I. Definitionsprobleme
Minderheitenschutz ist überall dort notwendig, wo durch Mehrheitsentscheidungen Gruppeninteressen berührt werden können. So ist ein Minderheitenschutz etwa im Parlamentsrecht, im Hochschulrecht, im Betriebs-verfassungsrecht, im Aktienrecht und in ähnlichen Bereichen denkbar. Das völkerrechtliche Minderheitenrecht schützt ethnische Minderheiten, d. h. Gruppen von Menschen, für die jeweils die Ethnizität das entscheidende Kriterium für die Gruppenzugehörigkeit ist Weitere Merkmale, wie z. B. die Religionszugehörigkeit, treten manchmal hinzu und verstärken das Gruppenbewußtsein, sind aber nach neuerer Terminologie nicht ausschlaggebend. Schon diese Tatsache spiegelt eine bedeutsame geschichtliche Entwicklung wider; denn die Wurzeln des modernen völkerrechtlichen Minderheitenschutzes liegen im religiösen Minderheitenschutz, der mit dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 begann. Heute wird der religiöse Minderheitenschutz, der nicht mit dem Schutz einer Gruppe verknüpft ist, unter der ethnischen Überschrift „Religionsfreiheit" behandelt.
Aber mit der Beschränkung auf ethnische Gruppen beginnen erst die eigentlichen Definitionsprobleme. Begriffe wie „ethnische Minderheit", „nationale Minderheit“, „Nationalität“ und „ethnische Gruppe" sind ebenso schwer definierbar wie „Volk“ und „Nation“. Vereinfachend kann gesagt werden, daß eine Minderheit im Sinne des Völkerrechts durch dieselben Definitionsmerkmale gekennzeichnet ist wie das Volk: gemeinsame Sprache, gemeinsame Kultur, gemeinsames historisches Schicksal. Die Minderheit erscheint somit prinzipiell als dasselbe wie ein Volk oder eine Nation, jedoch ohne Staat. Ferner wird mit ihr die Vorstellung von einer relativen zahlenmäßigen Kleinheit verbunden.
Bei letzterem ist jedoch Vorsicht geboten. Schon vor mehr als einem halben Jahrhundert schrieb ein österreichischer Experte: „Minderheitscharakter ist eben etwas anderes als bloß geringere Größe des Siedlungsgebietes und der Siedlungsdichte, wie sie auf den Völkerkarten zur Darstellung kommen... Die Grundlage der Existenz einer Minderheit ist rassische, kulturelle und wirtschaftliche Eigenart einer Volksgruppe; zu diesen einigenden Merkmalen muß noch die Gemeinsamkeit bedeutenden Erlebens, Schicksalsgemeinschaft, hinzukommen. Das Wesen einer nationalen Minderheit macht das Vorhandensein eines gepflegten, kräftigen Existenzwillens aus. Dieser erst macht aus einer ethnisch eigenartigen Gruppe eine nationale Minderheit"
In der Völkerbundsära, die eine wahre Flut von Literatur zum Minderheitenrecht hervorbrachte 1a), orientierten sich die meisten Theoretiker an den damals real existierenden Minderheitenproblemen. Der Völkerbund selbst definierte: „Unter Minderheiten versteht man den Kreis der Personen anderer Rasse, Religion oder Sprache als derjenigen der Mehrheit der Bevölkerung des betreffenden Landes. Diese Minderheiten sind wiederum zweierlei Art, nämlich: a) Staatsangehörige einer fremden Macht; b) Staatsangehörige desselben Landes.“
Die Vereinten Nationen legen ihrer Arbeit eine andere Definition zugrunde: „Minderheitenschutz ist der Schutz von nicht herrschenden Gruppen, die wegen ihres gemeinsamen Wunsches auf Gleichbehandlung mit der Mehrheit ein bestimmtes Maß von Sonderbehandlung fordern, um ihre grundlegenden Eigenschaften, die sie von der Mehrheit der Bevölkerung unterscheiden, zu bewahren ... Die grundlegenden schutzwürdigen Eigenschaften sind Abstammung, Sprache und Religion. Eine Minderheit ist nur schutzwürdig, wenn sie der Regierung ihres Staates ungeteilte Treue entgegenbringt. Ihre Angehörigen müssen Staatsbürger des Staates sein.“
Auf der Grundlage eines Berichts von Francesco Capotorti aus dem Jahre 1972 wurde die Definition gestrafft: „ 1. Der Begriff Minderheit schließt nur jene nichtherrschenden Gruppen in einer Bevölkerung ein, die stabile ethnische, religiöse oder sprachliche Traditionen oder Kennzeichen besitzen und zu bewahren wünschen, die sich deutlich von jenen der übrigen Bevölkerung unterscheiden; 2.derartige Minderheiten sollten auf jeden Fall eine genügende Zahl von Personen umfassen, die ausreicht, um derartige Traditionen oder Charakteristika zu bewahren; 3. solche Minderheiten müssen dem Staat gegenüber, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen, loyal sein.“
Die Gegenüberstellung der Definitionen des Völkerbunds und der UNO zeigt, daß heute der Begriff der Minderheit für diejenigen Gruppen reserviert ist, die sich nicht in der Fremde, sondern in ihrer Heimat befinden. Im geltenden Völkerrecht wird der Minderheitenschutz deutlich vom Recht der Ausländer-behandlung abgegrenzt. Dagegen gehört der in den beiden UNO-Definitionen enthaltene Hinweis auf die Loyalität, die die Angehörigen einer Minderheit dem Territorialstaat schulden, nicht zur juristischen Definition der Minderheit Eine illoyale Minderheit bleibt trotz ihrer Illoyalität eine Minderheit. Eine andere Frage ist es, ob eine illoyale Minderheit vom Recht geschützt werden soll. Diese Frage ist im völkerrechtswissenschaftlichen Schrifttum im Zusammenhang mit dem Selbstbestimmungsrecht — und dort insbesondere bei der Spezialfrage, ob das Selbstbe-stimmungsrecht der Völker ein Recht auf Sezession beinhaltet — und dem Rechtsstatus von Befreiungsbewegungen erörtert worden Die UNO-Definitionen lassen erkennen, daß ihre Autoren den Minderheitenschutz an die Vorbedingung der Loyalität knüpfen. Das entspricht der Struktur des geltenden Völkerrechts, dem ja noch weitgehend internationale Vollzugsorgane fehlen, so daß sein Vollzug überwiegend den Organen der souveränen Staaten obliegt. Von ihnen kann nicht verlangt werden, daß sie eine illoyale Gruppe schützen.
Die Unterscheidung zwischen loyalen und illoyalen Minderheiten führt zu dem Gedanken der Einteilung von Minderheitengruppen überhaupt. In der Literatur ist bereits in der Völkerbundära zwischen geschützten und ungeschützten Minderheiten sowie zwischen echten und unechten, anerkannten und nicht anerkannten Minderheiten unterschieden worden Die echten Minderheiten wurden — wegen der Lage ihres Siedlungsgebiets inmitten eines von einer anderen ethnischen Gruppe besiedelten Landes — auch „FernMinderheiten“ genannt. Unechte Minderheiten sind in dieser Terminologie die sogenannten Grenzland-Minderheiten. Es sind solche, deren Siedlungsgebiete nicht inmitten des fremdvölkischen Staates liegen, sondern an der Grenze zu einem Staat, zu dessen Volk die Minderheit ethnisch gehört. Hierzu meinte damals ein anderer österreichischer Gelehrter: „Liegt ein Volksteil so, daß er mit der Hauptmasse seines Volkes räumlich verbunden ist, so besteht ein Präjudiz dafür, daß er keine Minorität in einem anderen Staate, sondern daß die Grenze falsch gezogen sei'.
II. Völkerrechtliche Grundprobleme
in seinem oben erwähnten Bericht an die Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen hat Capotorti am Ende einer sorgfältigen Studie festgestellt: „Die offizielle Haltung der Staaten gegenüber den zu ihrer Bevölkerung gehörenden Minderheitsgruppeni ist sehr unterschiedlich. Sie reicht von dem Extrem der verfassungsrechtlichen Anerkennung bis zu dem Extrem der Verweigerung jeglicher Anerkennung. Dazwischen gibt es eine Reihe von mittleren Positionen: Anerkennung auf der Grundlage von Spezialgesetzen oder Verwaltungsmaßnahmen oder die einfache Anerkennung privater Institutionen zur Vertretung der Interessen von Minder-heiten.“ Er fügt hinzu, daß auch der Begriff . Anerkennung“, den er in diesem Zusammenhang verwendet, vieldeutig ist. Manchmal bedeutet er, daß eine Minderheitengruppe den Status einer juristischen Person erhält, doch sei dies außerordentlich selten der Fall. Manchmal bedeutet er, daß die Mitglieder der Minderheitengruppe ein Bündel von Rechten erhalten, die dem Schutz der Gruppenexistenz dienen. Manchmal Gruppenidentität nur einzelne werden Rechte ohne ein umfassendes Gesamtkonzept gewährt, so daß die Anerkennung“ der Minderheit, die von diesen profitiert, nur Rechten mittelbar partiell oder sporadisch ist Dagegen könne von einem echten Minderheitenschutz nur gesprochen werden, wenn das Recht der Angehörigen ethnischer Beibehaltung Gruppen auf und Entfaltung ihrer Kultur und auf Gebrauch ihrer Sprache gesichert sei
Kann das Völkerrecht einen solchen Minderheitenschutz bewerkstelligen? Das Völker-recht ist zu keiner Zeit ein Recht der Völker gewesen, sondern immer ein Recht der Staaten, und das ist trotz aller Fortschritte im Bereich der Menschenrechte und trotz der Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Völker als Bestandteil der geltenden internationalen Rechtsordnung grundsätzlich auch so geblieben. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist das einzige Recht, dessen Träger Völker und Volksgruppen sind. Bezüglich aller anderen Rechtsnormen können Minderheiten nur Begünstigte, nicht aber Rechtsträger sein.
Nach diesem Prinzip war das Minderheitenschutzsystem des Völkerbunds aufgebaut. Es beruhte auf Verträgen, die den beteiligten Staaten — Vielvölkerstaaten und Garantie-mächten — Rechte zuteilten und Pflichten auferlegten. Da die Minderheit, wie im vorstehenden ausgeführt, definitionsgemäß eine Volksgruppe ist, die nicht über einen eigenen Staat verfügt, fehlen ihr die für den Vollzug von Völkerrechtsnormen erforderlichen Organe aber auch dann, wenn sie als Rechtsträger behandelt wird. So kann im Rahmen der herrschenden internationalen Ordnung ein wirksamer Minderheitenschutz nur durch eine Kombination von Völkerrecht und innerstaatlichem Recht erreicht werden. Die völkerrechtliche Verankerung stützt das innerstaatliche Recht, die innerstaatliche Normierung vollzieht den völkerrechtlichen Schutz und trägt als „Staatenpraxis“ zur Weiterentwicklung des Völkerrechts bei.
Bei alledem sollte nicht vergessen werden, daß gerade im Bereich des Minderheitenschutzes die Grenzen der normativen Kraft von Rechtsregeln nur allzu leicht schmerzlich bewußt werden. Minderheitenschutz verlangt mehr als nur die buchstabengetreue Befolgung positiven Rechts. Hierauf ist in den Antworten auf die Umfrage der schweizerischen Arbeitsgruppe für die Vorbereitung einer Totalrevision der Bundesverfassung wiederholt hingewiesen worden. Man hatte die Kantone unter anderem gefragt, ob -das Minderheiten recht in der neuen Verfassung verankert sein sollte. Der Kanton Zürich antwortete: „Die Frage, ob sich die Minderheiten innerhalb des Staates wohl fühlen, hängt wohl mindestens sosehr wie von verfassungsmäßigen Garantien vom . psychologischen Klima'zwischen den Bevölkerungsgruppen ab, das nicht verfassungsmäßig geregelt werden kann, sondern durch Erziehung und Informationsaustausch zu schaffen ist" Noch deutlicher formulierte der Kanton Appenzell: „Das ganze Repertoire, das zum Schutz der Minderheiten ausgedacht werden kann, wird schließlich versagen, wenn es der Mehrheit an der rechten Gesinnung fehlt... Die größte Garantie für die Interessen der Minderheiten beruht auf der in der Schweiz noch gültigen staatsbürgerlichen Kultur, wonach man die Minderheiten schützen will.“
In der völkerrechtlichen Fachliteratur ist viel darübergeschrieben worden, aus welchen Gründen wohl das Minderheitenschutzsystem des Völkerbundes versagt hat. Im Zuge einer solchen Diskussion können viele technische Details angeführt werden. Die letzten Endes entscheidende Ursache haben die beiden Schweizer Kantone in ihrer oben zitierten Antwort aufgezeigt, nämlich die Abneigung der Staaten gegen einen völkerrechtlich abgesicherten Minderheitenschutz. Gerade die Epoche des Völkerbunds, in der Minderheiten-und Territorialprobleme in unheilvoller Weise verquickt wurden, schien die Warnungen der Skeptiker zu bestätigen. Das trug dazu bei, daß nach dem Zweiten Weltkrieg das Wort „Minderheitenrecht" keinen guten Klang hatte. Gleichzeitig entstand aber auch eine Abneigung gegen den Ausdruck „Minderheit" als solchen. Dies kam sogar in den Stellungnahmen einzelner Regierungen zum Entwurf eines Minderheitenschutzartikels in der Menschenrechtskonvention der Vereinten Nationen — der dann nicht in die Konvention aufgenommen wurde — zur Sprache. Die rumänische Regierung schrieb wörtlich: „Der Ausdruck . nationale Minderheit'bezeichnete eine Kategorie von Staatsbürgern, deren politischer, wirtschaftlicher und sozialer Status niedriger war als derjenige von Staatsbürgern, die der Mehrheit angehörten."
So ist es kein Zufall, daß seit etwa zehn Jahren in den englischen Texten der ältere Ausdruck „minority" in zunehmendem Maße verdrängt wird durch das Wort „ethnic group“. Im deutschen Sprachgebrauch wird das Wort „Minderheit" durch „Volksgruppe" ersetzt. In der Zusammensetzung mit dem Wortteil „Recht" mag zwar das Wort „Minderheitenrecht" noch überwiegen, aber auch „Volksgruppenrecht" wird immer häufiger verwendet, und zwar nicht nur im wissenschaftlichen Schrifttum, sondern auch in amtlichen Dokumenten Daß auch die Definition der Volksgruppe Schwierigkeiten bereitet, soll nicht verschwiegen werden. Ferner hat es nicht an Versuchen gefehlt, die Begriffe „Volksgruppe“ und „Minderheit“ gegeneinander abzugrenzen Aber gerade dabei füllte sich der Volksgruppenbegriff immer mehr mit dem Begriffsinhalt der nationalen Minderheit. Mit Recht kam daher bereits vor zehn Jahren ein Experte zu dem Ergebnis: „Wenn heute vor allem die Vereinten Nationen versuchen, sich um einen Begriff der nationalen Minderheiten zu bemühen, so tu sie das zugleich auch im Namen einer Klärung des Begriffes Volksgruppe. Es ist daher eher gleichgültig geworden, ob konkret . nationale Minderheit'gesagt wird oder . ethnische Gruppe'." In ei-nem seiner jüngsten Werke beschreibt derselbe Gelehrte die Entwicklung unter dem Schlagwort „Von der Minderheit zur Volksgruppe"
So entsteht heute, ein halbes Jahrhundert nach dem Zusammenbruch des Minderheitenschutzsystems des Völkerbunds, langsam ein neues völkerrechtliches Minderheiten-recht, dessen Konturen sich erst allmählich abzeichnen. Das Ringen um begriffliche Klarheit ist noch nicht ganz beendet. Aber schon treten auch einige grundlegende Erkenntnisse für die inhaltliche Gestaltung des künftigen völkerrechtlichen Minderheiten-oder Volksgruppenrechts in den Vordergrund. An der Spitze steht die Feststellung, „daß das Recht auf Schutz einer volklichen Minderheit in seinem Umfang und Inhalt nicht allgemein festgelegt werden kann, sondern sehr von der besonderen Lage bedingt ist, in der sich die Minderheit befindet“ Aber obwohl angesichts der Vielfalt von Faktoren, die zur konkreten Situation der Volksgruppen beitragen, auch das Spektrum der Maßnahmen zur Lösung der Minderheitenprobleme breit ist, haben sich doch bestimmte Lösungstypen herauskristallisiert, die in der Literatur häufig untersucht und meist in Verbindung mit konkreten historischen Beispielen beschrieben worden sind. So unterscheidet z. B. Benjamin Akzin vier Lösungstypen:
1. Integrationstendenzen bei individueller Gleichberechtigung;
2. Integrationstendenzen, verbunden mit (zeitweiligem) Mangel an individueller Gleichberechtigung; 3. Pluralismus bei individueller oder Gruppengleichberechtigung; 4. Pluralismus, verbunden mit mangelnder individueller oder Gruppengleichberechtigung
Als das wahrscheinlichste Ergebnis des engen nachbarlichen Zusammenlebens verschiedener ethnischer Gruppen in langen Zeiträumen vermutet er die Integration. Am sichersten sei dies der Fall, wenn kein besondererWert auf die ethnische Unterscheidung als Grundlage der politischen Organisation gelegt werde. So seien die europäischen Nationen der Gegenwart fast ausnahmslos Integrationsprodukte verschiedener, vorher bestehender ethnischer Gruppen. Doch erscheine auch der ethnische Pluralismus „sowohl als ein Tatbestand, als auch in Gestalt eines Modells, das von politischen Kräften zur Erreichung eines bestimmten Ziels absichtlich angestrebt wird"
Damit ist die Spannung aufgezeigt, in der die rechtspolitsche Diskussion über die Zukunft des völkerrechtlichen Minderheitenschutzes steht Auf der einen Seite kann argumentiert werden, der Minderheitenschutz sei im Grunde genommen etwas Unnatürliches, weil er den „natürlichen“, Vorgang der historischen Einschmelzung unterschiedlicher ethnischer Elemente in große Staatsnationen behindere. Auf der anderen Seite kann darauf hingewiesen werden, daß der Traum vom Nationalstaat eine gefährliche Illusion ist, während die Poly-Ethnizität zu den „natürlichen" Gegebenheiten des Zusammenlebens der Menschen gehört, denen sowohl das innerstaatliche Recht als auch das Völkerrecht Rechnung tragen muß. Jahrhundertelang haben das die Herrschaftsordnungen im europäischen Raum getan. Die Vielsprachigkeit der Bewohner war eine Selbstverständlichkeit für das römische Weltreich ebenso wie für das Heilige Römische Reich des Mittelalters, aber auch für die neuzeitlichen Staaten im Zeitalter des Absolutismus und der konstitutionellen Monarchie.
Die Unterdrückung der ethnischen — damit zugleich der kulturellen, sprachlichen und religiösen — Vielfalt durch die Nationalstaaten und Pseudo-Nationalstaaten seit der Mitte des 19. Jahrhunderts erscheint im Lichte dieser Betrachtungsweise als gefährliche Spannungsursache, die im Interesse des Weltfriedens beseitigt werden muß. Freilich bedeutet auch diese Sicht der Dinge nicht unbedingt, daß der Minderheitenschutzgedanke des Völkerbunds wiederbelebt werden muß. Eher liegt es nahe, an eine grundlegende Anpassung der Staatsorganisation an die Bedingungen der Poly-Ethnizität im Einklang dem mit im Gange befindlichen Wandel des Völker-rechts zu denken
Aber ganz gleich, ob man den Schwerpunkt der völkerrechtlichen Problematik in den Details der Ausformung des Minderheitenrechts oder in der umfassenden Gestaltung der Grundstrukturen sieht, bleibt es eine Tatsache, daß die künftige Entwicklung des Minderheiten-und Volksgruppenrechts in die Gesamtentwicklung des Völkerrechts eingepaßt werden muß, damit sie ihre normative Realität nicht verliert. Das bedeutet vor allem die Berücksichtigung von zwei Hauptproblemen des geltenden Völkerrechts: Frieden und Menschenrechte.
III. Minderheitenschutz als Beitrag zum Weltfrieden
Das Kriegs-und Gewaltverbot steht im Mittelpunkt der geltenden Völkerrechtsordnung. Jede Rechtsdurchsetzung auf internationaler Ebene darf nur mit friedlichen Mitteln durchgeführt werden. Dieser Grundsatz bringt die Völkerrechtsordnung, der ja noch immer ein mit allgemeiner Autorität ausgestatteter Vollzugsapparat fehlt und die nicht einmal eine obligatorische Gerichtsbarkeit kennt, in große Schwierigkeiten. Was kann die organisierte Staatengemeinschaft gegen einen Rechtsbrecher unternehmen? Auf diese in so allgemeiner Form gestellte Frage geben die Experten eine detaillierte Antwort, die viele Durchsetzungsmöglichkeiten im Rahmen der individuellen und der kollektiven Selbsthilfe sowie der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit aufzeigt, von denen der Laie kaum eine Ahnung hat.
Auch beim Aufbau eines völkerrechtlichen Minderheitenschutzes können viele völkerrechtliche Instrumente eingesetzt werden. Aber eine grundlegende Schwierigkeit tritt in diesem Bereich mit besonderer Härte auf: das Verbot der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates. Da die ethnische Minderheit definitionsgemäß nicht über einen eigenen Staat verfügt, sondern mitten im Territorium eines anderen Staates lebt, der durch Völkerrechtsnormen gezwungen werden soll, ihr einen besonderen Rechtsstatus zu gewähren und in ständiger Praxis aufrechtzuerhalten, ist der potentielle Konflikt mit dem Verbot der Einmischung in die inneren Angelegenheiten nur allzu nahe-liegend. Deshalb ist es auch nicht verwunder-lieh, daß sich die Staaten immer wieder auf das Interventionsverbot des Art. 2 Ziff. 7 der Satzung der Vereinten Nationen beriefen, wenn die Behandlung von Minderheiten in UNO-Gremien debattiert werden sollte
Freilich gibt es Beispiele für den Mißbrauch der Interessen von Minderheiten und Volks-gruppen durch auswärtige Mächte. In der historischen und politikwissenschaftlichen Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg überwogen die Hinweise auf derartige Mißbräuche, die dabei häufig nicht als solche dargestellt wurden, sondern als zwangsläufige Folgen des Minderheitenrechts. So findet sich immer wieder der Vorwurf, diese oder jene Minderheit habe trotz bester Behandlung dem Staat, unter dessen Territorialhoheit ihr Siedlungsgebiet stand, die Treue versagt. Mitunter ist sogar versucht worden, mit solchen Behauptungen Verbrechen wie Völkermord und Vertreibung zu rechtfertigen. Die rechtswissenschaftliche Diskussion darf dadurch nicht belastet werden. Bei ihr geht es ganz einfach um die Berücksichtigung der internationalen Ausstrahlungen eines jeden Minderheitenproblems und deren Bedeutung für den Weltfrieden. Wenn das geltende Völkerrecht — im Gegensatz zu der mit Inkrafttreten der UNO-Satzung endgültig beendeten Epoche — die Sicherung des Weltfriedens in den Mittelpunkt aller seiner Normen stellt und die Friedenserhaltung allen seinen Subjekten, d. h.den souveränen Staaten, zur unabdingbaren Pflicht macht, so kann es die Behandlung von Minderheiten und Volksgruppen nicht mehr ausschließlich in der Zuständigkeit der souveränen Staaten belassen.
Nicht zuletzt würde die Verweisung des Minderheitenrechts in den rein innerstaatlichen Bereich eine jahrzehntelange Arbeit vernichten und das Völkerrecht auf einen Entwicklungsstand zurückwerfen, wie er vor dem Inkrafttreten der Völkerbundsatzung bestand. Denn obwohl der Völkerbund mit Recht kritisiert worden ist — weil er den Minderheitenschutz nicht voll in die Organisation des Bundes integrierte und keine mit ausreichenden Kompetenzen ausgestatteten Vollzugsorgane schuf, vor allem aber, weil er die an ihn gerichteten Petitionen nicht ernst nahm — und obwohl die Bilanz der bisherigen Arbeit der Vereinten Nationen und des Europarats eher enttäuschend ist, muß doch festgestellt werden, daß es einen völkerrechtlichen Minderheiten-und Volksgruppenschutz gab und gibt, und daß sein weiterer Ausbau nicht nur möglich ist, sondern auch von elementaren Entwicklungstendenzen der gegenwärtigen Völkerrechtsordnung gefordert wird. Daß daneben der innerstaatliche Minderheitenschutz von Bedeutung bleibt, ist allerdings ebenfalls unbestritten. Mit Recht wird daher „ein effektives Schutzsystem unter Koordination der dualistischen Form des Volksgruppenschutzes, nämlich des Staats-und Völkerrechts" gefordert
Aber auch die Forderung nach der Schaffung von Interventionsrechten zugunsten eines effektiven internationalen Minderheitenschutzes muß in diesem Licht gesehen werden. Seit der kompromißlosen Hinwendung der Völkerrechtsordnung zum Kriegs-und Gewaltverbot und zur allgemeinen Friedens-pflicht hat der internationale Minderheiten-und Volksgruppenschutz nur dann eine Existenzberechtigung, wenn er zum Weltfrieden beiträgt. Diese Zielorientierung ist beim weiteren Ausbau des Minderheiten-und Volksgruppenschutzes in erster Linie zu beachten. Diese Zielorientierung ist beim weiteren Ausbau des Minderheiten-und Volksgruppenschutzes in erster Linie zu beachten.
Angesichts der Erkenntnis, daß die Behandlung von Minderheiten und Volksgruppen eine Frage ist, die das Problem des Weltfriedens unmittelbar berührt, ist es erstaunlich, daß sich die Friedensforschung bisher nur wenig mit den Problemen der ethnischen Minderheiten beschäftigt hat Eine Ausnahme hiervon bilden die Arbeiten von Ekkehart Krippendorff. Mit Recht beklagt auch er die auf den Nationalstaat bezogene Denkweise: der moderne Staat als der große Vereinfacher, der „Schmelztiegel", innerhalb dessen die ethnische, religiöse und kulturelle Mannigfaltigkeit in eine historisch neue Synthese transformiert werden soll, nämlich in die vom Staat geschaffene Nation Doch könne an- dererseits der überwältigende Erfolg dieser national-kulturellen Homogenisierung mit Hilfe des Staates nicht geleugnet werden. Auch müsse befürchtet werden, daß dieser Prozeß, der ja erst dreihundert Jahre — für einige Nationen noch viel weniger — andauere, noch keineswegs beendet sei. Andererseits meint er, daß die Sezession unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht wahrscheinlich nicht die richtige Lösung ist Sein Ergebnis, daß noch viel mehr und differenziertere Forschung erforderlich sei, um die Probleme, die sich aus dem unvermuteten Auftreten von Minderheiten als politischen Kräften in der jüngsten Vergangenheit ergeben haben, genauer zu untersuchen, muß vom Standpunkt der Völkerrechtswissenschaft unterstützt werden.
Aber schon jetzt ist klar, daß im Zuge der Entwicklung des Völkerrechts zu einem Recht der internationalen Zusammenarbeit, das sich an einem „internationalen Sozialstaatsprinzip“ orientiert eine Ausdehnung des Wirkungsbereichs völkerrechtlicher Regelungen über die traditionellen Grenzen hinaus stattfinden muß. Dieser Ausdehnungsprozeß ist am Beispiel der Kriegsverhütung früh deutlich geworden. Während das klassische Völkerrecht, das mit dem Inkrafttreten der Völkerbundsatzung zu Ende ging, nur ein Kriegsrecht kannte, das die Wirkungen der einzelnen Kriegs-handlungen begrenzte und das Verhalten im Kriege selbst regelte, enthält das neue Völkerrecht seit dem Ende des Ersten Weltkriegs auch Regeln, die den Krieg verhüten sollen und damit in eine Sphäre eingreifen, die sich vorher der völkerrechtlichen Normierung entzogen hatte.
So entstand auch der Begriff der kollektiven Sicherheit, der zunächst auf den militärischen Bereich beschränkt war, heute aber durch den Begriff der kollektiven wirtschaftlichen Sicherheit ergänzt wird. Es ist durchaus denkbar, daß das Minderheiten-und Volksgruppenrecht im Zuge einer konsequenten Fortführung dieser Entwicklung ebenfalls die Grenzen der staatlichen Souveränität zurückdrängt und damit den völkerrechtlichen Normierungen einen größeren Wirkungsbereich verschafft Auf der Grundlage der Erkenntnis, daß das Volksgruppenrecht ein „Faktor innerer und äußerer Friedenssicherung" ist erscheint eine solche Entwicklung durchaus realistisch.
Sie ist auch bereits in einem wichtigen Dokument vorgezeichnet In der Schlußakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) vom 1. August 1975 heißt es: „Die Teilnehmerstaaten, auf deren Territorium nationale Minderheiten bestehen, werden . das Recht von Personen, die zu solchen Minderheiten gehören, auf Gleichheit vor dem Gesetz achten; sie werden ihnen jede Möglichkeit für den tatsächlichen Genuß der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewähren und werden auf diese Weise ihre berechtigten Interessen in diesem Bereich schützen.“ Der Satz befindet sich im Kapitel „Fragen der Sicherheit in Europa". Unter der Überschrift „Zusammenarbeit in humanitären und anderen Bereichen“ wird die Minderheitenfrage erneut angesprochen: „Die Teilnehmerstaaten, in Anerkennung des Beitrags, den die nationalen Minderheiten oder die regionalen Kulturen zur Zusammenarbeit zwischen ihnen in verschiedenen Bereichen der Kultur leisten können, beabsichtigen, wenn auf ihremTerritorium solche Minderheiten oder Kulturen existieren, diesen Beitrag unter Berücksichtigung der legitimen Interessen ihrer Mitglieder zu erleichtern.“
Die KSZE-Schlußakte ist zwar kein völkerrechtlicher Vertrag, aber sie gibt Aufschluß über die grundsätzliche Einstellung der Signatarstaaten zu den in ihr behandelten Fragen und schafft moralische Verpflichtungen der Signatarstaaten. Sie ist deshalb zumindest ein Indiz für die Richtung, in die sich das Völkerrecht künftig entwickeln wird.
IV. Abgrenzung zum Menschenrechtsschutz
„Am Ende des Ersten Weltkriegs war der . internationale Minderheitenschutz'die große Mode. Heute trägt der modische Völkerrechtler . Menschenrechte'.“ Diese Worte wurden vor mehr als dreißig Jahren geschrieben, aber sie blieben bis in die jüngste Vergangenheit hinein gültig. „Vom Minderheitenschutz zu den Menschenrechten“ lautete die Devise Erst später haben Völkerrechtler auf einen hintergründigen Sinn dieser Devise hingewiesen. Der Aufbau des Minderheitenschutz-systems des Völkerbunds hat nämlich zumindest mittelbar zur Entfaltung des Menschenrechtsgedankens beigetragen, der dann in der UNO-Ära bestimmend wurde
Aber an dieser Stelle beginnen die rechtsdogmatischen Schwierigkeiten. Im Verständnis der sogenannten westlichen Welt sind die Menschenrechte individuelle Rechte. Im Rahmen einer vom christlich-abendländischen Geist durchdrungenen Rechtsordnung, wie sie das Völkerrecht bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs darstellte, ist diese Auffassung eine Selbstverständlichkeit Die UNO-Debatten, die der Verkündung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 vorangingen, zeigen ebenso wie die Beratungen über die Menschenrechtskonventionen von 1966, daß jenes individualrechtliche Menschenrechtsverständnis das absolut herrschende war. Es ist das völkerrechtliche Menschenrechtsverständnis schlechthin.
Paradoxerweise ergibt sich das auch und gerade auf der Grundlage des herkömmlichen Begriffs des Völkerrechts als Recht der souveränen Staaten: Das Völkerrecht soll die Staaten verpflichten, die Rechte des einzelnen zu achten. Das wäre dann schwer begründbar, wenn die Menschenrechte als vom Staat geschaffene und deshalb von ihm beschränkbare und entziehbare Rechte angesehen würden.
Obwohl somit die individualrechtliche Auffassung der Menschenrechte rechtsdogmatisch abgesichert erscheint, kann doch an die Stelle des der staatlichen Personal-und Territorialhoheit unterworfenen einzelnen auch eine ebenfalls dieser Hoheit unterworfene Gruppe von Menschen treten. Das setzt allerdings voraus, daß es Rechte gibt, die der Gruppe als solcher zustehen, mit anderen Worten: kollektive Menschenrechte. In der Literatur ist dieser Begriff bereits verwendet worden, und zwar gerade mit Blick auf Minderheiten bzw. Volksgruppen Diejenige Gruppe, die als „Volk“ oder „Nation“ im Sinne des Staats-und Völkerrechts gilt, wird nicht als mit Menschenrechten ausgestattet angesehen. Sie nimmt grundsätzlich nur mit Hilfe ihres Staates, als dessen konstitutives Begriffselement sie betrachtet wird, am Völker-rechtsverkehr teil. Die einzige Ausnahme von diesem Grundsatz betrifft das Selbstbestimmungsrecht der Völker.
Setzt man neben die individuellen Menschenrechte die kollektiven, die ihrer Natur nach von vornherein der Gruppe zustehen, so kann man rechtsdogmatisch den gesamten völkerrechtlichen Minderheitenschutz unter den Oberbegriff des Menschenrechtsschutzes stellen. Jedoch darf der Begriff „kollektive Menschenrechte“ nicht mißdeutet werden. Er meint nicht ein prinzipiell kollektives Menschenrechtsverständnis, das demjenigen der Menschenrechtskonventionen und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte widersprechen würde. Die Menschenrechte sind Rechte des einzelnen, die dem einzelnen kraft seines Menschseins, ohne Rücksicht auf die Zugehörigkeit zu irgendeiner organisierten odernichtorganisierten Gruppe, zustehen. Daß es daneben auch Ideologien oder Kulturen gibt, nach deren Grundhaltung die Menschenrechte von einem Kollektiv zugeteilt, begrenzt und auch wieder entzogen werden können, und daß diese Grundhaltung zu Schwierigkeiten bei der Interpretation der internationalen Menschenrechtsinstrumente führt, braucht hier nicht vertieft zu werden. Wichtig ist nur die Feststellung, daß immer dann, wenn im Zusammenhang mit der Diskussion über die Verbindungen zwischen Minderheitenschutz und Menschenrechten auch im westlichen Schrifttum von kollektiven Menschenrechten die Rede ist, damit nicht jene andere (kollektivrechtliche) Grundeinstellung zu den Menschenrechten gemeint ist, sondern nur eine spezielle Gruppe von Menschenrechten, die von vornherein eine andere Natur haben als die herkömmlichen individuellen, und deren Existenz daher die Rechtsnatur der individuellen Menschenrechte nicht berührt Die Verbindung zwischen den Menschenrechten und dem internationalen Minderheitenschutz betrifft aber nicht nur das Nebeneinander von individuellen und kollektiven Menschenrechten, sondern auch, ja sogar vor allem, die Möglichkeiten des Einsatzes der individualrechtlichen Menschenrechte für den Minderheiten-und Volksgruppenschutz Auch diese Möglichkeiten sind zahlreich. An der Spitze steht das Recht des einzelnen, sich ohne Furcht zu der ethnischen Gemeinschaft zu bekennen, der er angehört. Individuelle Rechte, wie das der Vereinigungs-und Versammlungsfreiheit der Meinungs-und Pressefreiheit der Religions-und Gewissensfreiheit ermöglichen die Gruppen-bildung. Sie können aber nicht den Bestand der Gruppe sichern.
Individuelle Menschenrechte können daher indirekt die Gemeinschaft schützen, aber ein echter völkerrechtlicher Minderheitenschutz kann durch sie nicht bewirkt werden. So kann z. B. das Diskriminierungsverbot dem Angehörigen einer Minderheit die physische Existenz ermöglichen oder zumindest erleichtern, und es mindert die Anreize, sich um irgendwelcher Vorteile willen aus der Minderheitsgemeinschaft herauszulösen. In diesem Sinne steht das Diskriminierungsverbot am Anfang eines jeden Minderheitenschutzes Das bedeutet zugleich, daß die umfangreiche Tätigkeit der Vereinten Nationen auf dem Gebiet der Antidiskriminierung mittelbar auch dem Minderheitenschutz zugute kommt. Aber auch durch sie konnte ein Minderheitenschutz, wie ihn der Völkerbund aufzubauen versucht hatte, nicht entstehen.
Die Antidiskriminierung allein reicht für den Minderheitenschutz nicht aus. Das Verbot der Diskriminierung ist gleichbedeutend mit der Anwendung des Gleichheitssatzes. Wenn aber die Minderheit als solche auf den Gleichheitssatz verwiesen wird, ist ihr Schicksal als Gruppe besiegelt Zwar überleben die einzelnen, aber die Gruppenexistenz verlangt mehr. Sie erfordert einen Schutz gegenüber der von den nicht zur Minderheit Gehörigen gefällten Mehrheitsentscheidung innerhalb der größeren (staatlichen) Gemeinschaft Es gehört zu den Grundprinzipien eines jeden demokratischen Rechtsstaates, daß Mehrheitsentscheidungen, die ordnungsgemäß zustande gekommen sind, von der überstimmten Minderheit loyal befolgt werden müssen. Wenn aber eine Gruppe als solche geschützt werden soll, müssen alle Entscheidungen, durch die die Gruppenexistenz gefährdet werden kann, von diesem Prinzip ausgenommen bleiben. Mit anderen Worten: Minderheitenschutz kann niemals durch die Anwendung des allgemeinen Gleichheitsgebots ersetzt werden.
Deshalb hat die Europäische Menschenrechtskonvention (EMK), die in ihrem Art 14 die „Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit“ als Kriterium erwähnt, das nicht zu rechtlicher Ungleichheit führen darf, keinen Beitrag zur Entwicklung des Minderheiten-rechts geleistet Gerade die Praxis der Anwendung von Art 14 EMK hat gezeigt daß die individuellen Menschenrechte allein hierzu nicht in der Lage sind.
V. Bemühungen der Vereinten Nationen
Die allgemeine Klage darüber, daß die Organisation der Vereinten Nationen den Minderheitenschutz jahrzehntelang vernachlässigt habe, ist bereits mehrfach erwähnt worden. An Versuchen, das Minderheitenthema in verschiedenen Gremien der Vereinten Natio-nen zur Sprache zu bringen, hat es jedoch nicht gefehlt Bereits in die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 sollte ein Minderheitenartikel aufgenommen werden, was jedoch vor allem am Widerspruch von Eleanor Roosevelt — Mitglied der mit dem Entwurf der Erklärung beauftragten Men- schenrechtskommission — scheiterte. Sie meinte, das Minderheitenproblem habe „keine allgemeine Bedeutung" und beziehe sich nur auf Europa So kam es dann lediglich zu einer Resolution über das „Schicksal der Minderheiten" (Fate of Minorities), in welcher der Wirtschafts-und Sozialrat ersucht wurde, die . Abfassung einer sorgfältigen Studie über das Minderheitenproblem" in Auftrag zu geben
Erst 31 Jahre später wurde der aufgrund dieser Resolution in Auftrag gegebene Bericht des Sonderberichterstatters einer Unterkommission der Menschenrechtskommission, der sogenannte Capotorti-Bericht, veröffentlicht Die Unterkommission trägt an der Verzögerung keine Schuld; sie hatte sich durch ihr Eintreten für das Minderheitenrecht sogar so unbeliebt gemacht daß der Wirtschafts-und Sozialrat sie 1950 auflöste und erst 1952, nach Protesten aus der Generalversammlung, wieder einsetzte. Daß aber auch in der General-versammlung kein allzu großes Interesse bestand, ergibt sich schon aus der Tatsache, daß auf eine Rundfrage, die das Generalsekretariat der Vereinten Nationen am 24. Oktober 1972 an die Regierungen der damals 132 Mitgliedstaaten mit der Bitte um Stellungnahme zum Minderheitenschutz richtete, nur 19 Antworten eingingen. Das Generalsekretariat selbst hatte bereits am 7. April 1950 ein Gutachten über die Frage der Fortgeltung der Minderheitenschutzbestimmungen der Völkerbund-Ära vorgelegt, das zu dem Ergebnis gekommen war, daß mit Ausnahme des schwedisch-finnischen Vertrags von 1921 über die Aland-Inseln und des Abkommens zwischen Griechenland und der Türkei von 1923 alle Verträge erloschen sind, weil die von ihnen geschützten nicht Minderheiten mehr bestehen
Ob der Capotorti-Bericht, der bereits 1977 fertig war, aber erst 1979 veröffentlicht werden konnte, tatsächlich eine Wende in der Entwicklung des völkerrechtlichen Minderheitenrechts darstellt, mag diskussionswürdig sein. An Deutlichkeit läßt er jedenfalls nichts zu wünschen übrig. Capotorti beginnt mit der Feststellung, daß die Vereinten Nationen die Frage „eine recht lange Zeit (mindestens 20 Jahre) nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges" vernachlässigt hatten. Seine Analyse gipfelt in der Empfehlung, eine Grundsatzerklärung auszuarbeiten, um die Verwirklichung der Ziele des Minderheitenschutzes der Vereinten Nationen zu erleichtern. Die Diskussion über den daraufhin entworfenen Text einer Erklärung ist noch nicht abgeschlossen. Noch 1984 beschäftigte sich die Unterkommission mit Art. 1 des Erklärungsentwurfs Inzwischen sind aber auch die Menschenrechtskonventionen der Vereinten Nationen vom 19. Dezember 1966 in Kraft getreten. Eine von ihnen, der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte, der am 23. März 1976 in Kraft getreten ist, enthält in Art. 27 folgenden Wortlaut: „In Staaten mit ethnischen, religiösen oder sprachlichen Minderheiten darf Angehörigen solcher Minderheiten nicht das Recht vorenthalten werden, gemeinsam mit anderen Angehörigen ihrer Gruppe ihr eigenes kulturelles Leben zu pflegen, ihre eigene Religion zu bekennen und auszuüben oder sich ihrer eigenen Sprache zu bedienen.“
Capotorti meint dazu in seinem Bericht, dieser Artikel versuche, eine Lücke im geltenden Völkerrecht auszufüllen, nämlich über den Gleichheitssatz hinaus Garantien für den Fortbestand der Gruppe zu bieten. Capotorti bezweifelt, 27 diese Leistung vollbringt; Art.
er bezweifelt sogar den kollektiven Charakter der durch Art. 27 normierten Menschenrechte. Die Rechte des Art. 27 stünden „sozusagen in der Mitte zwischen reinen Individualrechten und denjenigen, die sich auf kollektive Einheiten beziehen“ An anderer Stelle sagt er von ihnen: „Weder erfordern noch verhindern sie die Gewährung politischer Autonomie an Minderheitengruppen.“ Am Ende der ganzen Untersuchung kommt Capotorti zu dem Ergebnis: Beide Menschenrechtskonventionen „enthalten sehr wenig Material, das dazu beitragen könnte, das Ausmaß der Pflichten der Staaten bezüglich der Minderheiten klarzustellen“ Die Schlußfolgerung hieraus, daß nämlich Art 27 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte kaum geeignet ist, den Aufbau eines effektiven Minderheitenschutzsystems zu fördern, deutet Capotorti nur an. Um nicht ganz der Resignation zu verfallen, fügt er hinzu, man müsse abwarten, ob es nicht gelingen könnte, die aufgrund von Art. 27 zu treffenden Maßnahmen durch weitere völkerrechtliche Verträge oder zumindest Prinzipienerklärungen der Vereinten Nationen zu präzisieren. Solche Versuche sind jedoch bisher nicht unternommen worden.
Ein wesentlich härteres Urteil hat Felix Ermacora gefällt Nach seiner Auffassung ist Art 27 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte „in Wahrheit der keine Minderheitenschutzvorschrift, die Minderheit als solcher unmittelbar dient, sondern eine Bestimmung, die dem einzelnen Minderheitenangehörigen zugute kommen soll und dann mittelbar vielleicht der Gemeinschaft zugute kommen kann" Sein Schlußurteil ist vernichtend:
„Der in Art 27 ausgesprochene Individualschutz ist an sich nichtssagend. Sein Inhalt kann auch nicht aus den Dokumenten erschlossen werden. Denn was ist die Kultur, was ist die eigene Religion und was bedeutet der Gebrauch der eigenen Sprache — auf die normative Waagschale gelegt?.. . Die Gründe für diese so dürftig ausgestaltete abstrakte Minderheitenschutzregelung der Weltgemeinschaft, die einem Vergleich mit dem Minderheitenschutzsystem der Zwischenkriegszeit nicht standhält, liegen im folgenden:
a) in der Ängstlichkeit der Staaten und ihrer Vertreter, Souveränitätsrechte durch Minderheitenansprüche gefährden zu lassen, b) in der Sorge um die Schaffung einer politischen Nation, die durch die Existenz von Minderheiten behindert werden könnte, c) in der mangelnden Erkenntnis aller notwendigen Fakten des Minderheitenproblems und der Schlußfolgerung daraus, d) in dem mangelnden Zusammenwirken jener Organe der Vereinten Nationen, die ein • und denselben Gegenstand behandeln.
Es sind also politische und technische Gründe, die der Ausbildung eines universellen Minderheitenschutzes hinderlich waren und sind."
Die Urteile anderer Experten gehen in eine ähnliche Richtung. So kommt z. B. Christian Tomuschat zu dem Ergebnis, daß Art. 27 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte „mehr Probleme aufwirft als löst“ Fritz Münch betont allerdings — im Gegensatz zu Ermacora —, daß Art 27 immerhin bereits Volksgruppenrecht darstelle
VI. Bemühungen des Europarats
Die EMK enthält nicht einmal eine dem Art. 27 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte entsprechende Vorschrift Daß Art 14 EMK keinen Ersatz für eine Minderheitenschutzbestimmung darstellt ist bereits erwähnt worden. Ermacora spricht deshalb von einer „Lücke im europäischen regionalen System" und erklärt sie folgendermaßen: „Die Staatenvertreter im Europarat betrachten den Volksgruppen-oder Minderheitenschutz so, als würde dieser ein . anrüchiges Gewerbe'darstellen."
Aber auch bezüglich des Europarats muß zugegeben werden, daß es nicht an Versuchen gefehlt hat, ein Minderheitenrecht in den regionalen Grenzen dieser Organisation zu entwickeln. Bereits 1949 wurde die Minderheitenfrage im Bericht des Rechtsausschusses über den ersten Entwurf der EMK erwähnt Die Beratende Versammlung richtete in denJahren 1950 und 1954 Aufforderungen an das Ministerkomitee, sich mit dem Minderheitenproblem zu befassen, aber das Ministerkomitee antwortete jedesmal mit dem Hinweis auf Art 14 EMK. Auch der Antrag des schwedischen Abgeordneten James Dickson, einen ständigen Unterausschuß für Minderheiten-fragen zu errichten fand in der Beratenden Versammlung keine Mehrheit Erst der Bericht des Rechtsausschusses vom 22. Oktober 1957 führte zur Entschließung 136 (1957) vom 29. Oktober 1957. In ihr wurde zwar die alte Auffassung; daß Art. 14 EMK für den Minderheitenschutz ausreiche, wiederholt Jedoch forderte sie immerhin „eine vergleichende Studie der geltenden Gesetze und Verwaltungsvorschriften und der in dieser Hinsicht bestehenden Verhältnisse“ bezüglich der nationalen Minderheiten in Europa Das Ministerkomitee lehnte es jedoch ab, einen solchen Bericht vorzulegen. Es begründete seine Haltung mit dem Hinweis darauf, daß sich die Mitglieder der Versammlung die nötigen Unterlagen mit Hilfe der Parlamente der Mitgliedstaaten beschaffen könnten. Außerdem sei zu besorgen, daß heikle Probleme angeschnitten werden, deren öffentliche Diskussion „wohl mehr schaden als nützen würde"
Trotzdem legte der Rechtsausschuß zwei Jahre später einen neuen Bericht über die nationalen Minderheiten vor Er beschränkte sich dabei allerdings auf die Minderheiten, „deren Status, zumindest teilweise, durch ein internationales Abkommen geregelt ist“, und zählte hierzu die tschechische, slowenische und kroatische Minderheit in Österreich, die deutsche Minderheit in Dänemark, die dänische Minderheit in der Bundesrepublik Deutschland, die jugoslawische Minderheit in Italien und die Südtirol-Frage. Die Beratende Versammlung stellte in ihrer Empfehlung 213 (1959) vom 17. September 1959 fest, „daß die Situation der im erwähnten Bericht angeführten nationalen Minderheiten im allgemeinen zufriedenstellend zu sein scheint“, empfahl aber, daß im Falle von Streitigkeiten die beteiligten Regierungen bestrebt sein sollten, die Satzung des Europa-rats, die EMK und „andere rechtlichen Verpflichtungen, die sie auf internationaler Ebene eingegangen sind“, zu beachten.
Eine größere Wirkung hatte der von dem dänischen Abgeordneten Hermod Lannung im Auftrage des Rechtsausschusses vorgelegte Bericht vom 2. Februar 1961. Er führte zur Empfehlung 285 (1961) der Beratenden Versammlung vom 26. April 1961 Unter anderem empfahl die Versammlung die Aufnahme einer Minderheitenschutzbestimmung in das Zweite Zusatzprotokoll der EMK mit folgendem Wortlaut: „Personen, die einer Minderheit angehören, soll nicht das Recht verweigert werden, in Gemeinschaft mit den anderen Angehörigen ihrer Gruppe, und soweit vereinbar mit der öffentlichen Ordnung, ihre eigene Kultur zu genießen, ihre eigene Sprache zu gebrauchen, ihre eigenen Schulen zu gründen und Unterricht in der Sprache ihrer Wahl zu erhalten oder sich zu ihrer eigenen Religion zu bekennen und sie zu praktizieren.“ Aber das Ministerkomitee ging auch auf diesen Vorschlag nicht ein.
Erst 1976 erinnerte die Beratende Versammlung des Europarats erneut an das Minderheitenproblem. Der sogenannte Sieglerschmidt-Bericht empfahl im Zusammenhang mit der Diskussion über die Menschenrechtskonventionen der Vereinten Nationen die Übernahme der „substantiellen Bestimmungen“ dieser Konventionen und erwähnte dabei auch Art. 27 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte. Aber zu einer entsprechenden Ergänzung der EMK durch ein Zusatzprotokoll oder zu sonstigen Maßnahmen ist es bis jetzt nicht gekommen. Im Mai 1984 fand beim Europarat in Straßburg eine öffentliche Anhörung der Ständigen Konferenz der Europäischen Gemeinden und Regionen unter dem Motto „Für eine Charta der Regional-und Minderheitensprachen in Europa" statt Fast alle Sprach-und Volksgruppen in den Mitgliedstaaten des Europarats waren vertreten. Der Generalberichterstatter Theodor Veiter legte den Entwurf einer Europäischen Charta der Regional-und Minderheitssprachen vor, der weitgehend Zustimmung fand
Dem Europäischen Parlament legte der Abgeordnete Alfons Goppel im Namen des Rechtsausschusses einen Berichtsentwurf zu den Rechten der Volksgruppen und Minderheiten vor, der aber unerledigt blieb. Hierauf nahm ein Entschließungsantrag von 42 Abgeordne-ten Bezug, der am 31. Juli 1984 eingebracht wurde und in dem unter ausdrücklicher Berufung auf Art 27 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte und die Entschließung Nr. 217 C (III) der General-versammlung der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948 die Schaffung eines europäischen Volksgruppenrechts gefordert wurde
VII. Schlußbemerkung
Läßt diese kurze Bestandsaufnahme den Schluß zu, daß sich das Minderheitenrecht nach Jahrzehnten der wissenschaftlichen Vernachlässigung und politischen Verachtung „wie ein Phönix aus der Asche" erhebt? Man wird das wohl noch kaum sagen können. Doch mag es gerechtfertigt sein, vorsichtig von einer weltweiten „Renaissance des Ethnischen" zu sprechen Für Europa ist sogar das Schlagwort von der „Wiederentdeckung der nationalen Minderheiten in Westeuropa" geprägt worden Die Zahlenangaben sind eindrucksvoll, sowohl was die Zahl der Minderheiten als auch diejenige ihrer Angehörigen betrifft. Von wenigen Ausnahmen abgesehen — Österreich und die Bundesrepublik Deutschland gehören dazu —, entsprechen die innerstaatlichen Rechtsvorschriften bei weitem nicht der Größe und Tragweite des Problems. Die Forderung, das innerstaatliche Minderheiten-recht durch ein völkerrechtliches zu unterstützen bzw. ein dem gegenwärtigen Entwicklungsstand des allgemeinen Völkerrechts entsprechendes internationales Volksgruppenrecht zu schaffen, ist daher durchaus berechtigt.
Doch sind die Chancen für die Erfüllung dieser Forderung noch immer gering. Von den Vereinten Nationen ist in absehbarer Zeit eine Minderheitenschutzerklärung zu erwarten, die vielleicht dazu beiträgt, die vagen Formulierungen des Art. 27 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte zu präzisieren und die darin enthaltenen Ansätze ein wenig zu vertiefen. Mehr Aussicht auf Erfolg haben die Anstrengungen auf regionaler Ebene. Der Vorschlag, eine europäische Volksgruppencharta für die geplante Europäische Union zu schaffen, verdient die Unterstützung aller politischen Kräfte. Der darauf abzielende Entschließungsantrag von 42 Abgeordneten des Europäischen Parlaments vom 31. Juli 1984 darf nicht ohne Wirkung bleiben.
Europa darf von sich behaupten, die Wiege des Völkerrechts zu sein. Es hat einmal, nach der Beendigung eines Weltkrieges, der die Gefährlichkeit der Souveränitätsanarchie des klassischen Völkerrechts deutlich gezeigt hatte, den Versuch unternommen, ein Schutz-system für ethnische Minderheiten aufzubauen. Das Versagen dieses Systems, das ohne Schuldvorwürfe zur Kenntnis genommen werden muß, darf nicht zur Resignation führen. Vierzig Jahre nach Inkrafttreten der Satzung der Vereinten Nationen ist die Zeit reif für einen neuen Versuch, gestützt auf globales Völkerrecht, aber zugeschnitten jeweils auf die Bedürfnisse in regionalem Rahmen. Westeuropa könnte dafür ein Vorbild sein.