Seit reichlich einem Jahrzehnt versuchen die jeweils verantwortlichen Politiker in den westlichen Industrieländern dem Problem der Arbeitslosigkeit Herr zu werden. Dabei war und ist die andauernde Beschäftigungskrise kein Naturereignis, sondern das Ergebnis fortwährender politischer Fehlsteuerungen auf dem Arbeitsmarkt Ständig wurde die Arbeitsmarktpolitik auf das Nächstliegende beschränkt, wurden fundamentale Veränderungen wichtiger gesamtwirtschaftlicher und arbeitsmarktpolitischer Rahmendaten außer acht gelassen, kamen entscheidende arbeitsmarktpolitische Instrumente wie z. B. die Arbeitszeitpolitik gar nicht oder zur falschen Zeit zum Einsatz. Fast zu keinem Zeitpunkt gelang es den Verantwortlichen in Wirtschaft und Politik, angebotene und nachgefragte Arbeitsmenge in Einklang zu bringen. Als Ergebnis pendelte der Arbeitsmarkt in den letzten dreißig Jahren heftig zwischen über-und Unterbeschäftigung hin und her. Da den Gründen für die Entwicklung der angebotehen und nachgefragten Arbeitsmenge bisher viel zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet wurde, sind wir von einer sachgerechten Problemlösung weit entfernt Auch die voraussichtliche Entwicklung der arbeitsmarktrelevanten Rahmendaten dürfte nicht dazu geeignet sein, die Arbeitsmarktpolitik in Zukunft zu erleichtern. Der Arbeitsmarkt wird auch mittelfristig weiterhin durch eine hohe Erwerbsquote, bescheidene Wirtschaftswachstumsraten, einen rasch wachsenden technischen Fortschritt, hohe Qualitätsanforderungen an die Arbeitskräfte und einen verschärften internationalen Wettbewerb geprägt sein. Ein Patentrezept zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit gibt es nicht. Weder die Senkung der Arbeitskosten noch die Drosselung des Produktivitätsfortschritts oder staatliche Beschäftigungsprogramme können unter den gegebenen wirtschafts-und gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen die Arbeitsmarktproblematik lösen. Erfolge bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit sind nur möglich, wenn Tarifparteien und Politiker langfristige, arbeitsmarktpolitische Konzepte entwickeln, die den Einsatz aller arbeitsmarktpolitischen Instrumente, vor allem auch der Arbeitszeit, umfassen.
I. Arbeitslosigkeit: ein internationales Problem
Langsam wird es zur Gewißheit: Auch auf dem Höhepunkt des gegenwärtigen Konjunkturzyklus'ist in den westlichen Industrieländern keine deutliche Besserung auf dem Arbeitsmarkt eingetreten. Knapp 31 Millionen Erwerbspersonen sind zur Zeit in den OECD-Ländern arbeitslos, davon mehr als 12 Millionen in der Europäischen Gemeinschaft; das heißt, hier ist jede zehnte Erwerbsperson ohne Beschäftigung.
Entgegen vielen Prognosen waren im ersten Halbjahr 1985 auch in der Bundesrepublik Deutschland wiederum etwa 2, 4 Millionen Menschen — und damit etwa jede dreizehnte Erwerbsperson — ohne Arbeit Das sind knapp 100 000 Arbeitslose mehr entsprechenden als Zeitraum des Vorjahres. Dabei ist in anderen westlichen Industrieländern die Arbeitsmarktsituation zum Teil noch schlechter. Im Herbst 1985 ist beispielsweise in Italien und Großbritannien etwa jede achte und in Frankreich beinahe jede zehnte Erwerbsperson arbeitslos.
Zur Zeit sind die Aussichten für die Zukunft keineswegs ermutigend. Bereits in diesem Jahr wird das wirtschaftliche Wachstum der westlichen Industrieländer mit voraussichtlich knapp 3, 3 % deutlich unter dem Niveau des Vorjahres (4, 9 %) liegen. Für 1986 werden für die Länder der OECD sogar nur noch knapp 2, 8 % prognostiziert Mit sich abschwächender Konjunktur werden die Arbeitslosenzahlen 1986 voraussichtlich weiter steigen. Für den Bereich der OECD werden knapp 32 Millionen Arbeitslose vorhergesagt.
Damit gehen die westlichen Industrieländer mit dem Problem einer inzwischen chronischen Arbeitslosigkeit in ihr zwölftes Jahr. Alle Versuche, an diesem Zustand etwas zu ändern, waren bislang erfolglos. Verständlicherweise ist deshalb die Arbeitslosigkeit zur größten Bürde der westlichen Industrieländer geworden. Thema beschäftigt die Men Kein -schen stärker. Das ist um so verständlicher, als die Unfähigkeit der Gesellschaft, allen Arbeitswilligen einen Arbeitsplatz zu verschaffen, unsere Arbeitsgesellschaft in ihrem Selbstverständnis trifft. Durch die chronische Beschäftigungskrise ist ein Fundament unserer Wirtschafts-und Gesellschaftsordnung ins Wanken geraten: die Verwirklichung des einzelnen in der und durch die Arbeit und die Verteilung von Einkommen über Arbeit. Fast unser gesamtes Verteilungssystem — von der gesetzlichen Krankenversicherung über die, Alters-bis hin zur Hinterbliebenenrente — baut auf dem Arbeitsverhältnis auf. Funktioniert der Arbeitsmarkt nur noch unzureichend, werden auch die sozialen Sicherungssysteme untergraben.
II. Arbeitslosigkeit: das Ergebnis langfristiger politischer Fehlsteuerungen
Abbildung 2
Schaubild 2: Wohn-und Erwerbsbevöl kerung 1960 bis 1990
Schaubild 2: Wohn-und Erwerbsbevöl kerung 1960 bis 1990
Es ist ein Akt politischer und gesamtgesellschaftlicher Redlichkeit, zu bekennen, daß die andauernde Beschäftigungskrise kein Naturereignis ist, sondern das Ergebnis fortwährender Fehlsteuerungen. Die Quelle dieser Fehl-steuerungen war die fatale Neigung vieler Politiker, aber auch vieler Arbeitgeber und Gewerkschafter, flüchtige Vorteile in der Gegenwart dauerhaften Vorteilen in der Zukunft vorzuziehen und gesamtwirtschaftliche Auswirkungen ihres Handelns hartnäckig zu mißachten. Dies zeigt sich besonders deutlich in der Arbeitsmarktpolitik der zurückliegenden Jahrzehnte. In dieser Zeit pendelte der Arbeitsmarkt stets heftig zwischen hoher Über-und Unterbeschäftigung, wobei inzwischen auf jedes Jahr der Überbeschäftigung bereits annähernd zwei Jahre der Unterbeschäftigung kommen. Für den Arbeitsmarkt fast aller verB gleichbaren westlichen Industrieländer wird somit für die zweite Hälfte dieses Jahrhunderts nicht Arbeitskräftemangel, sondern Arbeitskräfteüberschuß bestimmend sein.
Fast zu keinem Zeitpunkt gelang es den Verantwortlichen in Wirtschaft und Gesellschaft, die von den Erwerbspersonen angebotene und die von Wirtschaft und Gesellschaft nachgefragte Arbeitsmenge in Einklang zu bringen. Spätestens seit Mitte der fünfziger Jahre hat der Arbeitsmarkt in der Bundesrepublik nicht mehr befriedigend funktioniert Die kriegs-und nachkriegsbedingte Phase des Arbeitskräfteüberschusses in den fünfziger Jahren wurde in den sechziger Jahren durch eine Phase abnormer Überbeschäftigung und in den siebziger Jahren erneut durch eine Phase des Arbeitskräfteüberschusses abgelöst. Auch wenn diese Entwicklung nicht gänzlich vermeidbar gewesen sein sollte, muß dennoch festgestellt werden, daß die Heftigkeit der Pendelbewegungen hätte gedämpft werden können, wenn gesamtwirtschaftliche und arbeitsmarktpolitische Rahmendaten besser berücksichtigt worden wären. Das war jedoch nicht der Fall. Eine konzeptionelle Arbeitsmarktpolitik wurde in den zurückliegenden Jahrzehnten praktisch nicht betrieben. Die Beschäftigung war fast immer nur eine Restgröße, für die sich letztlich niemand verantwortlich fühlte.
III. Die fünfziger Jahre: Von der Arbeitslosigkeit zur Vollbeschäftigung
Abbildung 3
Schaubild 3: Effektive und hypothetisch erforderliche Jahresarbeitszeit pro Erwerbstätigen 1950 bis 1984
Schaubild 3: Effektive und hypothetisch erforderliche Jahresarbeitszeit pro Erwerbstätigen 1950 bis 1984
Um die gegenwärtige Situation und die künftige Entwicklung zutreffend einschätzen zu können, bedarf es eines Blicks in die Vergangenheit. Dabei zeigt sich, daß nur in den fünfziger Jahren die Arbeitsmarktpolitik wirklich erfolgreich war. Damals konnten innerhalb von zehn Jahren knapp zwei Millionen Arbeitslose, Hunderttausende von Flüchtlingen aus dem Osten sowie etwa 200 000 ausländische Arbeitnehmer in den Arbeitsmarkt integriert und dadurch ab 1960 Vollbeschäftigung erreicht werden. Wesentlichen Anteil an diesem Erfolg hatte der sachgemäße Einsatz de Arbeitszeitpolitik. So wurde die tarifliche Ar beitszeit pro Arbeitnehmer in diesem Zeit raum durchschnittlich um knapp 35 Stunde) jährlich gekürzt. Nicht zuletzt deshalb stie die Zahl der Erwerbstätigen zwischen 195: und 1960 um zwei Millionen. Dennoch ver minderte sic die Arbeitsmenge, das heißt die Zahl der von allen Erwerbstätigen effektiv ge leisteten Jahresarbeitsstunden, von reichlicl 58 Milliarden auf etwa 50, 5 Milliarden Stunden
IV. Die sechziger Jahre: Zeit des akuten Arbeitskräftemangels
Abbildung 4
Schaubild 4: Effektive, angebotene und nachgefragte Arbeitsmenge pro Kopf der Wohnbevölkerung 1950 bis 1984
Schaubild 4: Effektive, angebotene und nachgefragte Arbeitsmenge pro Kopf der Wohnbevölkerung 1950 bis 1984
Der entscheidende Fehler der Arbeitsmarkt-politik der sechziger Jahre bestand in der unreflektierten Fortsetzung der Arbeitsmarkt-politik der fünfziger Jahre. Was in den fünfziger Jahren sinvoll gewesen war, erwies sich zunehmend verhängnisvoll, als von 1960 an der Arbeitsmarkt leergefegt war. Doch die Tarifparteien und die Politiker nahmen hierauf kaum Rücksicht. Genau wie in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre ging nicht nur die nachgefragte, sondern vor allem auch die angebotene Arbeitsmenge kontinuierlich zurück. Selbst in konjunkturellen Aufschwüngen mit jährlichen realen Wachstumsraten des Bruttosozialprodukts von bis zu 9 % wurde der Abbau der Arbeitsmenge lediglich kurzfristig und vergleichsweise geringfügig verlangsamt.
Die vorhersehbare Folge dieser Entwicklung war ein akuter Arbeitskräftemangel, der 1960 begann und bis 1974 anhielt Die Tarifparteien und politisch Verantwortlichen zeigten sich damals gegenüber fundamentalen arbeitsmarktpolitischen Daten blind. So ignorierten sie den Umstand, daß von 1960 bis 1970 die deutsche erwerbsfähige Bevölkerung um rund eine Million abnahm und zugleich die deutsche Wohnbevölkerung zahlenmäßig deutlich anstieg. Da die dadurch programmierte Arbeitskräftelücke seit dem Mauerbau von 1961 auch nicht mehr durch den Zuzug deutscher Erwerbspersonen aus der DDR gefüllt werden konnte, wäre es erforderlich gewesen, das vorhandene Erwerbspersonenpotential soweit wie möglich zu mobilisieren. Statt dessen wurde ein immer größerer Teil von erwerbsfähigen Jugendlichen auf Schulen und Universitäten und ältere Erwerbspersonen in Rente geschickt.
Allein durch die Verlängerung der schulischen Ausbildung und den Anstieg der Studentenzahlen wurden dem Arbeitsmarkt von 1960 bis 1974 reichlich zwei Millionen deutsche Erwerbspersonen entzogen. Da in dieser Zeit auch die Frauenerwerbstätigkeit zurückging, sank die deutsche Erwerbsquote, also das Verhältnis von deutschen Erwerbspersonen zur deutschen Wohnbevölkerung, von reichlich 47 % im Jahre 1960 auf knapp 43 % im Jahre 1973.
Alle diese Veränderungen wären jedoch noch akzeptabel gewesen, wenn nicht zugleich eine in dieser Phase völlig unangemessene Arbeitszeitpolitik betrieben worden wäre. Sie war die entscheidende Ursache für die Verminderung der angebotenen Arbeitsmenge oder konkret für den chronischen Arbeitskräftemangel.
Insgesamt wurde die tarifliche Jahresarbeitszeit pro Arbeitnehmer von 1960 bis 1973 um 21 Stunden pro Jahr gekürzt. Das entsprach einem Rückgang der deutschen Erwerbspersonen um reichlich drei Millionen. Bei einer Quantifizierung der Ursachen des Arbeitskräftemangels in den sechziger und frühen siebziger Jahren ist festzustellen, daß der Rückgang der angebotenen Arbeitsmenge zu 13% durch demographische Veränderungen, zu etwa 22 % durch Veränderungen der Erwerbsquote, aber zu zwei Dritteln durch die von den Tarifparteien vereinbarten Verkürzungen der Arbeitszeit verursacht wurde.
V. Ausländerbeschäftigung: der bequeme Weg in die Irre
Abbildung 5
Schaubild 5: Bruttosozialprodukt insgesamt und pro Kopf der Wohnbevölkerung 1950 bis 1988
Schaubild 5: Bruttosozialprodukt insgesamt und pro Kopf der Wohnbevölkerung 1950 bis 1988
Um die großen Arbeitskräftelücken zu füllen, die durch die von Grund auf verfehlte Arbeitszeitpolitik in den sechziger Jahren gerissen wurden, warb man jedes Jahr Hunderttausende von ausländischen Arbeitskräften für den deutschen Arbeitsmarkt an. Dabei fehlte es nicht an Stimmen, die auf die Gefahren dieser Lösung der Arbeitsmarktproblematik hinwiesen. Denn auch in den sechziger Jahren war bereits deutlich, daß die Ausländerbeschäftigung die Arbeitsmarktprobleme allenfalls kurzfristig lindern, nicht jedoch dauerhaft lösen konnte. Schon Mitte der sechziger Jahre begannen nämlich die ausländischen Arbeitskräfte ihre Familien in die Bundesrepublik nachzuholen, die bald ebensoviel Arbeit nachfragten, wie von den ausländischen Arbeitskräften erbracht wurde. Im Ergebnis wurde so nur die Bevölkerung in der Bundesrepublik zahlenmäßig vergrößert, nicht aber der Arbeitsmarkt spürbar entlastet.
Darüber hinaus war auch schon in den sechziger Jahren absehbar, daß sich die kriegsbedingten demographischen Verschiebungen im deutschen Bevölkerungsteil — der Rück gang des erwerbsfähigen Bevölkerungsteils bei gleichzeitigem Anstieg der deutschen Wohnbevölkerung — schon in den siebziger Jahren in ihr Gegenteil verkehren würden. Daher hätte es nahegelegen, den Zustrom ausländischer Arbeitskräfte auf ein Mindestmaß zu beschränken und die nachgefragte Arbeitsmenge möglichst durch deutsche Erwerbspersonen zu decken.
Dieser Weg wäre politisch durchaus zumutbar gewesen. Denn rein rechnerisch hätte die deutsche Erwerbsbevölkerung — bei fortlaufend sinkender Arbeitszeit — nur gut eine halbe Wochenstunde länger arbeiten müssen, um ohne die Mitwirkung ausländischer Arbeitskräfte die deutsche Wohnbevölkerung mit der gleichen Arbeitsmenge zu versorgen, die sie aufgrund der Ausländerbeschäftigung erhielt. Unter Berücksichtigung des Arbeitseinsatzes von EG-Ausländern, Österreichern, Schweizern und Lichtensteinern auf dem deutschen Arbeitsmarkt hätte der zusätzliche Arbeitseinsatz der deutschen Erwerbsbevölkerung sogar noch um etwa ein Drittel geringer sein können. Das heißt: Die Arbeitskräfte-lücke wäre nicht entstanden, wenn die Tarif-parteien bei fortlaufend abnehmender Wochenarbeitszeit bei der Verlängerung des Jahresurlaubs etwas größere Zurückhaltung geübt hätten.
Wenn dieser naheliegende und langfristig einzig richtige Weg dennoch nicht beschritten wurde, dann nur deshalb, weil die deutschen Erwerbspersonen die nachgefragte Arbeitsmenge weder ihrem Umfang noch ihrer Art nach erbringen wollten. Die deutsche Erwerbsbevölkerung war schon in dieser Zeit nicht mehr willens, den unvermeidlichen Schwankungen auf dem Arbeitsmarkt Rechnung zu tragen. Schon damals scheiterten Alternativen zur Ausländerbeschäftigung an der Verkrustung von Wirtschaft und Gesellschaft Anstehende Probleme wurden deshalb nicht mehr gelöst, sondern in die Zukunft verschoben. Die Entscheidung für die forcierte Beschäftigung von Ausländern und gegen den höheren Arbeitseinsatz deutscher Erwerbspersonen erwies sich innerhalb weniger Jahre als Bumerang. Durch die verfehlte Arbeitsmarktpolitik der sechziger und siebziger Jahre ist die Bundesrepublik heute schlechter auf gegenwärtige und künftige Herausforderungen vorbereitet, als dies bei einer sachgerechten Politik möglich gewesen wäre. Die Bevölkerung wurde künstlich aufgebläht, die Belastung der Umwelt verstärkt, der Infrastrukturbedarf erhöht und die öffentlichen Haushalte überfordert. Als besonderes Problem wird sich künftig die Entwicklung der sozialen Sicherungssysteme erweisen. Der einstmals bequeme Weg der Ausländerbeschäftigung erweist sich nun als besonders steinig.
VI. Die Vernachlässigung neuer Trends
Abbildung 6
Tabelle: Jährliche Veränderungsraten*) von Produktivität, Arbeitszeit, Bruttosozialprodukt und Bevölkerung in den sechs Konjunkturzyklen von 1950 bis 1982 sowie in den achtziger und neunziger Jahren Quellen: Institut für Arbeitsmarkt-und Berufsforschung (IAB) und Berechnungen des IWG.
Tabelle: Jährliche Veränderungsraten*) von Produktivität, Arbeitszeit, Bruttosozialprodukt und Bevölkerung in den sechs Konjunkturzyklen von 1950 bis 1982 sowie in den achtziger und neunziger Jahren Quellen: Institut für Arbeitsmarkt-und Berufsforschung (IAB) und Berechnungen des IWG.
Spätestens 1973 waren die Schwächen der bis dahin verfolgten Arbeitsmarktpolitik für jedermann erkennbar. Innerhalb von zwölf Monaten verwandelte sich der Arbeitskräfte-mangel in einen Arbeitskräfteüberschuß. Der äußere Anlaß hierfür war ein keineswegs dramatischer wirtschaftlicher Einbruch. Doch er reichte aus, um die weitaus wichtigeren Gründe für die Veränderung der Arbeitsmarktsituation für einige Zeit zu überdecken. Entscheidend war nämlich, daß sich wesentliche arbeitsmarktpolitische Rahmendaten, die in den sechziger und frühen siebziger Jahren den Mangel an Arbeitskräften bewirkt hatten, in der ersten Hälfte der siebziger Jahre dramatisch veränderten.
Doch wiederum zeigten sich Tarifparteien und Politiker von diesen Veränderungen unberührt. In völliger Verkennung des eigentlichen Geschehens unternahmen sie jahrelang den weitgehend untauglichen Versuch, die Arbeitslosigkeit nach dem Muster von 1967, das heißt mit rein konjunkturellen Mitteln, zu bekämpfen. Die fundamentalen Veränderungen arbeitsmarktpolitischer Rahmendaten wurden in die politischen Strategien nicht einbezogen.
So wurden zum Beispiel die Veränderungen im Bevölkerungsaufbau und ihre Auswirkungen auf die angebotene und nachgefragte Arbeitsmenge lange Zeit nicht wahrgenommen. Dabei waren diese demographischen Veränderungen ungleich bedeutsamer als alle rezessiven Einbrüche.
VII. Bevölkerungsentwicklung und Arbeitslosigkeit
Abbildung 7
Schaubild 6: Angebotene und nachgefragte Arbeitsmenge pro Kopf der Wohnbevölkerung 1975 bis 2000
Schaubild 6: Angebotene und nachgefragte Arbeitsmenge pro Kopf der Wohnbevölkerung 1975 bis 2000
Tarifparteien und Politikern entging lange Zeit, daß 1974 die Wohnbevölkerung in der Bundesrepublik nach jahrhundertelangem Wachstum zu schrumpfen begann. Insgesamt verminderte sich die Wohnbevölkerung in den letzten elf Jahren um mindestens eine Million Menschen, von etwa 62 Millionen auf knapp 61 Millionen. Möglicherweise ist der Bevölkerungsschwund aber auch noch sehr viel ausgeprägter. Nach Auffassung des Statistischen Bundesamtes ist es durchaus möglich, daß die Wohnbevölkerung bereits auf etwa 60 Millionen Menschen gesunken ist. Besonders stark verminderte sich der deutsche Bevölkerungsanteil. Seit 1972 nahm er zahlenmäßig um mindestens 1, 5 Millionen Menschen ab.
Gleichzeitig nahm die Zahl der Erwerbsfähigen, d. h.der 15-bis 65jährigen, um rund 3, 4 Millionen zu. Ihr Anteil an der Bevölkerung stieg dadurch von knapp 64 % auf rund 70 %. Dies war der Hauptgrund für den Anstieg der Erwerbsquote von knapp 44 % auf knapp 45 %. Dabei hätte sich die Erwerbsquote noch sehr viel stärker erhöhen müssen, wenn nicht gleichzeitig Veränderungen im Erwerbsverhalten eingetreten wären. Ohne die abnehmende Bereitschaft von Erwerbsfähigen, am Erwerbsleben teilzunehmen, läge heute die Zahl der Erwerbspersonen in der Bundesrepublik allein aufgrund demographischer Entwicklungen um eine Million höher, als dies tatsächlich der Fall ist. Damit betrüge — gleiche wirtschaftliche und gesellschaftliche Bedingungen vorausgesetzt — die Arbeitslosen-zahl heute weit über drei Millionen und die Arbeitslosenquote über 12 %.
Aber nicht nur die demographischen Veränderungen bewirkten eine Erhöhung der Erwerbsquote. In die gleiche Richtung wirkte die Zunahme der Frauenerwerbstätigkeit. So stieg die Erwerbsquote der 20-bis 55jährigen Frauen in den letzten zehn Jahren um rund 10 %, von reichlich 53 % auf reichlich 59 %. Allerdings wurde der hierdurch bedingte Anstieg der Erwerbsquote durch den weiteren Rückgang der Erwerbstätigkeit älterer Erwerbspersonen teilweise kompensiert.
Allein diese Veränderungen genügten, um in den letzten elf Jahren eine vergleichsweise hohe Arbeitslosigkeit zu bewirken. Mit anderen Worten: Auch ohne die rezessiven Einbrüche der zurückliegenden zwölf Jahre hätte die Bundesrepublik mit erheblicher Arbeitslosigkeit zu kämpfen gehabt.
VIII. Der Rückgang des Wirtschaftswachstums
Bei der Überwindung der Arbeitslosigkeit setzten Tarifparteien und Politiker lange Zeit fast ausschließlich auf Wirtschaftswachstum.
Zu diesem Zweck wurden in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre immer größere Haushaltsmittel zur Ankurbelung der Wirt- schäft verwendet Diese Politik bewirkte zweierlei: — Sie trieb das Wirtschaftswachstum in der Tat kurzfristig nach oben. — Zugleich führte feie, da die staatlichen Mittel vorwiegend in Bereiche mit relativ niedriger Produktivität flossen, zu einer Halbierung des Produktivitätsfortschritts pro Erwerbstätigenstunde.
War seit Mitte der fünfziger Jahre der Produktivitätsfortschritt stets höher als das Wirtschaftswachstum, so wurden nunmehr beide Wachstumsraten einander stark angenähert Die Folge war: Die Arbeitslosenzahl sank in den Jahren 1978 bis 1980 wieder unter die Millionengrenze, die sie 1975 überschritten hatte.
Die Wirksamkeit dieser Politik war jedoch mit Beginn der achtziger Jahre erschöpft Der Staat sah sich nicht länger in der Lage, die Beschäftigungssituation durch Konjunkturprogramme und ähnliche Maßnahmen substantiell zu verbessern. Durch die hohe Verschuldung der öffentlichen Hand hatte diese Politik sich selbst ihre Grundlagen entzogen. Insgesamt wäre von 1973 bis 1984 ein zusätzliches Wirtschaftswachstum in Höhe von mehr als 800 Milliarden DM erforderlich gewesen, um unter den konkreten Bedingungen des Arbeitsmarktes Vollbeschäftigung zu gewährleisten. Das heißt: In der Zeit von 1973 bis heute hätten jährlich Güter und Dienstleistungen im Werte von reichlich 70 Milliarden DM zusätzlich bereitgestellt werden müssen. Allein 1984 hätte das Bruttosozialprodukt der Bundesrepublik um rund 165 Milliarden DM höher sein müssen, als es tatsächlich war. Das war weit mehr als die Wertschöpfung des gesamten Baugewerbes im Jahre 1984.
Dabei ist es müßig, der Frage nachzugehen, ob ein solches Wachstum tatsächlich erreichbar gewesen wäre. Entscheidend ist, daß es sich trotz massiver staatlicher Interventionen nicht einstellte. Wie schon in der zweiten Hälfte der fünfziger Jähre konnte der Rückgang der Arbeitsmenge durch Wirtschaftswachstum nur kurzfristig aufgehalten, nicht aber in seinem Trend verändert werden.
IX. Stau bei der Arbeitszeitverkürzung
Weitgehend vernachlässigt wurde in dieser kritischen Phase das Instrument der Arbeitszeitpolitik. Dabei wäre es angesichts der demographischen Rahmenbedingungen jetzt durchaus angebracht gewesen, durch individuelle Arbeitszeitverkürzung die angebotene 'Arbeitsmenge dem Niveau der nachgefragten Arbeitsmenge anzunähern. Statt dessen wurde genau die gegenteilige Politik betrieben.
Der Rückgang der effektiven Arbeitszeit, der im langjährigen Mittel bei knapp 22 Arbeitsstunden pro Jahr und Erwerbstätigen gelegen hatte, verlangsamte sich in der Zeit von 1973 bis 1985 um ein Drittel auf durchschnittlich knapp 15 Stunden jährlich. Dabei verminderte sich die tarifliche Arbeitszeit abhängig Beschäftigter noch langsamer. Sie verringerte sich, nachdem sie im langjährigen Mittel ebenfalls um durchschnittlich 21 Stunden jährlich abgenommen hatte, in den zurückliegenden Jahren nur noch um reichlich sechs Stunden jährlich.
Bei modellhafter Betrachtung hätte in der Zeit von 1973 bis 1984 die effektive Arbeitszeit — bei Konstanz aller übrigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen — um jährlich 26 Stunden statt 15 Stunden abgebaut werden müssen, um Vollbeschäftigung zu gewährleisten. Die durchschnittliche effektive Jahresarbeitszeit pro Erwerbstätigen hätte — im Rahmen dieses Modells — 1984 nur noch 1 570 Stunden betragen dürfen. Sie betrug jedoch 1 700 Stunden.
Nun wäre es falsch, aus dieser Modellrechnung zu folgern, daß Vollbeschäftigung allein durch eine Verminderung der Arbeitszeit möglich gewesen wäre. Vollbeschäftigung hängt von einer Vielzahl von Bedingungen ab, von denen die Arbeitszeit nur eine ist. Doch zugleich ist festzustellen, daß bei der Verkürzung der Arbeitszeit vor allem in den letzten zehn Jahren ein gewisser Stau eingetreten ist Der Hauptgrund für diesen Stau liegt in der wirtschaftlichen Entwicklung seit Mitte der siebziger Jahre. Unter den wirtschaftlichen Bedingungen der letzten zehn Jahre war eine kostenneutrale Arbeitszeitverkürzung mit vollem Lohnausgleich nicht mehr möglich. Arbeitszeitverkürzungen hätten in aller Regel zu realen Lohneinbußen geführt, die jedoch von der Mehrheit der Erwerbsbevölkerung abgelehnt werden. Diese war aus den sechziger Jahren daran gewöhnt, von Jahr zu Jahr weniger arbeiten zu müssen und dennoch höhere Einkommen zu beziehen. Eine Verminderung der Wochen-und Jahresarbeitszeit bei gleichzeitigem Verzicht auf Realeinkommen hatte für sie keine Attraktivität Praktisch wurde damit die Wachstumsschwäche seit Mitte der siebziger Jahre auf eine Minderheit der Erwerbsbevölkerung, die Arbeitslosen, abgewälzt Während die Arbeitsbesitzenden ihre Realeinkommen hielten und zum Teil sogar noch steigern konnten, wurden die Einkommen der aus dem Arbeitsprozeß Gedrängten mehr oder minder drastisch gekürzt. Mit Hilfe dieser Politik wurden unter den Bedingungen geringen Wachstums die Vorstellungen der großen Mehrheit der Erwerbstätigen auf Kosten einer Minderheit befriedigt. Die Wirtschafts-und Arbeitsmarktpolitik der zweiten Hälfte der siebziger Jahre warf jedoch noch weitergehende Probleme auf. So wie die Anwerbung von Ausländern in den sechziger und frühen siebziger Jahren zu einer weitgehenden Konservierung wirtschaftlicher Strukturen geführt hatte, führte nunmehr die forcierte Wachstumspolitik ebenfalls zur Konservierung von Strukturen, die eigentlich überholt waren. Hatte die Anwerbung von Ausländern große Teile der Wirtschaft notwendiger Anpassungs-und Rationalisierungsanstrengungen enthoben, so konnten nunmehr aufgrund der Politik künstlichen Wachstums und staatlicher Subventionen wiederum notwendige Strukturveränderungen vermieden werden. Auch hier wurde, wie in den sechziger Jahren, der kurzfristig bequemste und langfristig kostspieligste Weg gewählt.
X. Wo stehen wir heute?
Die eingehende Analyse der arbeitsmarktpolitischen Rahmenbedingungen zeigt, daß die gegenwärtige Beschäftigungskrise nicht durch einen außergewöhnlichen Rückgang der nachgefragten Arbeitsmenge verursacht wurde. Vielmehr verminderte sich die Nachfrage nach Arbeit in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre langsamer als jemals zuvor. Der eigentliche Grund für den Anstieg der Arbeitslosenzahl war der atypische Verlauf der angebotenen Arbeitsmenge. Die Ab-nähme der Wohnbevölkerung bei gleichzeitiger Zunahme der Erwerbsbevölkerung, das veränderte Erwerbsverhalten sowie die verlangsamte Verkürzung der Arbeitszeit führten dazu, daß die angebotene Arbeitsmenge in den letzten zehn Jahren praktisch konstant blieb. Gleichzeitig ging die nachgefragte Arbeitsmenge, bedingt durch relativ hohe Produktivitätsraten und gepaart mit langsamerem Wirtschaftswachstum, vor allem seit Anfang der achtziger Jahre, wieder stärker zu- rück, so daß sich die Schere zwischen angebotener und nachgefragter Arbeitsmenge immer weiter öffnete.
Da den Gründen für die Entwicklung der angebotenen und nachgefragten Arbeitsmenge bisher viel zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet wurde, sind wir bis heute von sachgerechten Problemlösungen weit entfernt Es gibt auch gegenwärtig kein mittel-oder langfristiges arbeitsmarktpolitisches Konzept. Dabei wäre ein solches Konzept um so dringender erforderlich, als auch in den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren sich keines der bestehenden Probleme von selbst erledigen wird. Zwar wird die Zahl der Erwerbsfähigen leicht zurückgehen, aber noch stärker wird sich die Wohnbevölkerung vermindern, so daß die Erwerbsquote unter demographischen Gesichtspunkten hoch bleiben wird. Hinzu kommt die sich ändernde Neigung von Frauen, mehr und mehr einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Künftig dürften Millionen von gutausgebildeten jungen Frauen auf den Arbeitsmarkt drängen, während zugleich nur verhältnismäßig wenige Frauen der älteren Generation aus dem Erwerbsleben ausscheiden werden. Ob dieser Ansturm auf den Arbeitsmarkt durch ein hohes Wachstum der Wirtschaft aufgefangen werden kann, erscheint mehr als zweifelhaft. Vielmehr dürften beachtliche Produktivitätssteigerungen die Wirtschaftswachstumsraten erheblich übertreffen. Die künftige Arbeitsmarktpolitik muß sich an diesen Bedingungen orientieren.
XL Die künftige Entwicklung der Erwerbsquote
Ein wesentlicher Faktor für die künftige Beschäftigungslage ist und bleibt die demographische Entwicklung. Insgesamt wird sich der Rückgang der Wohnbevölkerung weiter beschleunigen.
Nach Berechnungen des Instituts für Wirtschafts-und Gesellschaftspolitik in Bonn ist davon auszugehen, daß die Bevölkerung bis zum Jahre 2000 um durchschnittlich jährlich reichlich 200 000 Personen von heute knapp 61 Millionen auf knapp 60 Millionen Ende der achtziger und reichlich 57 Millionen Ende der neunziger Jahre abnehmen wird. Nicht unwahrscheinlich ist ein noch stärkerer Rückgang der Bevölkerung.
Gleichzeitig dürfte das Erwerbspersonenpotential, also die Zahl der Erwerbspersonen und die Personen in der stillen Reserve, bis Ende der achtziger Jahre zumindest relativ noch leicht zunehmen, um dann bis Ende der neunziger Jahre auf hohem Niveau zu verharren. Die Erwerbsquote der Frauen, vor allem verheirateter Frauen, dürfte weiterhin leicht steigen, während die Erwerbsquote der über 55jährigen unter der Bedingung, daß das bestehende gesetzliche Alterssicherungssystem nicht bis dahin nachhaltig modifiziert werden muß, mittelfristig noch etwas abnehmen wird.
Damit dürfte unter demographischen Gesichtspunkten die angebotene Arbeitsmenge in den neunziger Jahren relativ groß bleiben. Die Beschäftigungssituation wird sich aufgrund der demographischen Entwicklung bis weit in die neunziger Jahre kaum verbessern.
Hierbei kommt erschwerend hinzu, daß die Maßnahmen, mit denen in den fünfziger, sechziger und frühen siebziger Jahren die angebotene Arbeitsmenge gedrosselt wurde, kaum noch anwendbar sind. So ist es nur noch innerhalb enger Grenzen möglich, die Ausbildungszeiten zu verlängern oder auch das Rentenalter vorzuziehen. Die Zahl der Studenten hat mit über einer Million ihre Grenze erreicht und ebenso können Menschen nicht immer früher aus dem Erwerbsleben ausscheiden, zumal ihre Lebenserwartung insgesamt zunimmt. Schon heute stehen die Rentenversicherungsträger vor kaum noch lösbaren Problemen bei der Aufbringung der erforderlichen Mittel für die Rentenleistungen. Eine immer frühere Verrentung der Arbeitnehmer müßte diese Probleme in einem Maße vergrößern, daß sie unkontrollierbar werden.
XII. Das künftige Wirtschaftswachstum
Ebenso unrealistisch wie die Hoffnung, die Arbeitslosigkeit könne durch demographische Veränderungen mittelfristig überwunden werden, ist die Hoffnung, die Wirtschaft werde künftig in einem solchen Tempo wach-sen, daß Arbeitsplätze für alle bereitgestellt werden könnten. Wahrscheinlich ist vielmehr, daß sich das Wachstum des realen Bruttosozialprodukts —-wie in der Vergangenheit — auch künftig fortlaufend verlangsamen wird.
So geht das Institut für Wirtschafts-und Gesellschaftspolitik in seiner Prognose davon aus, daß das jährliche reale Wachstum des Bruttosozialprodukts bis Ende der achtziger Jahre knapp 1, 5 % und bis Ende der neunziger Jahre etwa 1 % betragen wird. Bei gleichzeitig schrumpfender Wohnbevölkerung würde dies einem Pro-Kopf-Wachstum zwischen 1, 5 % und 2 % bis 1990 und 1, 4 % bis zum Jahre 2000 entsprechen. Das bedeutet: Das reale Bruttosozialprodukt pro Kopf der Wohnbevölkerung würde in fünfzehn Jahren um über ein. Viertel zunehmen.
Trotz dieser sehr beachtlichen Wohlstands-steigerung ist mit diesen Wachstumsraten unter konstanten wirtschafts-und gesellschaftspolitischen Bedingungen Vollbeschäftigung nicht zu erreichen. Hierfür wäre bis Ende der achtziger Jahre ein jährliches Pro-Kopf-Wachstum von etwa 4 % erforderlich. Und in den neunziger Jahren müßte das jährliche Pro-Kopf-Wachstum noch immer 2, 5 % betragen.
Ein vergleichbares absolutes Wachstum hat es in der Bundesrepublik bisher noch nie gegeben. Die bereitgestellte Menge von Gütern und Dienstleistungen müßte sich in bisher noch nie erlebtem Maße erhöhen. Der bis heute ständig abwärts verlaufende langfristige Wachstumstrend müßte abrupt seine Richtung ändern. Wirtschaft und Gesellschaft befänden sich erstmals seit den fünfziger Jahren an einem wirklichen Wendepunkt. Für eine solche Wende gibt es heute und auf absehbare Zeit keine Anhaltspunkte. Die wichtigsten Wachstumsfaktoren: Bevölkerungszunahme, Wohnungsbau und Motorisierung, die in den fünfziger, sechziger und frühen siebziger Jahren enorme Wachstums-schübe auslösten, haben an Wirksamkeit verloren. Bisher ist nicht erkennbar, was an ihre Stelle treten soll. Zwar sind die wirtschaftlichen Aktivitäten — absolut betrachtet — 1985 in der Bundesrepublik Deutschland so hoch wie nie zuvor. Gerade deshalb wird es aber auch immer schwieriger, sie noch weiter zu steigern. Die Einsicht, diese Aktivitäten immer weiter zu forcieren, nimmt ab. Es wird immer schwieriger, eine Bevölkerung, die im internationalen und historischen Vergleich einen hohen privaten Wohlstand erworben hat, zu immer weiteren Anstrengungen zu motivieren.
Der Überwindung der Arbeitslosigkeit stehen jedoch nicht nur quantitative Probleme entgegen. Zunehmend bedeutsam sind auch qualitative Aspekte. Zwischen Angebot und Nachfrage nach Arbeit klafft nicht nur eine quantitative Lücke, zunehmend problematisch ist auch, die Art von Arbeitsangebot und -nachfrage zur Deckung zu bringen. Dies führt zu der immer offensichtlicheren Paradoxie: Massenarbeitslosigkeit bei gleichzeitigem Mangel an qualifizierten Arbeitskräften.
XIII. Der technische Fortschritt
Ähnlich folgenreich wie der demographische Faktor ist der Produktivitätsfortschritt oder genauer: das Verhältnis von Produktivitätsfortschritt und Wirtschaftswachstum für das Verhältnis von nachgefragter und angebotener Arbeitsmenge. Realistischerweise ist davon auszugehen, daß der Produktivitätsfortschritt pro Erwerbstätigenstunde, genau wie in der Vergangenheit, auch in Zukunft deut-liehüber dem Wirtschaftswachstum liegen wird. Wie bisher werden also immer weniger Menschen in der Lage sein, ein ständig steigendes Bruttosozialprodukt zu produzieren. Damit öffnet sich die Schere zwischen angebotener und nachgefragter Arbeitsmenge immer weiter.
Bei einem durchschnittlichen Produktivitätsfortschritt pro Erwerbstätigenstunde von real 2, 5 % bis Ende der neunziger Jahre in Verbindung mit den erwähnten, für wahrscheinlich gehaltenen, Wachstumsraten des Bruttosozialprodukts würden jährlich — eine Konstanz der Arbeitszeit und der bestehenden wirtschaftlichen Strukturen unterstellt — 300 000 Erwerbstätige aus dem Erwerbsprozeß ausgeschlossen. Die Zahl der Arbeitslosen würde unter diesen Voraussetzungen bis 1990 auf etwa vier Millionen, die Arbeitslosenquote auf etwa 17 % ansteigen. Bis zum Jahre 2000 würde sich dieser Trend noch verstärken. Rein rechnerisch würden weitere 3, 3 Millionen Arbeitskräfte freigesetzt. Der Anteil der Erwerbstätigen an der Bevölkerung würde nach dieser Modellrechnung von heute etwa 41 % bis Ende der neunziger Jahre auf knapp ein Drittel zurückgehen.
Allerdings ist erneut zu betonen, daß es sich hierbei um reine Modellrechnungen handelt Denn auch der Produktivitätsfortschritt und das Wirtschaftswachstum hängen von einer Fülle von Faktoren ab: den Arbeitskosten, der Entwicklung neuer Technologien und neuer Management-Methoden, den Kapitalkosten, der Art und Qualität der angebotenen und nachgefragten Arbeitsmenge und vielem anderen mehr. Erst die Entwicklung aller dieser Faktoren wird letztlich darüber entscheiden, wie sich die Beschäftigungslage in den kommenden zehn bis fünfzehn Jahren entwickeln wird.
XIV. Die Entwicklung der Arbeitskosten
Die Entwicklung der Arbeitskosten zu beeinflussen — oder konkret: deren Senkung herbeizuführen —, erscheint zur Zeit großen Teilen der Wirtschaft, Wissenschaft und Politik als ein erfolgversprechendes Konzept Das Konzept sieht vor, den Produktivitätsanstieg zu verlangsamen und dadurch die Zahl der Arbeitsplätze zu erhalten und möglicherweise zu vermehren.
Die Plausibilität dieses Konzeptes ist unbestritten. Seiner praktischen Verwirklichung sind jedoch enge Grenzen gesetzt Denn die Senkung der Arbeitskosten müßte, um die Arbeitsmarktlage spürbar zu verbessern, substantiell sein. Darüber hinaus müßte sie vor allem bei denjenigen Gruppen ansetzen, die heute und auf absehbare Zeit von der Arbeitslosigkeit besonders hart betroffen sind: den gering oder unqualifizierten Arbeitskräften. Deren Einkommen liegen jedoch in der Regel nur unwesentlich über der bestehenden Sozialhilfeschwelle. Wenn diese Arbeitskräfte nicht im Zuge einer Senkung der Arbeitskosten unter die Sozialhilfeschwelle fallen sollen, müßte gleichzeitig diese Schwelle gesenkt werden. Bisher hat kaum ein Politiker versucht, diese Strategie ernsthaft zu verfolgen. Der Grund hierfür ist eindeutig: Die Mehrheitsfähigkeit einer solchen Politik ist äußerst zweifelhaft Erfolgversprechender als die Verminderung der direkten Arbeitskosten ist hingegen die Senkung der Lohnnebenkosten. Bei den Lohnnebenkosten nimmt die Bundesrepublik Deutschland — im Gegensatz zu den direkten Arbeitskosten — einen internationalen Spitzenplatz ein. Durch einen Abbau der Lohnnebenkosten, zum Beispiel durch die zumindest teilweise Verlagerung der Finanzierung der Sozialversicherung auf die indirekten Steuern, unter anderem z. B. die Mehrwertsteuer, könnten die Kosten des Faktors Arbeit insgesamt spürbar vermindert werden.
Voraussetzung für die Verwirklichung eines solchen Konzeptes wäre allerdings die Neugestaltung des sozialen Sicherungssystems. Das gegenwärtige soziale Sicherungssystem ist eine der entscheidenden Barrieren für die Neuordnung des Arbeitsmarktes und die nachhaltige Verbesserung der Beschäftigungslage. Solange sich die Regierung, gleichgültig von welcher politischen Gruppierung sie gestellt wird, dieser Aufgabe entzieht, wird eine Verbesserung der Beschäftigungslage außerordentlich schwierig sein.
Eine Politik der Senkung der Arbeitskosten stößt aber noch auf ein weiteres Hindernis: Arbeit kann unabhängig von ihrem Preis in immer mehr Bereichen mit modernen Techniken nicht mehr konkurrieren. Daß solche Techniken in den nächsten Jahren zunehmende Bedeutung im Produktionsprozeß erlangen werden, steht außer Frage. Da in der Bundesrepublik ein gewisser Nachholbedarf bei der Anwendung neuer Techniken besteht, ist es sogar möglich, daß hier in den nächsten Jahren eine Lawine in Gang kommt, die weder durch niedrige Arbeitskosten noch durch hohe Kapitalkosten gebremst werden kann.
XV. Die Drosselung des Produktivitätsfortschritts
Da der Senkung der Arbeitskosten enge Grenzen gezogen sind, wird immer wieder angeregt, den Produktivitätsfortschritt künstlich zu drosseln. Der Produktivitätsfortschritt solle, so die Argumentation, nur noch insoweit zugelassen werden, als er sozial verträglich ist Bei der Bewertung dieses Konzeptes ist es bedeutsam, daß es nichts mit jener Drosselung der Produktivität zu tun hat, die in den fünfziger und sechziger Jahren zu beobachten war. Damals verminderten sich die Produktivitätsraten fortlaufend, weil immer mehr Menschen von den hochproduktiven primären (im wesentlichen die Bereiche Landwirtschaft und Bergbau) und sekundären (das produzierende Gewerbe) Wirtschaftsbereichen in die weniger produktiven tertiären (der Dienstleistungsbereich) und quartären (Kunst, Kultur und Wissenschaft) Wirtschaftsbereiche abwanderten. So verminderte sich zwischen 1960 und 1983 die Zahl der Beschältigten in der Landwirtschaft um reichlich 60 % und im Verarbeitenden Gewerbe um 15 %. Zugleich erhöhte sich die Zahl der Beschäftigten im Dienstleistungssektor um knapp ein Drittel.
Diese gewissermaßen „natürliche" Produktivitätsdrosselung wurde im Laufe der siebziger Jahre immer schwieriger. Denn sowohl im tertiären als auch im quartären Sektor sind seit geraumer Zeit Sättigungserscheinungen zu beobachten. Die Erwerbsbevölkerung, die im primären, vor allem, aber im sekundären Bereich freigesetzt wird, kann nur noch zu einem geringen Teil im tertiären und quartären Bereich Arbeit finden. Viele von ihnen werden deshalb arbeitslos.
Diese Entwicklung hat dem Gedanken Vorschub geleistet, den Produktivitätsfortschritt willkürlich zu behindern. Bestimmte Technologien sollen nach diesen Vorstellungen gar nicht oder allenfalls verzögert zur Anwendung kommen. Vertreter dieser Denkrichtung finden sich vor allem bei den GRÜNEN und — wenn auch in kleinen Minderheiten — bei den Gewerkschaften und der SPD.
Die große Mehrheit der Experten in der Bundesrepublik ist indessen der Auffassung, daß eine solche Strategie dem Arbeitsmarkt mehr schaden als nützen würde. Ihr Argument: Gerade die Bundesrepublik, deren Arbeitskosten im internationalen Vergleich hoch sind und auf absehbare Zeit hoch bleiben werden, muß den Produktivitätsfortschritt steigern, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Mit dem Verlust ihrer internationalen Wettbewerbsfähigkeit müßte die deutsche Wirtschaft Millionen von Arbeitsplätzen abbauen. Unabhängig davon würde die bewußte Drosselung möglichen Produktivitätsfortschritts die Chancen der Humanisierung der Arbeit vermindern. Arbeit würde um der Arbeit willen konserviert, auf den arbeitenden Menschen würde nur unzureichend Rücksicht genommen.
Damit bleibt als Zwischenbilanz: Angesichts der voraussichtlichen demographischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen erscheinen Arbeitsmarktstrategien, die auf eine Verlangsamung des Rückgangs der nachgefragten Arbeitsmenge zielen, wenig erfolgversprechend. Damit kommt der weiteren Entwicklung der angebotenen Arbeitsmenge erhöhte Bedeutung zu.
XVI. Verbesserung der Beschäftigungslage durch Arbeitszeitverkürzung
Daß die Beschäftigungslage durch eine Verkürzung der Arbeitszeit verbessert werden könnte, ist heute weniger umstritten als noch vor wenigen Jahren. Allerdings bedürfte es hierzu einer kräftigeren Verkürzung der Arbeitszeit, als die Tarifparteien, und zwar sowohl die Arbeitgeber als auch die Gewerkschaften, zu vereinbaren bereit sind.
Würde die Arbeitszeit wie in den zurückliegenden zehn Jahren verkürzt, dann ginge die effektive wöchentliche Arbeitszeit pro Erwerbstätigen von derzeit knapp 39 Stunden auf 37 Stunden bis Ende der achtziger Jahre zurück. Dies würde nicht ausreichen, um den Produktivitätsfortschritt auszugleichen. Die Arbeitslosenzahl würde sich auf knapp 2, 5 Millionen erhöhen und die Arbeitslosenquote auf knapp 11 % steigen. Und selbst diese Rechnung geht nur auf, wenn im gleichen Ausmaß wie in den zurückliegenden zehn Jahren weitere Vollzeitarbeitsplätze in Teilzeitarbeitsplätze umgewandelt werden und die Mehrarbeit zügig abgebaut wird. Würde nur die tarifliche Arbeitszeit wie in den zurückliegenden zehn Jahren verkürzt werden, Stiege die Zahl der Arbeitslosen bis 1990 auf über drei Millionen und die Arbeitslosenquote auf über 13 %.
Auch bis Ende der neunziger Jahre würde eine Arbeitszeitverkürzung in der Größenordnung der letzten zehn Jahre keine Verbes.serung auf dem Arbeitsmarkt bewirken. Im Gegenteil: Da unter dieser Voraussetzung die Wochenarbeitszeit bis zum Jahre 2000 nur auf 34, 5 Stunden zurückginge, müßte die Zahl der Arbeitslosen auf 3, 2 Millionen und die Arbeitslosenquote auf etwa 14 % steigen.
Wenn — modellhaft — unter den angenommenen demographischen und wirtschaftlichen Bedingungen Vollbeschäftigung ausschließlich durch eine Verkürzung der Arbeitszeit erzielt werden soll, müßte die effektive Jahresarbeitszeit von gegenwärtig reichlich 1 700 Stunden pro Erwerbstätigen bis Ende der achtziger Jahre um reichlich ein Zehntel auf knapp 1 500 Stunden und bis Ende der neunziger Jahre um weitere 13 % auf 1 300 Stunden jährlich gesenkt werden. In diesem Fall würde die effektive Wochenarbeitszeit in den achtziger Jahren um jährlich rund 50 Minuten und in den neunziger Jahren um jährlich 20 Minuten gekürzt.
Auch wenn an dieser Stelle darauf hingewiesen werden muß, daß es sich bei diesen Berechnungen nur um Modelle handelt, ist zugleich festzustellen, daß eine Arbeitszeitverkürzung von 50 Wochenminuten im Jahr kein Novum auf dem Arbeitsmarkt wäre. Eine solche Verkürzung der Arbeitszeit entspräche sehr genau der Arbeitszeitverkürzung in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre. Bis Ende der achtziger Jahre würde bei einer solchen Politik die tarifliche Wochenarbeitszeit von heute 40 Stunden auf 35 Stunden vermindert. Etwa alle 18 Monate könnte die Arbeitszeit um rund 1, 5 Wochenstunden abgebaut werden. Diese Modellrechnung steht und fällt allerdings mit der völligen qualitativen Überein-stimmung von angebotener und nachgefragter Arbeitsmenge. Je weiter die Qualität von angebotener und nachgefragter Arbeitsmenge voneinander abweicht, desto schwieriger ist es, durch Arbeitszeitverkürzungen die quantitativen Diskrepanzen auf dem Arbeitsmarkt zu beseitigen. Wer der Strategie der Arbeitszeitverkürzung zur Lösung der Arbeitslosenproblematik folgt, muß deshalb vorrangig darauf bedacht sein, qualitative Probleme zu lösen. Ohne die Lösung qualitativer Aspekte muß eine Politik der Arbeitszeitverkürzung rasch in einer Sackgasse enden.
Dennoch erscheint es dringend geboten, die Frage der Arbeitszeitverkürzung zu entideologisieren und nicht länger fast ausschließlich unter taktisch-machtpolitischen Gesichtspunkten zu behandeln. Politiker und Tarifparteien müssen zur Kenntnis nehmen, daß die nachgefragte Arbeitsmenge seit Jahrzehnten ständig rückläufig ist. Folglich muß die angebotene Arbeitsmenge diesem Trend immer wieder angepaßt werden. Jeder Versuch, diese Anpassung zu behindern, ist geeignet, die Arbeitslosigkeit zu verschlimmern. Umgekehrt muß unter allen Beteiligten ein Konsens darüber herbeigeführt werden, daß Arbeitszeitverkürzungen nur kostenneutral durchgeführt werden können, daß heißt konkret: Nur der reale Produktivitätsfortschritt pro Erwerbstätigenstunde ist ein geeigneter Maßstab für die Verkürzung der Arbeitszeit. Um die Kostenneutralität zu gewährleisten, muß die Arbeitszeit ferner stärker als bisher nach regionalen, sektoralen und qualifikationsspezifischen Gesichtspunkten differenziert werden. Eine solche Differenzierung würde die Verkrustung in weiten Bereichen der Wirtschaft und des Arbeitsmarktes aufbrechen und so die Anpassung an die veränderten Strukturen in Wirtschaft und Gesellschaft erleichtern.
XVII. Beschäftigungsprogramme helfen nicht
Anders als eine Politik der gezielten und vor allem vorausschauenden Arbeitszeitverkürzung dürfte eine Politik staatlicher Beschäftigungsprogramme für den Abbau der Arbeitslosigkeit eher kontraproduktiv sein. Auf jeden Fall gibt es bis heute kein Beispiel, wo durch staatliche Beschäftigungsprogramme strukturelle Beschäftigungslosigkeit überwunden worden wäre. In der Regel haben solche Programme vielmehr die mittel-und langfristige Handlungsfähigkeit des Staates beeinträchtigt und dadurch dessen Reaktionsfähigkeit auf konjunkturelle Einbrüche verschlechtert. Zur Zeit gibt es keinen Anhaltspunkt dafür, daß jetzt oder künftig staatliche Beschäftigungsprogramme zur Überwindung struktureller Arbeitsmarktprobleme besser geeignet wären als in der Vergangenheit.
Dieser Hinweis ist um so drängender, als mit der Dauer der Arbeitslosigkeit der Druck auf die Regierung wachsen wird, durch staatliche
Interventionen die Beschäftigungslage zu verbessern. Niemand kann heute vorhersagen, ob die Regierung einem solchen Druck, vor allem in Wahlzeiten, widerstehen kann. So könnten die Stützungsaktionen für die deutsche Bauwirtschaft im Sommer 1985 bereits Vorboten für weitere staatliche Beschäftigungsmaßnahmen im Vorwahljahr 1986 sein. Nach allen bisherigen Erfahrungen würde die Neuauflage traditioneller staatlicher Beschäftigungsprogramme die bestehenden Probleme eher verschärfen als lindern. Denn diese Programme schaffen in den allerwenigsten Fällen Dauerarbeitsplätze. Mit ihrem Auslaufen würden die von ihnen geschaffenen Arbeitsplätze auch wieder entfallen. Durch eine Politik staatlicher Beschäftigungsprogramme zur Überwindung struktureller Arbeitslosigkeit würde die Wirtschaftspolitik der Bundesrepublik auf Dauer gesehen in immer größere Probleme hineingeraten.
XVIII. Ein langfristiges arbeitsmarktpolitisches Konzept ist nötig
Erfolge bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit sind nur möglich, wenn Tarifparteien und Politiker langfristige arbeitsmarktpolitische Konzepte entwickeln. Grundlage für solche Konzepte ist die schonungslose Analyse aller arbeitsmarktpolitischen Trends. Dabei ist bereits heute recht deutlich erkennbar, in welche Richtung sich wichtige Rahmendaten entwickeln werden. Zu diesen Daten gehören die demographische Entwicklung, die Entwicklung des Verhältnisses von Wohn-und Erwerbsbevölkerung, die Qualifikation der Arbeitskräfte und ihre Leistungsmotivation.
Zu einem erfolgreichen arbeitsmarktpolitischen Konzept gehört ferner, arbeitsmarktpolitische Instrumente ohne ideologische Vorurteile einzusetzen. Wie vor allem das Arbeitgeberlager bereit sein muß, über Fragen der Arbeitszeitverkürzung konstruktiv zu verhandeln, müssen die Gewerkschaften zur Kennt-nis nehmen, daß eine Fülle scheinbar sozialpolitischer Maßnahmen die Beschäftigung von Millionen von Erwerbspersonen eher behindert als erleichtert.
Der Dreh-und Angelpunkt für Erfolge auf dem Arbeitsmarkt ist eine höhere Flexibilität als bisher. Dies gilt sowohl bei der Einführung als auch bei der Abschaffung arbeitsmarktpolitischer Regelungen. Die überaus begrenzte Möglichkeit, einmal getroffene Regelungen auf dem Arbeitsmarkt wieder aufzuheben oder zu modifizieren, zählt zu den größten Mängeln der bestehenden Arbeitsmarktpolitik. Wenn der Arbeitsmarkt auf die sich gegenwärtig und künftig ändernden Bedingungen flexibel reagieren soll, müssen alle Beteiligten überkommene und oft liebgewonnene Vorstellungen aufgeben. Denn der Arbeits markt der späten neunziger Jahre wird vom heutigen Arbeitsmarkt oder vom Arbeitsmarkt der sechziger Jahre erheblich abweichen. So wird die jahrzehntelange Vollzeitbeschäftigung möglichst bei ein und demselben Arbeitgeber in den weitaus meisten Fällen bald ebenso der Vergangenheit angehören wie die rigorose Trennung abhängiger und selbständiger Tätigkeiten. In Zukunft werden sich Zeiten der abhängigen und selbständigen Tätigkeit immer häufiger abwechseln. Aber auch das Arbeitseinkommen selbst wird einen Bedeutungswandel erfahren. Für immer mehr Menschen wird es künftig nicht mehr die einzige Quelle ihres Lebensunterhalts sein. In immer höherem Maße wird für viele Erwerbstätige neben das Arbeitseinkommen das Einkommen aus eigenem Vermögen treten. Nicht nur der Arbeitsmarkt, sondern auch die Arbeitsgesellschaft befindet sich im Umbruch.
Mitunter hat es den Anschein, als seien die Tarifparteien und Politiker der Geschwindigkeit dieses Umbruchs nicht gewachsen. Viel zu lange halten sie an Strukturen fest, die schon heute überholt sind. Dies gilt zum Beispiel für zahlreiche arbeitsrechtliche Regelungen, die Gestaltung der Arbeitszeit und vor allem für die Organisation der sozialen Sicherungssysteme. Ohne eine hohe Bereitschaft, Strukturen zu verändern, und zwar nicht nur an deren Oberfläche, sondern bis in ihre Fundamente hinein, wird sich die Beschäftigungsfrage nicht lösen lassen.
Stefanie Wahl, lic. sc. pol., geb. 1951; Studium der Politischen Wissenschaften an der Universität Genf; seit 1977 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Institut für Wirtschafts-und Gesellschaftspolitik (IWG) e. V. in Bonn
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