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Literatur und Kulturpolitik in der Entstehungsphase der DDR (1945-1952) | APuZ 40-41/1985 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 40-41/1985 Kultur der Trümmerzeit. Einige Entwicklungslinien 1945— 1948 Literatur und Kulturpolitik in der Entstehungsphase der DDR (1945-1952)

Literatur und Kulturpolitik in der Entstehungsphase der DDR (1945-1952)

Manfred Jäger

/ 42 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die langfristige Strategie einer auf die bürgerlich-humanistischen Traditionen in der deutschen Kultur setzenden Bündnispolitik war schon vor Kriegsende von deutschen und sowjetischen Kommunisten festgelegt worden. Daß sie zunächst erfolgreich war, lag nicht zuletzt an der leidenschaftlichen Überzeugungskraft, mit der Johannes R. Becher sie in die Praxis umsetzte. Das psychologische Geschick der sowjetischen Kulturoffiziere, über deren Wirken in den ersten Nachkriegsjahren aus Ost und West viele positive Zeugnisse von Zeitzeugen vorliegen, stützte den Kurs der Vertrauensbildung. Der „Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands" und der von ihm verantwortete Aufbau-Verlag dienten als organisatorische Plattform für die Klärungsprozesse unter den Intellektueilen. Künstlern und Schriftstellern, die zur Mitarbeit bereit waren, wurde verziehen, daß sie, sich während der NS-Diktatur kompromittiert hatten. Becher sympathisierte mit Repräsentanten der „inneren Emigration", verteidigte seine Haltung gegen Angriffe aus den eigenen Reihen und suchte noch auf dem gesamtdeutschen Schriftstellerkongreß 1947 Frontbildungen zwischen Daheimgebliebenen und Exilierten zu vermeiden. Der Kalte Krieg, die Konfrontation zwischen der Sowjetunion und den Westmächten, aber auch die von Stalin betriebene harte Kulturpolitik paralysierten seit 1948 immer mehr das Bündniskonzept, das ja Einflußmöglichkeiten auf ganz Deutschland offenhalten sollte. Nach der Gründung der beiden deutschen Staaten wurde in der DDR nunmehr auf kämpferische Parteilichkeit und sozialistische Gegenwartsthematik umgestellt. Im Zusammenhang mit einer rüden Anti-Formalismus-Kampagne sollten die Autoren und Künstler 1952 im Zuge des . Aufbaus des Sozialismus" auf Stil und Methode des „Sozialistischen Realismus" damaliger sowjetischer Herkunft festgelegt werden. Von der — letztlich nur hinhaltend taktisch gemeinten — frühen Nachkriegskonzeption der Kulturpolitik ist jedoch mehr übriggeblieben, als noch in den fünfziger und sechziger Jahren zu erwarten war. Becher und Lukcs hatten damals das Anknüpfen an proletarisch-revolutionäre Traditionen der zwanziger Jahre verhindert; es gab keine reale Möglichkeit, dies noch erfolgreich nachzuholen. Bürgerliches Erbe — einschließlich der rehabilitierten Moderne — steht daher nach wie vor im Zentrum, und die Rückbesinnung aufs Allgemein-Menschliche prägt derzeit die Künste, deren Eigengesetzlichkeit die Kulturpolitiker wohl oder übel hinnehmen müssen.

Die Akademie der Künste der DDR unterhält in Leipzig eine wissenschaftliche Abteilung für „Geschichte der sozialistischen Literatur“. Aus Anlaß des fünfundzwanzigjährigen Bestehens dieser Forschungsstelle hielt ihr Leiter, Alfred Klein, am 13. April 1984 einen Vortrag unter dem Titel „In diesem besseren Land ..

den er einer von Adolf Endler und Karl Mickel 1966 herausgegebenen Gedichts-sammlung entlehnt hatte. Die DDR wird hier mit einem moralischen Komparativ bedacht, ihr wird — verglichen mit früherer, andersartiger Staatlichkeit oder auch mit der kapitalistischen Bundesrepublik — eine nicht näher beschriebene höhere Qualität verliehen. Auch scharfe Kritiker des realsozialistischen Alltags haben marxistische Lehrsätze über den gesetzmäßigen Ablauf der Geschichte oft so sehr verinnertlicht, daß sie die abstrakte Bewertung, der sozialistisch definierte Teil-staat sei auf jeden Fall „eine ganze historische Epoche weiter", also fortschrittlicher und folglich besser, beibehielten, wie wenig das auch durch die Wirklichkeit bestätigt wurde.

Alfred Klein erinnert nun in seinem Vortrag daran, daß die frühe Literatur des ersten Jahrzehnts nach dem Kriegsende und auch viele noch später in der DDR erschienene Bücher überhaupt nicht dem Selbstverständnis eines vom größeren Deutschland abgetrennten Staates von eigener gesellschaftlicher Prägung dienen konnten oder wollten. 1945 wurde in der sowjetischen Besatzungszone die Idee einer Renaissance der deutschen Nationalliteratur verkündet Die angestrebten gesellschaftlichen Umwälzungen wurden lieber mit dem Pathos des Nationalen als mit einem revolutionären Impetus interpretiert, weil außer einer Minderheit deutscher Kommunisten (und natürlich der Roten Armee als dem eigentlichen Machtfaktor) kaum jemand die neue Gesellschaftsordnung wollte. Die Anrufung des Nationalen sollte den Abstand zwischen den politischen Zielen und der Bevölkerungsmehrheit, die sich diese Ziele nicht zueigen machen wollte, verringern. So verkleidet sich parteiliche Literatur, wenn keine revolutionäre Situation besteht. Nach Klein, der freilich nationalen Schwung und revolutionären Impuls in der Literatur nicht voneinander trennen will, entstand so ein „Widerspruch zwischen der gesamtnationalen Literaturdoktrin und dem (sozialen) Auftrag der DDR-Schriftsteller, die im Osten Deutschlands entstehenden neuen Handlungs-und Denkweisen zum Gegenstand ihres Schaffens zu machen". Der Appell an nationale Überzeugungen, auch der Gedanke, die DDR müsse zum Modell für ganz Deutschland werden, erscheint so vor allem als geschickter Schachzug auf dem Feld der Ideologie, auch wenn diese Vorstellungen als unrealistisch, ja als im Kern bloß propagandistisch oder als naive Selbsttäuschung gelten müssen. Klein stellt die Frage, „ob die daraus folgende Literaturprogrammatik nicht eine große heroische Illusion war, ohne die unsere Literatur gar nicht geworden wäre, was sie dann eben geworden ist" Nun mag das Attribut „heroisch" eine zu feierliche Umschreibung dafür sein, daß man bestimmte Konzeptionen auch in der Rückschau für notwendig, ja unvermeidlich hält — auch ein heldenhaftes Scheitern wird nicht zum Sieg —, aber die Erinnerung daran, daß in Aufbruchzeiten eine zukunftsweisende appellative Idee weiter trägt als das Verharren bei pragmatischen Nahzielen, bleibt gültig.

I. Die Strategie der antifaschistisch-demokratischen Erneuerung 1945/1948

1. Johannes R. Becher und Alfred Kurella:

Zwei Bilder von Deutschland Die Führungsrolle, die dem Dichter Johannes R. Becher in der ersten Nachkriegszeit — in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre — zufiel, die er sich gegen manche Widerstände in den eigenen kommunistischen Reihen leidenschaftlich erstritt, erklärt sich auch aus dessen unbedingter, hoch emotionaler Liebe zu Deutschland und seinen Kulturleistungen. Der Verwirklichung seiner Intentionen kam zugute, daß die sowjetische Seite es für erfolgversprechend hielt, an die deutschen kulturellen Traditionen anzuknüpfen.

Aber Becher unterschied sich von den Berufs-politikern der KPD, die — allen voran Walter Ulbricht — so gut wie ausschließlich in Kategorien der Machteroberung und Machterhaltung dachten. Als Emigrant in der Sowjetunion hatte er Schwierigkeiten, sich an die sowjetische Wirklichkeit anzupassen, und er weigerte sich auch, die russische Sprache zu erlernen. Der Chef der Informationsabteilung der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland, Oberst Sergej Tjulpanow, erzählt in seinen Erinnerungen, er habe keinen deutschen Kommunisten gekannt, dem die Emigration so schwer gefallen sei wie Becher. An der Tragödie des deutschen Volkes, am Schicksal „seines" Deutschlands sei er beinahe zerbrochen. Sowjetische Militärs hätten sich Becher gegenüber oft sehr reserviert verhalten, da die sowjetische Öffentlichkeit — trotz anderslautender politisch-analytischer Erklärungen — auf der psychologischen Ebene Faschismus und „deutsch" gleichsetzten. „Becher sprach nie vom faschistischen Deutschland. Er sagte stets: Das vom Faschismus versklavte Deutschland." 1942 reagierten sowjetische Frontoffiziere darauf ziemlich verständnislos. Tjulpanow berichtet nationaler daß Bechers Überschwang auch später in der SBZ manchem Sowjetmenschen verdächtig vor-kam, etwa 1947, als eine Broschüre mit einer Rede Bechers gedruckt wurde: „Eines Tages erschienen bei mir einige bestürzte und sogar entrüstete Offiziere mit einem neuen Büch-Jein von Becher. Es trug den Titel „Wir Volk der Deutschen. „Ich weiß nicht, was ich denken soll’, sagte einer, , das erinnert doch an . Deutschland, Deutschland über alles'. Wenn ich nicht wüßte, daß es sich um Becher handelt ... Und unsere Kulturabteilung wahrt Neutralität und unterstützt ihn sogar.'Offen gestanden, auch ich begann darüber nachzudenken — obwohl ich von der Herausgabe des Buches wußte —, ob es taktisch und den Zeitumständen entsprechend exakt genug formuliert war. Becher, mit dem ich darüber sprach, begriff zuerst gar nicht, um was es ging, so natürlich und sogar einzig möglich schienen ihm sein Standpunkt und seine Terminologie.“ Schließlich sei Becher in dem Gespräch sogar offensiv geworden und habe erklärt: „Man kann nicht zum Aufbau aufrufen, kann nicht die noch andauernde Bestürzung der einen, den Pessimismus der anderen, die Zweifel der dritten am morgigen Tag, die Furcht aller vor der Spaltung des Landes überwinden, wenn man den Menschen nicht die Achtung zu sich selbst als Volk anerzieht."

Er fieberte darauf, endlich nach Deutschland zurückkehren zu können, was ihm im Juni 1945 endlich ermöglicht wurde. Am 22. Juni schrieb er noch an seine in Rußland verbliebene Frau Lilly über seine ersten Eindrücke: „Die Autofahrt durch ein Ruinenviertel erschütternd ... rechts und links gespensterhaft, kilometerlang, die Fassaden, wie bereit zum Einsturz, die Trümmerberge und Schutt‘halden ... Aber Berlin ist Berlin — wirklich zum Heulen. Man kehrt trotz allem nicht in die Fremde zurück. Kinder singen deutsch, Mütter sprechen deutsch ... ich bin überglücklich,... inmitten all der Ruinen ist doch unser Leben, unsere Heimat"

Solch ein Enthusiasmus bei einem ins Exil Vertriebenen war durchaus ungewöhnlich. Die meisten verfolgten Autoren dachten gar nicht daran, in das zerstörte Deutschland rasch zurückzukehren. Nicht nur, weil sie materielle Entbehrungen, sondern auch, weil sie geistigen die Verwüstungen fürchteten, die die nationalsozialistische Ideologie in den Köpfen der meisten Deutschen hinterlassen haben mußte. Sogar ein so prominenter kommunistischer Kulturfunktionär wie Alfred Kurella suchte deswegen seine sowjetische Exil-zeit zu verlängern. Abscheulich und furchtbar werde es im Nachkriegsdeutschland sein, schrieb er im Frühjahr 1943, und meinte vor allem den desolaten Bewußtseinszustand der Bevölkerung: „eine gute Hälfte im besten Fall niedergedrückt, zermalmt durch das Schuld-gefühl. Ein großer Teil endgültig verdorben; die werden sich aus Selbsterhaltungstrieb verbissen in sich verschließen und von Vergeltung, Revanche träumen. Bis sie ausgestorben sein werden, werden sie viel Gesundes anstecken! Der Rest, der Neuanfang will, wird in tausend Vereinen und Parteichen auseinanderstreben." Im Februar 1945 beurteilte Kurella die Zukunftsaussichten noch pessimistischer. Auf die wirtschaftliche „Entwaffnung" und die künftige Zwangsverwaltung Deutschlands hinweisend, prophezeite er: w.. so ein Volk kommt für 100 Jahre ins Hintertreffen der Geschichte!"

Gewiß, das sind briefliche, private Äußerungen, die damals nicht an die Öffentlichkeit drangen, aber sie machen die Differenzen klar, die zwischen kommunistischen Intellektuellen bestanden, wenn über die Aussichten der Deutschen spekuliert wurde. „Der Gedanke, alles zu unternehmen, um nach dem Krieg nicht gleich nach Deutschland zurückzukehren, setzt sich immer fester." In der vieles entscheidenden Nachkriegszeit zieht Kurella sich in ein kaukasisches Bergdorf zurück, später lebt er noch einige Jahre in Moskau, und erst 1954 siedelt er in die DDR über, wo er als lästiger Dogmatiker psychologisch ungeschickt agiert und nichts dafür tut, das gespannte Verhältnis zwischen der Ulbrichtsehen Parteiführung und der Mehrheit der Intellektuellen zu entspannen.

Auch Becher wußte, daß er es in Deutschland vor allem mit einer Bevölkerung zu tun haben würde, die sich im Zustand der Niedergeschlagenheit und des materiellen Elends einer „Ohne-mich-Haltung" hingab und demzufolge von Politik nichts wissen wollte. Er unterschied vier Gruppen: die Unbelehrbaren, die die Schwierigkeiten auch zu Provokationen ausnutzen würden; dann diejenigen, die bereit waren, neue Wege zu gehen; sowie ferner die Antifaschisten. Die große Masse aber bestehe aus Leuten, „die in eine völlige Apathie gefallen sind, die überhaupt nichts mehr glauben. Der Mann, der früher alles glaubte, wird zum Mann, der nichts mehr glaubt.. ."

Diese nüchterne Analyse lähmte Bechers Gestaltungskraft und Tatendrang aber nicht Das bestätigt Oberst Tjulpanow, dessen Realitätssinn davon ausging, daß „Befreiung" ein Wort aus dem politischen Vokabular war, jedoch damit das Lebensgefühl der meisten Deutschen damals überhaupt nicht getroffen wurde: „Objektiv war das deutsche Volk vom Faschismus befreit, aber psychologisch betrachtete die Mehrheit der deutschen Bevölkerung ihr Land als besiegt es hatte kapituliert, und zwar bedingungslos. Dieser Widerspruch im Sein und Bewußtsein beunruhigte Johannes R. Becher nicht." 2. Die Rolle der sowjetischen Kulturoffiziere Becher kam zustatten, daß seine kulturpolitische Strategie mit den sowjetischen Interessen übereinstimmte. Das geduldige Vorgehen beim Umgang mit den deutschen Intelligenz-schichten korrespondierte mit der abwartenden Deutschlandpolitik, die auf Zeitgewinn setzte, weil nicht abzusehen war, ob günstige Umstände die Einflußmöglichkeiten über die sowjetische Zone hinaus auf ganz Deutschland verstärken würden. Außerdem folgten die russischen Besatzungsoffiziere auch der praktischen Erkenntnis, der Erfolg des Wiederaufbaus hänge davon ab, daß man die Erwartungen der meinungsbildenden Schichten beachtete, die in herkömmlichen bürgerlichen Traditionen dachten.

Im Marschgepäck der sowjetischen Kultur-offiziere befanden sich Namenslisten von Kulturschaffenden, die zur Mitarbeit gewonnen werden sollten. Auch Becher und seine Mitarbeiter fuhren im Sommer 1945 stundenlang durch das zerstörte Berlin, um sie zu suchen. So rasch wie möglich — nämlich solange die westlichen Alliierten ihre Sektoren noch nicht besetzt hatten — sollte das Kultur-leben wieder in Gang gebracht werden, sollten die Bühnen wieder spielen, obwohl es an allem fehlte: vom Nagel fürs kärgliche Bühnenbild bis zum Textbuch fürs Rollenlernen. Schon im Mai 1945, nur wenige Tage nach der deutschen Kapitulation, fanden im „Haus des Rundfunks" in der Masurenallee und im Titania-Palast im Bezirk Steglitz Sinfoniekonzerte statt. Der erste Berliner Stadtkommandant, Generaloberst Bersarin, kümmerte sich energisch um die schnelle Eröffnung der Berliner Theater. Ein Befehl der SMAD gab ihnen bereits am 16. Mai 1945 Spielerlaubnis. Der erste Theaterabend im zerstörten Berlin kam am 27. Mai im Renaissancetheater zustande, nachdem die Premiere zweimal wegen Stromausfall abgesagt werden mußte. Es war ein heiterer Anfang: Man spielte den unverwüstlichen Schwank „Der Raub der Sabinnerinnen". Am 15. August eröffnete Karl Heinz Martin, ein Regisseur, der in den zwanziger Jahren mit Stücken Ernst Töllers und Walter Hasenclevers bekannt geworden war, das Hebbel-Theater mit „Dreigroschenoper“. 1946 ließ er antifaschistische Zeitstücke wie Friedrich Wolfs „Professor Mamlock" und Günter Weisenborns „Die Illegalen“ folgen. Zum Leiter des Schloßparktheaters wurde Boleslav Barlog ernannt.

Als Theateroffizier fungierte der damals knapp dreißigjährige Major Ilja Fradkin, ein liberaler Mann, der erst kürzlich in einem längeren Gespräch davon berichtete, wie sympathisch ihm die nichtkommunistischen Antifaschisten waren, etwa der Schauspieler Ernst Legal, der spätere Intendant der Deutschen Staatsoper Berlin, oder der im amerikanischen Sektor wohnende Boleslaw Barlog Diese deutschen Intellektuellen habe er nie als Feinde betrachtet, auch die konservativen Demokraten habe er geschätzt. Fradkin hatte freilich das Glück (oder Unglück), recht früh wieder nach Moskau abberufen zu werden, wo er später eine Brecht-Biographie für sowjetische Leser schrieb. So mußte er nicht miterleben, wie die Konfrontation des Kalten Krieges und spätstalinistischer Druck diese rasch vorübergehende Idylle des künstlerischen Pluralismus zerbrachen.

Fradkin deutet auch an, daß manche Unter-haltungen schwierig und peinlich für ihn waren, etwa die mit den Malern Heinrich Ehmsen, Carl Hofer und Max Pechstein, die ihn unerwartet in Karlshorst aufsuchten. „Sie wollten wissen, welche Vorstellungen über die bildende Kunst zur Zeit in der Sowjetunion herrschten. Ob avantgardistische Strömungen, die ihnen aus den zwanziger Jahren bekannt waren, noch vorhanden seien und dergleichen andere Fragen stellten sie. Ich muß offen sagen, es war zu dieser Zeit kein leichter Gesprächsstoff für mich.“ Er konnte seinen deutschen Gästen ja nicht sagen, daß alle diese experimentierenden Richtungen (und viele ihrer Exponenten) längst der Stalinschen Kunstdiktatur zum Opfer gefallen waren.

Die Kulturoffiziere — hervorragende Kenner der deutschen Sprache, Literatur und Musik — konnten, weil sie die wirkliche Macht verkörperten, mit vielem aushelfen, was fehlte, und auf diese Weise den Bühnenbetrieb in Gang halten. Auch durch die zusätzliche Zuteilung von Lebensmittelpaketen oder Kohlengutscheinen wurden die Künstler gegen -über anderen Bevölkerungsgruppen bevorzugt. Selbst wer nicht ganz unangefochten durch die Nazijahre gekommen war, wurde, wenn er nur ein Künstler war, in Gnaden angenommen. 3. Der großzügige Umgang mit der „bedingt schuldigen“ Künstlerprominenz Falls die deutschen Kommunisten darüber zu entscheiden gehabt hätten, wäre manche „Entnazifizierung" wohl kaum glimpflich abgelaufen. Ironisch riet ihnen Oberst Tjulpanow, bei Karl Marx nachzulesen. Verwirrt entgegneten sie, bei dem großen Klassiker könnten sie nichts über die Entnazifizierung von Schauspielern und Dirigenten finden. Eben, meinte Tjulpanow, Marx habe überhaupt wenig über Musikanten und Komödianten geschrieben, desto mehr über Fabrikanten. Man müsse also die Konzernchefs entmachten, Komödianten und Musikanten gegenüber könne man aber großzügig sein, selbst dann, wenn sie den Nazigrößen aufgespielt hätten

Der berühmte Wilhelm Furtwängler hatte sich zum Beispiel zur Freude der sowjetischen Kulturoffiziere bereit erklärt, im Haus des Rundfunks zu dirigieren. Wilhelm Girnus, der damals beim Berliner Sender arbeitete, berichtet davon, daß die deutschen Kommunisten darüber murrten. Zwar hatte Furtwängler mit den Nazis 1935 einmal einen Streit wegen Hindemith, aber er arrangierte sich später mit ihnen. Für die sowjetischen Kontrollgremien war das unwichtig. Da die Amerikaner den Auftritt „bei den Russen" ungern sahen, sollte das Konzert unbedingt stattfinden, auch nachdem der prominente Künstler seine Gagenforderung plötzlich verdoppelt hatte. Das war keine prinzipielle Frage, es wurde gezahlt, das Konzert fand statt. Als hingegen der Chefdirigent des Orchesters, Professor Artur Rother, auf einer politischen Kundgebung mit Konrad Adenauer in West-Berlin das Deutschlandlied intonierte, wurde die Situation ganz anders bewertet: „Rother selbst hatte das Vertrauen gebrochen, das man ihm gewährt hatte. Das Band war zerrissen, er durfte das Rundfunkhaus nicht mehr betreten. Das war die Schlußfolgerung, die in einer Beratung zwischen der Leitung des Berliner Rundfunks und den sowjetischen Kontrolloffizieren in wenigen Minuten gezogen wurde. Hier gab es kein Zögern, kein Schwanken. Das war der kalte Krieg in der Musik.

Hier ging es um das Prinzip.“

Das Beispiel zeigt, wie pragmatisch die SMAD vorgehen konnte. Das heutige Verhalten war ihr wichtiger als diese oder jene Charakterschwäche in den vergangenen zwölf Jahren. Ob einer das Mitgliedsbuch der NSDAP besessen hatte, war für sich allein gar nicht so bedeutsam. Aber umgekehrt galt einer, der parteilos geblieben war, deswegen durchaus nicht schon als Antifaschist Becher meinte dazu: „Die Dinge liegen viel komplizierter, und mancher Nicht-Nazi war in Wirklichkeit ein größerer als derjenige, der in die Partei eingetreten war." Formale Entnazifizierungsverfahren wie in den Westzonen hatten hier keine Chance; man wollte freie Hand für pragmatische personalpolitische Entscheidungen behalten und sich nicht in ein Regel-korsett einschnüren. So blieb reichlich Raum für willkürliche Entschlüsse. Wer im Land geblieben war, hatte diesen oder jenen Kompromiß eingehen müssen. Der eine hatte deswegen vielleicht Schuldgefühle, ein anderer befürchtete, man werde noch auf „die Leiche in seinem Keller" stoßen. Solange man diese Daheimgebliebenen großzügig behandelte, konnte man sie sich und den Ansprüchen der neuen Zeit verpflichten.

Während die Amerikaner z. B. auf Distanz 'hielten und möglichst viel deutscher Entscheidung überließen, waren die Sowjets an den Details und am persönlichen Umgang mit Künstlern und Wissenschaftlern interessiert, weil sie langfristig das Kulturleben im Sinne der eigenen ideologischen Grundsätze beeinflussen wollten, so daß dieses nicht spontan dem Selbstlauf überlassen werden konnte.

Die Amerikaner hätten da eine ganz andere Einstellung gehabt, meint Ilja Fradkin, und beschreibt sie relativ sachlich so: „Wir sind in einem Land des besiegten Feinds und müssen darüber wachen, daß er nicht wieder in seiner Gefährlichkeit und Aggressivität aufersteht. Was Kultur, Literatur und Kunst angeht, so ist das Sache der Deutschen; uns interessiert es nicht"

Die verständnisvolle Kulturpolitik stand in einem scharfen Kontrast zu dem harten Vorgehen gegen den „Klassenfeind“, der sich den innenpolitischen Umwälzungen widersetzte, die sich vor allem an der ökonomischen Basis durch Enteignungen in Industrie und Landwirtschaft vollzogen. Unerwünschte Aktivitäten der bürgerlichen Parteien in der Provinz wurden mit Inhaftierungen beantwortet, auch sozialdemokratische Gegner der Gründung der SED von Militärtribunalen zu den obligaten 25 Jahren Haft verurteilt. In die Internierungslager gerieten nicht nur die ehemaligen Hauptstützen des NS-Regimes. Unmittelbar nach Kriegsende wurden auch zwei berühmte Schauspieler, die letzten Intendanten zweier zerstörter Berliner Bühnen, Heinrich George vom Schiller-Theater und Gustaf Gründgens vom Preußischen Staatstheater, in Lager gebracht Ein Ost-Berliner Nachschlagewerk vermerkt unter dem Stichwort „George“ bislang dazu nur: „ 1945 Verhaftung G. s aufgrund seiner polit Tätigkeit und Verantwortungslosigkeit im Faschismus." Daß er 1946 im Lager Sachsenhausen verstarb, wird verschwiegen. Unabhängig davon wird er aber in der Theaterliteratur der DDR als einer der größten deutschen Schauspieler gewürdigt Gustaf Gründgens hatte das Glück, daß der von der Roten Armee aus dem Zuchthaus Brandenburg befreite Sänger und Schauspieler Ernst Busch bei den Russen zu seinen Gunsten intervenierte. Die beiden hatten vor 1933 gemeinsam in Kiel auf der Bühne gestanden. Busch gab zu Protokoll, daß sich nur Gründgens für ihn eingesetzt habe, als er Ende 1942 als Hochverräter von der Gestapo verhaftet worden war: „Gründgens hat sich nicht gescheut, um mir zu helfen, dem Kammergericht eine schriftliche Erklärung einzureichen, in der er mich wahrheitswidrig als völlig unpolitisch hingestellt hat, und in der er für mich eingetreten ist. Was er damit in seiner Stellung riskierte, wird jedem klar sein, der weiß, wie ich im Ausland gegen den Fa- schismus gearbeitet habe, und weiß, wie die Gestapo mit Leuten umzugehen pflegte, die sich für Kommunisten einsetzten.“ Gründgens kam frei, er ging ans Deutsche Theater in der Berliner Schumannstraße, spielte in Sternheims „Der Snob" die Titelrolle und inszenierte die deutsche Erstaufführung des sowjetischen Märchenstücks „Der Schatten", nicht ohne mit Alexander Dymschiz, dem Leiter der SMAD-Kulturabteilung, in einen Briefwechsel über die Regiekonzeption einzutreten. Am 3. April 1947 hatte die Aufführung, die als ein Höhepunkt des Berliner Nachkriegstheaters gilt, Premiere.

Auch der linksbürgerliche Theaterkritiker Herbert Ihering konnte im Berliner Kulturleben wieder eine gewichtige Rolle spielen, obwohl er nicht emigriert war, sondern als Dramaturg gearbeitet hatte. Unter den Büchern, die er während des Dritten Reichs veröffentlicht hatte, befand sich auch eines, in dem er die Leistungen von Emil Jannings in , staatspolitisch wertvollen'NS-Filmen rühmte. Es gab dennoch keinen Grund, seine humanistische Gesinnung in Zweifel zu ziehen, und jetzt zählte vor allem, daß er während der Weimarer Republik Brecht, Toller, Piscator und andere linke Autoren und Regisseure vor reaktionären Anfeindungen in Schutz genommen hatte. 4. „Trotz einiger Irrungen" — bürgerliche Schriftsteller der „inneren Emigration“

als Garanten der geistigen Wiedergeburt:

Kellermann, Fallada, Hauptmann Zu den Schriftstellern aus der „inneren Emigration", die zur Mitarbeit gewonnen werden konnten, gehörte auch Bernhard Kellermann, dessen Welterfolg „Der Tunnel" (1913) wegen seiner spannenden und wegen -Handlung sei ner antikapitalistischen Tendenz auch in der Sowjetunion sehr geschätzt wo auch wurde, sein von den Nazis verbotener antimilitaristischer Roman „Der neunte November“ (1920) bekannt war, den sein Autor in einer bearbeiteten Fassung 1946 wieder herausbrachte.

Von einem so populären Mann wie Hans Fallada erwartete Becher, der den Romancier der kleinen Leute sehr schätzte, massenwirksame Bücher, die bei der Umerziehung des deutschen Volkes gute Dienste leisten sollten. Die Rote Armee hatte ihn zunächst als Bürger-16) meister des Dorfes Feldberg eingesetzt, bis der von Alkohol und Rauschgift zerrüttete Erfolgsschriftsteller nach Berlin übersiedelte. Wie umsichtig Becher vorging, zeigt die Entstehungsgeschichte des Romans . Jeder stirbt für sich allein“ (1947). Als sein enger Vertrauter Heinz Willmann eine Gestapo-Akte über die Hinrichtung eines Ehepaares fand, das gefühlsmäßig und unorganisiert Widerstand gegen die NS-Herrschaft geleistet hatte, wollte er sogleich selber eine Reportage darüber schreiben. Becher war dagegen und redete ihm das mit dem Hinweis aus: „Schriftsteller mit bekanntem Namen schweigen. Ist es nicht besser, du hilfst, sie zum Schreiben zu bringen?" Willmann ging daher mit der Akte zu Fallada und überredete den Zögernden zu dem Roman über die Quangels. Becher sorgte auch für den Druck der düsteren autobiographischen Bekenntnisbücher „Der Alpdruck" (1947) und — aus dem Nachlaß — „Der Trinker" (1950), obwohl er sich damit heftige Kritik von orthodoxer kommunistischer Seite einhandelte, die auf optimistische, lebensbejahende Werke aus war.

Am meisten sorgte sich Becher um das Schicksal des im oberschlesischen Agnetendorf lebenden greisen Gerhart Hauptmann. Im Herbst 1945 fuhr er in einer abenteuerlichen Autoexpedition von Berlin aus dorthin. In seiner Begleitung befanden sich auch zwei sowjetische Offiziere. Einer von ihnen, Grigorij Weiss, Journalist bei der von der SMAD herausgegeben „Täglichen Rundschau“, berichtet darüber in seinen Memoiren ausführlich und höchst anschaulich Weil man repräsentative Persönlichkeiten zur Vertrauensbildung brauchte, spielte die widersprüchliche, keineswegs . lupenreine'Haltung des der Dichters während braunen Diktatur jetzt keine Rolle. Nachdem Hauptmann 6. Juni am 1946 verstorben war, fand in Stralsund ein Trauerakt statt, auf dem auch Oberst Tjulpanow für Gedenkrede den „weisen Patriarchen“ hielt, der „trotz einiger Irrungen entschieden zu den fortschrittlichen Geistern zählt.“ Der Leiter der sowjetischen Informationsabteilung vermied jegliche politische Konkretheit und benutzte — ähnlich wie Becher in den Reden jener Jahre — eine vage Licht-Dunkel-Metaphorik: „Ja, gerade heute, in der Zeit der Überwindung seiner tiefsten Krise und zugleich im Moment des entschei-denden Wendepunkts seiner Geschichte, braucht das deutsche Volk Propheten der Humanität und Demokratie, die es aus der Finsternis ins strahlende Licht führen dürfen. Die Bereitwilligkeit Hauptmanns, trotz hohen Alters seine große Pflicht gegenüber dem deutschen Volke zu erfüllen, ist weltbekannt Kurz nach dem Zusammenbruch Hitler-deutschlands, als die ersten Spuren der Morgenröte einer neuen Entwicklung seiner Heimat erschienen, hat er seine Stimme für diese neue Epoche erhoben." Als der Dichter wunschgemäß auf der Insel Hiddensee beigesetzt wurde, sprachen am offenen Grabe der Kommunist Wilhelm Pieck und — ausgerechnet — der Schauspieler Otto Gebühr, der „Fridericus Rex“ -Darsteller unzähliger reaktionärer Preußen-Filme, Worte des Gedenkens. 5. Angriffe von kommunistischer Seite auf die Bündnispolitik Kämpferisch gesinnte deutsche Kommunisten begehrten gegen diese von der Besatzungsmacht betriebene tolerante Kulturpolitik auf. Sie fanden, die Anpassung an die überkommenen Traditionen werde zu weit getrieben, sie berge in sich die Gefahr des Opportunismus. Erich Weinert zum Beispiel zeigte sich recht reserviert, was gelegentlich zu Spannungen führte, da der aggressive Satiriker in der Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung für die Genehmigung von Verlagsprogrammen und die Papierzuteilung, aber auch für die Zusammenstellung der „Liste der auszusondernden Literatur" — also die (abermalige) Säuberung der Bibliotheken — zuständig war. Becher hingegen, der Mann der öffentlichkeitswirksamen Reden, besaß solche Verwaltungsbefugnisse nicht Vielleicht, so erklärte am 17. Mai 1947 Erich Weinert in Schaffhausen als Gastredner beim Schweizerischen Schriftstellerverband, sei man mit Hauptmann, Fallada und ähnlichen Schriftstellern zu nachsichtig verfahren. „Ob die Auffassung richtig ist, wird sich einst erweisen, wenn einmal Gewinn und Verlust aus diesem Verfahren abgewogen werden können. Wir wollen keine Pharisäer sein, aber wir werden die Grenzen nicht verwischen lassen, die uns von denen trennen, mit denen wir keine Gemeinschaft mehr haben wollen. Sollen sie dankbar sein, wenn ihnen nicht mehr geschieht, als daß ihnen das Recht auf Bewährung eingeräumt wird."

Wenn es in der Öffentlichkeit schon solche Gegenstimmen gab, darf man kräftigere Interventionen hinter den Kulissen vermuten. Ein Beispiel dafür ist kürzlich erst aus den Materialien des Becher-Archivs veröffentlicht worden. Mitbegründer des Bundes Proletarisch-Revolutionärer Schriftsteller — KPD-Genossen aus den zwanziger Jahren, die in der Nazizeit verfolgt und eingesperrt worden waren, wie Kurt Huhn oder Hans Lorbeer — wandten sich tief mißtrauisch und sarkastisch in Briefen an Becher. So schrieb Lorbeer, mit dem Becher Ende der zwanziger Jahre eng befreundet gewesen war, im Dezember 1945: „Die Herren nehmen ihr Plätze schon ein. Sie werden den Ton angeben, den Text bestimmen. Ich würde mich nicht wundern, wenn auch die Herren Pohl, Barthel, Binding, von der Vring und ähnliche sich einfänden. Herr Fallada ist ja schon da, Herr Heinrich Mann, der der .demokratischen'Gummiknüppelpolizei im schönen Preußenland damals so hochherzige Worte zu sagen wußte, Herr Hauptmann und wie sie alle heißen.“

Lorbeer war auf den Positionen stehengeblieben, die in der Weimarer Republik das Erstarken der nationalsozialistischen Kräfte begünstigten: alle Nichtkommunisten sind gleichermaßen Gegner. Becher weist das unterstellte Einebnen aller Unterschiede zurück und erklärt das abwegige Urteil über Heinrich Mann mit Informationslücken. Er spürt, daß Lorbeer und andere kommunistische Literaten zweiten Ranges, die unter der faschistischen Diktatur persönlich schwer gelitten hatten, sich jetzt zurückgesetzt fühlten. So versuchte er, seine Bündnispolitik zu rechtfertigen und zugleich den unzufriedenen Genossen durch das Lob seiner Verläßlichkeit zu beruhigen: „Als ich nun zurückkehrte, war es meine Hauptaufgabe, so rasch wie möglich alle diejenigen an uns zu binden und zu sammeln, die schwankend waren, die von heute auf morgen wieder in irgendwelche feindlichen Hände geraten konnten, und sie, so gut es ging, irgendwie uns zu verpflichten. Dieses uns allerdings bedeutet kein uns im engeren Kreise, sondern ein uns im Sinne einer wirkli-chen freiheitlichen demokratischen Entwicklung. So ergab es sich, daß diejenigen, auf die man sich fest verlassen konnte, wie Du, nicht sozusagen zuerst zum Zuge kamen, was notwendigerweise ... bei dem oder jenem Verbitterung auslösen mußte. Aber aus dieser Verbitterung heraus soll man nicht übertreiben und soll versuchen, die Dinge ein bißchen nüchtern und objektiv zu sehen.“

In ähnlicher Weise erklärte Becher dem in Prag lebenden Literaturwissenschaftler Paul Reimann, daß „wir uns nicht wieder nach bewährtem proletkultistischem Muster avantgardistisch isolieren dürfen und als eine winzige Zahl von . chemisch reinen Schriftstellern einer überwältigenden Masse von Reaktionären gegenüberstehen" 6. Der Kulturbund und sein Aufbau-Verlag als Plattform für Umerziehung und «Klärung der Fronten“

Am Juni 1945 hatte die sowjetische Militärkommandantur den „Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands" auf Antrag Bechers erlaubt Dieses Antrags-und Genehmigungsverfahren war freilich nur ein formales Spiel, über die Methode, wie die aufbauwilligen Kräfte der deutschen Intelligenz, Wissenschaftler, Künstler und Studenten, zusammenzufassen seien, hatte es schon 1944 in Moskau detaillierte Absprachen gegeben. Die Idee dazu kam von Georgi Dimitroff, auch die Namensgebung erfolgte auf dieser Unterredung, an der neben Becher noch Pieck und Ulbricht teilnahmen 25). Die Bezeichnung traf die moralische Aufgabe nach der Zerschlagung des Hitlerstaates recht genau und vermied zugleich die Orientierung auf eine bestimmte gesellschaftliche Struktur der anzustrebenden neuen Ordnung. Unter „demokratisch“ konnte jeder das Seine verstehen, und das Wort von der Erneuerung umspannte sowohl konservativ-humanistische wie politisch-revolutionäre Vorstellungen von der Zukunft. Erneuerung war ja nicht etwas ganz und gar Neues, gar Kulturrevolutionäres — sie zielte vielmehr auf die Wiedergewinnung guter alter Traditionen, auf die Wiederherstellung einer nur beschädigten Grundsubstanz. Auf der ersten Kundgebung im Großen Sendesaal des Funkhauses in der Masurenallee wurden am 3. Juli 1945 sieben Leitsätze be-schlossen An erster Stelle stand die Vernichtung der Naziideologie auf allen Lebens-und Wissensgebieten. Bei der Sichtung der geschichtlichen Gesamtentwicklung wurde das positive Ziel als „Wiederentdeckung und Förderung der freiheitlichen humanistischen, wahrhaft nationalen Traditionen unseres Volkes" beschrieben. Auch der Wiedererwerb des Vertrauens und der Achtung der Welt stand in den Programmpunkten, deren vorletzter besonders schön und besonders unverbindlich klang: „Verbreitung der Wahrheit Wiedergewinnung objektiver Maße und Werte.“ Es hätte damals viel Skepsis dazu gehört (und politische Erfahrung im Umgang mit Kommunisten), um in den insgesamt vertrauenserweckenden Zielsetzungen die Fußangeln zu entdecken, also zu vermuten, die „nationale Einheitsfront der deutschen Geistesarbeiter“ sei letztlich eine Kampfansage gegen den bürgerlichen Pluralismus und die „streitbare demokratische Weltanschauung" eine verhüllende Metapher für den Marxismus-Leninismus.

Auch die geschickte Personalpolitik stand im Zeichen der Vertrauensbildung. Als sich am 8. August 1945 die Leitung des Kulturbundes konstituierte, schlug Becher Bernhard Keller-mann mit folgender Begründung zum Präsidenten vor: „Herr Kellermann hat mir gegenüber auch den Vorzug, der nicht gering zu achten ist, daß er zwölf Jahre in Deutschland blieb. Er hat sich hier in Deutschland hochanständig verhalten. Das ist ein großes Plus. Aus allen diesen Gründen bin ich zu dem Entschluß gekommen, daß Herr Bernhard Keller-mann der richtige Kandidat für den Posten des Präsidenten ist. Durch seine Bücher, die eine hohe Auflage haben, ist er bekannter als ich es bin. Ich kenne die Grenzen meiner Arbeitsfähigkeit genau und handle aus kulturpolitischer Zweckmäßigkeit, wenn ich diesen Vorschlag mache." Die kulturpolitische Zweckmäßigkeit bestand darin, daß die repräsentativen Funktionen lieber Bürgerlichen überlassen wurden, während die Kommunisten Wert darauf legten, den Apparat voll unter Kontrolle zu behalten. Im Fall des Kulturbunds war das dadurch garantiert, daß der Posten des Generalsekretärs mit dem kommunistischen Journalisten Heinz Willmann besetzt wurde.

Die Anwesenden schlossen sich aber dem Personalvorschlag Kellermann nicht an. Viel-mehr wurde Becher einstimmig zum Präsidenten gewählt, nach der besonders aktiven Fürsprache des evangelischen Pfarrers Otto Dilschneider und Ferdinand Friedensburgs, des nachmaligen CDU-Politikers, der sich in späteren Jahren der Gleichschaltungspolitik der SED entschieden widersetzte und deswegen — gemeinsam mit dem gleichgesinnten Emst Lemmer — in den zeitgeschichtlichen Darstellungen aus der DDR gemeinhin als reaktionärer Störenfried bezeichnet wird. Kellermann und der wenige Jahre später als Formalist attackierte Maler Carl Hofer wurden Vizepräsidenten: Gerhart Hauptmann hatte die Ehrenpräsidentschaft schon bei Bechers Besuch in Agnetendorf angenommen. Dem 26köpfigen Präsidialrat gehörten nur wenige Kommunisten (Anton Ackermann, Robert Havemann, Hans Mahle und Otto Winzer) an.

Am 18. August 1945 erlaubte die SMAD „die Tätigkeit des Kulturbundverlags unter der Bezeichnung Aufbau-Verlag GmbH und die Verbreitung der von diesem herausgegebenen Druckschriften." Eine Liste von vorrangig zu veröffentlichenden Werken hatte Becher schon im März 1945 der KPD-Führung vorgelegt. Kommunistische Autoren — darunter er selbst, Willi Bredel, Erich Weinert, Friedrich Wolf, die Seghers und Brecht — waren in der Minderheit. Als mindestens ebenso wichtig galten die Romane von Heinrich und Thomas Mann, Lion Feuchtwanger und Arnold Zweig. Nach zwei Jahren lagen fast hundert Veröffentlichungen in einer Gesamtauflage von mehr als zweieinhalb Millionen Exemplaren vor. Besonderen Erfolg hatte der Verlag mit Theodor Pliviers „Stalingrad" (154 000 Exemplare), Alexander Abuschs „Irrweg einer Nation" (80 000), mit Horst Lommers satirischen Versen „Das tausendjährige Reich“ (70 000) sowie den Romanen „Das siebte Kreuz“ von Anna Seghers (60 000) und „Abschied" von Becher (50 000).

Das erste Heft des Aufbau“, einer laut Untertitel „kulturpolitischen Monatsschrift mit literarischen Beiträgen", erschien im September 1945 mit einer Auflage von 50000 Exemplaren. Wegen der großen Nachfrage wurde sie ständig erhöht und stieg im März 1946 auf 150 000 Stück, die in ganz Deutschland Verbreitung fand. Die Zeitschrift war attraktiv durch ein vielfältiges Bild unterschiedlicher Meinungen. Die sowjetischen Offiziere übten die Zensur großzügig aus. In jener bunt-chaotischen Zeit hingen Eingriffe oft von subjektiven Vorlieben ab. So berichtet Ernst Niekisch, daß ein Aufsatz gegen Richard Wagner nicht gedruckt wurde, weil der Zensor ein Wagner-Fan war. Erst unter seinem Nachfolger, der von Musik nichts verstand, konnte der Beitrag erscheinen über ideologische GrundSatzfragen sollte in den Spalten des Aufbau“ gerade nicht diskutiert werden. Chefredakteur Klaus Gysi (seit dem April-Heft 1946) begründete im Juni 1947 unter der Überschrift „Überparteilichkeit und Diskussion“, warum „entsachlichende Polemik" nicht Sache des Kulturbunds sein könne Eine Debatte über den Marxismus sei (noch) unnütz, weil nach den zwölf Hitlerjahren dessen Kenntnis nicht vorhanden sei. Es wäre politisch in der Tat ganz unklug gewesen, wenn die kommunistische Minderheit unter den Intellektuellen damals auf dem Felde der Kultur Entscheidungsschlachten zwischen marxistischer und bürgerlicher Ideologie riskiert hätte. 7. Schriftstellerkongreß 1947: Die brüchige Gemeinsamkeit von Exilierten und Daheimgebliebenen

Sowohl die Erste Bundestagung des Kulturbunds (19. — 21. Mai 1947) als auch der Erste Deutsche Schriftstellerkongreß (4. — 8. Oktober 1947) wurden als gesamtdeutsche Sammlungsbewegungen organisiert. Ehrenpräsidentin des vom Kulturbund einberufenen Autorentreffens war Ricarda Huch. Noch einmal gelang es Becher, sein Versöhnungskonzept durchzuhalten. Unter dem Leitwort „Vom Willen zum Frieden" berief er sich auf Claudel und Bergengruen, auf Rilke und Thomas Mann und betonte das gemeinsame Schicksal der Deutschen, ganz gleich, ob es sich um Flüchtlinge, Kriegsgefangene oder in der Heimat Gebliebene handle. Die Politik sollte sich die Literatur nicht einfach dienstbar machen dürfen: „Wir haben es erfahren, daß von der Literatur gefordert wurde, sich den politischen Bedürfnissen zu unterwerfen, um so zu einer Art kunstgewerblich aufgeputzten Fassade der Staatsführung zu werden. Die Politik verschlingt die Literatur, wenn nicht die Literatur auf eine ihr eigentümliche und selbständige Art politisch wird."

Mit solcher „Verteidigung der Poesie" stellte er sich in einen spürbaren Gegensatz zu Reden Weinerts und Bredels auf dem gleichen Kongreß. Das Bündniskonzept drohte schon damals in der Konfrontation des Kalten Kriegs zu scheitern, auch wenn Becher und die sowjetischen Berater bei einem Treffen in Ahrenshoop im einzelnen abgesprochen hatten, wie die vermutete westliche Strategie („... die Russen liefern das Essen ... und wir liefern die Ideologie") zu durchkreuzen sei. Aber der Streit zwischen dem Amerikaner Melvin Lasky und der direkt aus Moskau angereisten sowjetischen Gastdelegation konnte nicht im Sinne Bechers sein Mit Müh und Not gelang es, ein Abschlußmanifest anzunehmen, in dem die Schriftsteller erklärten, in der deutschen Sprache und Kultur sähen sie „die Gewähr für die unveräußerliche Einheit unseres Volkes und Landes und das Bindeglied über alle Zonengrenzen und Parteien hinweg“

Becher verwandte viel Überzeugungskraft darauf, daß sich die neue deutsche Nationalliteratur als Einheit konstituiere. Sie sollte aus dem Zusammenfluß der beiden während der zwölf Jahre getrennten Ströme der daheim-gebliebenen Humanisten und der ins Exil Gezwungenen entstehen. Frontbildungen zwischen äußerer und innerer Emigration verurteilte er scharf, ganz gleich, ob sie aus dem Sektierertum seiner eigenen Genossen herrührten oder aus reaktionärer Impertinenz wie bei Frank Thieß, der in einer Kontroverse mit Thomas Mann den Emigranten vorwarf, sie hätten aus ausländischen Logen und Parterreplätzen der deutschen Tragödie zugeschaut

Für die im sowjetischen Exil gewesenen Autoren war es selbstverständlich, sich auch im sowjetisch besetzten Teil Deutschlands niederzulassen; die meisten kommunistischen «Westemigranten“ folgten ihnen. Sie hatten das Gefühl, sehr erwünscht zu sein, gebraucht zu werden. Ihren Büchern winkten hohe Auflagen; die Hoffnung, Geist und Macht könnten in einer fortschrittlichen Synthese ver-söhnt werden, ging bei den Sympathisanten um. Wer noch zögerte, wurde durch die Verfolgung während der McCarthy-Zeit zu einem Ortswechsel in Richtung Osten gedrängt. Willi Bredel, Eduard Claudius, Stephan Hermlin, Alfred Kantorowicz, Hans Marchwitza, Ludwig Renn, Bodo Uhse, Erich Weinert und Friedrich Wolf nahmen zum Beispiel ihren Wohnsitz dort. Der linksbürgerliche Arnold Zweig kam aus Haifa zurück. Auch Anna Seghers verhielt sich politisch, nicht sentimental, als sie statt ihrer Geburtsstadt Mainz, ihrer geliebten Heimat am Rhein, die SBZ wählte. Dorthin übersiedelte sie im Februar 1947 aus dem mexikanischen Exil. Sie freute sich, wie sie Becher am 6. April 1946 schrieb, „auf jede harte und klare Arbeit". Sie war wie viele andere voller Tatkraft, „nach den uferlosen und fruchtlosen Diskussionen und Streitigkeiten der Emigrationsatmosphäre" Nach vorsichtiger Prüfung kam Brecht im Oktober 1948 nach Ost-Berlin. Wieland Herz-felde und Erich Arendt kehrten zurück. Hans Mayer und Ernst Bloch nahmen die ihnen angebotenen Lehrstühle an der Leipziger Universität an.

Viele mußten jedoch erleben, daß die politische Entwicklung nicht die von ihnen erhoffte Richtung nahm. Sie haben auf diese Erfahrung unterschiedlich reagiert. Aus ihren Werken und Lebensläufen, Briefen und Selbst-zeugnissen ergibt sich eine ganz andere, sehr widersprüchliche Bewußtseins-und Literatur-geschichte, als es die vornehmlich an Parteikonferenzen und Schriftstellerkongressen (und ihren öffentlich verkündeten kulturpolitischer! Leitlinien) orientierten, affirmativ-ideologisch vorgehenden Darstellungen wahrhaben wollen. 8. Wertvolle Traditionen, humanistische Grundsubstanz, nationales Erbe — Leitwörter einer kulturellen Renaissance

Daß die vagen Metaphern vom Kahlschlag und der Stunde Null im sowjetischen Einflußbereich die intellektuelle Bewußtseinslage nicht nachhaltig prägten, Jag auch daran, daß die gebildeten russischen Deutschlandkenner, die als Kulturoffiziere tätig waren, in ihrem Enthusiasmus für die deutsche Literatur der Vergangenheit Zweifel an deren humanistischer,, Substanz gar nicht zuließen. Die in Rußland weitverbreitete Bewunderung für die geistigen Leistungen der Deutschen war durch die faschistische Vernichtungsstrategie nicht geschwunden. In der Sowjetunion hatte die Experimenten zugeneigte Periode des revolutionären Umbruchs nicht lange gedauert. Traditionelle Hör-, Seh-und Lesegewohnheiten setzten sich nicht nur deshalb durch, weil Lenin, aber auch der für Kulturfragen zuständige Volkskommissar Lunatscharski, von dem auf diesem Gebiet ganz unzuständigen Stalin zu schweigen, persönlich einen konservativen künstlerischen Geschmack besaßen, sondern auch weil die gerade erst alphabetisierten Massen eines rückständigen Landes für differenziert modernistische Ausdrucksformen zunächst noch nicht gewonnen werden konnten. Auch für die deutschen kommunistischen Funktionäre der ersten Stunde galt die Losung „Die Kunst dem Volke", wie Anton Akkermann auf der „Ersten Zentralen Kulturtagung der KPD" im Februar 1946 verkündete. Sogar ihm ging es mehr um die Wiederherstellung einer unterbrochenen Kontinuität als um den revolutionären Aufbruch zu neuen Ufern. Da man sich selbst längst auf die Standards der bürgerlichen Kultur eingestellt hatte, mußte man sich nicht erst mühsam die Propagierung des kulturellen Erbes als Zugeständnis an die Intelligenzschicht abringen. Wilhelm Piecks Rede auf der Kulturtagung war gespickt mit Zitaten von Kant, Schiller, Goethe und Lessing. Die Delegierten sahen schließlich die — heute legendäre — Aufführung von Lessings „Nathan“ mit Paul Wegener in der Titelrolle. Die Premiere war schon am 7. September 1945 gewesen, und das in der Naizizeit verbotene Stück wurde allein 1946/47 in 80 000 Exemplaren als Reclam-Heft des bis 1950 noch von der Familie Reclam geführten Leipziger Verlags verkauft.

Das Bekenntnis zur Toleranz erwies sich nicht als dauerhaft, aber das zum kulturellen Erbe sehr wohl. Die besondere Wertschätzung der Klassik erklärt sich also nicht nur daraus, daß ihr „Ideengehalt" von breiten Schichten akzeptiert wurde. Die kommunistische Funktionärselite hatte selbst diese Kulturwerte verinnerlicht.

Die passenden Argumente lieferte u. a. Georg Lukäcs, der geschickte Sozialpsychologe, der für viele junge Deutsche in der SBZ und DDR der ideale Vermittler der marxistischen Ästhetik wurde. Seine Werke, die der Aufbau-Verlag in rascher Folge edierte, hatte er in der Hauptsache während der Moskauer Emigration in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre verfaßt. Er nutzte das Klima der damaligen Volksfrontstrategie — -und schon deswegen paßten die Studien jetzt in die bündnispolitische Konzeption der Nachkriegszeit im sowjetisch besetzten Deutschland. Lukäcs hatte sich auf die deutsche Klassik und die deutschen (und französischen) Realisten des 19. Jahrhunderts konzentriert und aus ihren Werken vermeintlich allgemeingültige Normen abgeleitet Nur Autoren unseres Jahrhunderts, die sich in diese Tradition einfügen ließen, mochte er anerkennen, etwa Thomas Mann. Lukäcs'Autorität wurde aber noch nicht angetastet, als die Kulturpolitiker der DDR sich durch die Forderung, die Literatur müsse direkt die wirtschaftlichen Aufbauziele unterstützen, in einen Gegensatz zu dem berühmten Mann in Budapest brachten. Erst sehr viel später, in der Phase der Entstalinisierung, geriet Lukäcs in der DDR in Ungnade und wurde als „Revisionist" verteufelt, weil er ein geistiger Wegbereiter der ungarischen „Konterrevolution" von 1956 gewesen sei.

II. Die kulturpolitische Verhärtung im Zeichen von Kaltem Krieg und Stalinismus 1948/1952

1. Die allmähliche Umorientierung auf kämpferische Parteilichkeit und sozialisitische Gegenwartsthematik 1948/1950

Nachdem die internationale Lage immer stärker von unüberbrückbaren Interessengegensätzen zwischen der Sowjetunion und den Westalliierten bestimmt wurde, beschleunigte sich die ökonomische und politische Auseinanderentwicklung zwischen der SBZ und den Westzonen. Die Währungsreform beendete 1948 Illusionen über ein einheitliches Wirtschaftsgebiet, und die Gründung zweier deutscher Staaten 1949 führte dazu, daß jede Seite sich im unversöhnlichen Kontrast zur anderen definierte. Da für die östliche Seite die Möglichkeit entfiel, direkt oder indirekt Einfluß auf die Entwicklung der Westzonen zu nehmen, paßte die vorsichtige, auf Sympathiewerbung gerichtete Kulturpolitik nun nicht mehr in die Landschaft Verglich man sie mit der Situation im stalinistischen Mut-B terland, mußte sie ohnehin als systemwidrig gelten. Einige Jahre hatte man ungeduldige Kommunisten, denen die Rücksicht auf die . Bürgerlichen" zu weit ging, damit getröstet, die Zeit sei noch nicht da, man selbst noch nicht stark genug. Nun schien sie reif, und die Autoren wurden von der SED dazu angehalten, unmittelbar die innenpolitischen, vor allem ökonomischen Ziele in ihrem Werk zu verfolgen.

Dazu berief man unter dem Motto „Künstler und Schriftsteller im Zweijahresplan" bereits 1948 mehrere Konferenzen ein. Das Angebot weiterer Privilegien ergänzte den moralisch-politischen Druck: Im Frühjahr 1949 wurde eine „Verordnung über die Erhaltung und die Entwicklung der deutschen Wissenschaft und Kultur, die weitere Verbesserung der Lage der Intelligenz und die Steigerung ihrer Rolle in der Produktion und im öffentlichen Leben" erlassen. Sie enthielt auch die Stiftung von Nationalpreisen in drei Klassen mit Prämien von 25 000 bis 100 000 Mark. Die Bereitschaft der Autoren der älteren und mittleren Generation, als Literaturpropagandisten neuen Typs zu wirken, hielt sich jedoch in Grenzen. Im Entschließungsentwurf des Politbüros zum III. Parteitag der SED (20. — 24. Juli 1950) wurde ein immer stärker spürbares Zurückbleiben des künstlerischen und literarischen Schaffens hinter der Entwicklung des gesellschaftlich Neuen angeprangert. Die Literatur sollte ein wichtiger Kampfabschnitt werden in der Auseinandersetzung mit westlicher Dekadenz und Morbidität. Alexander Abusch veröffentlichte im Sommer 1950 mehrere Artikel, in denen er Kritiker davor warnte, unter dem Vorwand, höchste literarische Qualität zu fordern, Werke zu verreißen, die sich in kämpferisch-parteilichem Geist der Gegenwartsthematik zuwandten. Es sei ein Zeichen für die schädliche, individualistisch manirierte Tradition der bürgerlichen Literaturkritik, wenn zum Beispiel erste romanhafte Versuche, die Bodenreform zu behandeln, einer überheblichen und wenig sorgsamen Beurteilung anheimgefallen seien. Der Kulturfunktionär verlangte, daß „das tiefe Wort Stalins" vom Schriftsteller als dem „Ingenieur der menschlichen Seele“ bei der Gestaltung des Neuen in unserem Leben wegweisend sein sollte. Mit der äußerlichen Beschreibung der Betriebe und des Produktionsvorganges sei es nicht getan, das Wesentliche sei der „sich verändernde Mensch und seine neue menschliche Zielsetzung"

Hier liegen die Anfänge einer umfunktionierten Literatur-und Kunstkritik, der die Aufgabe zugeteilt wurde, kulturpolitisch erwünschte Werke zu propagieren. Vor allem jüngere Autoren sollten nicht durch harte Kritik an der sprachlichen und psychologischen Qualität ihrer Arbeiten irritiert werden, falls sie sich parteilich den politischen Zielsetzungen öffneten.

Weniger glimpflich wurde freilich mit den anerkannten, durch frühere Erfolge ausgewiesenen Meistern der Literatur umgegangen, wenn sie den nachwachsenden Schriftstellern nicht das rechte Vorbild boten. Anna Seghers geriet mit ihrem gerade erschienenen Roman „Die Toten bleiben jung" mitten in diesen kulturpolitischen Umbruch. Es wurde kritisiert, daß schon rein quantitativ die Darstellung der konterrevolutionären Seite überwiege. Wie so oft in der Literaturgeschichte, erwiesen sich auch diesmal wieder die negativen Gestalten als die interessanteren: Die Schurken faszinieren — entgegen der eigentlichen Absicht des Schöpfers — durch ihren Zynismus, und die positiven Leitfiguren sind brav und bläßlich, vorbildlich und wenig einprägsam. So wurde der Vorwurf erhoben, der Roman mache den proletarischen Kampf nicht in gleicher Weise in positiven Gestalten sinnfällig, wie er an negativen Beispielen die Auflösung der bürgerlichen Welt eindringlich zeige. Der bedeutende Kritiker Paul Rilla versuchte den Roman durch lobende Kritik vor Anfeindungen zu schützen. Er löste damit im Frühjahr 1950 eine der ersten scharfen literaturpolitischen Kontroversen in der jungen DDR aus. Dabei ging er so weit, die Kategorie der Interessantheit als bürgerlich zu klassifizieren. Der „interessante Abenteurer" sei eben das schillernde Treibgut aus einem gesellschaftlichen Schiffbruch Das war eine heikle These, zumal sie mit der Gegenthese verknüpft wurde, der Mangel an spezifischer Interessantheit zeichne den proletarischen Helden der neuen Zeit aus. Die Interessantheit nehme in dem Maße ab, wie die Personen an positiver gesellschaftlicher Bestimmung zunehmen: „An die Stelle der Interessantheit tritt das Interesse der gesellschaftlichen Geprägtheit." Rillas Ziel war es, die Schriftsteller aus einem Angriffsfeld zurückzuholen, in das sie bei der Darstellung von Arbeiterfiguren leicht gelangten. Nunmehr geriet aber auch der listige Rilla ins Kreuzfeuer der Orthodoxen. Man warf ihm vor, daß er Proletarierfiguren das Etikett der Uninteressantheit ankleben wolle. Aus einem schwach geratenen Roman habe er eine fehlerhafte Theorie zur Rechtfertigung der Mängel abgeleitet Alexander Abusch schrieb im SED-Zentralorgan: „Eine solche Theorie der Uninteressantheit, der Langeweile bei der Gestaltung von gesellschaftlich geprägten Personen unseres Lagers können wir nicht als Realismus, «geschweige denn als sozialistischen Realismus akzeptieren ... Die fehlerhafte Theorie der Uninteressantheit positiver Gestalten, würde man sie dulden, könnte nur folgenschwer für unsere Literatur sein. Sie entwaffnet den Schriftsteller in seinem Bemühen, die neuen Menschen lebensvoll und interessant, daß heißt künstlerisch vollendet zu gestalten."

Abuschs Polemik erschien am Tage der Eröffnung des II. Schriftstellerkongresses, der vom 4. bis 6. Juli 1950 in Ost-Berlin stattfand. Sein Motto hieß: „Das neue Leben verlangt nach Gestaltung." Der Schriftsteller Bodo Uhse konstatierte, daß die Literatur — mit Ausnahme einiger Versuche — vom Leben auf den Feldern der Neubauernhöfe, in den volks-eigenen Betrieben, in Planungsämtern und auf Maschinenausleihstationen keine Kenntnis genommen habe. Weder würden die Umwälzungen durch Bodenreform, Umsiedlung oder Industrieenteignung gestaltet noch gar beflügelnde Ausblicke in die Zukunft gegeben. Aber Uhse zeigte dafür ein gewisses Verständnis, denn er zählte Gründe dafür auf, daß ein Roman eben seine Zeit brauche, daß Gesellschaftsschilderung in Deutschland ohne feste Tradition sei, daß auch die Kurzgeschichte hier weniger blühe als in Ländern, die einen Tschechow oder Maupassant hervorgebracht hätten. Bedrängt von den vielen kulturpolitischen und publizistischen Tages-aufgaben sähen sich die Autoren überfordert, und Uhse machte sich zu ihrem Sprecher, als er sagte: „Unsere Zeit macht es vielleicht nicht leicht, sich einer immerhin noch langwierigen Aufgabe zu verpflichten, es erfordert besonderen Mut, um über die unmittelbare Gegenwart in die Zukunft hinauszugreifen, und schließlich bedrängt sie uns mit einer solchen Fülle von Forderungen, daß wir oft mit dem Stellungnehmen, Parteiergreifen, mit dem Aufrufen und Bekennen kaum nachkommen und über solcher notwendigen publizistischen Wirksamkeit uns der Atem zu weiter ausgreifendem Werk fehlen mag." 2. Die militanten spätstalinistischen Kampagnen gegen Amerikanismus, Kosmopolitismus, Formalismus, Modernismus und Dekadenz Uhse hatte noch Raum für ein wenig Defätismus und einige Ironie gelassen — an beiden aber war der Partei zu diesem Zeitpunkt nicht gelegen. Johannes R. Becher, besser vertraut mit der Forderung des Tages, lieferte in seinem Schlußwort die notwendigen kämpferischen Eindeutigkeiten nach. Er zollte der Terminologie des Kalten Krieges seinen Tribut, dem Kampf gegen Amerikanismus und Kosmopolitismus: Im Westen lebten literarisch getarnte Gangster, unbelehrbare Apologeten des imperialistischen Systems. Abscheu und Ekel vor diesem antibolschewistischen Gesindel empfinde man. Widerwärtig sei das Geschwätz dieser kriminellen Clique von der Freiheit der Persönlichkeit.

Während Becher noch drei Jahre früher ein breites Bündnis aller Kulturschaffenden über die Zonengrenzen hinweg angestrebt hatte, so begab er sich jetzt auf einen militanten Abgrenzungskurs: „Eure sogenannten Probleme interessieren uns nicht. Eure Verwicklungen, Kompliziertheiten, die ihr mehr oder weniger literarisch routiniert darstellt, sind für uns wertlos. Wir wollen nichts mehr wissen von euch, euch weder sehen noch hören. Zwar müssen wir vorerst von euch noch Kenntnis nehmen, aber wir nehmen Kenntnis von euch nur in dem Sinne, wie man von einem Geschwür Kenntnis nimmt, das darauf wartet, operiert zu werden. Ihr langweilt uns. Wie langweilig seid ihr in dem sogenannten Glanz eurer Interessantheit, der kein echter Glanz ist, sondern nur das Phosphoreszieren der Fäulnis. Nennt micht meinetwegen einen terrible simplificateur, einen schrecklichen Vereinfachen, mich ängstigt diese Phrase nicht. Das Leben, das wir aufbauen wollen, ist in der Tat einfach, schön in seiner Einfachheit, einfach in seiner Menschlichkeit. Mag sein, daß dieses in einem hohen Sinne so großartige, einfache Leben abschreckend und schrecklich sein wird für euch, die ihr verderbt seid an Haupt und Gliedern, und es wird es sein, das kann man ja wohl bestimmt sagen. Und darum nehme ich den Vorwurf des schrecklichen Vereinfachers mit dem besten Gewissen der Welt auf mich. Wir haben dieses neue Leben schon zu leben begonnen." Am Schluß ging Becher so weit, die einheitliche Stalinsche Sprache des 800 Millionen umfassenden Weltfriedenslagers zu feiern: „Wir zittern nicht davor, daß diese gleiche Sprache, die wir alle sprechen, unsere persönliche Ausdrucksweise beeinträchtigt, solche hauchdünnen Nippesfigürchen sind wir nicht; das Gegenteil ist der Fall, diese gleiche Sprache ist es, die uns als Persönlichkeiten erhebt und trägt... Es lebe die gleiche Sprache des Friedens, es lebe der Mann, es lebe er, der, wenn wir in dieser gleichen wortgewaltigen Sprache des Friedens reden, uns allen so nahe ist als ihr Sprachschöpfer, es lebe der Meister, der geniale Autor dieser Achthundert-Millionen-Sprache des Friedens: Stalin!“

Selbst Becher sah sich also zu solchen Ausbrüchen genötigt. Sein Hymnus auf Stalin ruft in Erinnerung, was oft vergessen wird: Die Grundsatzentscheidungen in der DDR traf damals die sowjetische Besatzungsmacht, und das kulturpolitische Klima wurde bestimmt von administrativen und ideologischen Vorgaben des Spätstalinismus. In den DDR-Veröffentlichungen wird dieses heikle Thema oft umgangen, einesteils aus diplomatischen Rücksichten auf die Empfindlichkeiten der Führungsmacht, andererseits aus einem eigenständigen Souveränitätsbedürfnis. Daraus resultiert auch die Neigung, sowjetische Fehlentscheidungen — ganz gleich, ob sie im Interesse der Ulbricht-Führung lagen oder von ihr nur selbstverständlich hingenommen und ausgeführt wurden — aus sogenannten objektiven innenpolitischen Notwendigkeiten, ja Gesetzmäßigkeiten abzuleiten.

Auch die scharfe Anti-Formalismus-Kampagne des Jahres 1951 geht auf sowjetische „Anregung" zurück; sie wurde im Januar 1951 mit ganzseitigen Grundsatzartikeln (Pseudonym: N. Orlow) im SMAD-Blatt „Tägliche Rundschau“ eröffnet. Die liberalen Kulturoffiziere des Anfangs waren nicht mehr da, auch ihr Chef Tjulpanow war 1950 in seine Heimat zurückgekehrt Auf dem 5. Plenum des SED-Zentralkomitees vom 15. bis 17. März 1951 wurde die berüchtigte Entschließung „Der Kampf gegen den Formalismus in Kunst und Literatur, für eine fortschrittliche deutsche Kultur“ gefaßt. Im Stil der von Stalin und seinem Kulturchef Shdanow initiierten KPdSU-Beschlüsse des Jahres 1948 prangerte man die verkümmerte Melodik moderner Opern an, vor allem Paul Dessaus Vertonung von Brechts „Lukullus". Die heftigsten Invektiven galten der modernen Malerei und ihrer angeblich häßlichen, abstoßenden, volksfremden Formensprache. Den Schriftstellern wurde vorgeworfen, ihre Aufgaben innerhalb des. auf dem III. Parteitag im Juli 1950 beschlossenen Fünfjahresplans nicht tatkräftig genug zu erfüllen. Der Schriftstellerverband, der auf dem II. Schriftstellerkongreß 1950 als Bestandteil des Kulturbunds etabliert worden war, erfuhr herbe Kritik. Durch die Gründung einer „Staatlichen Kommission für Kunstangelegenheiten" und eines dem Ministerrat unterstellten . Amts für Literatur und Verlags-wesen" wurde der administrative Druck verstärkt 3. Die Festlegung auf den . Sozialistischen Realismus“ und die gesamtdeutsche Perspektive als Widersprüche im sogenannten „einheitlichen revolutionären Prozeß nach 1945“

Wenige Wochen nach dem III. Schriftstellerkongreß (Mai 1952), auf dem der „Deutsche Schriftstellerverband“ sich als selbständige Organisation konstituierte, beschloß die SED auf ihrer II. Parteikonferenz formell den Aufbau des Sozialismus. Die Nachahmung des sowjetischen Vorbilds in Kunst und Literatur wurde nun noch dringlicher gefordert als in den zwei, drei Jahren davor. Jetzt wurde — und auch Becher tat sich dabei hervor — „Sozialistischer Realismus“ in der sowjetischen Ausprägung, also damals durchaus als Stil und nicht nur als „schöpferische Methode“, mit einem kulturpolitischen Monopolanspruch etabliert. Damit verbanden sich Forderungen nach Parteilichkeit, Volksverbundenheit, sozialistischem Ideengehalt, Optimismus, Zukunftsperspektive, die sogenannte „Abbildung in den Formen des Lebens" usw. Endlich durfte die Übergangsperiode den in der Bezeichnung enthaltenen Sinn voll erfüllen: Sie ging zu Ende und in eine neue gesellschaftliche Phase über.

Die Zeit zwischen 1948 und 1952 hatte sich freilich, wie gezeigt wurde, bereits als Periode der ideologisch-organisatorischen Vorbereitung erwiesen. Eine DDR-Publikation drückt das so aus: „Die Orientierung auf eine langfristige zentrale Planung und die Maßnahmen zur Festigung und zum Ausbau der Staatsorgane sollten die antifaschistisch-demokratischen Verhältnisse in der sowjetischen Besatzungszone stabilisieren und zugleich Möglichkeiten für eine sozialistische Entwicklung eröffnen.“

Zudem empfahl man sich als Modell für das „dem spätbürgerlichen Verfall preisgegebene Westdeutschland“ und unternahm — meist nur propagandistisch gemeinte — Verständigungsangebote gegenüber verschiedenen Intellektuellenschichten der Bundesrepublik. Ob man das, wie eingangs unter Bezug auf Alfred Klein angedeutet, mit gesamtdeutschen heroischen Illusionen korrekt erklärt, mag dahingestellt bleiben. Aber die Kulturpolitik blieb dadurch auf widersprüchliche und untergründige Weise länger mit den nicht leicht zerstörbaren Sehnsüchten nach den liberalen Möglichkeiten der Jahre von 1945 bis 1948 verbunden. Zwar mußte Alfred Kantorowicz seine wichtige Nachkriegszeitschrift „Ost und West“ zum Jahresende 1949 einstellen, weil die Programmatik des Titels jetzt nicht mehr in die politische Landschaft paßte. Aber kurz zuvor hatte Becher zusammen mit dem greisen bürgerlichen Literarhistoriker Paul Wiegler die Zweimonatsschrift „Siim und Form" gegründet Sie wurde in dem alten Geist der weltoffenen antifaschistisch-demokratischen Konzeption geführt. Becher setzte nicht zufällig den nichtkommunistischen Dichter Peter Hüchel, einen Mann der inneren Emigration, zum Chefredakteur ein, der das Blatt bis zum Jahresende 1962(1) quer zur Parteilinie führte. In solchen Kontext gehört auch Bechers erfolgreiches Bemühen, Thomas Mann 1949 seine Frankfurter Goethe-Rede und 1955 seine Stuttgarter Schiller-Rede auch jeweils in Weimar halten zu lassen.

In der Geschichtsdarstellung der DDR betont man heute „die Einheitlichkeit des revolutionären Prozesses nach 1945". Man will keine Trennungslinie zwischen antifaschistisch-demokratischer und sozialistischer Umwälzung ziehen. Die Zeit von 1945 bis 1949 gilt als erste Phase der sozialistischen Revolution.

Offenbr soll sie nicht als „liberales Vorspiel“ in Erinnerung gebracht werden, als goldene Zeit eines verlorenen Pluralismus. Die Beschreibungen sind daher nicht frei von begrifflicher Scholastik, etwa wenn die Charakterisierung der antifaschistisch-demokratischen Ordnung als vor allem „antiimperialistisch“ mit dem Argument abgewehrt wird, das laufe auf die Konstruktion einer „dritten Ordnung“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus hinaus Es ist aber möglich, daß man in einer veränderten historischen Situation von solcher Sprachregelung auch wieder abgeht.

III. Die Bewahrung wichtiger Elemente des Kulturkonzepts der frühen Nachkriegszeit im heutigen Geschichts-und Traditionsverständnis der DDR

Um die Frage zu beantworten, inwieweit die Anfangsjahre von SBZ und DDR die konkrete kulturelle Situation von heute noch mitprägen, müßte die krisenreiche Entwicklung in den mehr als drei Jahrzehnten seit Stalins Tod mit in den Blick genommen werden. Dafür ist hier kein Raum. Mir scheint, daß von der ursprünglichen weiträumigen Konzeption Bechers gerade deswegen mehr bewahrt wurde, als in manchen Zeiten harter Repression vermutet werden durfte, weil sich die Hoffnungen eines attraktiven Neuaufbaus in hi-storisch kurzer Frist zerschlugen. Nicht Aufbruchsstimmungen, sondern Resignation und Utopieverlust eröffnen jetzt der Kunst Spielräume. Es verfestigen und verfeinern sich dabei freilich auch die unangenehmen Methoden der Machtsicherung, weil die Unbeweglichkeit der Verhältnisse den Druck von unten verstärkt Die Traditionsbildung mit dem bürgerlichen Erbe im Zentrum hat sich bis heute nicht nur erhalten, sondern sie wurde durch die Auf-nähme von in den fünfziger und sechziger ausgegrenzten Bereichen (Romantik, Expressionismus, spätbürgerliche Erzählkunst: Proust, Musil, Joyce, Kafka usw.) entschieden erweitert Becher und Lukäcs hatten das Anknüpfen an die proletarisch-revolutionäre Literatur der zwanziger Jahre verhindert Sie wurde später als Erbe integriert, aber nicht als Anleitung zum Schreiben wirksam. Heute ist sie kaum mehr als ein Forschungsgegenstand für Germanisten, die darüber liebevoll-parteiliche Aufsätze schreiben. Die Betriebs-romane, die sich in den fünfziger Jahren um „Menschen an unserer Seite" von Claudius gruppierten, sind vergessen. Die Kulturpolitik des Bitterfelder Weges legte man als gescheitert zu den Akten. Dagegen sind die in den fünfziger Jahren als dekadent verteufelten Stilrichtungen und Künstlergruppen längst rehabilitiert. Die Literatur hat sich von didaktischen Zumutungen emanzipiert. Ob man es tadelt oder lobt oder nur konstatiert (alle drei Haltungen gibt es in der DDR), Autoren von Rang schreiben in den siebziger und achtziger Jahren — nach DDR-Sprachgebrauch — eher von allgemein-menschlichen, humanistischen denn von marxistisch-leninistischen Positionen her — ich nenne nur Christa Wolf und Erwin Strittmatter oder Erich Arendt und Franz Fühmann mit ihren Spätwerken

Zu welch rigiden Eingriffen sich die aufsichtsführende Bürokratie heute auch immer entschließen mag —, die Anlässe sind unmittel-bar politischer Art, sie beziehen sich nicht mehr auf die künstlerische Ausdrucksform. Ermahnungen, bestimmte Haltungen einzunehmen, werden heutzutage oft nur mehr deswegen an die Künstler gerichtet, weil es der Brauch ist und ihr Fehlen unliebsames Aufsehen machte. Die einsichtigen Kulturfunktionäre (und ihre anonym bleibenden Redenschreiber) wissen, daß das Beschluß-und Auftragswesen im Bereich der Künste kaum etwas bewirkt. Insofern gilt für die DDR, was zu allen Zeiten selbstverständlich war: „So richtig es ist, daß die Entwicklung der Kunst in gewisser Weise ihren eigenen Gesetzen folgt, so illusorisch ist es, ihre Abhängigkeit von den grundlegenden Veränderungen der Gesellschaft außer acht zu lassen."

Das Konzept von der ganzen deutschen Geschichte als einer Nationalgeschichte auch der DDR erinnert neuerdings wieder an Traditionsbildungen der Zeit unmittelbar nach 1945. Nur wird jetzt nicht mehr ausgespart, was damals pauschal der Vorläuferschaft des verbrecherischen Naziregimes verdächtigt wurde, etwa das Preußentum. Bei der Gründung der „Nationalen Forschungs-und Gedenkstätten der DDR für deutsche Kunst und Literatur des 20. Jahrhunderts" zeigte sich im März dieses Jahres, daß diese neue Institution bei der Akademie der Künste sich bürgerlichen und sozialistischen Strömungen der Moderne gleichermaßen öffnen will

Fussnoten

Fußnoten

  1. Sinn und Form, 36 (1984) 5, S. 988.

  2. Sergej I. Tjulpanow, Erinnerungen an deutsche Freunde und Genossen, Berlin-Weimar 1984, S. 39.

  3. Ebd., S. 41.

  4. Zit nach: Weimarer Beiträge, 31 (1985) 5, S. 713.

  5. Briefe Kurellas an Elfriede Cohn-Vossen, zitiert nach: Weimarer Beiträge, 31 (1985) 5, S. 726f.

  6. Zit. nach: Sinn und Form, 37 (1985) 3, S. 533.

  7. Johannes R. Becher, GW, Bd. 16, Publizistik II 1939— 1945, Berlin-Weimar 1978, S. 431.

  8. Tjulpanow (Anm, 2), S. 40.

  9. Vgl. Boleslaw Barlog, Theater lebenslänglich, München 1981. über Erfahrungen mit sowjetischen Kulturoffizieren bes. S. 80— 85.

  10. Interview mit Fradkin, in: Film und Fernsehen, 13(1985) 5, S. 19.

  11. Heinz Willmann, Steine klopft man mit dem Kopf, Berlin (Ost) 1977, S. 311.

  12. Wilhelm Girnus, Musik im großen Spiel der Welt, in:... einer neuen Zeit Beginn. Erinnerungen an die Anfänge unserer Kulturrevolution, Berlin-Weimar 1980, S. 178. Girnus berichtet die Episoden in einer veränderten Fassung, die die politische Reife der Kontrolloffiziere noch mehr hervorhebt, unter dem Titel „Mein Vertrauen“ auch in: Sinn und Form, 36 (1984) 5, S. 952— 955. Vgl. Hans Borgelt, Das war der Frühling von Berlin, München 1980. Über Furtwängler bes. S. 201— 219.

  13. Zit. nach: Weimarer Beiträge, 31 (1985) 5, S. 740.

  14. Fradkin (Anm. 10), S. 18.

  15. Trilse/Hammer/Kabel, Theaterlexikon, Berlin (Ost) 1977, S. 187.

  16. Ernst Busch, Bekenntnis zu Gustaf Gründgens, in: Verweile doch ... Erinnerungen von Schauspielern des Deutschen Theaters Berlin, hrsg. von Renate Seydel, Berlin (Ost) 1984, S. 765— 767.

  17. Heinz Willmann, Trümmer—Ideen—Aufbruch, in: Sonntag, 30. Juni 1985. Vgl. auch Willmann, Steine ... (Anm. 11), S. 293— 297.

  18. Grigorij Weiss, Am Morgen nach dem Kriege, Berlin (Ost), S. 115— 190.

  19. Tjulpanow (Anm. 2), S. 13.

  20. Zu den Problemen der Bibliotheken siehe den Aufsatz von Ingeborg Münz-Koenen, Literaturverhältnisse und literarische Öffentlichkeit 1945— 1949, in: Literarisches Leben in der DDR 1945— 1960, Berlin (Ost) 1979, S. 63— 74. Dymschiz berichtet, wie Weinerts lautes Agitieren bei deutschen Zuhörern im Unterschied zu Bechers ruhiger Argumentation nicht ankam. Alexander Dymschiz, Ein unvergeßlicher Frühling, Berlin (Ost) 1970, S. 293f.

  21. Neue Deutsche Literatur, 28 (1980) 4, S. 23f.

  22. Zit nach: Weimarer Beiträge, 31 (1985) S.5, S. 730f.

  23. Ebd.

  24. Weimarer Beiträge, 31 (1985) 5, S. 740.

  25. Weimarer Beiträge, 31 (1985) 5, S. 713.

  26. Um die Erneuerung der deutschen Kultur. Dokumente 1945— 1949, Berlin (Ost) 1983, S. 68— 70.

  27. Weimarer Beiträge, 31 (1985) 5, S. 717f.

  28. Ernst Niekisch, Erinnerungen eines deutschen Revolutionärs. Band 2: Gegen den Strom, Köln 1974, S. 57 f.

  29. Aufbau, 3 (1947) 6, S. 460f.

  30. Becher, GW, Bd. 17, Publizistik III 1946— 1951, Berlin-Weimar 1979, S. 170.

  31. Zeit des Neubeginns, in: Neue Deutsche Literatur, 27 (1979) 9, S. 42f.

  32. Kritik am Auftreten von Boris Gorbatow, der auf einer Pressekonferenz gegen die „dem Volks-empfinden“ widersprechenden Verse der Anna Achmatowa und gegen den Surrealismus polemisierte, in: Literarisches Leben ... (Anm. 20), S. 148.

  33. Um die Erneuerung ... (Anm. 26), S. 201.

  34. Becher lehnte es 1945 sogar ab, an der Anthologie eines schwedischen Verlages „Deutsche Literatur im Exil" mitzuwirken, da er sich mit manchen der „Stillen im Lande" mehr verbunden fühle als mit einem Teil der Emigrierten. Ausführlich zu dem Problem: Karl-Heinz Schulmeister, Auf dem Wege zu einer neuen Kultur. Der Kulturbund in den Jahren 1945— 1949, Berlin (Ost) 1977, S. 267— 277.

  35. Neue Deutsche Literatur, 33 (1985) 5, S. 7.

  36. Neues Deutschland vom 4. 7. 1950.

  37. Aufbau. 6 (1950) 3, S. 219.

  38. Neues Deutschland vom 4. 7. 1950.

  39. Aufbau, 6 (1950) 8, S. 682f.

  40. Aufbau, 6 (1950) 8, S. 356— 358.

  41. Tjulpanow wurde nach seiner Heimkehr 1950 politisch kaltgestellt. Dazu: Jürgen Kuczynski in: Sinn und Form, 36 (1984) 5, S. 956.

  42. Dogmatische Bekenntnisse zur Richtigkeit der damaligen Kulturpolitik finden sich seit den siebziger Jahren nur noch selten. Das von der ZK-Akademie für Gesellschaftswissenschaften erarbeitete Buch von Hannemann/Zschuckelt, Schriftsteller in der Diskussion. Zur Literaturentwicklung der fünfziger Jahre, Berlin (Ost) 1979, ist ein Beispiel ideologisch motivierter Uneinsichtigkeit: „Die Schriftsteller der DDR bekannten sich auf den Schriftstellerkongressen 1950 und 1952 zu ihrem Staat und setzten sich konsequent mit allen geschichtspessimistischen und nonkonformistischen Positionen auseinander. Der künstlerischen Unabhängigkeit, der künstlerischen . Freiheit'setzten sie das Prinzip der Parteilichkeit und Volksverbundenheit entgegen." (S. 7) Die Regel sind heute verhaltene, historisch relativierende Erklärungsversuche; eine entschiedene kritische Bewältigung dieser Vergangenheit steht freilich noch aus.

  43. Literarisches Leben ... (Anm. 20), S. 157.

  44. Vgl. 100. Literarisches Leben ... (Anm. 20), S. 96—

  45. Zur Rehabilitierung des „Allgemein-Menschlichen“ in der Kunst siehe Kurt Hager, Beiträge zur Kulturpolitik, Berlin (Ost) 1982 2, S. 191. Bezugnahmen auf „das Zeitlose" in Kunst und Literatur häufen sich wie in der DDR auch in den Selbstaussagen sowjetischer Schriftsteller. So Juri Trifonow in er Kern der Wahrheit" (Sinn und Form, 37 [1985] 4): „Nicht von ungefähr schrieb Juri Olescha einst davon, ihm scheine, daß alle Schriftsteller aller Zeiten gleichsam ein einziger seien“ (S. 687) und: „Mir fällt Herzen ein: Nicht Ärzte sind wir, wir sind der Schmerz': Diese Bestimmung ist auch heute wahr, nach mehr als hundert Jahren. Die Literatur muß den Schmerz bekunden. Den Schmerz hat es immer gegeben, er begleitet das Leben, nur die Toten empfinden ihn nicht" (S. 689)

  46. Kurt Hager, Tradition und Fortschritt, in: Sinn und Form, 37 (1985) 3, S. 441 f.

  47. Kurt Hager in der Festrede: „Es kam mir ... darauf an, auf die Breite und Vielfältigkeit des literarischen und künstlerischen Erbes dieses Jahrhunderts hinzuweisen ... Vieles ist bereits in den kul-turellen Alltag eingegangen. Die Spanne reicht von den verdienstvollen Bemühungen um die Geschichte der sozialistischen Kunst von den früheren proletarischen Anfängen bis zur Gründung unserer Republik, von der Pflege des Erbes eines Arnold Schönberg bis zur jüngsten Paul-Klee-Ausstellung in Dresden, von der intensiven Beschäftigung Franz Fühmanns mit dem Lebensschicksal und der poetischen Leistung Georg Trakls bis zur Oper nach Rilke-Texten von Siegfried Matthus, die vor wenigen Wochen mit großem Erfolg in Dresden uraufgeführt wurde.“ (Kurt Hager (Anm. 46), S. 446.

Weitere Inhalte

Manfred Jäger, geb. 1934; freier Publizist, Lehrtätigkeit an der Universität Essen. Veröffentlichungen u. a.: Sozialliteraten. Funktion und Selbstverständnis der Schriftsteller in der DDR, 1973; (zus. mit E. Schütz und J. Vogt) Einführung in die deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts, 1977/80; Kultur und Politik in der DDR, 1982. Bildnachweis: Privatarchiv Bergisch Gladbach (8, 10, 16); Privatarchiv Bonn (1, 4, 13); Deutscher Bundestag (3, 5, 6, 7); Münchener Stadtmuseum (11); VG Bild-Kunst (15, 16). Textnachweis: Für die freundliche Überlassung der Nachdruckrechte an dem Text von Günter Kunert danken wir dem Carl Hanser Verlag, München.