I. Die neue kosmische Dimension der Sicherheit
Die — anscheinende — Ruhe, die bei den Regierenden wie in der Öffentlichkeit der westeuropäischen Länder entgegen mancher Erwartung nach dem Beginn der NATOr Nachrüstung im Frühjahr 1984 eingetreten war, sollte nur von kurzer Dauer sein. Ab Februar des Jahres konkretisierte das amerikanische Verteidigungsministerium die Vorstellungen zur Weltraumrüstung, die Präsident Ronald Reagan in einer Rede am 23. März 1983 als „Strategische Verteidigungs-Initiative" (Strategie Defense Initiative = SDI) vorgetragen hatte. In Frankreich wie in den anderen westlichen Ländern hatte man diese Vision eines Schutzschirmes gegen Raketen damals, als man ganz im Bann der Nachrüstungsdebatte stand, nicht sonderlich ernst genommen und Parallelen zu der bereits von John F. Kennedy wie Jimmy Carter bei ihren Amtsantritten verkündeten Sehnsucht gezogen, die Welt von Nuklearwaffen zu befreien und dem „prekären Gleichgewicht des Schreckens" (nach der bekannten Formel von Albert Wohlstetter) zu entgehen.
Innerhalb der französischen Regierung sah man die Dinge jedoch anders; denn Ronald Reagans programmatische Ankündigungen waren in militärtechnischer Hinsicht viel zu präzise und paßten allzu nahtlos in ein politisch-strategisches Gesamtkonzept, um den Schluß rechtfertigen zu können, es handle sich nur um eine Laune oder eine „Intuition“ des Präsidenten. Es war auch in Paris bekannt, daß der Übergang zu einem strategischen Abwehrsystem im Weltraum bereits 1980 im Wahlkampf der Republikaner eine Rolle gespielt hatte.
Staatspräsident Francois Mitterrand sprach deshalb sehr früh, und zwar in seiner Rede vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen in New York im September 1983 die Vision des „Krieges der Sterne" an. Allerdings geschah dies mittelbar und unter Bezug auf die Vorbedingungen, die Frankreich für seine Beteiligung an den Verhandlungen über die Nuklearabrüstung stellte und die bereits ein Jahr vorher Außenminister Claude Cheysson der Zweiten Sondervollversammlung der Vereinten Nationen zur Abrüstung vorgetragen hatte Mitterrand präzisierte in New York insbesondere die dritte Vorbedingung, die quantitative und qualitative Begrenzung der strategischen Abwehrsysteme dahin gehend, daß es hierbei um den Verzicht gehe, die Systeme zur Abwehr von Raketen (ABM), zur Bekämpfung von Erdsatelliten (ASAT) und von Unterseebooten (ASW) weiterzuentwikkein. Wenn sich auch alle Präsidenten der V. Republik weigerten, an den Rüstungskontrollverhandlungen der beiden Weltmächte und der Bündnisse wie auch, bis 1978, am Abrüstungsausschuß der Vereinten Nationen in Genf teilzunehmen, waren indessen die wesentlichen amerikanisch-sowjetischen Abkommen, der ABM-Vertrag von 1972, der Interims-Vertrag SALT I von 1972 und der (nicht ratifizierte) SALT II-Vertrag von 1979, als auch im Sicherheitsinteresse Frankreichs liegend von Paris begrüßt worden. Die Gründe hierfür liegen auf der Hand; denn die militärische Wirksamkeit der nationalen Atomstreitmacht, der sogenannten „Force de Frappe“, und damit zugleich ihre politische Glaubwürdigkeit beruhten ganz entscheidend darauf, daß die beiden Weltmächte dem waffentechnologischen Wettstreit Zügel anlegten Die1972 ausgehandelte Beschränkung der Raketen-Abwehrsysteme (1974 weiterhin reduziert auf je ein ABM-System, auf dessen Durchführung die USA ganz verzichteten) erlaubte es, den französischen, vor allem seegestützten Raketen eine gewisse Durchdringungsfähigkeit zu sichern. Die französischen Sorgen konzentrierten sich deshalb bis Anfang der achtziger Jahre auf die durch keinen Vertrag gehemmte Entwicklung neuer, wirkungsvollerer Verfahren zur Aufspürung und Bekämp-fung von nukleargetriebenen Unterseebooten.
Mit den Vorhaben in Washington, die Forschung und Entwicklung der mit neuartigen Technologien offenbar jetzt realisierbaren Raketen-Abwehrsysteme im Weltraum voranzutreiben, sieht sich deshalb die von General de Gaulle konzipierte französische Doktrin in der Verteidigung durch die Befähigung zur Abschreckung einer echten Herausforderung gegenüber.
II. Argumente gegen SDI
Anfang April 1984 informierte der amerikanische Verteidigungsminister Caspar Weinberger und ein Stab von Experten die Mitglieder der Nuklearen Planungsgruppe der NATO (der Frankreich ebensowenig angehört wie den anderen Organen des integrierten Militärsystems des Bündnisses) auf deren Sitzung in Cesme in der Türkei eingehend über die Planungen für weltraumgestützte Waffen zur Raketen-und Satelliten-Abwehr. Kurz darauf, am 27. April 1984, nahm der französische Verteidigungsminister, Charles Hernu, vor dem Senat hierzu Stellung Unter Betonung der Notwendigkeit, die Nuklearabschreckung der USA und der UdSSR zu erhalten, die seit mehr als dreißig Jahren auch die Sicherheit Europas gewährleistet habe, verwies der Minister darauf, der Aufbau von Raketenabwehrsystemen werde eine große Zahl von Fragen nicht philosophischer, sondern geostrategischer Natur aufwerfen. Ein Wettrüsten im Weltraum der beiden Weltmächte und das damit verbundene Ende von Völkerrechtsregeln (der Rüstungskontrolle, insbesondere ABM-Vertrag von 1972) würde unweigerlich „die Rückkehr zum Recht des Dschungels unter den Nuklearmächten bedeuten und die Nuklearabschreckung ernsthaft in Frage stellen“. Die Lage in Europa, so Charles Hernu, würde durch ein ABM-Wettrüsten noch instabiler werden, da Waffenmassierungen, wie z. B. die bereits bestehende konventionelle Überlegenheit War-schauer Paktes, dadurch noch weiter aufgewertet würden.
Ein Schutzschild im Weltraum gegen angreifende Interkontinental-Raketen sei überdies illusorisch, denn selbst wenn er zu 95 % wirksam sein sollte, was schon ein phantastisches Ergebnis wäre, würde dies unzureichend sein.
Die gleichen Bedenken trug der Delegierte Frankreichs in der Abrüstungskonferenz der Vereinten Nationen in Genf (der 40 Länder angehören), Botschafter Francois de la Goree, am 12. Juni 1984 vor Ein Bemühen der beiden Weltmächte, ihr Gebiet unverwundbar zu machen, d. h. einem atomaren Gegenschlag zu entgehen, würde schwerwiegende Gefahren mit sich bringen; denn zum einen führe allein schon die Ankündigung, bei der Entwicklung von Abwehrmitteln im Weltraum voranzuschreiten, zu einem gesteigerten Wettrüsten bei den Offensiv-Waffensystemen, da jede Seite versuchen werde, die ABM-Systeme der anderen durch immer mehr Angriffsraketen zu neutralisieren und andere, nichtballistische Flugkörper — in erster Linie Marschflugkörper — vermehrt einzuführen; zum anderen müßten derartige Abwehrsysteme wegen ihrer technischen Beschaffenheit quasi automatisch zum Einsatz gelangen und keine Zeit mehr für politische Entscheidungen lassen. Schließlich hätten die bereits (von den beiden Weltmächten) betriebenen umfangreichen Forschungsvorhaben, auch wenn sie den ABM-Vertrag von 1972 nicht verletzten, die Wirkung, eine Eigendynamik zu entwickeln, die dem Ziel einer Wiederherstellung des strategischen Gleichgewichtes auf der niedrigsten möglichen Ebene zuwiderliefe.
Im Namen seiner Regierung legte der französische Delegierte den Mitgliedern des Abrüstungsausschusses einen Rahmenentwurf für ein multilaterales Abkommen vor, das vier Hauptpunkte enthielt:1. Eine sehr weitreichende Beschränkung von Systemen für die Erdsatelliten-Bekämpfung, verbunden mit dem Verbot, Mittel zur Bekämpfung der Satelliten in hoher Umlaufbahn zu entwickeln, deren Unverwundbarkeit für das strategische Gleichgewicht von größter Bedeutung ist.
2. Ein Verbot, am Boden, in der Atmosphäre und im Weltraum Waffen mit gelenkter Energie einzuführen, die die Vernichtung von ballistischen Flugkörpern (Raketen) oder von Satelliten in hoher Umlaufbahn bezweckten. Dieses sollte zunächst für fünf Jahre gelten, wäre aber verlängerbar. Weiterhin ein Verbot, Versuche mit den entsprechenden Waffen durchzuführen.
3. Eine Verbesserung des mit dem (multilateralen) Abkommen vom 14. Juni 1975 geschaffenen Verfahrens der Meldepflicht für künstliche Weltraumkörper: über Weltraumstarts sollten die durchführenden Staaten bzw. Organisationen demzufolge eingehendere Informationen über die Beschaffenheit und die Aufträge der Weltraumkörper bekanntgeben, um auf diesem Wege die Möglichkeiten der Verifizierung zu verbessern.
4. Eine von den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion einzugehende Verpflichtung, die bilaterale vertragliche Bestimmung, welche die Unverletzlichkeit ihrer jeweiligen (Aufklärungs-) Satelliten gewährleistet, auf alle Drittländer auszudehnen
Diese Position Frankreichs, so erklärte der Delegierte, diene dem Ziel, die friedliche Nutzung des Weltraums zu sichern, zugleich aber im militärischen Bereich die Möglichkeit zu wahren, diejenigen weltraumgestützten Instrumentarien zur Beobachtung, Nachrichtenübermittlung und Kontrolle einzusetzen, die für die Stabilität und die Sicherheit erforderlich sind. „Wir linden uns nicht damit ab, daß im Weltraum neue Waffen stationiert und vervielfacht werden, die ernsthafte Risiken der Destabilisierung heraufbeschwören und einem neuen und ruinösen Wettrüsten Auftrieb geben.“
Während dieser Entwurf die Unterstützung der im Genfer Abrüstungsausschuß vertretenen neutralen und nicht gebundenen Länder fand, ließen die westeuropäischen Verbündeten zwar ihr Verständnis für den französischen Schritt erkennen, sie unterstützten ihn aber nicht, sondern machten eher technische Vorbehalte geltend. Die amerikanische Delegation zeigte sich eindeutig ablehnend, und der sowjetische Vertreter stimmte zwar grundsätzlich zu, kritisierte aber, daß Frankreich das Verbot von ASAT-Waffen nicht auch auf Satelliten in niedriger Umlaufbahn ausdehnen wollte. Das französische Argument, die. letzteren seien beim heutigen Stand der Technik ohnehin schon verwundbar, konterten die sowjetischen Experten mit dem Hinweis, die technische Entwicklung erlaube es nicht mehr zu verifizieren, ob ASAT-Systeme für Weltraumkörper auf niedriger Umlaufbahn nicht gleichfalls zur Bekämpfung der geostationären Satelliten umfunktioniert werden können.
Die unterschiedliche Aufnahme des französischen Entwurfes im Genfer Gremium zeigte zum ersten Mal sehr klar, wenn auch damals von der Öffentlichkeit unbemerkt, die Frontlinien der sich anbahnenden Auseinandersetzung um das amerikanische SDI-Programm auf: die Weigerung der Reagan-Administration, ihre Handlungsfreiheit völkerrechtlich einschränken zu lassen, die Forderung Moskaus nach einem Totalverzicht auf die Militarisierung des Weltraums, und die passive Haltung der europäischen Partner Frankreichs, die der Position von Paris zwar grundsätzlich zuneigten, Washington aber nicht offen herausfordern wollten. Präsident Mitterrand und seine Berater wußten seit dem Juni 1984, daß eine einheitliche westeuropäische Position zu SDI nicht realisierbar war — und daß die Gefahr der Isolierung bestand.
Die beiden Weltmächte zogen es angesichts des Patts im Genfer Ausschuß vor, die militärische Weltraumproblematik direkt zu erörtern, wie das sowjetische Angebot vom 29. Juni 1984 zeigte, Ende September des Jahres in Wien bilaterale Verhandlungen aufzunehmen, auf deren Tagesordnung sich beide Regierungen dann erst am 6. Januar 1985 in ihrem Genfer Kommunique einigten.
Für die Verantwortlichen in Paris blieb seitdem der Genfer Entwurf für ein Teilverbot von ASAT und das ABM-Moratorium Grundlage und Bezugspunkt, und man wiederholte in immer neuen Variationen die prinzipielle Ablehnung des „Krieges der Sterne“. Premierminister Laurent Fabius stellte diesem Schlagwort ein anderes entgegen, als er in einem Vortrag vor der Verteidigungsakademie im September 1984 den „Frieden der Ster-B ne“ postulierte Als entscheidend für die Europäer bezeichnete er hier das Risiko, daß die Entwicklung von Defensivsystemen „bei unseren Partnern den Eindruck entstehen lasse, ihre Sicherheit werde von derjenigen der Vereinigten Staaten abgekoppelt“. Außenminister Claude Cheysson hatte schon im Juli dieses Argument der strategischen Abkoppelung gegen SDI ins Feld geführt und betont, die Verhinderung eines kosmischen Wettrüstens liege in allererster Linie in der Verantwortung der beiden Weltmächte. Der Staatschef nahm in einem Fernsehinterview Mitte Dezember 1984 zum ersten Mal öffentlich Stellung, indem er Präsident Reagans SDI-Plan als „Überrüstung" bezeichnete und erklärte, er werde sich der Militarisierung des Weltraums mit allen ihm verfügbaren Mitteln widersetzen
Die zunächst in Paris genährte Hoffnung, die Formulierung des Genfer Kommuniquös vom 6. Januar 1985 — es sei das Ziel der amerikanisch-sowjetischen Verhandlungen, ein Wettrüsten im Weltall zu verhindern — dokumentiere ein Einlenken der Reagan-Administration, erwies sich sehr schnell als trügerisch; man mußte erkennen, daß beide Kontrahenten diesen Satz in völlig entgegengesetzter Weise interpretierten Verteidigungsminister Charles Hernu nutzte deshalb die Gelegenheit seiner Teilnahme an der jährlichen Münchener Wehrkunde-Tagung im Februar 1985, um in seinem Referat noch einmal die grundsätzliche Opposition Frankreichs nicht nur zu der Fortführung der SDI-Forschungen, sondern zum Konzept dieser neuen Strategie und der ihr zugrunde liegenden politischen Auffassungen darzulegen.
In München wurden deutsch-französische Dissonanzen sichtbar, denn Bundeskanzler Helmut Kohl stimmte in seiner Rede (bei allen kritischen Fragen zu den Auswirkungen von SDI) grundsätzlich einer Beteiligung der Bundesrepublik an den amerikanischen Forschungen zu
Aus der Perspektive der Pariser Ministerialbürokratie war die Bonner Zusage für die vom Pentagon noch gar nicht im einzelnen erläuterten Technologievorhaben eine voreilige Festlegung und ein Eingehen auf die Taktik Washingtons, die eher reservierten europäischen Verbündeten auf dem Wege über die wissenschaftliche Mitarbeit in die politische Haftung von SDI zu nehmen, ehe überhaupt geklärt war, ob das militärische Welt-raumprogramm im sicherheitspolitischen Interesse aller Bündnispartner lag
Die französische Regierung sah sich indessen einem doppelten Dilemma gegenüber: Erstens konnte sie infolge ihrer seit 1966 verfolgten Politik der Nicht-Beteiligung am integrierten Militärsystem der NATO ihre Position in den beiden für die Strategie und die Streitkräfteplanungen wesentlichen Gremien, dem Ausschuß der Verteidigungsminister für Verteidigungsplähung (DPC) und der Nuklearen Planungsgruppe (NPG), nicht zur Geltung bringen, und zweitens war es aus innen-wie bündnispolitischen Gründen nicht möglich, allzu offen gegen den Reagan-Kurs zu opponieren und die sowjetische Forderung nach einem vollen Verzicht auf die Entwicklung und die Einführung von ABM-Systemen, die der Haltung Frankreichs ja weitgehend entsprach, zu unterstützen. Als Außenminister Roland Dumas Mitte März 1985 Moskau besuchte, relativierte er die von der Sowjetführung betonte Interessenidentität mit dem Hinweis, die SDI-Forschungsvorhaben seien legitim. Ende Februar hatten in Paris zu diesem Thema Arbeitsgespräche zwischen französischen Experten und einer sowjetischen Delegation unter Leitung des stellvertretenden Generalstabschefs stattgefunden, die aber in der Presse keine Erwähnung fanden. Andererseits waren die SPD und die französische Sozialistische Partei, die sich über die Haltung Mitterrands zur NATO-Nachrüstung sfehr zerstritten hatten, durch SDI zu einem neuen Konsens gelangt, und Mitte Januar 1985 verurteilten sie in einer gemeinsamen Erklärung neue, destabilisierende Militär-technologien und forderten den Verzicht auf ein Wettrüsten im Weltall
Dennoch löste die Erklärung Präsident Mitterrands auf dem 11. Gipfeltreffen der sieben größten westlichen Industrieländer in Bonn (2. bis 4. Mai 1985), sein Land werde „zum jetzigen Stand" nicht an dem SDI-Forschungsprogramm mitwirken, da er befürchte, die Europäer sollten dabei lediglich „Unterauftragnehmer" sein, sowohl in der französischen Öffentlichkeit als auch in Regierungskreisen Überraschung aus Der Mitterrand-Eklat war deshalb bemerkenswert, weil es der Mehrheit der sieben Staats-und Regierungschefs gelungen war, Präsident Reagan von seiner ursprünglichen Forderung abzubringen, das SDI-Projekt im Gipfel-Kommuniqu 6 zustimmend zu erwähnen, und weil andererseits klar war, daß die von Paris erstrebte Ablehnung des Projekts nicht erreichbar war.
Erstaunlich bleibt jedenfalls, daß die französische Regierung bis Anfang April 1985 mit ihren Partnern keine diplomatische Absprache für eine gemeinsame Haltung zu SDI gesucht hat Wenn man in Paris schon die NATO-Institutionen nicht für derartige Konsultationen nutzen wollte — und es aufgrund der nationalen Verteidigungsdoktrin seit 1967 auch nicht mehr konnte —, so hätte doch die in Form der regelmäßigen Tagungen der Außen-und Verteidigungsminister Frankreichs und der Bundesrepublik institutionalisierte bilaterale Zusammenarbeit die Möglichkeit hierzu geboten Anläßlich des Gipfeltreffens Mitterrand-Kohl am 28. Februar 1985 in Paris hieß es zu SDI lediglich, dieses Vorhaben stelle das deutsch-französische Einvernehmen nicht in Frage, sollte die Bundesrepublik, der zwar Nuklearwaffen, aber nicht Weltraumwaffen untersagt sind, ihre Beteiligung am Projekt anstreben
Die Pariser Diplomatie hatte sich zwar bemüht, die „Westeuropäische Union“ (WEU) zum Forum der Abstimmung zu machen; aber angesichts der offenen Blockierung durch die Reagan-Administration war dies von vornherein ein aussichtsloses Unterfangen, wie das Kommuniquö des in Bonn am 22. und 23. April 1985 tagenden Ministerrats der WEU auswies
III. Argumente für EUREKA
Auf dem Bonner Siebener-Gipfel Anfang Mai 1985 plädierte Francois Mitterrand für das westeuropäische Technologie-Programm EU-REKA, das Paris zwei Wochen vorher lanciert hatte. Außenminister Roland Dumas übermittelte am 15. April den neun Regierungen der Staaten der Europäischen Gemeinschaft sowie den Beitrittskandidaten Spanien und Portugal einen entsprechenden Entwurf, nachdem er sich zwei Tage vorher der Zustimmung seines Bonner Kollegen Genscher versichert hatte.
Nicht zu Unrecht wurde EUREKA als eine Alternative zu SDI aufgefaßt. Offiziell machte man in Paris zwar geltend, es handle sich um zwei der Sache nach völlig verschiedene Unternehmen, doch sei es der Zweck von EURE-KA „eine abgestimmte Antwort der europäischen Länder auf die Vorschläge von Herrn Weinberger zu erleichtern"
Ist das Ziel des Mitterrand-Vorstoßes auch klar, so bleiben dessen Konturen verschwommen. Die Unklarheiten beginnen bereits bei der Terminologie, denn im Brief von Roland als Dumas wurde EUREKA Abkürzung für „European Research Coordination Agency" (also Amt für die Koordinierung Europäischer Forschung) bezeichnet Es besteht aber seit Anfang 1985 im Rahmen der europäischen ESA ein Weltraumorganisation Großprojekt unter dem Namen „Eureca“ (abgekürzt aus: „European Retrievable Carrier", also Weltraumplattform).
Die im französischen Entwurf zunächst auf sechs Forschungsgebiete beschränkten Aufgaben von EUREKA wurden auf zehn erweitert
— Großrechenanlagen, — „künstliche Intelligenz“ und ihre Anwendungsbereiche, — leistungsfähige, sogenannte superschnelle Mikroprozessoren, — Robotertechnik der dritten Generation, — vollautomatische Fabrikanlagen (elektronisches Engineering), — Opto-Elektronik, — Laser-Entwicklung, — Elektronik unter extremen Bedingungen (Hitze, Kälte, Vakuum, Radioaktivität), — neue Werkstoffe, — Bio-Technologien im Nahrungsmittelbereich. Obwohl hier ein direkter Bezug auf die potentielle Anwendung dieser Einzelprojekte für die von Frankreich mit Vorrang gewünschte Zusammenarbeit bei der Weltraumforschung fehlt, ist erkennbar, daß die Hauptstoßrichtung von EUREKA gerade diesen Sektor betrifft überdies fügt sich EUREKA in die von Francois Mitterrand und seinen Ministern seit 1981 unablässig verfolgten Bemühungen um die Koordinierung der europäischen Zukunftsforschung ein. Im September 1983 übermittelte Paris der EG ein Memorandum zur Schaffung eines „TechnologieRaums“, und im Februar 1984 schlug der Staatschef in seiner Rede in Den Haag eine gemeinsame Anstrengung für den Bau einer militärischen bemannten Weltraumstation zu (Beobachtungs-) Zwecken vor. Damals blieb weitgehend unklar, wie ein solches — vorher mit den zuständigen Ministerien in Paris gar nicht abgestimmtes — Projekt im einzelnen aussehen sollte; es fand auch bei den europäischen Partnern kein großes Echo. In der Folgezeit brachte Frankreich den Bau einer französischen Raumfähre „Hermes“ innerhalb der ESA zur doch dieser zugunsten wurde der europäischen Beteiligung an der amerikanischen bemannten Weltraumstation (Projekt „Columbus") zunächst zurückgestellt Der Dumas-Entwurf bezog sich direkt auf das von der EG-Kommission 1980 eingeleitete Programm für die Entwicklung von Informationstechnologien (Gesamtkosten 2, 2 Milliarden DM) mit dem Namen ESPRIT und ein drei Jahre später unternommenes ähnliches Programm für Kommunikationstechnologie (RACE = Research and Development in Advanced Communication Technologies for Europe).
Die Organisationsstruktur von EUREKA blieb jedoch offen. Amtlich hieß es, es lasse sich nicht von vornherein ein Modell festlegen. Der zunächst (im Dumas-Brief) vorgebrachte Vorschlag, eine Agentur mit für die Einzelbereiche zuständigen Unteragenturen zu schaffen, wurde fallengelassen, nachdem die mei- sten europäischen Partner starke Bedenken gegen eine neue Forschungsbürokratie geltend gemacht hatten. Jetzt wird in Paris an eine „Koordinierungsstelle", bzw. an eine Art von Aufsichtsrat, der von den interessierten Regierungen besetzt wird, oder an ein anderes Lenkungsgremium gedacht. Die Vorstellung, es könnte ein europäisches Gegenstück zur amerikanischen NASA oder zum japanischen MITI (Ministerium für Internationalen Handel und Technologie) entstehen, erwies sich im Rahmen von zehn oder fünfzehn Nationalstaaten ohnehin als völlig unrealistisch. Betont wird vielmehr die Notwendigkeit, flexibel und sozusagen „ad hoc" vorzugehen, weshalb die französische Einladung dann auch über die EG-Staaten hinaus auf andere Mitgliedsländer der ESA des CERN (Kernforschungszentrum in Genf) usw. ausgedehnt wurde.
Es handelt sich also um ein Technologie-Europa mit verschiedenen Geschwindigkeiten („ä la carte“ oder „ä gomtrie variable“, wie es im französischen Sprachgebrauch heißt); klar ist bisher nur, daß EUREKA nicht in die Zuständigkeit der EG in Brüssel eingegliedert werden soll Es gerät so unvermeidlicherweise in Idealkonkurrenz zu der vom Präsidenten der EG-Kommission, Jacques Delors, mit Nachdruck verfolgten Weiterentwicklung der gemeinsamen Technologiepolitik, u. a. dank der Verdoppelung der für ESPRIT von den Mitgliedsländern bereitgestellten Mittel. Die Finanzierung von EUREKA ist gleichfalls noch ein völlig offenes Problem, wobei nur soviel erkennbar ist, daß es sich vor allem um Beiträge der beteiligten Regierungen aus ihrem jeweiligen Forschungshaushalt handeln soll
Die Wahl des Zeitpunktes und der Modalitäten der EUREKA-Initiative sind gewiß beeinflußt von dem taktischen Ziel, eine europäische Gegenposition zu SDI aufzubauen. Wesentlicher ist, daß es sich hier um eine neue Variante zur Aufhebung des seit einigen Jahren in Frankreich entstandenen Traumas handelt, im wissenschaftlichen Rennen um die dritte industrielle Revolution von den USA und von Japan abgehängt zu werden, wie der Verweis auf die dortigen staatlichen Forschungsstrukturen NASA und MITI verdeutlicht.
Das neue Motto, Europa müsse ein „technologisches Jalta" verhindern entspricht natürlich französischem Eigeninteresse, d. h.der Erkenntnis, daß die nationalen Ressourcen nicht ausreichen, um der Herausforderung zu begegnen, und dies nur gemeinsam mit den europäischen Partnern möglich ist. Wie Verteidigungsminister Charles Hernu in der Nationalversammlung Ende April 1985 ausführte, ist das „Europa der Technologie" auch ohne einen SDI-Anstoß erforderlich; neben den zivilen Ergebnissen spiele hier die „militärische Nutzung zu friedlichen Zwecken" eine Rolle Gemeint ist die gemeinsame Entwicklung von Erdsatelliten für die Kommunikation, die Aufklärung und das Abhorchen. Außenminister Roland Dumas sprach im Hinblick auf diese militärische Seite von EU-REKA davon, die Europäer könnten damit ihre Befähigung verbessern, sich selbst zu verteidigen
Konkret soll dies wohl bedeuten, den seit langem geplanten eigenen Beobachtungssatellit SAMRO, dessen Bau seit einem Jahr Gegenstand von Fachgesprächen mit der Bundesrepublik ist, zu europäisieren, und zwar für Zwecke der Verifizierung von Rüstungskontroll-und vertrauensbildenden Maßnahmen. Die im französischen Haushalt hierfür verfüg-baren Mittel reichen nicht aus, um ein ehrgeiziges Satellitenprogramm im Alleingang durchzuführen
IV. Die Perspektiven
Der Mailänder EG-Gipfel erlaubte Ende Juni 1985 zumindest eine Klärung der jeweiligen Vorstellungen zu EUREKA, wobei allerdings zwei Hauptpunkte problematisch bleiben: Erstens nicht nur die Bereitschaft, sondern die angesichts des überall herrschenden Sparzwanges nicht sehr große Befähigung der Mitgliedstaaten, zusätzliche Mittel für gemeinsame Forschungsprojekte aufzuwenden; zweitens die Tatsache, daß die Wachstumsindustrien in den größeren westeuropäischen Ländern in einem sich verschärfenden Wettbewerb stehen und deshalb naturgemäß wenig Neigung zeigen, bahnbrechende Ergebnisse der Grundlagenforschung mit den Konkurrenten zu teilen, soweit es nicht um die Durchführung von konkreten Konsortialvorhaben (siehe Airbus, Ariane, militärische Beschaffung) geht.
Die EUREKA-Initiative ist eine technologische Teilantwort auf das umfassende politisch-strategische Konzept von SDI und schon von daher ungeeignet, die Fronten der Auseinandersetzung zu klären und auf dem technologischen Umweg eine einheitliche politische Meinungsbildung der Partner der USA herbeizuführen. Wie kaum anders zu erwarten, reagierten die. Hauptverbündeten Frankreichs mit einem „Sowohl-als-Auch": wir nehmen, wie es in Bonn und London hieß, konkret an den SDI-Forschungsvorhaben und prinzipiell an EUREKA teil. Selbst die Pariser Regierung kann ihren eigenen, verstaatlichten Unternehmen die Mitwirkung am amerikanischen militärischen Weltraumprogramm nicht verwehren, schon deshalb nicht, weil auf dem Gebiet der Militärelektronik seit langem eine enge Interdependenz besteht und die französischen Marktführer überdies befürchten müssen, bei einer Verweigerung noch stärker als bisher vom Fluß der amerikanischen Technologie abgeschnitten zu werden. Darüber hinaus könnte das Pentagon als Repressalie auf den Kauf französischer Waffen und Komponenten (insbesondere des Taktischen Fernmelde-Digitalsystems RITA) verzichten. Anläßlich der großen jährlichen Luft-und Raumfahrtschau in Le Bourget sprach sich deshalb der Leiter des „Matra" -Konzerns, Lagardere, für die Beteiligung an den „komplementären“ SDI-und EUREKA-Forschungen aus. Sein Kollege von „Arospatiale" (SNIAS) in Toulouse, der frühere Rüstungsbeauftragte im Verteidigungsministerium, Martre, äußerte sich dagegen wesentlich reservierter, weil sein Unternehmen sehr stark in europäischen Kooperationsprojekten (Airbus, Ariane, Euromissile-und Eurokopter-Konsortien usw.) engagiert ist.
Die Außen-und Technologieminister von 17 westeuropäischen Staaten (die EG-Mitglieder, die beiden iberischen Beitrittsländer, Schweden, Norwegen, Finnland, die Schweiz und Österreich sowie der Präsident der EG-Kommission), die sich am 17. Juli 1985 auf Einladung von Francois Mitterrand in Paris trafen, bezeichneten es in ihrem Kommunique als die Aufgabe des nun amtlich ins Leben gerufenen EUREKA, eine Auswahl unter den zivilen Vorhaben der Spitzentechnologie zu treffen. Der militärische Bereich ist somit — und entgegen bestimmter französischen Vorstellungen — ausgeklammert worden, was allein schon infolge der Teilnahme der vier neutralen Länder erforderlich war. Zugleich stellt sich mit diesem weiten Rahmen das Problem der Abstimmung mit den bereits von der EG-Kommission durchgeführten Technologie-Programmen. Eine Doppelgleisigkeit ist wohl nicht zu vermeiden, weil EUREKA von seinen Initiatoren eindeutig als ein neues, viel flexibleres und auch pragmatisch auf die Bedürfnisse des großen Industriemarktes ganz Westeuropas ausgerichtetes Modell gedacht war. Die Nachteile eines solchen Modells liegen aber auf der Hand, und das Kommunique vom 19. Juli 1985 läßt denn auch völlig offen, in welcher Weise die Forschungs-Koordinierung unter den 17 Regierungen erfolgen soll. Das nächste Treffen, das bis Mitte November in Bonn stattfindet, wird hierauf — wie auf die gleichfalls ungeklärte Frage der Finanzierung der von den Unternehmen vorzuschlagenden Projekte — eine Antwort geben müssen. Die auf französischer Seite ursprünglich angestrebte gemischte, also teils öffentlich, teils private Dotierung der Forschungen stieß auf Bedenken vor allem der Briten. Präsident Mitterrand kündigte für das kommende Jahr die Bereitstellung von einer Milliarde Franc an, von denen allerdings annähernd ein Drittel aus dem nationalen Forschungsetat abgezweigt werden, und ähnlich dürften auch die anderen Regierungen vorgehen, so daß sich der Gesamtaufwand der Westeuropäer im Vergleich zu den in Amerika bereits für 1986 bewilligten Mitteln für SDI von über 2, 7 Milliarden US-Dollar eher bescheiden ausnehmen wird.
Die Hauptsorge der Pariser Verantwortlichen und in erster Linie des Staatspräsidenten und seiner Berater konzentriert sich indessen auf die langfristigen politisch-militärischen Folgewirkungen eines ungehemmten Wettrüstens im Weltall. Für besonders gravierend hält man die Tatsache, daß die NATO, wie sich im Kommunique der Außenminister-Tagung in Lissabon im Juni 1985 erwies, nicht in der Lage war, die Position der Reagan-Administration zu SDI— und damit den Ausgang der Genfer Verhandlungen der beiden Großen — in nennenswertem Maße zu beeinflussen. Die eher negative Beurteilung der amerikanischen Weltraumrüstungspolitik durch Roland Dumas und seinen Bonner Kollegen, die auch die Haltung der Mehrheit der anderen NATO-Länder reflektiert, reichte nicht aus, um — zumindest im Lissabon-Kommuniqu — die USA auf die strikte Einhaltung des ABM-Vertrages festzulegen und somit die Wiederaufnahme der SDI-Versuchsreihen (und das damit wohl vorprogrammierte Scheitern in Genf) zu verhindern.
Die des sehr ernst zu nehmende Perspektive Abbruchs der Rüstungskontrollverhandlungen berührt die Außen-und Sicherheitsinteressen Frankreichs in doppelter Hinsicht: Erstens, weil die Entwicklung und die eventuelle Stationierung von Systemen zur Ortung und zur Vernichtung von Raketen und von Satelliten im Weltraum den Wert der eigenen Abschreckungsfähigkeit mindern. Bei allem Zweifel daran, ob die USA ihr SDI-Programm über die nächsten Präsidentschaftswahlen 1988 hinaus durchhalten und in welchem Maße es überhaupt in die Tat umgesetzt wird, sind die französischen Experten ganz sicher, daß die Sowjetunion nicht nur offensive, sondern auch defensive Gegenmaßnahmen treffen wird
Zweitens, weil, wie es der jetzige EG-Kommissar (und bis Ende 1984 französische Außenminister) Claude Cheysson ausdrückte, mit der Infragestellung des ABM-Vertrages auch die für Frankreich absolut grundlegende Verteidigungsphilosophie in Frage gestellt werde Das müßte schwerwiegende politische Folgen, insbesondere für die Bundesrepublik haben. Nur kurze Zeit, nachdem die Franzosen erhebliche Anstrengungen unter-nommen hätten, um die Deutschen davon zu überzeugen, daß sie’die Pershing II gegen die SS-20 stationieren müßten, heiße es jetzt (in Washington), die Raketen seien ohnehin überholt und würden sich schnell als nutzlos erweisen. Damit aber, so betonte Cheysson, ermutige man in der Bundesrepublik neutralistische Neigungen und diejenigen Kräfte, die keine Nuklearwaffen auf ihrem Boden haben wollten.
Letzten Endes dürfte so die negative Beurteilung von SDI durch die Regierung, die Parlamentsmehrheit und den weitaus größten Teil der öffentlichen Meinung aus der Sorge herrühren, der Schritt zur Weltraumverteidigung könnte das atlantische Bündnis und in erster Linie seinen vitalen europäischen Bestandteil, die Bundesrepublik, vor eine bisher nicht gekannte Belastungsprobe stellen. Und in dieser Sicht läßt sich Frankreich eben nicht nur von nationalen Interessen, sondern von der bangen Frage um die Zukunft Europas leiten.