. In Nordrhein-Westfalen hatten innerparteiliche Minderheiten wie Päderasten und dogmatische Okosozialisten das Sagen. Ihre Handschrift prägte das 650seitige Wahlprogramm, das u. a an die SPD gerichtete „Überlebensforderungen" präsentierte: Ausstieg aus der Kernenergie, mittelfristiger Abschied von der Braunkohle, Verzicht auf neue Technologien, Programme zur Entgiftung der Industrie und zum Abbau der Massenarbeitslosigkeit bei gleichzeitiger Abkehr von der Export-orientierung der Wirtschaft

Sowohl im Saarland als auch in Nordrhein-Westfalen war es für die SPD die sehr leicht, Grünen unter die Fünf-Prozent-Hürde zu drücken, weil sich die Grünen hier a) in desolatem personellen und organisatorischen Zustand präsentierten und sich b) im Vorfeld nicht mit parlamentarischer Arbeit profilieren konnten. In Hessen ist vom Wähler das rot-grüne Bündnis bestätigt worden. Das Beispiel dort zeigt: „Wo grüne Bündnisse auch nur den Schimmer einer Realisierungschance haben, kann das von den Wählern offensiv unterstützt werden 1' .

Mitarbeiter der Konrad-Adenauer-Stiftung kommen in einer Studie zu folgenden Ergeb-nissen Das Auf und Ab der Grünen ist abhängig vom Zustand der Sozialdemokratie. Bei einer personell und/oder inhaltlich sich selbstbewußt präsentierenden Sozialdemokratie haben die Grünen wenig Chancen, die Fünf-Prozent-Hürde zu überwinden. Trotzdem rechnen die Forscher der Adenauer-Stiftung mit einer parlamentarischen Präsenz der Grünen bis zum Ende dieses Jahrzehnts (allerdings nur, wenn sich die Grünen „links" neben der SPD etablieren). Der Grund für diese Annahme: In sechs Bundesländern (Hamburg, Niedersachsen, Bremen, Hessen, Baden-Württemberg, Berlin) und bei den Kommunalwahlen haben die Grünen ihren Zenit zwar überschritten, sich aber gleichzeitig auf niedrigerem Niveau konsolidieren können.

Als Gründe für das Ende des grünen Wachstums werden in der Literatur u. a. angeführt: — Der Wertwandelschub, der wesentlich zum Entstehen der Grünen beigetragen hat, ist zumindest vorläufig gestoppt. Bei den Erst-wählern dominieren wieder traditionelle materielle Werte

— Die Grünen haben in ihren großstädtischen Hochburgen stagniert und konnten keine neuen • Wählerschichten gewinnen. Durch die fundamentalistische Orientierung sind zudem die wahlentscheidenden grünen Wechselwähler abgeschreckt worden

— Die Grünen haben ihren eigenen Sympathiewert weit überschätzt: Sowohl der „Poussierlichkeitsbonus“ ist dezimiert, als auch der Kurswert der Protestthemen der späten siebziger und achtziger Jahre — Atomenergie, Umwelt, Nachrüstung — gesunken (oder aber von den anderen Parteien programmatisch aufgenommen worden, wie das Beispiel des SPD-Programms . Arbeit und Umwelt“ zeigt

V. Die grüne Revisionismusdebatte

Gebot der Stunde für die grüne Partei ist die Formulierung einer regierungs-und politikfähigen Programmatik. Der Okolibertäre Thomas Schmid kommt zu dem Schluß: „Die Grünen sind weiterhin erwünscht... als Leute, die intelligente Vorschläge mittlerer Reichweite zur Abrüstung der Industriegesellschaft zu machen haben.“ Setzt sich diese Er-kenntnis mehrheitlich durch, müssen die Grünen ihr bisheriges Politik-und Organisationsverständnis in drei entscheidenden Punkten revidieren:

1. Klares Bekenntnis zum Reformismus und zu parlamentarischen Bündnissen;

2. Entwicklung von mehrheitsfähigen alternativenPolitikkonzepten;

3. Reform des basisdemokratischen Organisationsmodells. 1. Reformismus und parlamentarische Bündnisse -Wollen die Grünen längerfristig die politische Landschaft in der Bundesrepublik mitgestalten, gibt es für sie keine Alternative zum Reformismus. Entscheiden sie sich endgültig für den gesinnungstüchtigen und prinzipien-festen Antireformismus mit seinem teilweise pädagogisierenden, teilweise idealistischen Voluntarismus, haben sie ihre Zukunft bereits hinter sich.

Die Frage Reformismus ja oder nein innerhalb der grünen Diskussion ist eng verbunden mit der Frage nach parlamentarischen Bündnissen — insbesondere mit der SPD. Für die roten Fundamentalisten geht nichts mit der SPD (sie lassen sich zwar — wie in Hamburg — auf Verhandlungen mit der SPD ein, aber nur mit dem Ziel, die SPD in altlinker Manier zu entlarven). Die ökologischen Fundamentalisten beschimpfen in pubertärer Haßliebe die alte Mutter SPD und wollen nichts mit ihr zu tun haben. Doch es gibt Lernprozesse — die normative Kraft des Faktischen beginnt zu wirken. Während die Fundamentalisten auf dem Hamburger Parteitag die Grünen auf Totalverweigerungskurs bringen wollten, hat man sich auf dem Hagener Parteitag (nach den verheerenden Wahlniederlagen) anders entschlossen: Von grundsätzlicher Opposition bis hin zu rot-grünen Bündnissen ist nun alles möglich

Die Premiere einer rot-grünen Koalition soll jetzt in Hessen erprobt werden. Neben dem Umwelt-und Energieministerium erhalten die Grünen eine Staatssekretärin für Frauen-fragen. Ihre ursprüngliche Forderung nach einem Frauenministerium konnten die Grünen gegenüber den Sozialdemokraten nicht durchsetzen Diese Forderung hätte sich zum „Knackepunkt" der Koalitionsverhandlungen entwickeln können, hätten die Grünen zwecks Erhaltung ihrer Identität auf dem Ressort bestanden. Doch die Grünen haben — und dies zeigten auch die Koalitionsverhandlungen — Lernprozesse gemacht: Sie verwechselten hier Politik nicht mehr mit Identitätssuche. Klassisches Beispiel für einen solchen Fall war der Scheidungskonflikt um die Hanauer Atomfabriken Nukem/Alkem. „Wer in diesem Sinne die Realisierung des eigenen Gesellschaftsentwurfes zur Voraussetzung von Tagespolitik'macht, verzichtet von vornherein auf die Veränderung der kritisierten Zustände. Dann ist der Punkt erreicht, an dem das Streben nach Stabilisierung einer gemeinsamen Identität die Durchsetzung gemeinsamer Interessen unmöglich macht. Denn Interessen durchzusetzen erfordert, sich politisch zu verhalten. Politik aber heißt in unserer Gesellschaft einer schlichten und prägnanten Definition von Max Weber zufolge: Das Streben nach Machtanteilen oder nach Beeinflussung der Machtverteilung ... innerhalb eines Staates zwischen den Menschengruppen, die er umschließt."'

Für die Grünen ist es wichtig, Lernprozesse dieser Art zu machen. Denn: Eine funktionierende rot-grüne Koalition, in der die Grünen den Beweis von Politikfähigkeit und Verläßlichkeit erbringen, erhöht ihre Chancen für die Bundestagswahl 1987. 2. Inhaltliche Umorientierung Nicht mehr die Formulierung von Anti-Thesen (gegen Wachstum, gegen Kernenergie, Ausstieg aus der Industriegesellschaft, Austritt aus der NATO) ist künftige Aufgabe grüner Politik, sondern der Entwurf ökologisch-orientierter, alternativer Politikkonzepte für den Bereich der Wirtschafts-, Sozial-, Umwelt-und Friedenspolitik. Auch hier gibt es erste Anzeichen einer Reifung: Zur Bundestagswahl 1987 wollen die Grünen mit einem ökologisch-orientierten Umbauprogramm (das mit wissenschaftlicher Beratung erstellt werden soll) antreten. Der zentrale Punkt der inhaltlichen Revisionismusdebatte wird das Verhältnis der Sozialarbeiter-und Lehrerpartei zu den neuen Technologien sein. Angetreten sind die Grünen als antimodernistische und technikfeindliche Gruppierung. Nun werden sie mit der sprichwörtlichen Ironie des Schicksals konfrontiert: Gerade ihr Protest trägt zur ökologisch-technologischen Modernisierung des Industriesystems bei. Aus reformpolitischer Sicht haben die Grünen letztlich stabilisierend auf das Industriesystem gewirkt, und sie sind genuiner Auslöser eines enormen künftigen Wachstumsschubs im Bereich der Umwelttechnologie. Dieser Tatsache trägt die SPD in ihrem neuen Parteiprogramm (das auf eine Integration der grünen Wähler zielen wird) Rechnung: Sie setzt weiter auf den industriell-sozialstaatlichen Legitimismus, wird ihn aber friedenspolitisch, frauenpolitisch und ökologisch weiterentwickeln. Und: Durch den Einsatz der neuen Technologien erhofft man sich für die nächsten Jahrzehnte enorme Verkürzungen der Arbeitszeit, die für die Schaffung von Freiräumen kreativer Lebensgestaltung genutzt werden sollen

Die von den Grünen angestrebte Überwindung des sozialdemokratisch-ökonomischen Modernismus setzt eine zentrale politisch-strategische und gedankliche Anstrengung voraus, „die Leistung nämlich, politisch überzeugende Antworten zu finden, wie auch unter Verzicht auf den modernistischen Wachstumsmythos das Problem der sozialen Gerechtigkeit und der sozialen Sicherheit zu bewältigen ist" Abkoppeln von diesem angeprangerten Modernismus können sich die Grünen nur, wenn sie dem Wähler überzeugende und durchgerechnete Antworten zu Fragen von Arbeit und Beschäftigung, Verteilung und sozialer Sicherheit bieten. Für die in sich zerstrittenen Grünen ist das eine kaum zu bewältigende Aufgabe. 3. Reform der Binnenstrukturen Dritter Punkt der grünen Revisionismusdebatte ist die Reform des basisdemokraktisehen Politikmodells. Das Spielbein-Standbein-Modell einer grünen Anti-Parteien-Partei entspricht der unstrukturiert-dynamischen Bewegungs-und Protestphase der neuen sozialen Bewegungen. Für die parlamentarische Arbeit haben sich die Elemente Rotation, Mitgliederoffenheit aller Gremien und das Konsensprinzip im politischen Alltagsgeschäft als kontraproduktiv erwiesen. Die Spielbein-Standbein-Theorie ist in ihr Gegenteil verkehrt worden: Die neuen sozialen Bewegungen sind erstarrt — das Spielbein Parlament ist . zum grünen Standbein geworden. Anstatt diese Entwicklung nachzuvollziehen, flüchten sich die Akteure der Grünen in eine Mystifizierung der neuen sozialen Bewegungen

Der bewußte Verzicht auf professionelle Politik führt — auch bei einer Partei mit tendenziell hohem Bildungsniveau ihres Rekrutierungspotentials — mittelfristig zur „Dominanz der bleichen Macher", in der der inkompetente, unerfahrene politische Amateur das Sagen hat. Das Rotationsprinzip — dies zeigen die Erfahrungen aus Bund und Ländern — führt zu einem Effizienzverlust und zur Mittelmäßigkeit grüner Politik

Die Mitgliederoffenheit grüner Gremien führt zu einer Instrumentalisierung dieser Treffen durch die rivalisierenden innerparteilichen Gruppierungen. Durch das Rederecht für jeden Anwesenden (das auf 5 Minuten begrenzt wurde) steigen die personellen, politischen und zeitlichen Einigungskosten in unerträgliche Höhe. Anstatt politisches Diskussionsforum zu sein, haben sich grüne Mitgliederversammlungen zu unberechenbaren „Fixund-Foxi-Sprechblasenkulturen" entwickelt, auf denen unliebsame und strittige Themen ausgeklammert werden (sowohl auf dem Hamburger als auf dem Hagener Parteitag sind Themen wie Rotation, Strukturreform, künftige inhaltliche Orientierung der Grünen vertagt worden). Auch die bislang ehrenamtlich arbeitenden Parteigremien müssen durch hauptamtliche Mitarbeiter ersetzt werden.

Schaffen es die Grünen, diese „Eigenmacht der Formen förmlich zu begrenzen? ” Sie werden — und dies läßt sich schon heute sagen — als Partei nur überleben können, wenn sie ähnliche Organisationsstrukturen annehmen wie die etablierten Parteien, nämlich Prinzipien wie Professionalität, Sachkunde, Arbeitsteilung, Verbindlichkeit, gesicherte Verfahrensregeln und Disziplin. Dann allerdings wäre ein weiterer grüner Traum gescheitert: zu glauben, daß man dem hochprofessionalisierten und -spezialisierten industriell-technokratischen System mit einem Laiensystem begegnen kann. Der Ausgang der grünen Revisionismusdebatte ist derzeit noch offen. Doch der Trend läuft zugunsten der Realpolitik. So dürfte Karl Kautsky wieder einmal recht behalten: „Sind die Verhältnisse so, daß sie revisionistische Stimmungen begünstigen, dann gibts kein Halten mehr, dann geht die Mehrheit zum Revisionismus über."

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, Frankfurt/M. 1981, S. 490ff.

  2. Die Entstehungsursachen für die NSB und die Grünen sind in der sozialwissenschaftlichen Literatur bereits ausführlich abgehandelt worden; des-halb kann in diesem Zusammenhang darauf verzichtet werden. Vgl. insbesondere M. -L. Weinberger, Aufbruch zu neuen Ufern?, Bonn 1984; K. W. Brandt, Neue soziale Bewegungen, Opladen 1982; K. W. Brandt/D. Büsser/D. Rucht, Aufbruch in eine neue Gesellschaft, Frankfurt/M. - New York 1985; D. Bell, Die Zukunft der westlichen Welt; R. Inglehart, The Silent Revolution - Changing Values and Political Styles among Western Publics, Princeton 1977; J. Raschke, Politik und Wertwandel in westlichen Demokratien, in: Aus Politik und Zeit-geschichte, B 36/80; R. Löwenthal, Gesellschaftlicher Wandel und Kulturkrise, Frankfurt/M. 1979; H. Klages, Verdrossener Bürger - Verdrossener Staat, Frankfurt/M. 1982; G. Langguth, Protestbewegung, Köln 1983; W. Schäfer, Neue soziale Bewegungen, Frankfurt/M. 1983; W. P. Bürklin, Grüne Politik, Opladen 1984; E. -P. Müller, Die Grünen und das Parteiensystem, Köln 1984; G. Langguth, Der grüne Faktor - Von der Bewegung zur Partei, Zürich 1984; Th. Kluge, Grüne Politik - Der Stand einer Auseinandersetzung, Frankfurt/M. 1984; K. Gotto/H. -J. Veen, Die Grünen - Partei wider Willen, Mainz 1984.

  3. J. Habermas, Die Krise des Wohlfahrtsstaates und die Erschöpfung utopischer Energie, in: ders., Die neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt/M. 1985, S. 152.

  4. J. Habermas (Anm. 1), S. 577.

  5. Ebd., S. 577.

  6. D. Lehnert, Alternative Politik. Die neuen sozialen Bewegungen zwischen Protestpotential, Wertekonservatismus und Okosozialismus, in: Politische Vierteljahresschrift, (1985) 1, S. 33. Lehnerts Schlußfolgerung: Durch eine friedenspolitisch und ökologisch erneuerte SPD in der Opposition werden die Grünen nicht überflüssig. Diese Erwartung war seines Erachtens von vornherein unrealistisch.

  7. Vgl. K. -J. Scherer/F. Vilmar, Ökosozialismus, Berlin 1980, S. 34.

  8. Vgl. insbesondere Trampert/Ebermann, Die Zukunft der Grünen. Ein realistisches Konzept für eine radikale Partei, Hamburg 1984; sowie dies., Machtfaktor oder Machtphantasie, in: Konkret, (1984) 5, und die Diskussionen in der ökosozialistischen Hauszeitschrift „Moderne Zeiten".

  9. Trampert/Ebermann (Anm. 8), S. 275; vgl. auch: NRW-Wahlprogramm und den Leitantrag des Bundesvorstandes zum Hamburger Parteitag im Dezember 1984 sowie die Diskussion über grüne Wirtschaftspolitik in der Tageszeitung.

  10. Vgl. insbesondere die Kritik von H. Wiesenthal, Ein fundamentalistisches Schauprogramm, in: taz vom 21. 3. 1985.

  11. Trampert/Ebermann (Anin. 8), Kapitel „Neue soziale Bewegungen und Arbeiterbewegung",

  12. So die grüne „Philosophin" Maron-Manon Griesebach, eine der Hauptfiguren der Radikalökologen, auf dem Parteitag der Grünen in Baden-Württemberg, in: taz vom 13. 5. 1985.

  13. So z. B. Antje Vollmer in einer Entgegnung auf Peter Glotz zur innenpolitischen Situation der Grünen; vgl. taz vom 14. 5. und 16. 7. 1985.

  14. Vgl. in diesem Zusammenhang die gelungene Darstellung von Politikertypen von K. -H. Bohrer, Die Unschuld an der Macht, in: Merkur, (1985) 1.

  15. Ebd.; gerade in Frankreich trifft dieses Politikverständnis auf tiefes Mißtrauen; vgl. z. B. B. Sau-zay, Le vertige allemand, Paris 1985.

  16. J. Strasser, Identitätssuche oder Politik, in: L'80, (1980) 33, S. 27.

  17. Vgl. taz vom 4. 12. 1984, die ihren Hintergrund-artikel mit der Überschrift „Wir sind so lieb und so gut, daß keiner mehr von uns Notiz nimmt“ überschreibt Acht Monate grünes Feminat: vgl. „Gegen männliche Machtpolitik als politische Kultur" — Gespräch mit Antje Vollmer, in: taz vom 12. 10.

  18. C. Stephan. Ganz entspannt im Supermarkt. Liebe und Leben im ausgehenden 20. Jahrhundert, Berlin 1985, S. 85.

  19. Vgl. Sinus, Junge Frauen zwischen 15 und 30: Rollenwandel und Alltag der Emanzipation, Sonderauswertung zum Forschungsprojekt: Veränderungen in der Motivationsstruktur Jugendlicher und junger Erwachsener, Heidelberg im November 1983, S. 29.

  20. Ebd., S. 26, sowie W. A Perger, Mut zur neuen Frau, in: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt vom 3. 2. 1985.

  21. Vgl. taz vom 4. 3. 1985: Es geht um eine andere Machtkultur.

  22. ökolibertäre Grundsatzerklärung, 1t. taz vom 7. 3. 1984.

  23. So z. B.der ökolibertäre Hoplitschek in der FAZ vom 3. 3. 1984. Auch Schmid plädiert zur Durchsetzung eines garantierten Mindesteinkommens für eine Zusammenarbeit mit den aufgeklärten „Späth" -Kapitalisten; vgl. dazu Th. Schmid, Befreiung von falscher Arbeit, Berlin 1984, S. 15.

  24. Th. Schmid, in: Freibeuter, 15, S. 25.

  25. Vgl. taz vom 30. 11. 1980.

  26. Vgl. taz vom 4. 3. 1985.

  27. Vgl. taz vom 7. 1. 1985.

  28. Vgl. Frankfurter Rundschau vom 17. 12. 1984 sowie FAZ vom 25. 12. 1984. Die taz kommentierte: „Für das, was die Grünen am Wochenende formuliert haben, fehlt die gesellschaftliche Basis, die dies durchsetzen könnte. Hier bleibt nur Bahros Vision vom . gewaltfreien Volksaufstandin: taz vom 18. 12. 1984.

  29. Th. Schmid, Plädoyer für eine regierungsfähige grüne Programmatik, in: taz vom 23. 3. 1985.

  30. Vgl. H. J. Veen, Die Grünen an den Grenzen ihres Wachstums. Eine Analyse ihrer Wähler und Repräsentanten vor den Wahlen 1984 und 1985, in: Politische Studien (Juli/August 1985), S. 356ff.

  31. Vgl. hierzu die Analyse des Demoskopen M. Güllner für die Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen, in: Kölnische Rundschau vom 27. 11. 1985. Güllner nennt Teile der Jungwähler Super-maschinisten der Anpassung; vgl. auch Th. Sommer, Grünt grün oder wählt grün?, in: Die Zeit vom 22. 4. 1985.

  32. Vgl. Frankfurter Rundschau vom 14. 5. 1985: Die CDU-Werbung steigerte die Liebe zum eigenen Land und damit zur SPD. Der Kölner Wahlforscher Güllner verweist auf einen interessanten Trend, der bei den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen sichtbar wurde: In Dienstleistungszentren mit überdurchschnittlicher Bildung und hoher Mobilität war die FDP besonders erfolgreich, so auch D. Oberndorfer/G. Mielke, Menetekel für Bonn, in: FAZ vom 15. 5. 1985. Der Grund: Teile der aufstiegsorientierten Mittelschichten, die „young urban Professionals”, wenden sich von den Grünen ab.

  33. Vgl. C. Offe/H. Wiesenthal, Die grüne Angst vorm Reformismus, in: taz vom 13. 5. 1985.

  34. Th. Schmid, Plädoyer für eine regierungsfähige Programmatik, in: taz vom 28. 3. 1985.

  35. Einige Vordenker — wie etwa der designierte hessische Umweltminister Joschka Fischer — liebäugeln inzwischen gar mit einer Zusammenarbeit mit aufgeklärten Unionschristen. Er argumentiert, daß die SPD zu sehr in Abhängigkeit ihres Wachstumsflügels kommen könnte und daß in den süddeutschen Bundesländern Linksbündnisse perspektivlos sind; vgl. taz vom 4. 3. 1985. Zum Hagener Parteitag vgl. Frankfurter Rundschau vom 24. 6. 1985; FAZ vom 24. 6. 1985; Süddeutsche Zeitung vom 24. 5. 1985.

  36. Hier stellt sich natürlich die grundsätzliche Frage, ob es sinnvoll ist, die gesellschaftspolitische Aufgabenstellung „Gleichberechtigung der Frau“ durch Verbürokratisierung zu lösen. Und: Ein (wahrscheinlich machtloses) Frauenministerium könnte leicht zum Legitimationsobjekt gemacht werden, weitergehende Forderungen abzublocken.

  37. S. Neckel, Politische Identität und soziale Interessen, in: L'80, (1985) 33, S. 54.

  38. Vgl. hier insbesondere P. Glotz, Die Arbeit der Zuspitzung, Berlin 1985; vgl.ders., Grüne Politik zwischen Diagnose und Therapie, in: taz vom 14. 5. 1985. Auch der sozialdemokratische Gewerkschaftsflügel spricht sich für diese Strategie aus; vgl. das Papier von Rappe/Steinkühler, Der Markt kann allein keinen dauerhaften Fortschritt sichern.

  39. C. Offe/H. Wiesenthal, Die grüne Angst vorm Reformhaus, in: taz vom 31. 5. 1985.

  40. So der Sprecher der grünen Bundestagsfraktion, Christian Schmidt, der nach den Wahlniederlagen äußerte: . Arbeiten wir weniger für den deutschen Bundestag und mehr im Dienste sozialer Bewegungen", in: taz vom 21. 6. 1985. Ähnlich argumentierten auch die Bundesvorstandssprecher Rainer Trampert und Jutta Ditfurth; für beide ist das Ver

  41. Interesse verdient in diesem Zusammenhang auch das Ergebnis einer Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung (Anm. 30). Hier wird die These vertreten, daß die grünen Nachrücker in den allermeisten Fällen radikalere Inhalte vertreten als ihre Vorgänger. Stephan Ruß-Mohl weist in einer Untersuchung nach, daß Reformzyklen personell und inhaltlich innovatorisch beginnen und in Mittelmäßigkeit und Bürokratisierung enden; vgl. St Ruß-Mohl, Dramaturgie politischer Reformen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 26/82.

  42. C. Offe/H. Wiesenthal (Anm. 39).

  43. K. Kautsky, zit nach: Lehr-und Arbeitsbuch deutscher Arbeiterbewegung, Band 1, Bonn 1984, S. 221.

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Marie-Luise Weinberger, Dipl. -Pol., geb. 1955; Studium der Verwaltungs-, Politik-und Wirtschaftswissenschaften in Konstanz und Berlin; bis 1981 Mitarbeiterin am Studienschwerpunkt Planung/Verwaltung des Otto-Suhr-Instituts der Freien Universität Berlin; seitdem als freie Autorin und in der wissenschaftlichen Politikberatung tätig. Veröffentlichungen u. a.: Aufbruch zu neuen Ufern? Grün-Alternative zwischen Anspruch und Wirklichkeit, Bonn 1984. Zahlreiche Zeitschriftenpublikationen zu den Themenbereichen: Grenzen und Möglichkeiten von Selbsthilfe, Zukunft der Arbeit, alternative Ökonomie sowie Theorie und Praxis neuer sozialer Bewegungen.