I. Entschließungs-und Durchsetzungsmacht der Dritten Welt
Seit Mitte der siebziger Jahre haben die Forderungen der Dritten Welt eine neue Qualität erhalten. Vor allem die Erfolge des OPEC-Kartells haben deutlich gemacht, daß die Entwicklungsländer über Durchsetzungsmacht verfügen. Dies läßt sich nicht nur aus ihrer Position als Rohstoffanbieter ableiten. Vielmehr kann der Sachverhalt nicht übersehen werden, daß an Stelle der häufig behaupteten Abhängigkeit der Entwicklungsländer („Peripherie") von den Industrieländern („Metropolen“ bzw. „Zentrum") in zunehmendem Maße das Augenmerk auf die Interdependenz, auf die gegenseitige Abhängigkeit von Industrie-und Entwicklungsländern gelenkt wird.
Darüber hinaus wird mit Recht im Hinblick auf die Bedeutung der Entwicklungsländer als Rohstofflieferanten die „umgekehrte wirtschaftliche Abhängigkeit“ hervorgehoben, die in Abweichung von den Aussagen der Dependenztheorien zunehmend Bedeutung erhält. Der wirtschaftliche Fortschritt der Entwicklungsländer hat, so Michael Todaro, „direkte Auswirkungen auf die Wirtschaft der Industrieländer, und diese umgekehrte wirtschaftliche Abhängigkeit wird sich in den achtziger Jahren weiter vergrößern."
Auch verfügen die Entwicklungsländer seit der Dekolonialisierung über die Macht der Die neue Qualität der Forderungen der Entwicklungsländer beruht indessen nicht nur auf der Erkenntnis eigener Machtpositionen, sondern insbesondere auch auf einer tief empfundenen Enttäuschung über den bisherigen Entwicklungsverlauf sowie über das Ausmaß westlicher Entwicklungshilfe. Dabei wird die äußerst dürftige Hilfe des Ostblocks viel-großen Zahl. Sie haben es verstanden, sich als Block zu organisieren und die daraus resultierende Entschließungsmacht völkerrechtlich zu nutzen.
Die Dritte Welt weiß zudem, daß ihre Mitarbeit bei der Lösung weltweiter Probleme unverzichtbar ist, um zahlreicher globaler Schwierigkeiten Herr zu werden. Die atomare Bedrohung, die wachsende Verschmutzung der Meere und der Luft, der Verlust der tropischen Wälder und die damit verbundenen großräumigen Folgen, so z. B. eine Beeinträchtigung des Wasserhaushaltes oder das Aussterben von Tier-und Pflanzenarten, erfordern weitreichende internationale rechtlich verbindliche Vereinbarungen und Abkommen, die nur dann zustande kommen, wenn gleichermaßen Industrie-wie auch Entwicklungsländer die Bereitschaft aufbringen, zur Lösung beizutragen.
In den Industrieländern wird heute überdies verstärkt für die Entwicklungsländer Partei ergriffen. Zahlreiche Gruppen mit sehr unterschiedlichen Zielsetzungen fühlen sich aufgerufen, für die Weiterentwicklung der Zurückgebliebenen, für ein Mindestmaß an menschlicher Solidarität sowie für das Lebensrecht eines jeden Menschen einzutreten.
II. Forderungen der Dritten Welt
fach kaum beachtet Kapital-und technische Hilfe haben den desolaten Zustand weiter Bereiche der Dritten Welt nicht wesentlich zu verändern vermocht. Mit zunehmender Härte und wachsender Geschlossenheit verfolgen die Länder der Dritten Welt daher im Rahmen der UNO und bei internationalen Konferenzen ihre Ansprüche, wie sie beispielsweise in der von den Vereinten Nationen im Dezember 1974 verabschiedeten „Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten“ zum Ausdruck gebracht werden. Wenngleich sehr abstrakt, fordert die „Charta" u. a.:
— die Bekräftigung der Notwendigkeit, die internationale Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Entwicklung zu verstärken:
— die Errichtung der Neuen Weltwirtschaftsordnung (NWWO) zu fördern, die auf Gerechtigkeit, souveräner Gleichheit, gegenseitiger Abhängigkeit, gemeinsamem Interesse und der Zusammenarbeit aller Staaten ungeachtet ihres wirtschaftlichen und sozialen Systems beruht;
eine und gerechte Wirtschafts-und faire — Sozialordnung zu errichten und aufrechtzuerhalten; — die kollektive wirtschaftliche Sicherheit zur Entwicklung insbesondere der Entwicklungsländer unter strenger Achtung der souveränen Gleichheit aller Staaten und durch die Zusammenarbeit der gesamten Völkergemeinschaft zu fördern;
— ein System internationaler Wirtschaftsbeziehungen auf der Grundlage der souveränen Gleichheit, des gegenseitigen gerechten Nutzens und der engen Wechselbeziehung zwischen den Interessen aller Staaten zu entwickeln. Hinsichtlich der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten fordert die „Charta" u. a. das souveräne und unveräußerliche Recht eines jeden Staates, sein Wirtschaftssystem sowie sein politisches, soziales und kulturelles System entsprechend dem Willen seines Volkes ohne Einmischung, Zwang oder Drohung irgendwelcher Art von außen zu wählen, ausländische Investitionen in seinem nationalen Hoheitsbereich nach Maßgabe seiner Rechts-und sonstigen Vorschriften und entsprechend seinen nationalen Zielen und Prioritäten zu regeln und staatliche Gewalt über sie auszuüben und ausländisches Vermögen zu verstaatlichen, zu enteignen oder das Eigentum daran zu übertragen, wobei der diese Maßnahme treffende Staat gemäß seinen einschlägigen Rechts-und sonstigen Vorschriften eine angemessene Entschädigung zahlen soll.
Die „Charta" spricht schließlich allen Staaten das Recht zu, sich in Organisationen von Grundstofferzeugern zusammenzuschließen, um ihre nationalen Volkswirtschaften zu entwickeln, und macht ihnen zur Aufgabe, insbesondere im technologischen Bereich zusammenzuarbeiten, weil jeder Staat das Recht hat, an den Fortschritten und Entwicklungen in Wissenschaft und Technologie zur Beschleunigung seiner wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung teilzuhaben
Dem Beschluß über die „Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten" war im Frühjahr 1974 die von der 6. UN-Sonder-Generalversammlung verabschiedete „Erklärung über die Errichtung einer Neuen Weltwirtschaftsordnung" vorausgegangen. In ihr spiegelt sich die Ansicht der Entwicklungsländer wider, die Struktur des internationalen Wirtschaftssystems müsse als entscheidendes Entwicklungshemmnis für ihre eigene Weiterentwicklung gesehen werden. Jenes sei durch eine den besonderen Interessen der Entwicklungsländer dienende neue Weltwirtschaftsordnung zu reformieren, so beispielsweise durch: — umfangreichere und stetigere öffentliche Entwicklungshilfe ohne politische und militärische Bedingungen;
— Rückerstattung von Einnahmen aus Zöllen und anderen Schutzmaßnahmen gegen Produkte der Entwicklungsländer; — Einsatz von Mitteln, die durch Abrüstung eingespart werden können;
— Abbau von tarifären und nicht-tarifären Hemmnissen, um den Entwicklungsländern einen besseren Zugang zu den Märkten der Industrieländer zu verschaffen;
— Ausweitung des Anteils der Entwicklungsländer an der Weltindustrieproduktion von gegenwärtig 7% auf 25% im Jahr 2000;
— Vorzugszölle bei Exporten in die Industrieländer ohne Gegenleistung;
— Mitspracherecht bei der Reform des internationalen Währungssystems sowie Verbesserung der Verteilung der Sonderziehungsrechte beim IWF unter Berücksichtigung des Entwicklungsbedarfs;
— Stabilisierung der Rohstoffmärkte durch langfristige multilaterale Rohstoffabkommen unter besonderer Berücksichtigung der Wettbewerbsfähigkeit von Naturprodukten gegenüber synthetischen Ersatzstoffen;
— Förderung der Bildung von Rohstofferzeugervereinigungen; — eine auf die Entwicklungsländer abgestimmte Strategie des Technologietransfers; — Schaffung eines internationalen Verhaltenskodex für transnationale Unternehmen Trotz ihrer offenkundigen Plausibilität sind manche der an die Industrieländer gerichteten Forderungen nicht problemlos. So beharren die zur Verrechtlichung einer Neuen Weltwirtschaftsordnung drängenden Entwicklungsländer einerseits auf der vollen Wahrung der Souveränität des eigenen Landes, andererseits üben sie gleichzeitig Kritik an einer Weltwirtschaftsordnung, die auf dem Prinzip der nationalen Souveränität basiert Die Betonung der Souveränität über die eigenen Ressourcen, so ihre Argumentation, belaste die Bemühungen um einen juristischen Rahmen für eine Neue Weltwirtschaftsordnung und kollidiere mit den Prinzipien der Zusammenarbeit und der internationalen Solidarität als möglicher Grundlage einer neuen völkerrechtlichen Entwicklung. Ein realitätsbezogener Ansatz zur Lösung dieses Problems wird dem Umstand Rechnung tragen müssen, daß zwischen der theoretisch-dogmatischen Sicht, aus der die Völkerrechtswissenschaft Art und Umfang eines solchen Beitrags beurteilt, und der praktischen Anwendung des geltenden Völkerrechts durch die Staaten der Welt eine beträchtliche Lücke klafft
Muß man realistischerweise von einem grundsätzlichen Festhalten an der Souveränität über die eigenen Ressourcen bei Entwicklungsländern wie auch bei Industrieländern ausgehen, so zwingen andererseits konkrete Umstände im Nord-Süd-Verhältnis zur internationalen Zusammenarbeit auf den verschiedensten Gebieten. Aussagen darüber, wie sich Rechtsnormen im Prozeß wirtschaftlicher Zusammenarbeit und Integration tatsächlich entwickeln werden, sind jedoch nur schwer und mit einer Reihe von Vorbehalten zu machen. Sollten die Forderungen der Entwicklungsländer allerdings über Stadium politischer Vorstellungen hinausgehen, wird man sich sicherlich rechtlicher Instrumente bedienen müssen, um die Stabilität der Rahmenbedingungen wirtschaftlicher Tätigkeiten und der Kooperationsgrundlagen zu wahren. Erfahrungsgemäß werden nämlich langfristige Kooperationsvorhaben ohne einigermaßen abgesicherte stabile Rahmenbedingungen und vertragliche Abmachungen nicht in Angriff genommen.
Die wichtige Frage der Stabilität für Nord-Süd-Wirtschaftskooperationen hat bereits zu erheblichen Kontroversen zwischen Industrie-und Entwicklungsländern geführt Die Entwicklungsländer fühlten sich durch die Stärke der Industrienationen zunehmend politischem und wirtschaftlichem Druck ausgesetzt, während die letztgenannten sich mit ihrer Ansicht häufig wechselnden und wirtschaftlich unverständlichen Forderungen und Entscheidungen konfrontiert sahen, die einer langfristig gesicherten Investition im Wege standen. Um so mehr ist es an der Zeit, solche Organisationsinstrumente zur Institutionalisierung von Kooperation (Gesellschaft, Vertrag) zur Verfügung zu stellen, im Rahmen derer die komplexen Interdependenzen angemessene Berücksichtigung finden. Inwieweit dies durch die Konzeption einer „dynamischen Stabilität" als Basis für einen Konsens, der den Interessen der Nord-und der Süd-partner Rechnung trägt, geschehen kann, wird die weitere Entwicklung zeigenkönnen.
Investitionssicherheit wird auf die Dauer nur zu erreichen sein, wenn Vertragstreue beiden Vertragspartnern als Grundlage einer dauerhaften, auf beiderseitigen Vorteil ausgerichteten Zusammenarbeit dient. Rechtsformen , die diese stets gemachten Erfahrungen nicht berücksichtigen und voreilige praxisferne Forderungen nach einseitiger Änderung abgeschlossener Verträge enthalten, schaffen keine Rechtssicherheit, sondern Rechtsunsicherheit mit weit mehr negativen Folgen für die Entwicklungsländer als für die Industrieländer. Eine dauerhafte Nord-Süd umfassende Rechtsordnung wird allerdings nur dann Bestand haben, wenn alle Partner aus einer Position verhandeln können, die verhindert, daß ungleiche Verträge unter Ausnutzung von Not und Schwäche zustande kommen, wie dies in der kolonialen Periode und leider häufig noch in Zeit nach der Entlassung in der die Unabhängigkeit anzutreffen war. Welche konkreten Rechtsformen dabei zugrunde gelegt werden, sollte nicht vom Prestigedenken beeinflußt werden. Radikale, durch ideologische und religiöse Vorstellungen motivierte Forderungen dürften dabei wenig hilfreich sein und nicht zur Stabilisierung umfangreicher Kooperationen beitragen. Nord und Süd werden somit lernen müssen, daß Planungserwartungen und Koordinationserfordernisse sich auf gemeinsam akzeptierte rechtliche Instrumente abstützen müssen, da wirtschaftliche Zusammenarbeit sich ohne bürokratisch-formal organisierte Entscheidungsprozesse kaum realisieren läßt
Etwaige neue Vertragsformen werden dabei wohl nicht unbeeinflußt bleiben von Rechts-kulturen westlicher Provenienz, wie andererseits auch die Entwicklungsländer nicht daran gehindert sind, eigene rechtliche Instrumente einzubringen, die sie als selbständige Akteure bei der Gestaltung neuer Rechtsbeziehungen ausweisen. Für die Industrieländer ist eine solche Entwicklung nicht neu. Die Rezeption, das heißt der Import und die Umsetzung nicht-nationaler Rechtsformen, wie etwa des römischen oder angelsächsischen Rechts, hat in der Entwicklung der europäischen Staaten eine bedeutende und nicht zu unterschätzende Rolle gespielt Auch ist bekannt, daß sich in zahlreichen Entwicklungsländern wirtschaftliche Kooperationen ohne jene legalistischen Strukturen vollzogen haben, die wir aus den westlichen Staaten kennen, mithin europäische Rechtsformen nicht immer Voraussetzung für eine erfolgreiche Entwicklung gewesen sind. Die Industrienationen, an die vorbenannten legalistischen Strukturen gewöhnt werden sich wohl oder übel mit bisher unbekannten und ungebräuchlichen Rechtsformen befassen müssen, die im Bereich der asiatischen Region seit Jahrhunderten Grundlage für Geschäftsbeziehungen sind. Im Ergebnis aber wird eine Zusammenarbeit Industrie-Entwicklungsländer wohl nur dann Bestand haben, wenn rechtlich einvernehmliche Kooperationsformen als unabdingbare Voraussetzungen für stabile Wirtschaftsbeziehungen anerkannt werden, ohne die Export und Import, Kapitalbewegungen und Technologie-transfer schwer vorstellbar sind. Die auf diesem Gebiet bewährten europäischen Rechts-vorschriften könnten in gleicher Weise für die Entwicklungsländer vorteilhaft sein, da sie auf Interessenausgleich und langfristig angelegte Wirtschaftsbeziehungen ausgerichtet sind.
Gemeinsam zu entwickelnde Kooperationsformen geben überdies den Entwicklungsländern die Möglichkeit, noch am ehesten bei der Entstehung und Verwendung angemessener Rechtsinstrumente ihre eigenen Erfahrungen einzubringen, d. h. mitgestaltend tätig zu werden, wobei die Industrienationen dies als Evolution von Instrumenten und Institutionen zu einem Weltwirtschaftsrecht respektieren müssen, soll die Zusammenarbeit zwischen ihnen und der Dritten Welt im Rahmen einer gleichberechtigten Kooperation vorangetrieben und gefördert werden.
Mag es auch rechtslogisch schlüssig und darüber hinaus ein Akt schöpferischer Interpretation sein, aus der Charta eine allgemeine Kooperationspflicht der Staaten untereinander und aus dieser wiederum die Pflicht der Industriestaaten zur Unterstützung der Entwicklungsländer zu deduzieren, so dürfte eine daraus folgende Entwicklung günstigerer Kooperationsformen für die Dritte Welt in der Praxis gleichwohl mit dem Risiko behaftet sein, von einer häufig von nationalen Interessen bestimmten Wirklichkeit stets mehr oder minder korrigiert zu werden.
Der kreative Akt des Völkerrechtswissenschaftlers wird daher so lange ohne innovative Folgen bleiben, wie der Konsens der beteiligten Staaten nicht gegeben ist. Läßt sich kein Konsens erwirken, dann bleibt die Rechtsqualität von eingegangenen Verpflichtungen umstritten, ihre Ineffektivität wird offenkundig
Die Forderungen der Dritten Welt erstrecken sich weit über den engen wirtschaftlichen Bereich hinaus. Erwähnt seien in diesem Zusammenhang die neue Informationsordnung (NIO) und die Neuordnung des Seerechts. 1. Die neue Informationsordnung Mit Argwohn und Kritik betrachtet eine große Anzahl der Entwicklungsländer den nach ihrer Meinung einseitigen Informationsfluß durch die großen westlichen Nachrichtenagenturen, sei es bei der reinen Nachrichtenvermittlung, sei es durch Vermittlung westlicher Lebens-und Denkweisen. Die dadurch entstandene kulturelle Überfremdung und politische Abhängigkeit, so wird argumentiert, gekoppelt mit einer nicht einzulösenden Erwartungshaltung der Bevölkerung gegenüber wirtschaftlichen und sozialen Fortschritten, hätten der Dritten Welt beträchtliche Nachteile gebracht.
Zweifellos sind manche dieser Vorwürfe gegenüber westlichen Informations-und Kommunikationsverfahren angebracht Allerdings sollte man in diesem Zusammenhang auch nicht die Augen vor jenen Informationspraktiken verschließen, die in zahlreichen Entwicklungsländern anzutreffen sind. Noch immer ist demokratische Meinungsvielfalt mit unzensierter und freier Presse weithin unbekannt oder gar verboten.
Die Verfassungen der Entwicklungsländer enthalten zwar einen ausgeprägten Grundrechtsteil und hinsichtlich von Meinungsund Informationsfreiheit fehlt es nicht an umfangreichen und eindrucksvollen Formulierungen, die die Grundrechtsverbürgungen klassischer Demokratien weit übertreffen. Das Ergebnis aber ist keine Erweiterung des Grundrechtsschutzes. Freiheitsrechte werden, von geringen Ausnahmen (wie in Art 37 der indischen Verfassung) abgesehen, nicht in ein einklagbares subjektiv-öffentliches Recht umgesetzt Vielmehr hat die Exekutive in weiten Bereichen die Zensur übernommen, ohne daß das Parlament eine effektive Kontrolle und Ausbalancierung der Macht ausüben könnte. Daher darf auch nicht übersehen werden, daß beispielsweise die Nachrichtensendungen von Sendern der westlich orientieren demokratischen Industrieländer in hohem Maße zu einer Objektivierung der Berichterstattung beitragen können.
Den Forderungen von Ländern der Dritten Welt nach Hilfe beim Aufbau nationaler und regionaler Nachrichtenagenturen und anderer Medien sollte von den westlichen Industriestaaten somit entsprochen werden. Allerdings darf diese Hilfe nicht dazu beitragen, eine pluralistische Meinungsbildung zu verhindern, überkommene Strukturen zu verfestigen oder totalitäre Regime gleich welcher Couleur gegen alle demokratischen Tendenzen zu unterstützen. Dies würde nicht einer neuen Informationsordnung, sondern der Einschränkung der Pressefreiheit dienen und könnte demzufolge von den westlichen Industrienationen nicht unterstützt werden. Gemeinsam bedarf es der Suche nach Rechtsnormen, die unter Beachtung ernst zu nehmender kultureller und entwicklungsbedingter Vorbehalte weithin eine Pressefreiheit in den Entwicklungsländern garantieren; alles andere wäre entwicklungspolitischer Rückschritt. Ergebnisse für eine NIO sind noch nicht in Sicht. Die Verhandlungen dauern an und werden, wie die Erfahrung zeigt, wohl keine greifbaren Erfolge für die nächste Zeit erwarten lassen. 2. Neuordnung des Seerechts Parallel zu den Diskussionen über eine neue Weltwirtschaftsordnung und eine neue Informationsordnung begannen 1973 mit der III. UN-Seerechtskonferenz die Verhandlungen über die zukünftige Ordnung der Meere. Der traditionelle Völkerrechtsgrundsatz der „Freiheit der Meere" wird angesichts der Tatsache, daß es sich hier neben dem Weltraum um einen der letzten Reserveräume der Erde handelt, relativiert. Die Überfischung der Meere, ihre Verwendung als Müllabladeplätze, ihre mögliche Nutzung als Rohstofflager sowie die Bestrebungen von zahlreichen Staaten, ihre Hoheitsrechte durch einseitige Erklärungen über die traditionelle 3-sm-Grenze hinaus auszudehnen, haben dazu beigetragen, eine Neuordnung des Seerechts in Angriff zu nehmen.
Obwohl Konflikte über Seerechtsfragen nicht nur zwischen den Industrie-und Entwicklungsländern, sondern vorherrschend zwischen den Staaten mit langen Küsten einerseits und den Staaten mit kurzen Küsten sowie den Binnenländern andererseits ausgetragen werden, hat die Dritte Welt in ihrer Gesamtheit eigene Forderungen erhoben. Sie werden dahin gehend formuliert, daß der Meeresboden und alle auf und unter ihm lagernden Rohstoffe ein „gemeinsames Erbe der Menschheit" (common heritage of mankind) seien, folglich auch nicht allein den zur Ausbeutung fähigen, technisch hochentwickelten Industriestaaten zur Verfügung stehen dürften. Von geringen Ausnahmen abgesehen, verfügen in der Tat nur die Industrieländer über das notwendige Wissen und die Technologie zu einem erfolgversprechenden Abbau von Rohstoffen auf dem Meeresboden sowie über Machtmittel, erweiterte Souveränitätsrechte durchzusetzen. Diese Tatbestände wie auch die sehr viel größeren finanziellen Möglichkeiten würden den Industrieländern eine Sonderstellung im Falle der rohstoffwirtschaftlichen Nutzung der Meere einräumen. Die Dritte Welt versucht dies durch eine neu zu errichtende internationale Behörde zu ihren Gunsten zu vermindern, wobei diese Behörde u. a. allen Staaten der Erde einen von Dritten nicht gehinderten Zugang zu den Meeren sichern, Umfang und Preis der geför31 derten Rohstoffe bestimmen sowie Rohstoff-produzenten der Entwicklungsländer vor bedrohlicher Konkurrenz Schutz gewähren soll. Die Meinungen über die Errichtung einer internationalen Behörde sind geteilt, nicht so sehr unter den Entwicklungsländern, wohl aber unter den Industrienationen. Einige von ihnen, so beispielsweise die USA, Großbritannien und die Bundesrepublik Deutschland, fürchten, daß eine solche Behörde zu sehr marktwirtschaftliche Entwicklungen behindern und mehr planwirtschaftliche Perspektiven ersetzen könne — mit negativen Folgen für den Welthandel. Andere Industrieländer wie Frankreich messen ordnungspolitischen Befürchtungen weniger Bedeutung bei und verweisen demgegenüber auf die Notwendigkeit einer ihrer Ansicht nach längst fälligen und notwendigen globalen Konvention, die auf Dauer die gewünschte internationale Rechtssicherheit schaffe.
In diesem Zusammenhang erscheint es widersprüchlich, daß die Bundesrepublik einerseits national die neue Seerechtskonvention nicht unterzeichnet, andererseits sich einer Zeichnung durch die EG nicht widersetzt hat Dabei wird übersehen, daß eine Zeichnung der Konvention für Bonn und Brüssel durchaus unterschiedliche Funktionen hat Die Kompetenzen der EG erfassen lediglich Bereiche der Seerechtskonvention, positiv die zu beurteilen sind. Das sind vor allem Fischerei, Forschung, Umweltschutz, Niederlassungsrecht und nicht zuletzt Entwicklungshilfe. Für diese Bereiche haben die Mitgliedstaaten der EG Befugnisse übertragen. In einer sogenannten EG-Klausel ist festgelegt, daß eine internationale Organisation, auf die EG-Kriterien zutreffen, die Konvention unterzeichnen kann, wenn die Mehrheit der Mitglieder ihr beigetreten ist Sie muß dazu bei Unterzeichnung in einer Erklärung angeben, für welche Bereiche des Abkommens ihre Mitglieder ihr die Befugnis übertragen haben sowie Art und Umfang der Befugnisse darlegen. Insoweit verhält sich die Bundesrepublik nicht widersprüchlich, wenn sie sich einer Zeichnung der EG nicht widersetzt hat.
Auch wenn sie einschränkend über die EG ihr Einverständnis zur Seerechtskonvention erteilt hat und die Mehrheit der UN-Mitglieder inzwischen der Konvention beigetreten ist, bedeutet dies keine völkerrechtliche Bindung der Bundesrepublik im Rahmen der Gesamtkonvention. Der völkerrechtliche Grundsatz der „Freiheit der Meere“ kann nicht dadurch relativiert werden, daß die Mehrheit der UN-Mitglieder der Seerechtskonvention beigetreten ist und die Minderheit der Nicht-unterzeichner dadurch völkerrechtlichen Verpflichtungen unterliegt. Nach geltendem Völkerrecht bildet nämlich der Grundsatz der nationalen Souveränität auch weiterhin das Kernelement jedweder internationalen Zusammenarbeit
Gleichwohl treten in der internationalen entwicklungspolitischen Diskussion die gemeinsamen Probleme und Grenzen der „Welt als Ganzes“ immer stärker in den Vordergrund. In weiten Kreisen ist man sich darüber einig, daß die ökonomischen und ökologischen Gegenwartsprobleme in nationalstaatlicher Isolation auf Dauer nicht lösbar sind, ja die Lösung der internationalen Probleme geradezu zur internationalen Zusammenarbeit auf den verschiedensten Gebieten auch dann zwingt, wenn nationale Solidarität als etwas „juristisch Substanzloses" empfunden werden mag.
wird daher entscheidend Für die Zukunft sein, inwieweit Industrie-und Entwicklungsländer in der Zielsetzung übereinstimmen, Verantwortung für einen weltweiten Wirtschaftsaufschwung und eine Ausweitung des Welthandels, verbunden mit einem friedvollen, gewaltlosen Interessenausgleich zu tragen. Die ökonomischen und ökologischen Gegenwartsprobleme könnten dann außerhalb nationalstaatlicher Isolation zumindest in einem realisierbaren „second best“ Ergebnis lösbar sein
III. Gibt es einen Anspruch auf Entwicklungshilfe?
Häufig wird der Forderungskatalog der Dritten Welt gegenüber den Industrienationen mit dem Sozialstaatsprinzip und dem Gedanken der Wiedergutmachung begründet Auch das weitere Argument, daß sich aus der ständigen Gewährung von Entwicklungshilfe durch die Industrieländer eine Pflicht aus Völkergewohnheitsrecht ergäbe, ist umstritten. Wenngleich sie Entwicklungshilfe als eine der großen Aufgaben unserer Zeit betrachten, haben die Industrienationen immer wieder versucht, eine rechtliche Pflicht zur Entwicklungshilfe durch eindeutige Änderungen zu vermeiden.
Ein Anspruch aus Völkergewohnheitsrecht — entstehend aus Verhaltensweisen, die über eine Reziprozitätserwartung der beteiligten Völkerrechtssubjekte zu einer dem Verhalten entsprechenden Rechtsüberzeugung führen — könnte, so die Auffassung führender Völkerrechtler, nur dann begründet werden, wenn die betroffenen Staaten in einem oftmals langwierigen Willensabstimmungsprozeß eine Willensübereinstimmung erzielt hätten, eine solche Rechtsquelle zu begründen. Infolge kontroverser Rechtsstandpunkte ist dies indessen eindeutig nicht gegeben.
In diesem Zusammenhang spielt allerdings der sogenannte Vertrauensschutzgrundsatz eine erhebliche Rolle, denn im Völkerrecht kommt gewissen einseitigen Rechtsgeschäften rechtsbegründende Kraft zu, so z. B., wenn ein Staat ein Projekt eines anderen Staates regelmäßig fördert und bei Unterbrechung weiterer vertraglich zugesicherter Förderung die Eigenaufwendungen des Nehmerstaates zu einem nutzlosen und schädigenden Ergebnis führen
Zur Aufrechterhaltung und Verstärkung ihrer Entwicklungshilfeansprüche berufen sich die Länder der Dritten Welt gegenüber den Industrieländern immer häufiger auch auf das Sozialstaatsprinzip. Denn obwohl nur wenige Staaten das Sozialstaatsprinzip in ihre Verfassung aufgenommen haben (Bundesrepublik Deutschland, V. Französische Republik), wird heute praktisch von allen Staaten eine Rechtspflicht zur Sozialfürsorge und Wohlstandsförderung ihrer Bürger akzeptiert.
Auf internationaler Ebene knüpft man daher immer stärker an diesen Sachverhalt an. Das bedeutet, daß im Wirtschaftsvölkerrecht eine über die formalrechtliche Gleichbehandlung (idem cuique) hinausgehende materielle Nichtdiskriminierung (suum cuique) der Entwicklungsländer und die Anerkennung des Entwicklungsproblems als Gemeinschaftsaufgabe der Völkerrechtsgemeinschaft angesehen wird, die mit den nationalen Rechtsentwicklungen der Materialisierung des Gleichheitssatzes und Anerkennung des „Gemeinschaftsstandards“ (d. h. einer kollektiven Verantwortung der Staatengemeinschaft für die Minderung der Armutsprobleme der Entwicklungsländer) korrespondiert
Unabdingbare Voraussetzung wäre in diesem Zusammenhang jedoch, daß die Völkergemeinschaft solidarisch genug ist, ein solches Sozialstaatsprinzip zu tragen. Nach wie vor ist indessen dem traditionellen Völkerrecht eine Verantwortung der ökonomisch stärkeren Staaten für die ökonomisch schwächeren fremd, ganz abgesehen davon, daß nach der Satzung der Vereinten Nationen Resolutionen der Vollversammlung nicht bindend sind. Eine Lösung der anstehenden weltwirtschaftlichen Probleme verlangt hingegen Solidarität, die nur durch den Abbau von nationaler Souveränität zu erreichen ist, und zwar in demselben Maße für die Industriestaaten wie für die Entwicklungsländer. Die außerordentliche Dichte, mit der internationales und nationales Sozialrecht heute ineinandergreifen, das Bemühen um die internationale Angleichung von sozialen Verpflichtungen und der Grundsatz der Gleichberechtigung, der zu den herausragendsten Impulsen der sozialen Gerechtigkeit zählt, würden es als inkonsequent erscheinen lassen, Sozialpflichtigkeit in nationalen Grenzen zu beschränken Diesbezüglich begründet die „Charta of Economic Rights and Duties of States" von 1974 ihrem Wortlaut nach die Pflichten der entwickelten Staaten zur Hilfe an die Entwicklungsländer, wie etwa in Art. 24: „All States have the duty to conduct their mutual economic relations in a männer which takes into account the interest of other countries. In par-ticular, all States should avoid prejudicing the interests of developing countries" Aber wer kann und will schließlich die Maßstäbe setzen, wenn hinsichtlich einer nach Ort, Zeit, Art und Umfang bestimmten Entwicklungsmaßnahme die Frage nach der Verwirklichung des Grundsatzes der wirtschaftlich-sozialen Gerechtigkeit gestellt wird?
Sollte jemals das Prinzip der wirtschaftlich-sozialen Gerechtigkeit gesicherter Völker-rechtsgrundsatz werden und allgemeine Rechtsverbindlichkeit erlangen, so zeigt die Erfahrung mit dem Gewaltanwendungsverbot, dem Interventionsverbot, dem Gebot der friedlichen Streitbeilegung — überhaupt mit jenen Völkerrechtsgrundsätzen, die zur Friedenssicherung bestimmt sind — die Verletzungsanfälligkeit eines derartigen Völker-rechtsgrundsatzes. Insofern liegt die Schlußfolgerung nahe, sich künftig weniger mit Erwartungen zu beschäftigen, als mit der Konkretisierung einer Vertragspraxis in bilateralen Verträgen, bezogen auf einen verhältnismäßig exakten Anwendungsbereich
Auch die Wiedergutmachungs-und Bereicherungsansprüche von Seiten der Dritten Welt bedürfen einer differenzierteren Betrachtung Einerseits werden sie in der Völkerrechtspraxis als völkerrechtliche Schadensersatzansprüche behandelt, andererseits als Bereicherungsansprüche, die man sowohl mit dem früheren Kolonialstatus als auch mit den bestehenden, nach Ansicht der Entwicklungsländer ungerechten, Weltwirtschaftsordnung begründet. Die Diskussion über derartige Ansprüche führt rechtlich jedoch nicht weiter, da nach den Prinzipien des völkerrechtlichen Schadensersatzrechts die wirtschaftliche Ausbeutung der Kolonien als völkerrechtswidrig begründet werden müßte. Trotz verständlicher moralischer Anteilnahme für die Ansprüche dieser Länder können aber aus dem damals gültigen Recht keine Ansprüche hergeleitet werden. Auch in der neueren Konzeption bietet das geltende keine Anspruchsgrundlage. Es dahingestellt kann bleiben, ob nach der gegenwärtigen Völkerrechtsfassung die Kolonisierung und die Ausbeutung von Kolonien rechtswidrig ist und eine Verpflichtung Staaten in besteht, die Unabhängigkeit zu entlassen. Schadensersatzan16)
Sprüche können jedenfalls daraus nicht hergeleitet werden. Eine diesbezügliche Auffassung der Neustaaten auf Schadenersatz kann nicht als Naturrecht verstanden werden, das allein rückwirkend gelten könnte. Dem widerspricht auch die positivrechtliche Ausrichtung des Völkerrechts
Problematisch wird es auch, wenn Entwicklungsländer Unternehmen enteignen, die ihre Konzession während der Kolonialzeit erlangt haben. Dem völkerrechtlich vorhandenen Entschädigungsanspruch dieser Unternehmen wird von Seiten der Entwicklungsländer mit dem Argument begegnet, daß diese Gesellschaften sich während der Kolonialzeit ungerechtfertigt bereichert hätten und deshalb die Bereicherung von der Entschädigung abzuziehen sei
Eine eindeutige und begründete Klärung der Frage, inwieweit ehemalige Kolonisatoren sich in Ländern der Dritten Welt ungerechtfertigt bereichert haben, scheint nahezu unlösbar, unabängig davon, wie in einem solchen Fall die Stellung der einzelnen Kolonialmacht im besonderen und die Verantwortung der westlichen Welt im allgemeinen zu bewerten ist. Auch muß in Betracht gezogen werden, daß die damaligen Kolonien zu jener Zeit wohl keine Völkerrechtssubjekte waren und der Zeitpunkt, wann und wo überhaupt Schadens-und Bereicherungsansprüche entstanden sein könnten, festgestellt werden müßte. Selbst wenn man eine andere Rechts-auffassung vertreten sollte, vermag sie einen völkerrechtlichen Bereicherungsanspruch der ehemaligen Kolonien gegen ihre Mutterstaaten nicht zu tragen Auch würde man den Bogen Überspannen, wollte man das gegenwärtige Verhältnis von Industrieländern zur Dritten Welt mit einer „gerechten" Weltwirtschaftsordnung vergleichen und aus einem solchen Vergleich Rückschlüsse auf etwaige Ansprüche ziehen.
Die „Charta“ jedenfalls kann wohl nicht als Grundlage eines gerechten Interessenausgleichs betrachtet werden, weil sie bei allem politischen Verständnis die Interessen der Dritten Welt einseitig hervorhebt und nicht das internationale Interdependenzproblem sieht. Einen Anspruch auf Entwicklungshilfe wird man auch nicht aus den internationalen Menschenrechten herleiten können. Die äußerst vagen Bestimmungen der UN-Chartaüber die Menschenrechte und die Pflichten zur Mitarbeit bei der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung der Welt lassen einen völkerrechtlich begründeten Anspruch auf Entwicklungshilfeleistungen nicht zu. Die Menschenrechtsdeklaration von 1948 ist rechtlich unverbindlich, und selbst die universellen Pakte von 1964 und eine Reihe von Konventionen der International Labour Organization (ILO) setzen den Konsens aller Staaten voraus. Wenn der „Convenant of Economic, Social and Culturel Rights" u. a. ein Recht auf Arbeit, ein Recht auf gerechte Arbeitsbedingungen, insbesondere auf gerechte Entlohnung, das Recht auf angemessene Ernährung, Kleidung und Wohnung, das Recht auf angemessenen Lebensstandard und dessen ständige Verbesserung, das Recht auf Gesundheit, das Recht auf Bildung und das Recht auf Teilhabe am wissenschaftlichen Fortschritt anerkennt, so können diese Rechte gleichwohl als Anspruchsgrundlage für völkerrechtliche Forderungen nicht dienen.
Festzustellen ist allenfalls eine Entwicklung der Völkerrechtsordnung in Richtung auf ein sogenanntes , soft law', das allerdings auch keine Rechtspflicht der Industriestaaten zur Leistung von Entwicklungshilfe begründet, weil es keine auch nur annähernde Begründung dafür gibt, aus welchem Grunde und in welcher Höhe Entwicklungshilfeleistungen abgeleitet werden könnten. Lediglich könnte davon ausgegangen werden, daß ein Industriestaat gegen das Völkerecht verstößt, wenn er überhaupt keine Entwicklungshilfe leistet. Ein Kollektivanspruch gegen die Industriestaaten in ihrer Gesamtheit scheidet aber aus. Das bedeutet nun nicht, daß die Industriestaaten auf Dauer unter Berufung auf die geltenden Regeln des Völkerrechts sich einer Verpflichtung zur Hilfe entziehen können. Mögen die Resolutionen der Vollversammlung der Vereinten Nationen auth nicht den Ansprüchen des geltenden Völkerrechts genügen, so folgert doch Tomuschat zu Recht, daß sie als Akte der Vereinten Nationen ein gewisses Fundament darstellen, von dem aus eine bestimmte juristische Argumentation entwickelt werden kann. Konkret ist daraus zu schließen, daß die Industriestaaten den Entwicklungsländern eine Chance zu höherem wirtschaftlichen Niveau einräumen müssen.
IV. Entwicklungsvölkerrecht
Die aus der Entwicklungshilfe resultierenden Aufgaben haben zu einer Reihe von Verpflichtungen für die Industriestaaten aus zahlreichen bilateralen und multilateralen Völkerrechtsabkommen geführt, die u. a. im Zusammenhang mit Handelspräferenzen, Kapitalhilfen, technischen Hilfen, Nahrungsmittelhilfen usw. stehen, und die letztlich zu einem lex specialis der Nord-Süd-Beziehungen und der Entwicklungshilfe geführt haben.
An dieser Stelle kann die Vielfalt von Entwicklungshilfeabkommen mit rechtsverbindlichem Charakter nur exemplarisch dargestellt werden. In erster Linie handelt es sich dabei um präferenzielle Rechtsnormen aus den Bereichen des internationalen Wirtschaftsrechts. Besondere Entwicklungsbedürf -nisse der Entwicklungsländer werden beispielsweise berücksichtigt bei der internationalen Kapitalhilfe (Art. I Weltbankstatut), den internationalen Handelsbeziehungen (Art.
XXXVI-XXXVIII General Agreement on Tariffs and Trade = GATT), im internationalen Steuerrecht (Doppelbesteuerungsabkommen) und im internationalen Urheberrecht (Stockholmer Protokoll 1967 zur Berner Konvention über den Schutz von Werken der Literatur und Kunst)
Konkrete völkerrechtliche Rechtspflichten ergeben sich ferner aus bilateralen Abkommen zwischen den internationalen Finanzhilfeorganisationen sowie den Nahrungsmittel-hilfe gewährenden Ländern einerseits und einzelnen Entwicklungsländern andererseits. Aber auch multilaterale Verträge, wie die Assoziationsabkommen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) oder die internationalen Nahrungsmittelhilfekonventionen von 1967 und 1971, sind in diesem Zusammenhang zu erwähnen.
Völkerrechtliche Rechtspflichten zur mittelbaren Entwicklungsländer Begünstigung der im internationalen Handels-und Wirtschaftsverkehr ergeben sich aus Teil LV GATT (Assoziations-, Integrations-, Präferenz-und joint venture'-Abkommen), aus den internationalen Rohstoffabkommen (z. B. Art 27 des internationalen Kaffeeabkommens 1968, Art 1 des Zuckerabkommens 1968) und aus regionalen Preisstützungsvereinbarungen (Commonwealth Sugar Agreement, Jaunde-Assoziationsabkommen 1963), sowie für den Bereich der Industrieerzeugnisse z. B. im Art. 1 des Baumwolltextilabkommens von 1962
Die administrativ-organisatorischen Aspekte der Durchführung der Entwicklungshilfe werden im wesentlichen in den Satzungen, Verfahrensregeln, Standard-, Rahmen-und Finanzierungsabkommen der internationalen und nationalen Hilfsorganisationen berücksichtigt Das Satzungs-, Organisations-und Vertragsrecht der internationalen Entwicklungsbanken (Weltbankgruppe, Asiatische Entwicklungsbank, Interamerikanische Entwicklungsbank, Afrikanische Entwicklungsbank, subregionale Entwicklungsbanken) enthält zahlreiche institutioneile und organisatorische Regelungen der Finanzierungsaufgaben, Darlehensbedingungen, der Rechtsnatur der Darlehens-und Projektabkommen, der Vertragspflichten des Darlehensnehmers, der technischen Hilfe und der verschiedenen Sicherungsmaßnahmen für die Verwirklichung des Darlehenszwecks
In diesem Zusammenhang sei in besonderer Weise an das bahnbrechende Abkommen von Lom erinnert Dieses multilaterale Handels-und Entwicklungsabkommen zwischen der EG und 57 AKP(Afrika, Karibik, Pazifik) -Staaten fördert die handelspolitische Zusammenarbeit durch freien Zugang zum Markt der Gemeinschaft für 99, 2 % der Waren aus den AKP-Ländern ohne Gegenseitigkeitsverpflichtung (Ausnahme: Einräumung der Meistbegünstigungsklausel). Im Abkommen von Lom sind viele Forderungen der Dritten Welt berücksichtigt So gibt es eine Sonderregelung über Abnahme und Preisgarantie für Zucker. Ferner werden die Ausfuhrerlöse von 44 Waren (Lome II) durch Zahlung aus dem Haushalt der Gemeinschaft stabilisiert (Stabex). Dieses System bietet zum einen Schutz gegen Konjunkturschwankungen bei den Importländern und verhindert zum anderen Einkommenseinbußen und Preisrückgänge in den Entwicklungsländern, die nicht im Zusammenhang mit Maßnahmen der Erzeugerländer stehen. Hinsichtlich der industriellen, technischen und finanziellen Zusammenarbeit wurden für das Abkommen Lome II erhebliche zusätzliche Mittel zur Verfügung gestellt Die von der EG und anderen Industriestaaten gewährten Präferenzregelungen zugunsten der Entwicklungsländer werden heute immer weniger als Ausnahmeregelungen betrachtet Sie entsprechen den Außenwirtschaftsinteressen der Entwicklungsländer sowie den traditionellen Ordnungsprinzipien des GATT und des Internationalen Währungsfonds (IWF). Präferenzen sollen nichtreziprok (ohne Gegenleistungen der Empfängerländer), . nichtdiskriminierend'(für alle Entwicklungsländer) und . allgemein (für grundsätzlich alle gewerblichen Erzeugnisse der Entwicklungsländer) sein
Art. 1 III GATT zeigt die verschiedenen Inhalte der Diskriminierungsverbote bzw. Gleichbehandlungsgebote beispielhaft auf: So begründet die Zoll-Meistbegünstigungsklausel einen Anspruch auf . egalitäre'und . absolute'Gleichbehandlung, d. h. Waren aus dem berechtigten Staate müssen an der Grenze so behandelt werden, wie vergleichbare Waren aus dem meistbegünstigten Drittland. Unsachliche Tarifspezialisierungen und diskriminierende Handhabung der Abfertigung sind unzulässig.
V. Perspektiven des . Entwicklungsvölkerrechts
Angesichts der politischen Realität muß indessen betont werden, daß zwischen der theoretischen Sicht der Völkerrechtswissenschaft und der praktischen Anwendung des geltenden Völkerrechts durch die jeweiligen Staaten eine beträchtliche Lücke klafft Geltende und verbindliche Rechtsordnungen zwischen den Staaten und anderen Völkerrechtssubjek-ten, wie den internationalen Organisationen, beruhen letztlich auf dem außerrechtlichen politischen Konsens der Beteiligten.
Außerhalb solcher fest vereinbarten Abkommen stellt sich das Problem, daß sich die von der Dritten Welt immer wieder geforderte Anerkennung des Prinzips wirtschaftlicher Souveränität als Grundsatz des Völkerrechts nur schwer mit der von ihr gleichzeitig gefor-derten privilegierten Völkerrechtssubjektivität vereinbaren läßt
So fordern die Entwicklungsländer, daß die staatliche Souveränitätsgrenze auf dem Wirtschaftssektor, wie etwa im Rahmen struktureller Entwicklungshilfe, unangetastet bleibt Gleichzeitig wird diese Forderung aber dadurch relativiert, daß die Entwicklungsländer Rechtspflichten der Industriestaaten begründen, Entwicklungshilfe zu leisten, mit anderen Worten jene Weltwirtschaftsordnung für die Industriestaaten ablehnen, die auf eben dem Prinzip der von ihnen selbst praktizierten nationalen Souveränität basiert Problematisch ist ferner der Trend von Ländern der Dritten Welt, wie beispielsweise in. Afrika, sich untereinander zu restriktiver Politik hinsichtlich ausländischer Investitionen zu verpflichten, während sie im Gegensatz dazu in bilateralen Kapital-bzw. Investitionsschutzabkommen mit Industriestaaten bereit sind, abweichende Konditionen zu akzeptieren Die einzelnen Entwicklungsländer verhalten sich bei der Gestaltung solcher Vereinbarungen oft anders, als sie es im Rahmen des Kollektivs Dritte Welt in ihren Forderungen bekräftigen.
Die . Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten zeigt besonders deutlich, wie sehr es des Konsenses aller Staaten in naher Zukunft bedarf, wenn man den Abbau des Nord-Süd-Gefälles als eine der entscheidenden politischen und international-moralischen Herausforderungen unserer Zeit betrachtet So statuiert Art 10 der . Charta’: Alle Staaten sind rechtlich gleich und haben als gleichberechtigte Mitglieder der Völkergemeinschaft das Recht, in vollem Umfang und wirksam am internationalen Entscheidungsprozeß bei der Lösung der wirtschaftlichen, finanziellen und währungspolitischen Probleme der Welt teilzunehmen". Der Gleichheitsgrundsatz der internationalen Wirtschaftsbeziehungen wird hier also festgeschrieben. Im Gegensatz dazu legt jedoch der bereits erwähnte Art. 5 eine gleichheitswidrige und monopolistische Basis für Rohstoff-kartelle fest: . Alle Staaten haben das Recht, sich in Organisationen von Grundstofferzeugern zusammenzuschließen, um ihre nationalen Volkswirtschaften zu entwickeln und dadurch eine stabile Finanzierung ihrer Entwicklung zu erreichen."
In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, daß sich gerade die Maßnahmen der OPEC für die ärmsten Entwicklungsländer in besonderer Weise negativ und entwicklungshemmend ausgewirkt haben. Akzeptiert man ferner das konkrete Gebot wirtschaftlich-sozialer Gerechtigkeit, so wird angesichts des Art. 21 der . Charta ein Konsens um so notwendiger gefunden werden müssen. Dort heißt es: „Jeder Staat hat die volle und ständige Souveränität, einschließlich des Besitz-, des Nutzungs-und des Verfügungsrechts über alle seine Reichtümer, Naturschätze und wirtschaftlichen Betätigungen und übt diese Souveränität ungehindert aus.“
Durchaus positive Ansätze, wie die Forderung des Technologie-und Kapitaltransfers (Art.
13,22), die Pflicht zur Zusammenarbeit in der Entwicklungshilfe (Art 17), die besondere Förderung der am wenigsten entwickelten Länder (Art 25) sowie die gerechte Preisgestaltung im Import-Export-Verhältnis der Entwicklungsländer (Art 28), verlieren so ihren ausgleichenden Wert gegenüber jenen nicht akzeptablen Auffassungen der . Charta', die insbesondere in Art 5 zum Ausdruck kommen.
Eine generelle Sonderrechtsstellung der Entwicklungsländer im Verhältnis zu den Industriestaaten würde voraussetzen, daß das der souveränen Gleichheit der Staaten entfließende Reziprozitätsprinzip im Bereich entwicklungsrelevanter Verträge zugunsten einer generellen Besserstellung der Entwicklungsländer aufgegeben wird Dies wird vorerst an der politischen Realität scheitern, da nicht einzusehen ist, wie die von den Entwicklungsländern immer wieder geforderte Anerkennung des Prinzips wirtschaftlicher Souveränität als Grundsatz des Völkerrechts mit der von ihnen gleichzeitig geforderten privilegierten Völkerrechtssubjektivität zu vereinbaren ist Die Forderung der Entwicklungsländer ist auch widersprüchlich. Sie verlangen, daß die staatliche Souveränitätsgrenze auf dem Wirtschaftssektor undurchlässig bleibt, soweit es sich um die rechtliche Gestattung gestaltender Einflüsse auf das Entwicklungsland — etwa im Rahmen struktureller Entwicklungshilfe — handelt Zum anderen wird diese Grenze durchaus als durchlässig erachtet, soweit es sich um die gewünschte Rechtspflicht des Industriestaa-tes handelt, Leistungen zur Disposition des Entwicklungslandes zu erbringen. Diese postulierte „Semipermeabilität“ der Souveränitätsgrenze führt neben der im Nord-Süd-Gefälle vorgegebenen faktischen Ungleichheit zu einer rechtlich fixierten Ungleichheit, wobei nicht zu erkennen ist, daß sie zum Abbau der wirtschaftlichen Ungleichheit in der Realität führen wird
Schließlich sollte nicht unerwähnt bleiben, daß über Inhalt und Durchsetzung einer besonderen Völkerrechtssubjektivität auch unter den Entwicklungsländern selbst kein Konsens besteht Sicherlich bedarf jeder Staat des Souveränitätsdogmas, wenn es um die Festigung seiner staatlichen Individualität geht Assoziativ ausgerichtete Staatengemeinschaften haben Jahrhunderte gebraucht, um einen gangbaren Weg zu finden, wie z. B. die 1957 gegründete EWG. Jedoch zeigt uns der übersteigerte dissoziativ angelegte Souveränitätsgedanke, daß wir erst am Anfang des Weges zum Abbau des Nord-Süd-Gefälles sind.
Inwieweit sich in Zukunft im Nord-Süd-Verhältnis der das Völkerrecht beherrschende Grundsatz der souveränen Gleichheit der Staaten durch eine bevorzugte Rechtsträgerschaft der Entwicklungsländer, gewissermaßen durch eine entwicklungsspezifische Völkerrechtssubjektivität, ergänzen und korrigieren läßt und eine Kooperation zwischen Entwicklungs-und Industrienationen von dem Grundsatz wirtschaftlich-sozialer Gerechtigkeit — ähnlich dem nationalen Sozialstaatsprinzip — geprägt sein und in völkerrechtlich verbindlichen Verträgen allgemeinverbindlich festgelegt wird bleibt der politischen Entwicklung vorbehalten, für die beide Partner, Industrie-und Entwicklungsländer, gleichermaßen Verantwortung tragen.
Das Entwicklungsvölkerrecht kann sich deshalb zur Zeit nur in Teilbereichen entfalten, etwa bei zwei-und mehrseitigen Verträgen für zeitlich begrenzte Vorhaben. Letztlich können die im Rahmen des Nord-Süd-Gefälles entstandenen Rechtsfragen nur durch einen allseitigen Konsens gelöst werden. Dies jedoch ist Aufgabe der internationalen Politik. Für eine . Charta mit Vertragsrang ist die Zeit noch nicht reif. Nur eine Taktik der . kleinen Schritte' in Richtung auf völkerrechtlich bindende Verträge bringt uns in der Entwicklungspolitik weiter. Die internationale Politik muß innovativ sein, um neue, konsensfähige Wege gehen zu können. „Der Beitrag des Völkerrechts zur Entwicklungspolitik muß induktiv sein. Er muß darauf beschränkt sein, begrenzte Ergebnisse in (statisches) Recht zu überführen."