I. Die Bedeutung des Vorverständnisses sowjetischer Politik für die sicherheitspolitische Diskussion
Die politische wie die wissenschaftliche Diskussion des Ost-West-Verhältnisses, und dabei insbesondere sicherheitspolitischer Fragen, leidet vor allem an einem Mangel: Die eigentlichen Fragen werden meist gar nicht angesprochen. So wird etwa zwischen beiden Seiten des politischen wie wissenschaftlichen Spektrums eine Debatte darüber geführt, ob die SS-20 wirklich für einen „chirurgischen Entwaffungsschlag" gegen Westeuropa geeignet (und die Pershing II eine sinnvolle Antwort auf diese Art sowjetischer Rüstung) sei, ob die Sowjetunion bzw.der Warschauer Pakt wirklich zum Überraschungsangriff gegen die NATO imstande seien, ohne vorher ihre zweite strategische Staffel nach vorn zu bringen, ob die militärische Strategie der Sowjetunion — weil auf Offensive ausgerichtet — für die „politische Erpressung“ des Westens gedacht sei oder nicht, und ähnliches mehr.
Diskussionen um diese und andere Fragen sind in aller Regel unfruchtbar, und zwar deshalb, weil es sich in Wirklichkeit um Schein-diskussionen handelt. Diskutiert wird über Einzelfragen, die aus sich heraus kaum zu beantworten sind. Die wirkliche Frage dagegen wird nicht berührt, nämlich: Was ist und was will die Sowjetunion? Anders formuliert: Welches Verständnis der Sowjetunion legt man der eigenen Argumentation zugrunde?
Wer die UdSSR als saturierten, allein auf Bewahrung des Erreichten, also als allein defensiv ausgerichteten Staat betrachtet, der aber vom Westen bedrängt und eingekreist wird, kommt etwa bei der Einschätzung der SS-20 naturgemäß zu anderen Ergebnissen als derjenige, der die Sowjetunion als aggressiven, ideologisch-machtpolitisch bestimmten Staat ansieht, der ständig den Status quo durch politisch-militärischen Druck und nötigenfalls auch durch Intervention zu ändern sucht. Entsprechendes gilt für die anderen, hier als Beispiel genannten Einzelfragen: Auch hier wird zunächst über die Natur des Sowjetstaates zu diskutieren sein, ehe man die Detailprobleme anschneidet. '
Diese notwendige Vorklärung erfolgt indessen in aller Regel nicht. Das ist kein Wunder; denn es handelt sich bei dem hier angesprochenen Phänomen um die Erscheinung des Vorverständnisses, d. h. um all jene Wertungen, Annahmen, Bedingungen etc., die den jeweiligen Argumenten unausgesprochen zugrunde gelegt werden. Besonderes Charakteristikum ist es eben, daß über das jeweilige Vorverständnis per definitionem nicht diskutiert wird. Das Vorverständnis bildet — um ein Bild zu gebrauchen — die unter der Wasserlinie befindliche Masse eines Eisberges; sie wird, weil unsichtbar, ausgespart. Diskutiert wird nur über die viel berufene sichtbare Spitze des Eisberges. Dies ist dann die Ursache für das oben erwähnte Phänomen der Scheindiskussion: Debattiert wird über die jeweilige spezielle Frage, hinter der das grundsätzlich zu debattierende Thema zurücktritt, weil es vom jeweiligen Vorverständnis abgedeckt wird und damit, um im Bild zu bleiben, unsichtbar ist. Es leuchtet unmittelbar ein, daß beide Seiten in den speziellen Fragen keine Einigung erzielen können, wenn sie nicht zunächst eine Debatte über ihr jeweiliges Vorverständnis beginnen. Auch dann dürfte zwar eine solche Einigung nicht leicht möglich sein; aber die Debatte hört in jedem Fall auf, eine Scheindebatte zu sein, und konzentriert sich auf die eigentlichen Fragen.
Die Notwendigkeit, zunächst das eigene Vor-verständnis offenzulegen und zu begründen, ist vielleicht nirgends dringender als bei der Frage, welche Einstellung die Sowjetunion zur Rüstungskontrolle besitzt. In dieser Hinsicht herrscht, wie es scheint, weithin Klarheit, eine Klarheit, hinter der sich jedoch — weil sie in keiner Weise hinterfragt und überprüft wird — eine profunde Ungewißheit verbirgt. Anders ausgedrückt: Das überwiegende westliche Vorverständnis von den Absichten, welche die Sowjetunion mit Rüstungskontrollverhandlungen verfolgt, geht dahin, der UdSSR in einem Akt der Übertragung die nämlichen Intentionen zuzuschreiben, die, wie man glaubt, auch der Westen mit Rüstungskontrolle verfolgt: Stärkung der beiderseitigen Sicherheit. Aus der unbestreitbar gegebenen Verhandlungspartnerschaft zwischen West und Ost wird auf eine existente (und nicht nur wünschbare) Sicherheitspartnerschaft mit der Sowjetunion geschlossen, wird angenommen, daß die UdSSR militärische Macht letztlich ebenso betrachtet wie der Westen, nämlich als rein militärisches In-3 strument zur Verteidigung des Landes für den Fall, daß man von der Gegenseite angegriffen wird. Infolge dieses Vorverständnisses, das von westlichen Politikern vielfach (wenn auch oftmals unbeabsichtigt) gefördert und nicht selten geteilt wird, werden Rüstungskontrollverhandlungen dann gleichsam zu einer lediglich technischen Materie, wird der Erfolgsdruck, der auf westlichen Regierungen im Hinblick auf diese Verhandlungen lastet, immer größer, verlagert sich schließlich die Beweislast für die Bereitschaft zu gemeinsamer Sicherheit auf die westliche Seite.
Es bedarf keiner weiteren Ausführungen, daß dieses Vorverständnis hinsichtlich der sowjetischen Haltung zur Rüstungskontrolle Auswirkungen hat, die in ihrer Bedeutung gar nicht zu überschätzen sind. Die Auseinandersetzungen zwischen West und Ost im allgemeinen und das System der Abschreckung im besonderen verlaufen gleichsam in psychologischen Bahnen; sie folgen psychologischen Wirkungsmechanismen und werden nicht vom objektiven Stand der Dinge bestimmt, sondern von dem, was die Menschen im Westen — um die allein es zunächst in dieser Auseinandersetzung geht — dafür halten. Es geht also um Perzeptionen, wie es in der Sprache der Politologen heißt, und damit auch um das Vorverständnis, das für die jeweiligen Perzeptionen prägend ist.
Jede Analyse der sowjetischen Rüstungskontrollpolitik muß vor diesem Hintergrund mit einer Vor-Frage beginnen, eben mit einer Erläuterung des Vor-Verständnisses, das man im Westen vom Sowjetstaat und insbesondere . vom Stellenwert hat, den die militärische Macht in diesem Staat einnimmt. Erst dann können die Grundzüge des sowjetischen Rüstungskontrollkonzeptes erfaßt werden. Jeder Versuch, diese Grundzüge isoliert und allein aus sich heraus zu begreifen, muß scheitern.
II. Die Supermacht Sowjetunion: Militärische Macht als wesentlicher Faktor
Die Sowjetunion ist neben den USA die einzige Supermacht. Sie ist in der Tat Welt-macht: Mit ihr ist direkt oder indirekt in entscheidenden Bereichen der Weltpolitik zu rechnen, und sie hat, geopolitisch gesehen, in allen Sektoren eine sehr wesentliche Position. Gleichwohl ist die Sowjetunion keine wirkliche Hegemonialmacht. Dies hat jüngst Dieter Senghaas überzeugend nachgewiesen Senghaas, dem hier gefolgt wird argumentiert im wesentlichen so: Hegemonialmächte erlangen globalen oder regionalen Einfluß dadurch, daß ihre Volkswirtschaften die Weltwirtschaft ganz oder teilweise durchdringen. Das Ergebnis ist die Erringung einer überragenden Einflußposition. Dabei spielt die Entfaltung militärischer Macht keine wesentliche Rolle; allenfalls dient sie als Flanken-schutz. Die Sowjetunion nun verdankt ihre Weltmachtstellung laut Senghaas nicht einer solchen Entwicklung. Ihre Befehlswirtschaft hat zwar zeitweilig spezifische Stärken; insbe-sondere lassen sich in ihr politisch bestimmte, dringend erstrebte Ziele verwirklichen. Dies gilt jedoch nur so lange, als die verfügbaren Ressourcen, nämlich Land, Arbeitskräfte und Kapital, extensiv mobilisierbar sind. Ist das — wie gegenwärtig und auf absehbare Zeit in der Sowjetunion der Fall — nicht mehr möglich, dann kann Fortschritt nur durch intensives Wachstum erzielt werden. Hier nun wird es für die Sowjetunion kritisch: Die Strukturen der sowjetischen Gesellschaft stehen einem solchen Wachstum entgegen. Die sowjetische Wirtschaft ist gekennzeichnet durch ein erhebliches Ausmaß systembedingter ökonomischer Ineffizienz, durch einen Mangel an technologischer und organisatorischer Innovation sowie durch eine Verfestigung dieser sich gegenseitig verstärkenden Mängel.
Senghaas'Analyse wird durch die Entwicklung bestätigt, welche die Außenbeziehungen der Sowjetunion in der Zeit seit dem Zweiten Weltkrieg genommen haben. Nur wenige Länder, die wirklich die Wahl hatten, haben sich tatsächlich und dauerhaft der Sowjetunion zugewandt, und auch dann meist nicht, weil die UdSSR so attraktiv war, sondern weil westliche Staaten sie durch ihre fehlerhafte Politik geradezu in die Arme der Sowjetunion getrieben haben.
Wenn es aber die Wirtschaft nicht ist, welche die Sowjetunion eine Supermacht sein läßt, was ist es dann? Die Ideologie — darüber ist man sich im Westen inzwischen weithin einig _ kann es nicht sein: Sie hat nahezu überall ihre einstmals starke Ausstrahlung verloren. Die Antwort Senghaas, auch von vielen westlichen und gerade amerikanischen Analytikern gegeben, lautet: Es ist allein ihre militärische Macht, welche der Sowjetunion Supermachtstatus verleiht. Und in der Tat: Es ist ihre militärische Macht, welche der Sowjetunion ihre globale Reichweite verschafft; es ist ihre militärische Macht, welche der Sowjetunion ihren osteuropäischen Machtbereich gegeben hat und erhält; es ist ihre militärische Macht, welche der Sowjetunion gegenüber dem Westen und der Dritten Welt erheblichen politischen Einfluß sichert.
Diese Auffassung, so weit verbreitet sie auch sein mag, stellt indessen eine westliche Perzeption des Sowjetstaates dar. Aus dem von dieser Denkrichtung der militärischen Macht der Sowjetunion zugeschriebenen Stellenwert können Schlußfolgerungen, gerade auch hinsichtlich der sowjetischen Rüstungskontrollpolitik, nur dann gezogen werden, wenn auch die Sowjets selber — und sei es auch nur im Ergebnis — diese Ansicht teilen, d. h. ihrer militärischen Macht tatsächlich einen entsprechenden Stellenwert zumessen. Die Sowjets nun teilen die westliche Einschätzung — selbstverständlich — nicht: Für sie ist nicht militärische Macht der Gradmesser für die Bedeutung ihrer weltpolitischen Stellung, sondern die „Korrelation der Kräfte" (sootnoenie sil). In diese Gleichung gehen viele Faktoren ein: soziale, wirtschaftliche, kulturelle, psychologische, militärische. Das militärische Moment ist also gleichsam eines unter vielen: Die Sowjets haben immer wieder betont, militärische Macht könne für die weltpolitische Entwicklung nicht entscheidend sein; sie haben gerade den USA (nicht ohne eine gewisse Berechtigung) vorgeworfen, ihre militärische Macht ständig zur Erreichung außenpolitischer Ziele einzusetzen.
Wenn man indessen nicht nur ideologisch gefärbte Aussagen, sondern die Gesamtheit sowjetischer Quellen heranzieht (und sowjetisches Handeln in eine Bewertung einbezieht), so ergibt sich, daß militärische Macht im sowjetischen Konzept der „Korrelation der Kräfte" eine wesentliche, wenn nicht gar die entscheidende Rolle spielt. Nach sowjetischem Verständnis ist es die Zunahme der militärischen Macht der Sowjetunion, ist es insbesondere das Erreichen nuklearstrategischer Parität gewesen, das den Westen und vor allem die USA zur Anerkennung der UdSSR als gleichberechtigte Macht veranlaßt und, so die östliche Sicht, die USA gezwungen hat, auf den direkten oder indirekten Einsatz militärischer Macht zu verzichten und sich auf die sowjetische Politik der friedlichen Koexistenz einzulassen — eine Politik, die nach sowjetischem Verständnis bekanntlich unumkehrbar sein soll.
Vor diesem Hintergrund gilt militärische Macht der Sowjetunion nach ihrem eigenen Verständnis offenbar als ein Instrument mit zweifachem Charakter: Die UdSSR will zum einen für den Fall eines Krieges — aus welchen Gründen auch immer er ausbrechen mag — gewappnet sein. Sie will fähig sein, diesen Krieg — gegen wen auch immer, wo auch immer — unter allen Umständen führen und gewinnen zu können, und zwar so, daß ihr Territorium möglichst unberührt bleibt. Diese Kriegführungsfähigkeit, die zugleich Abschreckungsfähigkeit ist, erfordert den Aufbau und Unterhalt von Streitkräften, die ausreichend sind, um jeden nur denkbaren Fall abzudecken, also auch einen Zwei-oder Mehrfrontenkrieg etwa gegen Westeuropa, die USA und China.
Zum anderen glaubt sich die Sowjetunion in eine globale machtpolitische Auseinandersetzung mit dem „System des Kapitalismus" und vor allem mit seiner Vormacht, den USA, verwickelt. Der Kapitalismus wird sich, so die sowjetische Annahme, dem gesellschaftlichen Fortschritt entgegenstemmen. Er wird den Übergang von Staaten der Dritten Welt in das sozialistische Lager verhindern und — wenn er dennoch eintritt — rückgängig machen wollen, und zwar durch die Anwendung unterschiedlicher Machtmittel, darunter auch militärischer Macht. Diesen Versuchen gilt es für die Sowjetunion entgegenzutreten, und zwar am besten dadurch, daß man seinerseits weltweit einsetzbare Streitkräfte aufbaut und unterhält.
Und nicht nur das: Auch ihre in Osteuropa stationierten Streitkräfte sieht die Sowjetunion offenbar als wesentlichen Faktor in dieser globalen Auseinandersetzung mit dem „Kapitalismus" an. So ist ihre Option zu raum-greifender Offensive gegen Westeuropa — über die sie nach Ansicht des überwiegenden Teils westlicher Analytiker verfügt — nicht nur aus defensiven militärischen Gründen zu verstehen. Vielmehr gibt diese Option den Sowjets auch politische Verhandlungsmacht — bargaining power — gegenüber den USA und deren möglichen Versuchen, sowjetischen Einfluß dort entscheidend zu treffen, wo sie glauben, dies tun zu können.
Darüber hinaus setzt die Sowjetunion — auch wenn diese Funktion im sowjetischen Schrift-5 tum nur selten als solche anerkannt wird — ihre militärische Macht zielgerichtet zur Erreichung psycho-politischer Wirkungen ein. So hat sie, beginnend Mitte der siebziger Jahre mit dem Abflachen der Entspannung, einen Prozeß in Westeuropa initiiert, der auf Veränderung des politischen Bewußtseins der Bevölkerung abzielt. Es ist ein Prozeß, der von dem genau dosierten psychologischen Einsatz sowjetischer militärischer Macht unterhalten wird und dessen besonderes Raffinement darin besteht, daß die den Westeuropäern vor Augen geführte Bedrohung nicht von der Sowjetunion ausgeht, sondern von den USA bzw. von dem von diesen angeblich beabsichtigten Nuklearkrieg — mit dem Ergebnis, daß es die Westeuropäer sind, die diese Bedrohung abwenden können: indem sie sich nämlich von den USA und ihrer Nuklearstrategie lossagen
Diese doppelte militärisch-politische Motivation der sowjetischen Rüstung bedingt es, daß die Sowjetunion ein Militärpotential unterhält und immer weiter ausbaut, das im Westen als Ausdruck einer militärisch-politischen Überversicherung erscheinen muß, und auch eine solche Überversicherung darstellt. Dies kommt in folgenden Erscheinungen zum Ausdruck: Zum einen im sowjetischen Anspruch auf gleiche Sicherheit, d. h. im Anspruch, so viele militärische Machtinstrumente zu besitzen, wie alle potentiellen Gegner zusammen. Die Sowjetunion beansprucht also nicht nur ein dem amerikanischen gleichkommendes Militärpotential; sie will vielmehr — um es ganz einfach auszudrücken — so viel besitzen, wie die USA Westeuropa, China usw. zusammen. Das nämlich sind die militärisch-politischen Hauptgegner, denen sie sich gegenüber glaubt Dieser Anspruch — der vor allem bei den Nuklearwaffen erhoben wird — führt dann notwendigerweise dazu, daß die Sowjetunion gegenüber jedem einzelnen dieser potentiellen Gegner über militärische Überlegenheit — also über absolute Sicherheit — verfügt.
Damit zum zweiten Charakterzug sowjetischer Überversicherung: Er besteht im Trend zu quantitativer Überrüstung, also zur Herstellung militärischer Überlegenheit, die aus militärischen wie politischen Gründen angestrebt wird. Militärisch gesehen, will die Sowjetunion nicht lediglich sicherstellen, daß die andere Seite in einem Krieg nicht siegen kann; sie will vielmehr sicherstellen, daß sie selbst in jedem Falle einen solchen Krieg gewinnt Um dies aber garantieren zu können, will die Sowjetunion zumindest für die wahrscheinlichsten Abläufe über überlegene militärische Kräfte verfügen. Dies führt konsequenterweise zu quantitativer Überrüstung, zu einer Entwicklung also, zu der auch die sowjetische Überzeugung beiträgt, durch Masse, d. h. durch große Zahl, gegebene oder befürchtete qualitative Mängel und andere Nachteile wettmachen zu müssen. Politisch gesehen scheint die Sowjetunion der Auffassung zu sein, daß militärische Macht sich nur dann in politischen Gewinn umsetzen läßt, wenn es sich dabei um überlegene Macht handelt
III. Die grundsätzliche Haltung der Sowjetunion zur Rüstungskontrolle
Im Ergebnis ist die sowjetische Auffassung vom Stellenwert militärischer Macht also nicht so sehr verschieden von derjenigen, der zufolge es allein militärische Macht ist, die den Supermachtstatus der Sowjetunion begründet. Es kann daher dahinstehen, ob die westliche Perzeption oder die östliche Selbst-sicht der Wahrheit näher ist: In jedem Fall, bedingt es der Stellenwert militärischer Macht für die Sowjetunion, daß sie den westlichen Rüstungskontrollansatz, der auf Stabilität gerichtet ist — d. h. auf Begrenzung oder gar Ausschaltung offensiv nutzbarer militärischer Macht —, nicht akzeptiert und auch nicht akzeptieren kann:
Entweder benötigt die Sowjetunion — so die westliche Sicht — militärische Macht, um ihren Supermachtstatus zu begründen und aufrechtzuerhalten. In diesem Fall kann sie nicht daran interessiert sein, ihr Militärpotential allein zu Verteidigungszwecken zu nutzen und zu strukturieren; ihr kann auch nicht an Stabilität gelegen sein. Sie muß ihr Militärpotential vielmehr so strukturieren, daß es in der politischen Krise als Drohpotential benutzt werden kann und daß es der Umwelt auch außerhalb einer solchen Krise, das heißt im politischen Alltag, ständig als latentes Drohpotential vor Augen steht. Oder — so die sowjetische Sichtweise — die Sowjetunion benötigt militärische Macht zum einen, um den gesellschaftlichen Wandel im Weltmaßstab gegen die Verhinderungsversuche der Kapitalisten abzusichern, zum anderen, um über ein offensives Abwehrinstrument für den Fall eines Krieges zu verfügen. Aus beiden Motivationen heraus ist militärische Überlegenheit zumindest in Teilbereichen und zumindest in bestimmten Regionen für die Sowjets eine unabdingbare Voraussetzung. Militärische Überlegenheit aber ist vielfach gleichbedeutend mit Instabilität.
Und in der Tat sind die Sowjets nicht oder nur sehr teilweise an militärisch-politischer Stabilität interessiert. Im Gegenteil: Sie glauben offenbar, daß ihren militärisch-politischen Sicherheitsvorstellungen dann am besten gedient ist, wenn Instabilität vorliegt, allerdings eine Instabilität zu ihren Gunsten. Wenn also die Sowjets eine Angriffsoption besitzen, welcher der Westen keine oder nur unzureichende Verteidigungsoptionen entgegensetzen kann, so ist dies nach westlicher Auffassung ein Zustand abzulehnender Instabilität. Die Sowjetunion dagegen hat gegen einen solchen Zustand nichts einzuwenden. Zwar mag er nach westlichen Kriterien instabil sein, aber eben nur nach westlichen Kriterien. Nach sowjetischen Kriterien ist ein solcher Zustand dagegen anzustreben und zu begrüßen, weil er die politisch-militärischen Anforderungen der Sowjetunion erfüllt.
Aber es ist nicht nur die so gesehene Rolle militärischer Macht, die westliche Rüstungskontrollvorstellungen und östliches Sicherheitskonzept unvereinbar machen. Im Grunde genommen liegen die Gegensätze tiefer, nämlich auf der Ebene des jeweiligen Staatsverständnisses, auf der Ebene der Ideologie, auf der Ebene der prinzipiellen außenpolitischen Vorstellungen. Der Westen ist auf Erhaltung des Status quo ausgerichtet, auf Konservierung der gegenwärtigen Machtverhältnisse. Das heißt nicht, daß er lediglich verharrend-abwartend-defensiv ausgerichtet ist. Vielmehr vertraut man im Westen darauf, daß sich das eigene Modell individueller Freiheitsrechte und die damit verknüpften wirtschaftlichen und politischen Möglichkeiten auf mittlere Frist überall durchsetzen werden, d. h. weltweit zum Tragen kommen, wenn auch möglicherweise langsam. Dazu benötigt man indessen keine militärische Macht; vielmehr ist ein Zustand militärischer Stabilität optimal für die Durchsetzung westlicher Interessen.
Die Sowjetunion dagegen ist keine Statusquo-Macht — und kann es nach ihrem Selbstverständnis auch gar nicht sein. Für sie besteht das internationale Leben aus ständiger Auseinandersetzung; es findet ein internationaler Klassenkampf statt, in dem die Gegensätze hart aufeinanderprallen. In diesem Kampf werden sich die Kräfte des Sozialismus gesetzmäßig durchsetzen; aber nicht gänzlich von allein: Man muß vielmehr nachhelfen, um den Kapitalismus von seinen letzten Bastionen zu vertreiben und seine Rückkehr zu verhindern. Vor diesem Hintergrund ist militärische Stabilität, so wie es der Westen versteht, etwas, was den sowjetischen Interessen wie dem sowjetischen Selbstverständnis in vielem widerspricht.
IV. Die Ziele sowjetischer Rüstungskontrollpolitik
Vor diesem Hintergrund kann es in der Regel keine Akzeptierung westlicher Rüstungskontrollvorstellungen durch die Sowjetunion geben, und es gibt sie auch nicht. Gleichwohl betreibt die Sowjetunion — so jedenfalls die westliche Auffassung — Rüstungskontrollpolitik. In der Tat ist es unbezweifelbar, daß die UdSSR mit den USA und mit westeuropäischen Staaten diverse Rüstungskontrollabkommen geschlossen hat und daß sie sich an Rüstungskontrollverhandlungen beteiligt. Damit stellt sich die Frage, was denn die Sowjetunion mit diesem Vorgehen bezweckt, warum sie überhaupt Rüstungskontrollverhandlungen mit dem Westen führt.
Die Antwort lautet, daß die Sowjetunion all dies tut, weil für sie Rüstungskontrolle — wie es Alois Mertes einmal in einer Abwandlung von Clausewitz’ berühmtem Ausspruch gesagt hat — die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist. Was soll das heißen? Das soll heißen, daß die Sowjetunion Rüstungskontrollpolitik nicht — wie häufig der Westen — isoliert, als abgesonderte, gleichsam techni-sehe Materie betreibt, sondern integriert in die sowjetische Außen-und Sicherheitspolitik und mit deren Zielen. Sowjetische Rüstungskontrollpolitik hat demgemäß nicht in erster Linie das Ziel, die militärische Sicherheitslage der UdSSR zu verbessern, sondern sie zielt darauf ab, politische Strukturen im Westen zu beeinflussen und zu verändern. Anders formuliert: Sie zielt in erster Linie auf Beeinflussung und Veränderung des politisch-psychologischen Bewußtseins der Bevölkerung westlicher Staaten ab, und zwar mit dem Kalkül, daß, wenn sich dieses Bewußtsein ändert, sich auch die politischen Verhältnisse ändern.
Wenn die Sowjetunion also etwa eine nuklearwaffenfreie Zone für Nord-oder Mitteleuropa vorschlägt, so soll der west-und nordeuropäischen Bevölkerung eindringlich vor Augen geführt werden, daß ihre Verteidigungsstrategie den Einsatz der in Westeuropa gelagerten zahlreichen amerikanischen Nuklearwaffen vorsieht, daß Kern dieser Strategie die Drohung mit dem Ersteinsatz dieser Waffen ist; daß die Sowjetunion demgegenüber auf einen solchen Ersteinsatz verzichtet hat, daß — wenn dennoch von der NATO Nuklearwaffen eingesetzt werden — dies letztlich zur Zerstörung des Gebietes führen wird, das man doch verteidigen will. Die Schlußfolgerung, die viele aus dieser sowjetischen Argumentation ziehen, ist, auf Nuklearwaffen zu verzichten. Das nun wiederum untergräbt die NATO-Strategie, es treibt einen Keil zwischen Westeuropäer und Amerikaner; es führt letztlich dazu, den Gedanken der Neutralität zumindest der Bundesrepublik Deutschland wieder zu beleben. Und genau darauf zielt die Sowjetunion mit ihrem Vorschlag einer nuklearwaffenfreien Zone auch ab. Entsprechende Zielrichtungen der Sowjetunion sind bei nahezu allen sowjetischen Rüstungskontrollvorschlägen nachzuweisen.
Neben dieser prinzipiellen Zielsetzung sowjetischer Rüstungskontrollpolitik gibt es andere Zielsetzungen, wie es überhaupt ein Irrtum ist anzunehmen, sowjetische Politik kenne stets nur eine Motivation und eine Zielrichtung. Es ist vielmehr immer ein ganzer Fächer politischer Vorstellungen, der hinter jeder Art sowjetischer Politik steht, wobei es allerdings meist eine hervorstechende Farbschattierung gibt. Im Falle der sowjetischen Rüstungskontrollpolitik besteht sie, wie gesagt, in dem Ziel der Beeinflussung und Veränderung politischer Strukturen im Westen.
Nun zu den Nebenzielen sowjetischer Rüstungskontrollpolitik (die manchmal so in den Vordergrund treten, daß sie zu Hauptzielen werden und umgekehrt das Hauptziel zum Nebenziel). Als wichtigstes Nebenziel ist dabei das sowjetische Bestreben zu nennen, es dem Westen zu verwehren, militärtechnologische Vorteile zu erreichen Die Sowjets sind sich zwar durchaus der Tatsache bewußt, daß auch ihre eigene Militärtechnologie Spitzenleistungen hervorbringt; dennoch trauen sie dem Westen und dabei insbesondere den USA in dieser Hinsicht sehr viel mehr Innovationskraft als sich selber zu. Stets hegen sie die Befürchtung vor einem großen waffen-technologischen Durchbruch der USA Und wenn diese Befürchtungen ganz oder teilweise bestätigt werden, setzen die Sowjets Rüstungskontrollvorschläge ein, um den USA weitere technische — und damit auch politische — Vorteile zu verwehren.
Das war 1969 so, als die Sowjets erkannten, daß das amerikanische Raketenabwehrsystem (ABM) dem ihren überlegen war. Diese Erkenntnis war eine der Hauptantriebskräfte der sowjetischen SALT-Politik. Später waren es die amerikanischen Cruise Missiles, welche die sowjetischen Verhandlungsvorschläge für SALT II maßgeblich prägten. Gegenwärtig ist es die sowjetische Besorgnis über die politischen (wie wirtschaftlichen) und möglicherweise auch die militärischen Konsequenzen von SDI, die ein wesentliches Motiv für die Bereitschaft der Sowjetunion darstellt, mit den USA über strategische Waffen zu verhandeln.
Die Sowjets befinden sich dabei in einem gewissen Dilemma: Ihre primäre Zielrichtung ist es, die Einführung für überlegen gehaltener amerikanischer Waffensysteme zu verhindern. Um dies zu erreichen, müssen sie sich einerseits in das System westlicher Rüstungskontrollvorstellungen begeben, d. h„ sie müssen letztlich die westliche Argumentationsweise übernehmen und Stabilität auch als sowjetisches Ziel bezeichnen. Zum anderen müssen sie sich zu einer Gegenleistung bereitfinden, um amerikanische Einschränkungen auf dem Gebiet fortgeschrittener Rüstung herbeizuführen; denn auch in Rüstungskontrollverhandlungen bekommt man nichts, ohne dafür etwas zu geben. Und bei diesen Gegenleistungen zeigen sich die Sowjets regelmäßig und verständlicherweise sehr zurückhaltend.
Ein weiteres Nebenziel besteht in dem sowjetischen Bestreben, die Kosten der Rüstung im Rahmen zu halten. Eine Erkenntnis ist hier allerdings vorauszuschicken: Die Sowjetunion wird keine Kosten scheuen, wenn sie bestimmte Rüstungsprogramme für unbedingt notwendig hält. Nach Möglichkeit möchte sie jedoch diese Kosten niedrig halten, und zwar auch dadurch, daß Rüstungskontrollverträge ihr klare Berechnungsgrundlagen für das Ausmaß westlicher Rüstung geben.
Dieses Motiv ist allerdings — SDI mag das geändert haben — bisher kaum je entscheidend für sowjetische Rüstungskontrollvorschläge gewesen; und im übrigen ist die Sowjetunion zwar bereit, sich an einer Senkung des Rüstungsniveaus zu beteiligen, doch sollen die Relationen nach Möglichkeit die alten bleiben, d. h. eine sowjetische Überlegenheit muß auch nach Durchführung von Rüstungskontrollabkommen und nach entsprechenden Reduzierungen erhalten bleiben, wenn auch auf niedrigerem Niveau. Nichts anderes jedenfalls meint die sowjetische Standardformel, wie sie regelmäßig in sowjetischen Rüstungskontrollvorschlägen auftaucht, nämlich die „unverminderte Sicherheit", nach der es zu streben gelte.
Nun zum letzten und wichtigsten Nebenziel, das man auch als Bestandteil des politischen Hauptzieles begreifen kann. Es ist dies die Selbstdarstellung der Sowjetunion als einer prinzipiell friedliebenden Macht und die Darstellung der USA als einer prinzipiell friedensfeindlichen Macht. Dieses Ziel und die entsprechende Vorgehensweise werden von der Sowjetunion nicht immer verfolgt; in ernsthaften Gesprächen mit den USA werden sie, selbstverständlich, außer acht gelassen. Aber in Rüstungskontrollgesprächen mit den Westeuropäern wird diese Propaganda — zumal wenn es um die Verhinderung neuer Waffensysteme der Amerikaner geht — regelmäßig eingesetzt. Dabei wird den Westeuropäern suggeriert, es gäbe ein „gemeinsames Haus" Europa, in dem West-wie Osteuropa und natürlich auch die Sowjetunion Haus-recht genössen. Die USA indessen hätten in diesem „gemeinsamen Haus“ Europa nichts zu suchen; sie seien Fremde, Eindringlinge, die dieses Haus nur für ihre finsteren Zwecke benutzen wollten und dabei gleichsam ständig die Hausordnung verletzten. Gleichzeitig wird den Westeuropäern suggeriert, die Amerikaner wollten in Europa und auf Kosten der Westeuropäer einen begrenzten Nuklear-krieggegen die Sowjetunion führen, bei dem sie selbst — also die USA — unversehrt blieben.
Die Zielrichtung all dieser Argumente — die allerdings diesen Namen kaum verdienen — ist klar: Auf der einen Seite soll ein Keil zwischen Westeuropäer und Amerikaner getrieben werden, die gemeinsame Verteidigung Westeuropas soll letztlich unmöglich gemacht werden; auf der anderen Seite soll die Sowjetunion als die Macht erscheinen, welche allein die Sicherheit Europas gewährleisten kann, als eine Macht überdies, die so friedliebend ist, daß man sich ihr getrost anvertrauen kann. Es soll also weithin deutlich gemacht werden, daß die Westeuropäer Sicherheit nicht gegen die Sowjetunion erreichen können, sondern nur mit ihr zusammen. Das klingt nur scheinbar so, als ob die Sowjetunion zu „gemeinsamer Sicherheit" bereit sei: Sicherheit zusammen mit der Sowjetunion zu erreichen heißt für die UdSSR, daß sie es ist, welche die Bedingungen dieser Sicherheit definiert; daß es ihre Belange sind, die dabei im Vordergrund stehen; daß sie die Macht ist, welche die europäische Sicherheit bestimmt. Die Sicherheitsbedürfnisse der Westeuropäer jedenfalls sind von der Sowjetunion noch nie als solche anerkannt worden: Die UdSSR ist bisher, ihrem ganzen Sicherheitsverständnis entsprechend, nicht in der Lage gewesen, öffentlich einzuräumen, daß die Westeuropäer sich vom sowjetischen Militärpotential bedroht fühlen könnten. Ob die jüngsten Erklärungen von Generalsekretär Gorbatschow eine Abkehr von dieser Haltung bedeuten bleibt abzuwarten. Man möchte es glauben; doch ist auch die sowjetische Führung an ihren Taten und nicht an ihrer Rhetorik zu messen.
V. Einige Schlußfolgerungen
Wenn man die sowjetische Haltung zur Rüstungskontrolle unter den genannten prinzipiellen Gesichtspunkten beobachtet, so lassen sich einige Vorhersagen künftigen sowjetischen Verhaltens treffen; darüber hinaus sind einige Schlußfolgerungen hinsichtlich der westlichen Rüstungskontrollpolitik unausweichlich: 1. Die Sowjetunion wird weiterhin bereit sein, Rüstungskontrollverhandlungen in nahezu allen Bereichen zu führen; sie wird weiterhin entsprechende Angebote machen. Nur so kann die UdSSR ihre politischen Ziele erreichen, die sie mit Rüstungskontrolle vornehmlich verfolgt. Der Rückzug der Sowjetunion von den INF-und START-Verhandlungen sowie ihre relativ schnelle Rückkehr an den Verhandlungstisch sprechen in dieser Hinsicht eine deutliche Sprache
2. Zu Konzessionen, die diesen Namen verdienen und die eine Bereitschaft zu „gemeinsamer Sicherheit“ ausdrücken, wird die Sowjetunion sich nur dort verstehen, wo dies mit ihren Rüstungskontrollzielen vereinbar'ist: bei den strategischen Waffen Hier gebieten ihre politischen Interessen der Sowjetunion geradezu, mit den USA Rüstungskontrollverhandlungen zu führen und entsprechende Vereinbarungen zu treffen: Eine zwi-sehen den beiden großen Nuklearmächten vertraglich festgeschriebene nuklearstrategische Parität dokumentiert den Supermachtstatus der Sowjetunion und gibt ihr optimale Möglichkeiten für die Führung ihrer Außenpolitik gegenüber dritten Ländern. Insbesondere die politische Ausnutzung regional überlegener militärischer Macht gegenüber jenen Staaten, deren Sicherheit letztlich auf der amerikanischen Nukleargarantie beruht (also vor allem die europäischen NATO-Mitglieder), wird durch eine vertraglich geregelte strategische Parität weitestgehend gefördert (dagegen wäre sowjetische Überlegenheit auf diesem Sektor — selbst wenn sie zeitweilig erreichbar wäre — politisch eher kontraproduktiv.) Darüber hinaus geben Rüstungskontrollverhandlungen bei den strategischen Waffen der Sowjetunion eine gewisse Garantie gegen technologische Durchbrüche der USA wobei die Sowjets — gerade ihre Haltung zu SDI deutet dies an — eher die politische und wirtschaftliche denn die militärische Wirkung derartiger Durchbrüche der USA zu fürchten scheinen. Es liegt an den USA, diese Befürchtungen der Sowjets in geeigneter Weise bei den Verhandlungen zu nutzen.
3. Was Europa betrifft, sind sowjetische Konzessionen, die zu mehr Stabilität — im westlichen Sinne verstanden — führen, nicht zu erwarten: Die Sowjetunion wird nicht zu Maßnahmen bereit sein, die ihre militärischen und damit ihre politischen Optionen auch nur annähernd einschränken Aucheinseitiges westliches Vorgehen („Vorleistungen") dürfte sie nicht dazu veranlassen
4. Für den Westen stellt sich damit die Frage, wie er sich einem Staat gegenüber verhalten soll, der seinem Selbstverständnis nach — außer bei den strategischen Waffen — zu wirklicher Rüstungskontrolle nicht bereit ist Nicht zu verhandeln scheidet als Option nach dem in Westeuropa herrschenden Selbstverständnis aus: Die westeuropäischen Staaten sehen — zu Recht — in beständiger Verhandlung, gedacht „als Kontrollprozeß zur Begrenzung des Konfliktrisikos und zur Beeinflussung des potentiellen Gegners, die unerläßliche Ergänzung zur Rüstungs-und Verteidigungsplanung“
Derartige Verhandlungen dürfen indessen nicht in einer großangelegten Halteoperation defensiv geführt werden; vielmehr sollten sie in einer offensiven Rüstungskontrolldiplomatie auf den Abbau der militärischen Offensiv-fähigkeit des Warschauer Pakts abzielen Nur so kann nach außen wie nach innen klargestellt werden, wer die Verpflichtung zum Gewaltverzicht im militärischen Bereich zu substantiieren bereit ist und wer nicht; nur so kann die Sowjetunion zum Nachdenken über wirkliche Rüstungskontrollbeschränkungen veranlaßt werden. Der Westen jedenfalls hat Vorschläge, die auf eine beiderseitige „strukturelle Nichtangriffsfähigkeit“ abzielen, nicht zu fürchten
5. Die mangelnde Bereitschaft der Sowjetunion zu wirklicher Rüstungskontrolle in Europa festzustellen, bedeutet lediglich Anerkennung der Realität. Der Entspannung wird damit keine Absage erteilt. Im Gegenteil: Der Konflikt zwischen West und Ost in Europa ist ein politischer Konflikt — in erster Linie ist er durch politische Mittel zu lösen. Hier ist für die Entspannungspolitik noch viel Raum. Dabei bestehen für Fortschritte um so mehr Chancen, je mehr man sich im Westen von der — von der Sowjetunion genährten — Vorstellung freimacht, in Rüstungskontrollverhandlungen und -Vereinbarungen, so wie sie die Sowjetunion versteht, eine wesentliche Quelle der eigenen Sicherheit zu sehen.