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Kultur der Trümmerzeit. Einige Entwicklungslinien 1945— 1948 | APuZ 40-41/1985 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 40-41/1985 Kultur der Trümmerzeit. Einige Entwicklungslinien 1945— 1948 Literatur und Kulturpolitik in der Entstehungsphase der DDR (1945-1952)

Kultur der Trümmerzeit. Einige Entwicklungslinien 1945— 1948

Hermann Glaser

/ 51 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Kritisches Nachdenken über die „Geburt unserer Republik“ muß der Trümmerzeit 1945 bis 1948 große Bedeutung zumessen. Die politischen und wirtschaftlichen Handlungsmöglichkeiten waren zwar äußerst gering; das Kulturleben machte jedoch deutlich, daß nun die Stunde gekommen war, da der „deutsche Geist“ wieder in seiner Fülle und Tiefe aus der äußeren wie inneren Emigration heimkehren und das Getto eines dumpfen völkischen Provinzialismus aufgebrochen werden konnte. Der Beitrag zeigt einige Entwicklungsstränge dieser komplexen, durch die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen geprägten Phase auf: Das „panische Idyll“ charakterisierte die Bewußtseinslage derjenigen, die noch einmal davongekommen waren. „Reduziertem Leben" entsprach eine Reduktionslyrik, die aus einfachen Dingen wieder Hoffnung schöpfte. Die Sintflut war zwar — wie sich gerade gezeigt hatte — herstellbar, doch wurde der Neubeginn aus innerem Impetus heraus gewagt. Bezeichnend, daß Goethes „Iphigenie“ von vielen der wieder eröffneten Theater als Kern des ersten Nachkriegsspielplanes begriffen wurde. Im finstersten Deutschland erfolgte Rückbesinnung aufs innere Deutschland. Man setzte auf Wandlung, Sammlung, Besinnung; zugleich kapselte man sich ab, verdrängte Schuld-gefühle und flüchtete in Illusionen und Sehnsüchte. Bedeutende Persönlichkeiten des geistigen Lebens (darunter Reinhold Schneider und Karl Jaspers) forderten demgegenüber Trauerarbeit; nur wirklich erschütterte Gewissen könnten Gewissen wecken. Die Bildungspläne der Gymnasien spiegelten einen hochgemuten Idealismus, der auf eine Erneuerung im Geistigen zielte. Die Entnazifizierung war das realistische Pendant dazu. In keinem anderen Bereich jedoch haben die strukturellen und personellen Eingriffe der Alliierten eine so fundamentale Bedeutung für die spätere Entwicklung der Bundesrepublik erlangt wie bei Presse und Rundfunk. Der Gedanke der Umerziehung fand hier einen besonders fruchtbaren Boden. Neben den Lizenzzeitungen entstand vor allem eine Fülle niveauvoller Zeitschriften, die den für das demokratische Leben so wichtigen „steten Diskurs" eröffneten.

Da sagt der Sohn zum Vater: „In einem Brief an die Frankfurter Allgemeine Zeitung hat ein Leser vorgeschlagen, wir sollten den 8. Mai zum Nationalfeiertag machen." Der Vater antwortet: . Also den Tag, an dem wir von der Hitlerregierung befreit wurden. Eine vernünftige Idee.“ Der Sohn: Aber begreifst du denn nicht? Das ist der Tag der bedingungslosen Kapitulation! Vater: „Ich begreife sehr gut Es ist der Tag der bedingungslosen Kapitulation." Sohn: „Und unsere eigene Kapitulation sollten wir feiern?" Vater: „Wir können es auch bleibenlassen. Es macht mich aber nachdenklich." Sohn: „Was macht dich nachdenklich?“ Vater: „Daß du das Ende von etwas Schlechtem und den Anfang von etwas Besserem nicht feiern willst"

Frankfurter Hefte

Ein solcher Dialog über Deutschland von Richard Matthias Müller aus dem Jahre 1965 spricht ein Identitätsproblem an, das sich für das demokratisch-republikanische Selbstverständnis der Bundesrepublik als von größter Bedeutung erweist Angesichts des Generationenwechsels ist Nachdenklichkeit über den kulturellen Ursprung unseres Staates mehr denn je notwendig. Die unmittelbar Betroffenen und Akteure der Zeit vor und nach 1945 verlassen die gesellschaftliche wie politische Arena. Die heranwachsenden Generationen haben vielfach von der Vergangenheit dieses Staates nur vage Vorstellungen. Erinnerungsarbeit ist, da sie vielfach Trauerarbeit bedeutet, nicht sehr beliebt, aber existentiell notwendig, für den einzelnen wie für die Gesamtheit. „Die Forderung, daß Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung“ (Theodor W. Adorno). Doch ist auch „Stolzarbeit" angebracht. Der Staat und die Gesellschaft, die inzwischen geschaffen und in einem freiheitlichen Sinne gestaltet wurden, verdienen Wertschätzung.

MERKUR

Wenn man von den Trümmerjahren als einer Zeit „der schönen Not" spricht, so hat dies mit Zynismus nichts zu tun; gemeint ist vielmehr das für viele freilich anfangs nur unbewußt erlebte Gefühl geistig-seelischer Befreiung inmitten der Misere des Zusammenbruchs. Nun war die Stunde gekommen, da der deutsche Geist wieder in seiner Fülle und Tiefe aus der äußeren wie inneren Emigration heimkehren konnte und das Getto eines dumpfen völkischen Provinzialismus, verknüpft mit abgründigem Terrorismus, aufgebrochen wurde.

Ulenspiegel

Gerade die Kulturgeschichte der Nachkriegszeit macht deutlich, was das Ende von etwas Schlechtem und der Anfang von etwas Besserem bedeutete: nämlich die Möglichkeit, der totalitären Massenexistenz entfliehen und zu kultureller Selbstachtung zurückfinden, sich als denkendes, fühlendes, kreatives Individuum endlich verwirklichen zu können. Freilich wären der kulturelle Aufbau”, die kulturelle „Wandlung" und „Besinnung" (Schlüsselworte der Epoche) nicht möglich gewesen, wenn die westlichen Alliierten — bei aller Begrenztheit ihrer politischen wie wirtschaftlichen Konzeptionen — nicht von Anfang an die geistige Wiedergeburt Deutschlands angestrebt und entscheidend gefördert hätten.

Titelblatt 1951

Nachfolgend wird der Versuch gemacht, einige wenige Entwicklungsstränge des geistigen Geschehens zu konturieren. Das hierfür zur Verfügung stehende Quellen-und Beleg-material kann — angesichts der gebotenen Kürze — nur angedeutet werden

I. Das panische Idyll

Abbildung 1

«Das Dritte Reich bringt sich um; doch die Leiche heißt Deutschland", notiert Erich Kästner in seinem Tagebuch, Berlin, 27. Februar 1945. Entsetzliche Nachrichten seien aus Dresden gekommen; die Stadt ausradiert.

Holzhacken 1948

Dem letzten furchtbaren Höhepunkt des Bombenkrieges waren in der mit Flüchtlingen vollgestopften Stadt Zehntausende von Men-sehen, wahrscheinlich über 35 000, zum Opfer gefallen. „Wir haben die ersten Schneeglöckchen gepflückt. Und die heimkehrenden Stare flogen in lärmenden Geschwadern über unsre Köpfe. Frühling und Untergang, am Himmel wie auf Erden. Natur und Geschichte sind geteilter Meinung und streiten sich vor unseren Augen. Wie schön müßte es sein, auch einmal einen Frühling der Geschichte zu erleben. Doch er steht nicht auf unserm Kalender. Die historischen Jahreszeiten dauern Jahrhunderte und unsere Generation lebt und stirbt im November der Neuzeit.“

Kartoffelstoppler 1948

Dieser Eintrag antizipiert die Stimmung der Maitage 1945

Berlin. Bahnhof Zoo 1948

Die Waffen schwiegen. Nach dem Selbstmord Hitlers am 30. April 1945 erfolgte die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht am 7. und 8. Mai in Reims und Berlin-Karlshorst. Ein wunderschöner Mai. Die Stunde Null gab sich als panisches Idyll: Stunde des Atemholens, umstellt von Schrecknissen. (Der Gott Pan schläft in der Mittagsstunde; doch kann „Panik" jederzeit wieder ausbrechen.) Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen: Neben den Enklaven ländlicher, friedlicher Abgeschiedenheit die Zonnen verbrannter Erde. Intakte Kleinstädte, die sich vom Flüchtlingsstrom irritiert sehen; Konzentrationslager, die, nun geöffnet, den Abgrund nationalsozialistischen Verbrechens offenbaren. Großstädte als Schuttberge; die verbliebene Bevölkerung meist in Kellern hausend. Neben den Noch-einmal-Davongekommenen diejenigen, die an der Sintflut sich erfreuen. Buchenwald neben Weimar. Die Vogelscheuche neben dem saturierten Spießer. „Ein Mann kommt nach Deutschland. Er war lange weg, der Mann. Sehr lange. Vielleicht zu lange. Und er kommt ganz anders wieder, als er wegging. Äußerlich ist er ein naher Verwandter jener Gebilde, die auf den Feldern stehen, um Vögel (und abends manchmal auch die Menschen) zu erschrecken. Innerlich — auch. Er hat tausend Tage draußen in der Kälte gewartet. Und als Eintrittsgeld mußte er mit einer Kniescheibe bezahlen. Und nachdem er nun tausend Nächte draußen in der Kälte gewartet hat, kommt er endlich doch noch nach Hause. Ein Mann kommt nach Deutschland.“

Den Müttern der ganzen Welt gewidmet 1950

Wolfgang Borchert hat in seinem 1946 geschriebenen, zunächst als Hörspiel gesendeten Stück „Draußen vor der Tür“ exemplarisch die Stimmungslage eines Kriegsheimkehrers gestaltet Der Dichter gehörte selbst zu den Opfern; einen Tag vor der Uraufführung des Dramas in Hamburg starb er, schwerkrank, in Basel, wohin Freunde ihn zur Pflege gebracht hatten.

Nach der Arbeit (Heimweg) 1951

Unerhörte Menschenopfer hatte der Zweite Weltkrieg gekostet Die Bilanz der Katastrophe ergab (wobei man auf Schätzungen angewiesen ist): In Europa 19, 6 Millionen Soldaten gefallen oder vermißt, darunter 3, 7 Millionen Deutsche. 14, 7 Millionen Zivilisten getötet (von den 3 640 000 Deutschen waren 540 000 Opfer der Bombenangriffe und etwa zwei Millionen Opfer der Vertreibung). Etwa sechs Millionen Juden vieler Nationalitäten ermordet (umgekommen in den Konzentrationslagern insgesamt neun Millionen Menschen). 9, 6 Millionen nach Deutschland zwangsverschleppte Personen versuchten, in ihre Heimat zurückzukehren; zwölf Millionen Deutsche waren als Heimatvertriebene auf der Flucht, sechs sieben deutsche bis Millionen Soldaten befanden sich in Kriegsgefangenschaft. zwei Millionen deutsche Soldaten und Zivilisten waren Kriegsbeschädigte, drei Millionen Menschen obdachlos; 2, 25 Millionen Wohnungen total zerstört, 2, Millionen Wohnungen beschädigt. Die Schuttmenge, die sich als der Folge Kriegszerstörungen ergab, umfaßte etwa 400 Millionen Kubikmeter 5).

Abbildung 15

Trotz einer derart furchtbaren, für das Bewußtsein des einzelnen kaum mehr vorstellbaren „Bilanz" waren die überlebenden durch Kultureuphorie geprägt. Der Kriegsheimkehrer Hartmut von Hentig, junger Offizier, auf Anraten seines Vaters in die Armee emigriert, empfindet so wie viele seiner Generation die Stunde Null als die große Befreiung seines Lebens: „Chaos und Freiheit sind seitdem nie wieder ganz für mich zu trennen und beide nicht von einem überwältigend strahlenden Sommer, in dem man zu Fuß über Land ging wie hunderttausend andere, hinter Hecken und in Scheunen schlief, sich ein Stück Brot erbettelte und Fallobst am Wegrand auflas — und kein Mensch etwas von einem wollen konnte. 1945 — die Jahreszahl, die in den Geschichtsbüchern für Elend, letzte sinnlose Zerstörung, nationale Erniedrigung, persönliche Verge-waltigung steht oder für die Abstraktion des , Endes des Naziregimes', des tausendjährigen Reiches — markiert eines der köstlichsten Jahre meines Lebens.'“

Abbildung 16

Die große Stunde, trotz tiefster Demütigung des eigenen Landes, könne in der Rückkehr Deutschlands zur Menschlichkeit bestehen, so wandte sich Thomas Mann aus dem amerikanischen Exil am 10. Mai 1945 an seine deutschen Rundfunkhörer (in einer Sendereihe der BBC, die seit Oktober 1940 den Dichter zu Wort kommen ließ). Diese Stunde sei hart und traurig, weil Deutschland sie nicht aus eigener Kraft herbeiführen konnte. Furchtbarer, schwer zu tilgender Schaden sei dem deutschen Namen zugefügt und die Macht verspielt worden. . Aber Macht ist nicht alles, sie ist nicht einmal die Hauptsache, und nie war deutsche Würde eine bloße Sache der Macht. Deutsch war es einmal und mag es wieder werden, der Macht Achtung, Bewunderung abzugewinnen, durch den menschlichen Beitrag, den freien Geist.“

Abbildung 17

Hier sprach die Stimme eines hochgemuten Dichters und Denkers, eines ironischen Mythenbewahrers, dem die Schläge, die ihm der nationalsozialistische Ungeist zugefügt hatte, letztlich hatten anhaben können; abgepolstert durch Weltruhm, hielt er unbeirrbar an der Welt der Ideen fest, mochten diese auch immer wieder der Katharsis bedürfen. Diejenigen, deren Leben aufs Elementare reduziert war, die etwa in der Kriegsgefangenschaft dahinvegetierten, machten da eine andere Inventur.

Abbildung 18

Günter Eich war einer der ersten Dichter der Nachkriegsgeneration, der affirmativer Sprache den Stuck abschlug und mit seiner lyrischen Reduktionstechnik die „Lage" blank und schmucklos, tapfer und schutzlos beschrieb. Zwischen tradiertem Idealismus und geschichtlicher Entwürdigung tut sich eine schier unüberbrückbare Kluft auf, dem kulturellen Erbe ist der Grund entzogen: „Dies ist meine Mütze, dies ist mein Mantel, hier mein Rasierzeug im Beutel aus Leinen. Konservenbüchse:

Abbildung 19

Mein Teller, mein Becher, ich hab in das Weißblech den Namen geritzt.

Abbildung 20

Geritzt hier mit diesem kostbaren Nagel, den vor begehrlichen Augen ich berge.. ."

Abbildung 21

Die schöpferische Kraft war zwar verdorrt, aber nicht erstorben. Die Bleistiftmine wird dem im Gefangenenlager isolierten Dichter zum Instrument der Hoffnung; sie liebt er am meisten. — „Tags schreibt sie mir Verse, die nachts ich erdacht.“

Als die Welt endete, fing sie auch wieder an. Später wurde klar, daß die Stunde Null gar kein wirklicher neuer Anfang gewesen war; aber angesichts des totalen Zusammenbruchs empfand man sie so: Formel der Hoffnung, Synonym der Erwartung. Nach den Zeiten der Unterdrückung des freien Geistes setzte eine Sehnsucht nach den Kulturgütern ein, die durch die materielle Not nicht gedämpft, sondern im Gegenteil zu kompensatorischer Höchstleistung angeregt wurde. Der in den letzten Kriegsjahren kursierende zynische Satz „Laßt uns den Krieg genießen, denn der Frieden wird furchtbar sein“, bewahrheitete sich nicht. Als der Krieg zu Ende ging, als man plötzlich doch überlebt hatte, als man eben ungeheuerlich viel freier wieder seine Meinung sagen durfte, weiterexistieren konnte, erblickte man vielmehr Hoffnungslichter am Horizont: • „In diesem heillosen und heilvollen Jahr 1945 brach nicht etwa alles zusammen für die meisten jüngeren Menschen, die es durchmachten, sondern es brach vielmehr etwas auf!" (Joachim Kaiser)

Wie Phönix aus der Asche — solche Metaphern waren neben der desillusionierenden Reduktionssprache weiterhin sehr beliebt — entstand ein Kulturbewußtsein, das sich seinen Standort zwischen dem Gestern und Morgen, zwischen Überlieferung und Neuanfang, Provinzialismus und Urbanität erst suchen mußte. Es rührt die Beflissenheit, mit der man daran ging, Kultur nach einer barbarischen Zeit wieder zu etablieren — ein Nachholbedürfnis, das dann zunächst gar nicht viel Neues, wohl aber das Alte, gelöst von Ideologie, neu entdeckte. Auch hier die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen: das Nebeneinander von verwüsteter innerer wie äußerer Welt und enthusiasmiertem Glauben an die Strahlkraft der Humaniora. Sozialpsychologisch ergab sich daraus oft genug ein „Verblendungszusammenhang'': Die Rückkehr des Volkes der Richter und Henker zu dem der Dichter und Denker vollzog sich rasch und reibungslos. Affirmative Kultur fühlte sich durch die Ästhetisierung der Barbarei nicht desavouriert, sondern weiterhin in der Lage, einer zerschlagenen Nation kulturelles Selbstbewußtsein zu ermitteln. Die Melancholie, die Trauerarbeit bewirkt hätte, wurde dadurch gebannt — und das hieß auch: verdrängt Da eben Kultur, der man nun wieder dienen konnte, eine allgemein verpflichtende, unbedingt zu bejahende, ewig bessere, wertvollere Welt zum Vor-Schein brachte, eine Welt, die jedes Individuum von innen her verwirklichen konnte, war die Tatsächlichkeit des totalen Zusammenbruchs, der verlorenen Ehre, der zerschlagenen Gesittung, der korrumpierten Gesinnung von verhältnismäßig geringer Bedeutung. Im tristen Alltag der Nachkriegszeit erhielt Kultur mit ihren Aktivitäten und Gegenständen wieder ihre hoch über den Alltag emporgesteigerte Würde zurück; ihre Rezeption wurde zu einem Akt der Feierstunde und der Erhebung. Die Not des isolierten Individuums wurde mit dem Appell zur allgemeinen Menschlichkeit beantwortet, das leibliche Elend gemildert durch das Bekenntnis zur Schönheit der Seele • ’ Die Neurezeption von Goethes „Iphigenie“ war signifikant. Viele Bühnen eröffneten mit diesem Drama ihre erste Spielzeit nach dem Krieg, begriffen das Stück als Kern ihres Trümmerzeit-Spielplans: Die Toten, die Trümmer, das Elend im Nacken — man war beflügelt von einer alles versöhnenden Menschlichkeit Genau dies aber, daß jeder die Stimme der Wahrheit und Menschlichkeit höre, hatte das Dritte Reich auf eine ungeheuerliche Weise widerlegt Man wollte diesen Sachverhalt als Kulturwesen jedoch nicht zur Kenntnis nehmen. Die subjektive Ehrlichkeit, mit der man sich nun wieder, recht treuherzig, zur Humanität bekannte, darf dem Kulturleben dieser Zeit nicht abgesprochen werden. Selbst die Emigranten, zumindest in ihrer Überzahl, überwölbten den Kahlschlag, den sie antrafen, mit einem Ideenhimmel von deutscher Geist-und Gemüthaftigkeit.

Als im Dezember 1945 das von Thornton Wil-, der im Krieg geschriebene Schauspiel „Wir sind noch einmal davongekommen" bekannt wurde, empfand man es als ein seltsames, schwer zu verstehendes Stück. Das hatte seinen Grund darin, daß das ironische, zwischen Pessimismus und Optimismus schwankende Parlando, mit dem das Thema „Weltuntergang“ abgehandelt wurde, dem deutschen idealistischen Ernst nicht leicht einging. Die Grundphilosophie des Stückes, daß die Erde immer wieder von den gleichen Katastrophen heimgesucht werde, das Böse wie das Gute Elemente des Lebens seien und dessen Sinn lediglich im Lebendigsein bestünde, entsprach nicht den Vorstellungen von einer moralischen Wende. Es irritierte, daß Sabina (Lilith) den Mister Antrobus, den ewigen Adam, trotz aller Katastrophen nicht ermutigt: „Woher wissen wir, daß es nachher besser sein wird? Eines Tages wird die Erde sowieso erkalten, und bis dahin werden alle diese Dinge immer wieder geschehen: noch mehr Kriege, und noch mehr Mauern aus Eis, und Sintfluten und Erdbeben." Aufhören solle sie, meint da Antrobus; nicht räsonieren, sondern arbeiten. Gut, sagt darauf Sabina, „ich werde weitermachen, aus purer Gewohnheit, aber ich halte nichts mehr davon."

Vom Weitermachen und Neumachen hielt das kulturelle Bewußtsein der Trümmerjahre jedoch sehr viel. Die Sintflut war zwar herstellbar; nun sollte jedoch der Neubeginn — nicht aus Gewohnheit, sondern aus innerem Impetus heraus — gewagt werden.

Für den Aufbau des geistigen und politischen Lebens hatten die westlichen Alliierten vorgesorgt. So gab es zum Beispiel bei den anglo-amerikanischen Besatzungsverwaltungen eine „weiße Liste“, eine Personenkartei mit Namen von über 1 500 Deutschen, die als neue gesellschaftliche Elite eingesetzt werden sollten Beraten von meist hervorragend informierten Emigranten, die häufig selbst führende Funktionen in'der Armee innehatten, wurde der Umbruch des kulturellen Lebens in Deutschland eingeleitet Man setzte auf die Kompetenz und auf das demokratische Engagement von Einzelpersonen. Freilich blieb dieser kühne, der Kraft eines neuen republikanischen Individualismus wie Idealismus mutig vertrauende Versuch bald in der bürokratisch gehandhabten Entnazifizierung stecken. Die Hoffnung auf morali-sehen Wandel wurde allzuoft zum Aktenvorgang. Zudem glaubte man, ohne die aus dem NS-Staat überkommenen Funktionseliten nicht auskommen zu können; so legte man die Grundlage für einen Beamtenstaat, der freilich anfänglich — erfreulicherweise — allein schon wegen seiner vielen Kleinräume und dezentralisierten Wirkungskreise kulturellen Eigen-Sinn und kreative Spontaneität wenig behinderte.

Der neuen äußeren und inneren Ordnung wie der Schaffung einer den menschlichen Grundwerten verpflichteten Demokratie (zu der sich in beispielloser Heuchelei auch die stalinistische Sowjetunion bekannte) sollten vor allem jene zum Durchbruch verhelfen, die zu ihren neuen Wirkungsstätten von den Alliierten (meist im Jeep) „befördert“ und in ihrem Bemühen von diesen auch entscheidend gefördert wurden. Vorwiegend kamen dafür drei Gruppen in Frage — Persönlichkeiten, die in innerer Emigration, unter Wahrung ihrer persönlichen Integrität, gelebt und der geistigen Verführung wie Korruption durch den Nationalsozialismus widerstanden hatten; nicht einfach war dabei häufig die Trennungslinie zu denjenigen zu ziehen, die eine Art Doppelleben geführt hatten: die gewisse Zugeständnisse an den Ungeist gemacht, aber bei wesentlichen Fragen zum Nationalsozialismus auf Distanz gegangen waren. Dieser Gruppe kann man auch einen großen Kreis junger Menschen zurechnen, die, aus Krieg und Gefangenschaft nun zurückgekehrt, ihren durch Hitlerjugend und Militär eingehämmerten Fanatismus rasch ablegten und (aufgrund ihrer Jugend von den alliierten Entnazifizierungsbestimmungen kaum belangt) innerhalb der demokratischen Gesellschaft sich zu engagieren bereit waren. — Persönlichkeiten, die im Dritten Reich verfolgt gewesen und meist erst durch die Alliierten aus den Gefängnissen und Konzentrationslagern befreit worden waren. — Schließlich Persönlichkeiten, die aus der Emigration zurückkehrten; sie waren geprägt einerseits von den bitteren Erfahrungen der Ausweisung, der Flucht und des Exils, andererseits voller Sehnsucht nach einem neuen Deutschland, in das sie ihre idealtypischen Vorstellungen von Demokratie hineinprojizierten.

II. Vom finstersten und innersten Deutschland

Abbildung 2

Als Neutraler, um eine unvoreingenommene Bestandsaufnahme bemüht, reiste der Architekt und Schriftsteller Max Frisch durch das von den Schrecken des eben zu Ende gegangenen Krieges geschlagene Europa Im Mai er nach 1946 kommt über München Frankfurt. Im Anblick des zerstörten Goethehauses stellt er fest: „Es ist alles, wie man es von Bildern kennt; aber es ist, und manchmal ist man erstaunt, daß es ein weiteres Erwachen nicht gibt; es bleibt dabei: das Gras, das in den Häusern wächst, der Löwenzahn in den Kirchen, und plötzlich kann man sich vorstellen, wie es weiterwächst, wie sich ein Urwald über unsere Städte zieht, langsam, unaufhaltsam, ein menschenloses Gedeihen, ein Schweigen aus Disteln und Moos, eine geschichtslose Erde, dazu das Zwitschern der Vögel, Frühling, Sommer und Herbst, Atem der Jahre, die niemand mehr zählt.“

Reisen im finstersten Deutschland: sie führen von zerstörter Stadt zu zerstörter Stadt. Dazwischen aber, unterwegs, „schönes deutsches Land" im Glanz des panischen Idylls:

Nichts als ein Wogen von fruchtbarer Weite, Hügel und weiße Wolken darüber, Kirchen, Bäume, Dörfer, die Umrisse nahender Gebirge; dann und wann ein Flugplatz; ein Glitzern von silbernen Bombern, die in langen Reihen stehen, einmal ein zerschossener Tank, der schräg im Graben liegt und mit seiner Kanone in den Himmel zeigt, einmal ein verbogener Propeller in der Wiese —

Solche Topographie großstädtischer Trümmertristesse und heiteren ländlichen Abseits lokalisierte vielerlei Widersprüchlichkeiten. Die Last des ideologischen Schutts hatte geistige Regsamkeit nicht erdrückt; das neue Leben, das inmitten der Ruinen blühte, war durch kulturelle-Hoffnung bestimmt Man setzte auf Wandlung, Sammlung, Besinnung; zugleich kapselte man sich ab, verdrängte Schuldgefühle und flüchtete in Illusionen und Sehnsüchte. Trotz Trümmer, Elend und Hunger belebte das Gefühl, nun befreit zu sein, das geistige Deutschland auf immense Weise. Soviel Anfang war nie! Die Stunde Null ging in die Stunde Eins über. Im Kahlschlag wurde wieder aufgeforstet. Er habe, notiert Max Frisch im Nachtrag zu seiner Deutschlandreise, oft die Empfindung, daß die einzige Zukunft, die möglich sei, bei den Verzweifelten läge. Wie weit würde der Selbstekel, den anzuhören ebenso erschütternd wie peinlich sei, fruchtbar werden? Sich als ein Vorbote wirklicher Erkenntnis, den die Verzweifelten an sich schon hätten, erweisen? Frisch konstatierte aber auch, daß das Elend jede Veränderung mehr und mehr verhindere. Die eigene tödliche Not verenge das Bewußtsein auf einen Punkt.

Die geistige Lage im gegenwärtigen Deutschland, meinte der Pädagoge Herman Nohl, sei vor allem bei den jungen Menschen dadurch bestimmt, daß sie ein ganz sicheres Gefühl für „einfache Sittlichkeit" zeigten. Die elementare Tugend der Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit und Treue gehe einher mit der tiefen Verehrung des Geistigen und der Schönheit sowie einer dogmenlosen Frömmigkeit, die das Ewige suche Im finstersten Deutschland kreuzte sich die Vertikale gefühlvoller Nachdenklichkeit mit der Horizontalen eines auf-brechenden Lebenswillens. War die Wandlung wirkliche Verwandlung, oder Autosuggestion? Konnte Deutschland aus der Asche (aus sehr viel Asche!) als ein geistiges Deutschland neu erstehen? Man war lange genug Kämpfer gewesen, nun wollte man Beter sein. Enttäuscht von einer Welt, an deren Verderben man allzu willig mitgewirkt hatte, erhoffte man sich Seligkeit (Aufhebung der moralischen Skrupel) durch Rückzug in die Enklaven der Innerlichkeit Solcher Eskapismus ist gerade auch bei jenen vorhanden, die — und dann viel überzeugender — aus einem Schuldgefühl heraus im finstersten Deutschland aufs innere Licht hin transzendierten. Inmitten abendländischer Dunkelheit, nach dem Scheitern des „experimentum medietatis" (des Versuchs, sich an die Stelle Gottes in den Mittelpunkt der Welt zu rücken), machte man sich auf zur „Morgenlandfahrt". Der ungeheuer große Erfolg von Hermann Hesses „Glasperlenspiel", das im Dezember 1946 dem deutschen Publikum durch den von Peter Suhrkamp geleiteten ehemaligen (von den Nationalsozialisten konfiszierten) S. Fischer-Verlag zugänglich gemacht wurde, ist in einer solchen Befindlichkeit zu sehen

Zudem stilisierte man das Dritte Reich, das Ernst Niekisch — ein überlebender Vertreter des nationalbolschewistischen Widerstandes — mit Recht „ein Reich der niederen Dämonen" genannt hatte, in eine „höhere Dämonie" hinauf; so erhielt das Weltgeschehen eine apokalyptische Dimension. „Hitler in uns" (Titel einer 1945 erschienenen philosophischen Abrechnung mit dem Nationalsozialismus von dem Schweizer. Max Picard) erschien um so „bewältigbarer", je weniger er von der Banalität des Bösen geprägt war.

Nach Altersweisheit ging das Streben der jungen Menschen, wobei die durch Hunger und Krankheit ausgemergelten Gesichter eine ätherische Seelenhaftigkeit bekundeten — freilich im Widerspruch zur Schlauheit stehend, mit der man sich in der Not einrichtete. , ^Auf dem Rest einer Bank neben dem Rest eines Rummels sitzt der Rest einer Generation, raucht den Rest eines Stummels und den Rest unseres Gefühls, den beresten wir zu zweit!

Ohne Hoffnung auf den Rest unsrer Zeit.“

So lautete die letzte Strophe des Lieds „Das deutsche Liebespaar" aus der „Revue der Stunde Null“ „Schwarzer Jahrmarkt", die Günter Neumann 1945 in Berlin herausbrachte Das war jedoch kabarettistische Übertreibung: die „Restgeneration" hatte sich nämlich längst im überbau einer neuen Sinnhaftigkeit eingerichtet. Im finstersten Deutschland gab es genug trostreiche Örtlichkeiten, da man, wie in Hesses „Kastalien", von der alten, düsteren, bösen, verlogenen Zeit Abschied nehmen und im heiteren Durchschreiten geistiger Räume gesunden konnte.

Die kleinen Universitätsstädte wie etwa Tübingen, Erlangen, Göttingen, Marburg oder Heidelberg waren real-topographische Pendants dazu: Örtlichkeiten fürs geistig-seelische, aber auch physische . Atemholen", über Tübingen schrieb im April 1946 Thaddäus Troll (er war 1938 eingezogen und 1945 aus kurzer englischer Kriegsgefangenschaft entlassen worden) eine Reportage, welche diese Ambivalenz studentischen Rückzugs einfing: „Die Franzosen hatten den Süden Württembergs besetzt und sahen milde auf die Stechspuren als Nachlaß gewisser Abzeichen auf dem Rockaufschlag. Sie hingen den Brotkorb höher als die Amerikaner, waren aber in der Entnazifizierung großzügiger. Es roch in den Straßen von Tübingen nach schlechtem Tabak, nach Chanel Nr. 5 und nach marken-freiem Weißkohl. Die Studenten waren dankbar, daß sie dem Krieg und dem politischen Terrorismus entronnen waren, sie waren fleißig und sahen eher wie pünktliche Buchhalter aus, die sich das Wohlwollen des Chefs verdienen wollten... Über ihnen hing das Damoklesschwert der Vermögensabwertung. Ich nannte sie damals in meiner Reportage . Skeptiker, die zu den Krücken des Glaubens greifen, um sich in den Trümmern unserer geistigen Welt bewegen zu können'."

III. Schuld und Sühne

Der Ruf der jungen Generation

Zu den ersten Büchern, die nach Kriegsende publiziert wurden, gehörte die Schrift „Das Unzerstörbare" von Reinhold Schneider. Die Jugend, hieß es da, betrete nun ein Trümmerfeld, auf dem sie ihr Leben bauen solle. Schmerz und Scham müßten sie bewegen, vielleicht auch der Groll auf die Väter, die ihr die verwüstete Welt vererbt, sie ihr bereitet hätten. Man könne aus der Geschichte nicht aussteigen; die Schuld müsse übernommen, die Sühne geleistet werden. Ein wirklich erschüttertes Gewissen wecke Gewissen auf. „Das redliche Geständnis der Schuld und der Mitschuld, der feste Wille zu sühnen, zu reinigen bleiben gewiß nicht allein, solange noch Menschen guten Willens auf Erden sind... Nur wer sich bekehrt, hilft mit zur Bekehrung der Welt. Vom Gewandelten gehen wandelnde Kräfte aus. Und daß die Welt, über die ein Gericht ohne Beispiel gekommen ist, sich wandeln muß, und zwar aus dem Innersten, steht wohl nicht mehr in Frage."

Ob aus religiösem oder allgemein humanitärem Engagement heraus viele hervorragenden der Dichter, Denker und Publizisten drängten sofort nach Kriegsende auf eine tief-greifende Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Konnte man dabei von einer sprechen? deutschen Hatten die Nationalsozialisten den deutschen Geist „nur" verführt? Hatten sie mit der Fassade bürgerlicher Wohlanständigkeit ihre ruchlosen Ziele kaschiert, oder hatte es sich um eine Komplizenschaft von Verbrechern und Bürgertum gehandelt? War der Nationalsozialismus im deutschen Wesen und in deutscher Kultur angelegt oder lediglich ein Betriebsunfall deutscher Geschichte?

Als einer der ersten forderte Karl Jaspers, im Dritten Reich verfemt (1937 aus seinem Lehramt entlassen), nun wieder als Professor für Philosophie in Heidelberg wirkend, einen radikalen, bis zu den Wurzeln des Selbstverständnisses reichenden Wandel des deutschen Bewußtseins Die Umerziehung müsse dabei folgendes beachten:

1. Rückhaltlose Auffassung der Tatsachen der letzten zwölf Jahre und unserer gegenwärtigen Lage. Es sei eine harte Aufgabe, der Wahrheit ins Angesicht zu blicken; wir müßten aber die Zusammenhänge der nationalsozialisten Taten erkennen und daß diese durch die geistige Bereitschaft in allen Kreisen der Bevölkerung möglich geworden seien.

2. Wir müßten lernen, miteinander zu reden. Das dogmatische Behaupten, das Anbrüllen, das trotzige Empörtsein, die Ehre, die bei jeder Gelegenheit gekränkt die Unterhaltung abbricht — all das dürfe es nicht mehr geben.

3. In geschichtlicher Selbstbesinnung sei es ein Gebot der Stunde, sich den Grund des Jahrtausends, aus dem wir lebten, zu vergegenwärtigen. Das neue geschichtliche Bild könne nur aus gründlicher Forschung erwachsen. Hitler-Deutschland sei nicht das wahre Deutschland gewesen; aber Deutschland habe dieses Regime hervorgebracht und es geduldet, zu großen Teilen aktiv, oder durch Furcht erzwungen, mitgemacht. Bereits vor dem totalen Zusammenbruch hatte Alfred Weber ein Buch geschrieben, das dann 1946 herauskam und mit seiner Fragestellung tief erregte: . Abschied von der bisherigen Geschichte" Er wollte freilich nichtnur apokalyptische Abendland-Untergangs-stimmung beschwören, sondern vor allem auch, metaphernreich, Wege zur Überwindung des Nihilismus aufweisen. Nie wäre es, so sein Gedankengang, zu diesem Nullpunkt gekommen, hätte nicht seit 1880 jene Absage an den Geist des Abendlandes beherrschenden Einfluß gewonnen, die der späte Popular-Nietzsche verkörperte, jenes in Wahrheit Antigeistige, das sich neben der vornehmen Libertinage des Geistigen und jener brutalen Libertinage der Macht in den immer höhere Wellen schlagenden Naturalismen, in Imperialismen und Nationalismen austobte. Der mit Blut und Gemeinheit in die Geschichte eingegangene Rassegedanke mit seinem Vererbungseinmaleins sei das demagogisch breit-gewalzte, ödeste und flachste Massiv, die vom Abendland nach allen Absagen an Tiefe erstiegene Höhe, auf der in Wahrheit nur noch Fratzen tanzten, wo ehemals freilich undurchsichtiges, aber unberechenbar reiches geistiges Wachstum war — ein Kehraus, weiter nichts. Da in Deutschland der unbeugsame Wille zum eigenen Urteil und die Festigkeit auch gegenüber eigenen Nachteilen danach zu handeln, fehlte, versiegten die Freiheitsregungen, und es entstand der Untertan, das lammfromme Ordnungstier von heute. Die bisherigen Erzieher und die bisherige Lebens-auslese hätten weitgehend versagt.

Indem man, so Friedrich Meinecke in seinen Betrachtungen und Erinnerungen „Die deutsche Katastrophe“ (1946), die bisherige deutsche Geschichte Grau in Grau male, ihre Irrwege, Holzwege, Sackgassen aufzeige, ergebe sich die Möglichkeit, ein „neues, zwar gebeugtes, aber seelisch reineres Dasein zu beginnen und den Entschluß zu stärken, für die Rettung des uns verbliebenen Restes deutscher Volks-und Kultursubstanz, den uns verbliebenen Rest der eigenen Kraft einzusetzen"

Was die Alliierten „von oben“ mit Hilfe rigider Maßnahmen, vor allem mit Hilfe des die Entnazifizierung bestimmenden „Fragebogens“ versuchten, nämlich die Umerziehung (Reeducation) der Deutschen, war im besonderen Maße auch inneres Anliegen der deutschen Pädagogik und Publizistik. Zwar war die Zahl der Lehrkräfte, die das Dritte Reich „unbelastet“ (in Distanz zum Nationalsozialismus) durchstanden hatten, gering; sie, die nun ein besonders starkes demokratisches Engagement zeigten, kamen aber bald in führende Stellungen, etwa als Leiter von Schulen oder als Spitzenbeamte bei kommunalen Schulbehörden und bei Kultusministerien. Mit einer Mischung aus idealistischem Pathos, das die Abgründe des Nationalsozialismus zu überwölben trachtete, und burschikoser Pädagogik, deren Tugendsystem nach konservativem Muster ausgestanzt blieb, ging man an die „Reinigung vom nationalsozialistischen Un-geist“. Hingen die allgemeinen öffentlichen Einrichtungen und das private Dasein in gefahrvoller Schwebe, steckten sie in jämmerlicher Verelendung, dann suchten die Menschen Halt im Überlieferten — „wonach denn sonst könnten sie greifen?“ meinte Gerhard Storz (ein „Mann der ersten Stunde“, dann von 1958 bis 1964 Kultusminister von Baden-Württemberg

Jenseits der schulischen Pragmatik und der politischen Auseinandersetzung um die Strukturen des Schulwesens — Demokratisierung durch Amerikanisierung in der US-Besatzungszone, weitgehende Zurückhaltung und frühzeitige Einschaltung deutscher Behörden in der englischen und französischen Zone — vollzog sich im Bildungsbereich eine in hochgemutem Sprachmuster gehaltene Wertediskussion Der weit über den Kreis der Pädagogen hinaus beachteten Zeitschrift „Die Sammlung“ gab Herman Nohl im Oktober 1945 als Leitspruch mit auf den Weg: „Unser Kompaß ist die einfache Sittlichkeit, ein standhafter Glaube an die Ewigkeit der geistigen Welt.“ Adolf Grimme, sozialdemokratisch-preußischer Erziehungsminister der Weimarer Zeit, legte den Hamburger Lehrern den „Sinn der Erziehung“ von der idealistischen Geist-Materie-Polarität her dar, ohne auf die gesellschaftspolitische Strukturproblematik von Schulen einzugehen (deren Aspekte ihm jedoch, der aus dem Kreis der entschiedenen Schulreformer kam und 1946/47 niedersächsischer Kultusminister war, keineswegs fremd waren). „Es gab aber für ihn wie für viele andere eine klare Priori-tat; die innere hatte den Vorrang vor der äußeren Schulreform.“

Die Bildungspläne, die nach dem Zusammenbruch für die höhere Schule entwickelt wurden (zum Beispiel der „Nordwestdeutsche Plan", der „Marienauer Plan", der „Fendt-Plan"), sind im wesentlichen Ausdruck eines idealistischen Höhenflugs, der die Realitäten wie Realien von Erziehung weitgehend aus den Augen verliert Gemeinsam ist fast allen Reformplänen, daß sie drei Grundwerte an die Spitze stellen: Humanismus, Christentum, Demokratie. Diese werden allerdings mehr interpretiert als ergänzt durch die anderen erkenntnisleitenden Begriffe: Antike, Kultur, Abendland; Religiosität, Sittlichkeit, ewige Werte; Freiheit, soziales Denken, Selbständigkeit Wissenschaftlich-mathematisches Denken und Berufstüchtigkeit werden nur zurückhaltend hinzugefügt oder eingeordnet Gemeinsam ist den Plänen aber auch, daß das Gymnasium wieder eine Schule der Hochleistung werden solle; man verlangte strenge Auslese in Hinblick auf Studierfähigkeit und Hochschulreife. Ein leichter Weg zur wissenschaftlichen Berufung wurde als soziales Verbrechen und als politischer Sabotageakt gegen die demokratische Gesellschaftsform empfunden.

„Tiefgreifendes Werte-Bewußtsein“ auch beim Aufbau der Universitäten. Am 6. November 1945 wurde als eine der ersten die Hamburger Universität wieder der Jugend übergeben. Senator Landahl rief in seiner Rede dazu auf, „zum Besten des schwer geprüften Volkes“, „zum Ruhme der ewig jungen Hansestadt Hamburg" den deutschen Anteil an der abendländischen Kultur „zur Ehre des unsterblichen deutschen Geistes" wieder mehr zur Geltung zu bringen:

Jn dieser Stunde der feierlichen Wiedereröffnung der Universität Hamburg, die nicht mehr und nicht weniger als eine Wiedergeburt aus neuem Geiste sein mußte und sein wird, gilt unser erster Gedanke den Studenten aller Universitäten und Hochschulen der alten und der neuen Welt, die in dem sechsjährigen Völkerringen auf den Schlachtfeldern und Meeren der ganzen Erde kämpfend den Tod gefunden haben, fhr Leben war noch im ersten Anstieg, überstrahlt vom Glanze des Idealismus, derjeden echten Jüngling beseelt Früh hat sich ihr Leben vollendet, Träuen der Mütter, der jungen Frauen, der Bräute sind um sie geflossen, und werden noch lange um sie fließen... Wir Deutsche wollen der bitteren Wahrheit mutig ins Auge sehen und uns keinen billigen Selbsttäuschungen hingeben. Nur so werden wir Haltung und Würde angesichts des Zusammenbruches finden und bewahren. In zwei gewaltigen Kriegen militärisch besiegt durch die Schuld einer dilettantischen und verantwortungslosen politischen Führung, stehen wir heute nicht nur inmitten der Trümmer unserer Städte, sondern auch unseres Reiches — und unseres Geistes."

Die Universität begriff sich, ungeachtet ihrer tiefen Verstrickungen in den Nationalsozialismus, als „abgehobener Ort". Man kultivierte einen trutzigen Dennoch-Ton: Der deutsche Geist sei zwar mißbraucht und entehrt worden; er habe aber überlebt. Der Kahlschlag sei sehr groß gewesen; dennoch würden die Universitäten als Pflanzstätten des Geistes kulturelle Aufforstung wieder ermöglichen. Die Kriegsheimkehrer, die nun vorwiegend die Universitäten bevölkerten, zogen sich gerne aus den Weiten der eroberten Länder in die Gefilde geistiger Provinz zurück. Sie hatten die Nase voll von der großen Zeit, deren Pathos jedoch, ins Demokratische gewendet, ihnen weiterhin willkommen war; nicht zuletzt half es darüber hinweg, daß die Wirklichkeit der „neuen Universitäten" anders aussah, als es die Metaphern der Festredner suggerierten. (Es war schwer, einen Studienplatz zu finden; es gab kaum Bücher; nur wenige Professoren standen zur Verfügung; Unterkunft und Ernährung waren kläglich.)

Im kollektiven Unterbewußtsein der studentischen Jugend, die sich äußerlich ganz angepaßt gab, wogten freilich die Turbulenzen, die der Zusammenbruch des Dritten Reiches bewirkt hatte, weiter. Der überdruck fand jedoch selten ein Ventil. Als in Marburg im September 1946 die erste große internationale Begegnung auf deutschem Boden seit Beendigung des Zweiten Weltkrieges stattfand (im Rahmen eines Ferienkurses, zu dem 20 Hochschullehrer von amerikanischen, britischen, französischen und schweizerischen Universitäten gekommen waren), notierte ein Beobachter der Diskussion zum Psychogramm der deutschen Studenten: „Die Hilflosigkeit, mit der die Mehrzahl ihre Ansicht in Worte zu bringen versucht, die Sprunghaftigkeit, mit der man von Thema zu Thema jagt, die Heftigkeit, ja manchmal unkontrollierte Leidenschaft, die aufflammt, sobald sich eine uner-wartete Antwort meldet, der häufige Gebrauch von Schlagworten, der Drang zur Bevormundung des anderen, die erschreckende Unkenntnis, diese übersteigerte, gerade nervöse, nationale Empfindlichkeit Das alles fällt auf. Ihr Denken ist nicht beweglich, auch nicht konsequent Es ist überstürzt, innerlich gehetzt oder starr. Das Gefühl der fertigen Meinung, das einem allenthalben begegnet, ist wohl eine Folge der unbedenklich gehandhabten Handlungsfreiheit im Kriege."

Der Schweizer Theologe Karl Barth, ein entschiedener Verfechter der Bekennenden Kirche im Dritten Reich (von den Nationalsozialisten von seinem deutschen Lehrstuhl vertrieben), verfaßte Ende 1947 eine umfangreiche Analyse zur Situation des deutschen Studenten. Wer morgen die Universität verlasse und in die Verantwortlichkeiten einer führenden Stellung im deutschen Leben übergehe, werde sich inmitten eines materiell verarmten und geistig verwirrten Volkes befinden — selber in den allermeisten Fällen ein Verarmter. Aber er dürfe an der geistigen Verwirrung seines Volkes möglichst wenig Anteil haben, müsse ihr möglichst überlegen gegenüberstehen. Von ihm werde, indem er äußerlich mitleide, was in Deutschland äußerlich noch für Jahre und Jahrzehnte zu leiden sein werde, verlangt sein, daß er zu unterscheiden und zu beurteilen wisse, was geistig, moralisch, gesellschaftlich, politisch gesunde und kranke Gedanken und Tendenzen seien: „Er wird von einer nüchternen, ebenso positiven wie kritischen, von bestimmten alten Mythen befreiten und hoffentlich von neuen Mythen tunlichst unbelasteten Anschauung der deutschen Geschichte aus denken müssen, um der deutschen Gegenwart, die auf alle Fälle im Zeichen eines Neuanfangs sondergleichen stehen wird, gerecht zu werden. Er wird es nötig haben, von den großen Traditionen dieser Geschichte in einer Anteilnahme, Tiefe und Freudigkeit zu leben, wie es die früheren, vermeintlich glücklicheren Generationen noch gar nicht gekannt, geschweige denn getan haben. Er wird es aber nötig haben, von bestimmten kleinen und abwegs führenden Traditionen, in denen besonders die letzten deutschen Generationen gelebt haben, mit ruhiger Überzeugung und eiserner Konsequenz Abstand zu halten.“

Als Karl Jaspers im Frühjahr 1947 bei einer Konferenz der Universitätsrektoren der US-Zone in Anwesenheit britischer Gäste die Verantwortlichkeit der Universitäten beschrieb, bewegte er sich weitgehend im Bereich von Fiktionen. Er beschrieb idealtypisch, was die deutsche Universität in der Nachkriegszeit weder einlösen konnte noch wollte. Den Geist der Universität, ihre Idee, aus den Funken in der Asche wieder zur Flamme zu bringen, darin bestehe die Aufgabe; sie könne nur gelingen durch die Gemeinschaftsarbeit forschend produktiver geistiger Menschen, die in ihrer Gesamtheit ein geistiges Fluidum ausstrahlten. Diese Wiederherstellung sei untrennbar von einer Revolution der Denkungsart, die aus der Katastrophe entspringe: „ Wirkönnen nicht leben, als ob nichts geschehen sei, ... als ob wir bloß wiederherstellten, was war. In einer neuen Welt haben wir uns selbst zu finden und dadurch unseren bescheidenen Beitrag zu leisten auf dem Weg zur Weltordnung. Es steht noch nicht fest, was wir sind und was wir sein werden. Es bleibt im Sittlichen und Geistigen entscheidend Sache unserer Freiheit Die Universität soll die geistige Springfeder der kommenden Demokratie, als Ethos von Lebensart sein, nicht durch politische Aktivität, sondern durch Vorbereitung. Entweder wird sie sich selbst und die Jugend erziehen in der vollen Freiheit der in radikaler Diskussion hervorgehenden Wahrheit, -und dann wird bis zum Ton der Sprache hin die Wahrheit ihr Wesen zeigen, die Menschen miteinander zu verbinden. Oder die Universität verschwindet in der Nivellierung einer bloßen Schule mit nur endlichen Zwecken des Nutzens, ohne Kraft der Menschenformung. “

Genau das letztere aber fand statt. Weder legitimierte sich die Universität als „Volksuniversität", wie Karl Jaspers es forderte (Auslese der Besten aus der Bevölkerung), noch gelang es ihr, aus dem Geist sozialer und politischer Verantwortung zu wirken. Sie verschwand in der Nivellierung einer bloßen Schule mit nur endlichen Zwecken des Nutzens, ohne Kraft der Menschenformung.

Hätte man im Sinne von Karl Jaspers, der sich kurz darauf, wenn auch mit vorwiegend privater Begründung, aus dem deutschen Universitätsleben in die Schweiz zurückzog, die Verantwortlichkeit der Universitäten ernst genommen, so hätte der Materialismus der fünfziger Jahre wohl nicht in diesem Maße grassieren und den geistigen Aufbruch der Trümmerzeit paralysieren können; so wäre auch der spätere Aufstand gegen die Universitäten (mit dem tausendjährigen Muff unter den Talaren) nicht nötig gewesen.

Den eindrucksvollsten Geschichtsunterricht zu dieser Zeit gab — zwischen Einfühlung und Verurteilung, Anklage und Rechtfertigung, Schuld und Exkulpierung balancierend — Carl Zuckmayer mit seinem Drama „Des Teufels General“, das nach seiner europäischen Uraufführung in Zürich’im Dezember 1946 nach kurzer Verzögerung (denn die Alliierten gaben das Stück nicht sofort frei) seinen Siegeszug über fast alle deutschen Bühnen und Notbühnen antrat. Der Dichter, der aus seinem amerikanischen Exil 1945 als Zivilbeauftragter der amerikanischen Regierung für Kulturfragen nach Deutschland zurückgekommen war, wollte mit diesem Stück am Beispiel des sympathischen Fliegergenerals Harras aufzeigen, wie ein Spezialist, einer, der einen Narren an der Fliegerei gefressen hat, den Nationalsozialisten verfällt, obwohl er die Partei eigentlich ablehnt. Dem Stoff zugrunde lag das Schicksal von Ernst Udet, Generalluftzeugmeister der deutschen Armee, der 1941 beim Ausprobieren einer neuen Waffe — wahrscheinlich durch nationalsozialistische Machenschaften — tödlich verunglückt war.

Neben dem großen Zeitstück stand der große Zeitroman. 1947 erschien Thomas Manns „Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von einem Freunde". Das Interesse an diesem Buch war deshalb so groß, weil in diesem Werk eine metaphysische Deutung des Phänomens des Nationalsozialismus vorgenommen wurde — was indirekt diejenigen, die Hitler verfallen gewesen waren, als eine gewisse Aufwertung empfinden konnten: Die in der Gestalt Leverkühns gezeigte Gefährdung des Künstlers symbolisiert die Gefährdung der deutschen Seele, ihre Vergewaltigung und endgültige Vernichtung durch den Nationalsozialismus. Der Roman — ein Buch des Endes, vom Ende her angelegt — wollte das „Gefühl des Endes in jedem Sinne" beschwören: Ende des bürgerlichen Künstlers, Ende des Bürgertums, Ende der bisherigen Kunst, Ende der bisherigen Philosophie, Ende des traditionellen Humanismus, Ende des Vernunfts-und Wissenschaftsbegriffs, Ende des liberalen Staates, Ende der kapitalistischen Gesellschaft Das bisherige Deutschland sei zugrunde gegangen; die bisherigen Vertreter des kulturellen Lebens hätten ihre Höllenfahrt angetreten Wie gehe die Entwicklung in Deutschland weiter, fragte Adolf Guggenbühl, der Schweizer Publizist, als er bei einer Deutschlandreise 1948 auch ein Resümee zweieinhalbjähriger „Vergangenheitsbewältigung" zog. „Es gibt zwei Möglichkeiten: Die eine, auf die wir hoffen, liegt darin, daß das Schuldgefühl plötzlich mit elementarer Wucht durchbricht. Dann ist die Bahn frei für den Aufbau. Dann bedeutet der Zusammenbruch nicht mehr sinnlose Tücke eines blindwütigen Schicksals. Dann wird er sinnvoll, eine Buße, die man mit Würde aufnehmen kann. Dann entsteht aus Blut und Tränen ein neues Deutschland, fähig zu großen Leistungen ... Wird aber der deutsche Wandel nicht oder nur teilweise Wirklichkeit, dann ist mit Sicherheit etwas anderes zu erwarten, nämlich das Auftauchen falscher Propheten als Träger von Ersatz-Erlösungsreligionen."

Ganz im tiefsten Grunde wüßten die Deutschen um ihre Schuld. Weil sie sie aber nicht anerkennten, werde ihnen der Weg zur Sühne und dadurch zur seelischen Befreiung versperrt Infolgedessen schaffe das unbewußte Schuldgefühl eine Straferwartung. Die Deutschen würden aus diesem Schuldgefühl heraus von bösen Träumen verfolgt, von Untergangsphantasien, die sie nachher rationalisierten, für die sie nachher in der Wirklichkeit Beweise suchten. Vielleicht aber, meinte , Guggenbühl, habe die Umkehr schon begonnen. Unbeachtet, vielleicht verachtet, seien die Träger der neuen Gesinnung eventuell schon da.

Sie waren in der Tat präsent und durchaus fähig, sich bemerkbar zu machen. Es handelte sich vor allem um diejenigen, die durch die nationalsozialistische Verfolgung in ihrem Wesen geprägt worden waren. Viele von ihnen waren erst von den Alliierten aus den Konzentrationslagern und Gefängnissen befreit worden; sie waren zu demokratischem und humanitärem Engagement bereit, entschlossen, in den neugegründeten politischen Parteien die Ausrottung des Faschismus zu einem der wichtigsten Programmpunkte zu machen. Der demokratische Grundkonsens von 1945 beruhte auf diesem leidenschaftlichen und kompromißlosen Bekenntnis zu einer republikanischen, freiheitlichen Staatsform. Überein-stimmung bestand auch darin, daß mit den politischen und ideologischen auch die sozialen und wirtschaftlichen Grundlagen des Nationalsozialismus ein für allemal zerstört werden müßten. Die „Eliten“ des Dritten Reiches waren aus ihren Machtpositionen in Staat und Wirtschaft zu entfernen, die gesellschaftlichen Strukturen so grundlegend zu verändern, daß sie nicht erneut faschistische Tendenzen hervorbringen würden.

In diesem Sinne waren auch die Kirchen um eine Erneuerung bemüht, wobei die Schulderklärung der evangelischen Kirche vom Oktober 1945 in Stuttgart am deutlichsten und dementsprechend auch innerhalb der Kirche am leidenschaftlichsten umstritten war. „Mit großem Schmerz sagen wir: Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden. Was wir unseren Gemeinden oft bezeugt hatten, das sprechen wir jetzt im Namen der ganzen Kirche aus: Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregime seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat; aber wir klagen uns an, daß wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“

Der Auseinandersetzung mit „Schuld und Sühne" waren die ersten künstlerischen Erfolge des Nachkriegsfilms zu danken. Während einige Zeit noch die Leinwand von den Produkten einer illusionistischen Ablenkungsstrategie, mit der die nationalsozialistische Propaganda bis in die letzten Kriegstage hinein gearbeitet hatte, besetzt war, gab es bald bemerkenswerte Versuche, die Bilanz der vergangenen zwölf Jahre zu ziehen — darunter 1947 Helmut Käutners „In jenen Tagen", Harald Brauns „Zwischen gestern und morgen", Kurt Maetzigs „Ehe im Schatten“ oder 1948 Erich Engels . Affäre Blum" und Eu-gen Jorks „Morituri“. Mit „Die Mörder sind unter uns“ (1946), produziert von der in OstBerlin lizenzierten Defa, dem ersten Spielfilm nach dem Zusammenbruch, begann Wolfgang Staudte seine Laufbahn als großer Moralist des Nachkriegskinos: In Polen ist der Arzt Dr. Mertens (Ernst Wilhelm Borchert) Zeuge geworden, wie ein Offizier unschuldige Geiseln hat erschießen lassen. In der Heimat trifft er ihn wieder, nun in der Gestalt eines ehrbaren, im Wohlstand lebenden Fabrikanten, den keine Gewissensbisse plagen. Mertens lernt eine ehemalige KZ-Insassin (Hildegard Knef) kennen, durch deren Liebe er von seinem Schuldkomplex befreit wird; sie hält ihn auch zurück, als er Brückner erschießen will (in der Originalfassung des Drehbuches erschießt Mertens den Fabrikanten tatsächlich; der Schluß wurde auf Einspruch des sowjetischen Kulturoffiziers geändert, da Selbstjustiz nicht propagiert werden sollte).

Staudtes Film zeigte die Verstrickung des Menschen im totalitären Machtapparat, den Mechanismus von Befehl und Erfüllung; er verdeutlichte damit auch die Kollektivschuld; denn ohne die vielen einzelnen, selbst wenn sie innerlich dem Bösen widerstrebten, hätte das System nicht funktionieren können. Er zeigte die tiefen traumatischen Folgen solchen Ausgeliefertseins, eröffnete jedoch den Weg zur Katharsis; gerade die Liebe einer Verfolgten und ihre verstehende Menschlichkeit läßt die Wunden heilen.

Staudte, der dann mit dem Meisterwerk „Der Untertan" (1951) der Genese des Nationalsozialismus nachspürte, „wollte begreifen und durch seine Filme begreifbar machen, wie das Ungeheuerliche überhaupt möglich war. Diese Absicht schloß von vorneherein jene Art von Filmen aus, die eine bloße alibihafte Bewältigung der deutschen Kollektivschuld anstrebten — und dann , die Sache'auf sich beruhen lassen wollten.“

IV. Die wechselseitige Durchdringung der Meinungen

Abbildung 4

In keinem anderen Bereich, so Norbert Frei, hätten die strukturellen und personellen Eingriffe der Alliierten eine so fundamentale Bedeutung für die spätere Entwicklung in der Bundesrepublik erlangt wie bei Presse und Rundfunk Der Gedanke der Umerziehung fand hier einen besonders fruchtbaren Boden, und zwar aus verschiedenen Gründen: — Die westlichen Alliierten kannten aufgrund ihrer eigenen Geschichte die große Bedeutung der Publizistik für eine demokratische Gesellschaft.

— Es standen ihnen hervorragende Experten zur Seite, die zum einen über lange Erfahrungen mit der Pressefreiheit in England und Amerika verfügten, zum anderen sich aber auch der Fehlentwicklungen des westlichen Pressewesens bewußt waren. Die Tabula rasa der Stunde Null verschaffte ihnen die Chance, idealtypische Konstruktionen im besetzten Land zu versuchen.

— In der deutschen Bevölkerung bestand ein großer Hunger nach Information, verstärkt durch die Einsicht, die selbst bei ehemaligen Nationalsozialisten um sich griff, daß man durch die nationalsozialistische Propaganda in unglaublicher Weise belogen worden war. — Die alliierten Presseoffiziere hatten nicht nur eine gute Personenkenntnis hinsichtlich unbelasteter Journalisten, sondern auch ein gutes Gespür für junge Kräfte, die bald zum Zuge kamen (auch wenn die Veteranen von Weimar noch dominierten). Dem Nachwuchs-problem widmete man die größte Aufmerksamkeit München wurde zum Zentrum von Förderungsmaßnahmen. Otto Groth, ein 1933 entlassener ehemaliger Redakteur der Frankfurter Zeitung und Zeitungswissenschaftler, führte ab 1946 Pressekurse durch; Werner Friedmann, Mitlizenzträger der „Süddeutschen Zeitung", rief eine Lehrredaktion ins Leben, aus der die Deutsche Journalisten-schule e. V. hervorging.

— Als „Hauptheer" standen freilich vornehmlich diejenigen wieder zur Verfügung, die im Dritten Reich mitgemacht und sich nun , umgestellt'hatten; ihre Entnazifizierung erfolgte verhältnismäßig zügig; man wollte ihre Erfahrung nutzen.

Anders als in Berlin und in der sowjetischen, englischen und französischen Zone, wo die Parteien an der Zeitungsherausgabe beteiligt wurden, vergaben die Amerikaner Lizenzen nur an Herausgeberkollegien von drei und mehr Personen unterschiedlicher politischer und weltanschaulicher Orientierung, die gemeinsam die Verantwortung übernehmen mußten. „Dieses panel-Modell ging von der Vorstellung aus, daß jede einzelne der wenigen, zunächst nur in den größeren Städten zu gründenden Zeitungen in ihrem Kommentar-teil möglichst das volle Spektrum demokratischer Meinungen widerspiegeln sollte. Für den Nachrichtenteil galten die Gebote der Fairness, Unabhängigkeit und Objektivität. Die . meinungslose'Generalanzeigerpresse und selektiv berichtende Parteiorgane sollten der Weimarer Vergangenheit angehören.“ Das Auswahlverfahren war gründlich. In Bayern sollen für 49 Lizenzen mehr als 2 000 Bewerber überprüft worden sein.

Das Verhältnis des Journalisten zu seinem Produktionsmittel wurde freilich im Rahmen der Lizenzpresse nicht neu bestimmt. Die neue Presse war zwar kapitalunabhängig; die neuen Verleger jedoch entwickelten sich zu „Kapitalisten", von denen dann die Journalisten erneut abhängig waren. Man fing eben dort wieder an, wo man 1933 aufgehört hatte. Die Lizenzzeitungen florierten; da sah man keine Notwendigkeit, sich um Mitbestimmungs-und Mitbeteiligungsmodelle zu bemühen. Der „Verein Bayerischer Zeitungsverleger“ begründete die Akkumulation sogar presseethisch: Die von der amerikanischen Presseregierung lizenzierte neue deutsche Presse sei ins Leben gerufen worden, um damit überparteiliche Zeitungen auf Dauer zu begründen, heißt es in einer Entschließung vom Oktober 1946; das setze ihre geistige und wirtschaftliche Unabhängigkeit voraus. Diese sei nur gesichert, wenn die Lizenzträger, denen die persönliche Verantwortung übertragen sei, ihre Entscheidung frei und unbeeinflußt von äußeren Entwicklungen treffen könnten. Daher müßten sie auch wirkliche Inhaber ihrer Betriebe sein, nicht nur Treuhänder eines fremden Vermögensträgers mit allen daraus notwendig hervorgehenden Gefahren wie Verbeamtung und Bürokratisierung sowie Lähmung der persönlichen Initiative in geistiger und wirtschaftlicher Beziehung.

Hätte es in der Trümmerzeit die „Neue Zeitung", eine „amerikanische Zeitung für die deutsche Bevölkerung“, nicht gegeben — die kulturelle Entwicklung dieser Zeit hätte eine andere, und zwar negativere Entwicklung genommen; sie löste die amerikanischen Heerestruppenblätter ab und wurde, großformatig, in der ehemaligen Druckerei des nationalsozialistischen „Völkischen Beobachters“ in München gedruckt. Mit den Chefredakteuren Hans Habe und, ab Januar 1946, Hans Wallenberg (einem gebürtigen Berliner mit US-Staatsbürgerschaft, der zuvor in seiner Geburtsstadt die als amerikanische Konkurrenz zur sowjetischen „Täglichen Rundschau“ entstandene „Allgemeine Zeitung“ geleitet hatte) sowie mit Erich Kästner als Feuilletonchef, sorgte die „Neue Zeitung“ für eine Erweiterung des geistigen und kulturellen Horizonts, wie sie die deutsche Publizistik jahrelang nicht zuwege brachte. Die Auflage betrug im Mai 1946 1 328 500 Exemplare, so daß, statistisch gesehen, auf je 15 Einwohner der amerikanischen Besatzungszone eine Zeitung kam. Die Vermittlung und Würdigung deutscher Exilliteratur stellte einen Schwerpunkt der Redaktionsarbeit im kulturellen Teil dar. Mehr als die Zeitungen — die „Neue Zeitung" ausgenommen — trugen die Zeitschriften dazu bei, die Deutschen aus ihrer geistigen Uniformierung zu befreien; Hartmut Goertz sprach 1947 von einer „Zeitschrifteneuphorie“, aber auch von einer „Flucht in die Zeitschrift“

Realiter hatte ein Volk, das den totalen Krieg, den totalen Sieg gewollt hatte und nun die totale Niederlage durchleiden mußte, nichts mehr zu sagen; geistig aber identifizierte es sich mit denjenigen, die den Mut und die Fähigkeit aufbrachten, sich mit eigener Stimme zu melden. Die Zeitschriftengründer und Zeitschriftenautoren waren in ihrer überwältigenden Mehrheit zu solcher Selbständigkeit dadurch legitimiert, daß sie entweder im Dritten Reich Widerstand geleistet hatten und verfolgt gewesen waren, oder sich zur inneren Emigration gehörig fühlen konnten; sie waren nicht auf eine Umerziehung von außen angewiesen, sondern forderten dazu auf, diese aus eigener Kraft zu vollziehen. Der Reeducation-Politik der westlichen Allierten standen sie — mit wenigen Ausnahmen (etwa des „Ruf") — insgesamt positiv gegenüber; doch versuchte man, auch hier eine eigenständige Position zu beziehen. Mit bewegten und bewegenden Worten wird der Wille zur geistigen Konzentration aufs Wesentliche bekundet; dieses Wesentliche war Überlieferung, Besinnung, Erneuerung, Wandlung, Aufbau. Schon die Zeitschriftennamen bekundeten solches idealistische Engagement: . Aussaat“, „Die Sammlung“, „Begegnung“, „Besinnung", „Bogen“, „Einheit“, „Ende und Anfang", „Die Fähre", „Frischer Wind", „Gegenwart“, „Geist und Tat", „Das Goldene Tor", „Horizont", „Neubau“, „Neues Abendland“, „Neues Europa", „Neue Ordnung", „Prisma", „Standpunkt", „Umschau“, „Weltstimmen", „Zeitwende“, „Die Pforte", „Die Kommenden"...

Im Geleitwort für die im November 1945 erstmals erscheinende, von Dolf Sternberger und Lambert Schneider redigierte Zeitschrift „Die Wandlung" schrieb Karl Jaspers: „Wir haben fast alles verloren: Staat, Wirtschaft, die gesicherten Bedingungen unseres physischen Daseins, und schlimmer noch als das: die gültigen, uns alle verbindenden Normen, die moralische Würde, das einigende Selbstbewußtsein als Volk. Es ist wie am Ende des Dreißigjährigen Kriegs, als Gryphius schrieb:, Doch schweig ich noch von dem, was ärger als der Tod, Was grimmer denn die Pest und Glut und Hungersnot: Daß auch der Seelen Schatz uns gar ist abgezwungen.'Haben wir wirklich alles verloren? Nein, wir Überlebenden sind noch da. Wohl haben wir keinen Besitz, auf dem wir ausruhen können, auch keinen Erinnerungsbesitz; wohl sind wir preisgegeben im Äußersten; doch daß wir am Leben sind, soll einen Sinn haben. Vor dem Nichts raffen wir uns auf.

Eindeutig ist nur das äußere Geschehen: das wortlose Verschwindender Gewalthaber, das Ende selbständiger deutscher Staatlichkeit, die Abhängigkeit unseres gesamten Tuns von dem Willen der Besatzungsmächte, die uns befreit haben vom nationalsozialistischen Joch. Unsere Initiative ist beschränkt auf den Spielraum, den sie uns gewähren.

Eine solche Chance für unsere Initiative ist die Erlaubnis einer Zeitschrift. Wir dürfen öffentlich miteinander reden. Sehen wir zu, was wir einander zu sagen haben!

Wir sind innerlich und äußerlich verwandelt in zwölf Jahren. Wir stehen in weiterer Verwandlung, die noch unabsehbar ist Aus ihr wollen wir mitwirken, indem wir Deutsche bitten, zu sprechen, ihre Gedanken mitzuteilen, Bilder zu gestalten, öffentlich fühlbar werden zu lassen, daß und wie sie leben. Wir wollen aber auch die Stimmen der Welt vernehmen und vernehmlich machen.

Ein Anfang muß sein. Lndem wir beginnen, die Verwandlung sich offenbaren lassen und fördern, hoffen wir auf dem Wege zu sein dahin, wo wir wieder einen Grund legen werden. Wir fangen so ganz von vorn an, daß wir noch nicht einmal dieser Fundamente gewiß sein können.“

Im ersten Heft der „Frankfurter Hefte“, Zeitschrift für Kultur und Politik, erschienen im April 1946, hieß es im Vorspann von Eugen Kogon und Walter Dirks (der letztere war von 1935 bis 1943 Feuilleton-Redakteur der „Frankfurter Zeitung" gewesen; er gehörte der links-katholischen inneren Emigration an und wurde nach dem Krieg Hauptabteilungsleiter Kultur des Westdeutschen Rundfunks): „Wir werden um Klarheit sehr bemüht sein, aber der Leser wird sich ebenfalls anstrengen müssen. Die gängige Phrase, das Nebeiwort, das man so leicht einsog und rasch aus dem Hirn wieder verdampfen ließ, hat die Atmosphäre des Denkens verdickt. Wir können nicht atmen in ihr, wir wollen gute Sicht und einen präzis funktionierenden Verstand, — das lebendige Herz, das im Rhythmus der Zeit für die ewigen Ziele schlägt, versteht sich von selbst. Wirerwarten also . nachdenkliche'Leser. Wir glauben, daß wir so der Erneuerung Deutschlands einen Dienst erweisen — wir, das heißt die Herausgeber, die Mitarbeiter undjene Leser schon inbegriffen. Das Dunkel um uns soll sich lichten. Wir wollen alle mithelfen, das Undurchsichtige und das Rätselhafte, das uns bedroht, zu klären, soweit das uns, die wir eben aus einem Abgrund kommen, und dem Menschengeist überhaupt vergönnt ist.“ „Das Goldene Tor“ (1946) war ganz von seinem Herausgeber Alfred Döblin, der sich dem Katholizismus zugewandt hatte, geprägt. Der Dichter — von der französischen Kulturbehörde mit der literarischen Zensur beauftragt — hatte schon Ende 1945, gleich nach seinem Amtsantritt in Baden-Baden, mit den Vorbereitungen zur Gründung einer literarischen Zeitschrift begonnen: „Golden strahlt das Tor, durch das die Dichtung, die Kunst, der freie Gedanke schreiten. Das Tor ist herrlich, aber was sich jetzt unter seinem weiten Bogen aufhält, sieht nicht nach Friede, Freude, Besinnlichkeit aus. Das schimmernde Gold des Tores und die heiteren und stolzen Reliefs passen schlecht zu den schlaffen, abgerissenen Figuren, die hier herumstehen, am Boden kauern und kaum ein Wort miteinander wechseln.“

Rudolf Pechei engagierte sich in seiner nun wieder fortgeführten „Deutschen Rundschau“ vom konservativen Standpunkt aus: „Das uns hierdurch geschenkte Vertrauen glauben wir nicht besser rechtfertigen zu können als durch die Fortsetzung des Kampfes für die Freiheit des Geistes, für Wahrheit, Recht und Humanität, für Demokratie und Verständigung aller Völker untereinander — eines Kampfes, den die Deutsche Rundschau bis zu ihrem Verbot im Jahre 1942 unter Reinhaltung ihres Gesichts in der Zeit deutscher Selbsterniedrigung unablässig geführt hat.“

Die ganz besondere Sorge und Liebe gelte der deutschen Jugend; man wolle ihrem neu erwachten Wahrheitsdrang und Wirklichkeitssinn eine feste Grundlage geben, um sie zu einer aufrichtigen Zusammenarbeit mit allen anderen Völkern zu befähigen. Die gestellten Aufgaben werde man in völliger geistiger Freiheit und Unabhängigkeit anpacken, nicht im Dienste einer Partei oder Gruppe, auch nicht im Dienste der Besatzungsmächte, sondern verantwortlich nur dem eigenen Gewissen und den großen Mächten des Geistes wie der Menschlichkeit.

Der „Merkur“, begründet von Joachim Moras und Hans Paeschke, verzichtete zwar im Heft 1/1947 auf eine programmatische Erklärung, doch konnte man aus Hans Paeschkes in diesem Heft veröffentlichten Aufsatz „Verantwortlichkeit des Geistes" die Zielsetzung — nämlich eine solche europäischer Besinnung — klar ablesen: , A-ufgabe: eine möglichst erschöpfende und genaue Definition der Gegenwart zu finden, die nicht einfach Aktualität bedeutet, sondern Kontinuität, d. h. Mittlertum im Strom der Zeit. Es geht um eine schöpferische Polarisierung von Tradition und zu Gestaltendem. An unsere Vergangenheit kettet uns die Verantwortung für die Schuld. Wir gehen damit in eine harte, aber gute Lehre über den Sinn allerpolitischen Freiheit; daß ein jeder für die Freiheit eines jeden einzustehen habe. Aus dieser Verantwortung ziehen wir den Mut zur Gestaltung des Künftigen. Dies bringt uns in eine selbstverständliche Distanz gegenüber avantgardistischen Parolen. Wir sind in diesem Jahrhundert so oft und in so furchtbar falschem Sinne neu geworden, daß ein esprit de suite das erste ist, was nottut. Es ist dies nicht nur ein Gebot der geschichtlichen Erfahrung, sondern auch der Selbstachtung. Was könnte uns, an diesem Tiefpunkt unserer Geschichte, auch anderes tragen als die Achtung vor den großen Weltgültigen unserer Vergangenheit?" Einige der Zeitschriften hatten institutioneile Träger, wie die „Zeichen der Zeit" als evangelische Kirchenzeitschrift oder der . Aufbau“ als Zeitschrift des „Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands“ (der, wenn auch kommunistisch bestimmt, aufgrund seiner überparteilichen Weite und der demokratisch-antifaschistischen Programmatik 1945 noch eine gesamtdeutsche Leserschaft ansprach und dementsprechend ein positives Echo in allen Lagern fand). Das „Hochland“, erstmals im November 1946 erschienen, setzte unter seinem Herausgeber und Schriftleiter Franz Joseph Schöningh seine katholische Tradition fort (im ersten Heft wurde u. a. die publizistische Tätigkeit des Begründers der Zeitschrift, Carl Muth, als „europäisches Vermächtnis" gewürdigt).

Bei fast allen Zeitschriften spielten literarische wie überhaupt kunstbezogene Themen eine große Rolle. Literatur sei dabei eine Art Asyl gewesen, meint Heinrich Vormweg der Umgang mit der Kultur, so Theodor W. Adorno, „habe etwas von dem gefährlichen und zweideutigen Trost der Geborgenheit im Provinziellen gehabt" Sicherlich entsprach dies der herkömmlichen deutschen Werte-Hierarchie (von den Höhen der Kultur zu den Niederungen der Politik); doch war man auch bereit, die negativen Erfahrungen mit bildungsbürgerlichem Bewußtsein anzugehen: nämlich die Trennung zwischen Denken und Handeln aufzuheben, sich um eine politische Kultur und eine kulturelle Politik zu bemühen. So ist es bezeichnend, daß eine große Zahl dieser Zeitschriften auf die Verbindung von Kultur und Politik im Untertitel hinwies: „Zeitschrift für Kultur und Politik“ („Frankfurter Hefte"); „Kulturpolitische Monatsschrift“ („Aufbau"); „Halbmonatsschrift für Völkerverständigung, Kultur, Politik, Wissenschaft“ („Neues Europa“); „Beiträge zu kulturellen und politischen Fragen der Zeit“ („Ost und West“); „Zeitschrift für Politik, Kultur und Geschichte“ („Neues Abendland"); „Zeitschrift für politische, soziale und kulturelle Neugestaltung" („Das neue Wort").

Die Editorials bestätigen den Eindruck, daß der Kombination beider Begriffe ein programmatischer Stellenwert zukam. Zusammenfassend wurde dieser Bereich oft als das „Geistige“ umschrieben. Aber im Verständnis vieler Autoren umfaßte „Kultur" doch mehr. Im Zusammenhang mit ihr ist in den Leitartikeln häufig die Rede von „öffentlichem Geist", vom „Aufgang einer neuen Kultur", dem „Wiedererwachen des geistigen Lebens". „In diesem Kontext bedeutet Kultur offenbar eine Gesamtheit von Werthaltungen und Orientierungen, die Menschen befähigen, sich in ihrer Umwelt zurechtzufinden und zu handeln, ja, diese erst zur Gesellschaft zu prägen. Scheint damit eine Nähe zum angelsächsisch-westlichen Kulturbegriff gegeben zu sein, so deuten diese Grundbegriffe auch auf einen Unterschied hin: Kultur wird in den Nachkriegs-zeitschriften vielfach abgesetzt vom Chaos und Nihilismus, welche die gesellschaftliche Existenz zerstören. Demnach scheint ein derartiges Verständnis von Kultur für zahlreiche Zeitschriften von konstitutiver Bedeutung gewesen zu sein."

Gegenüber der Asyl-These wird damit ein neuer Universalismus deutlich, der die Trennung zwischen Kultur und Politik — Kennzeichen affirmativer Kultur — im Sinne einer demokratischen Kultur zu überwinden trachtet. Dafür spricht, daß gerade auch im „Ruf", der gern als die Zeitschrift apostrophiert wird, die sich mehr als andere der Gegenwart stellte, eine symptomatische Vorliebe für Literatur vorhanden war. „Literatur, das war für uns etwas anderes als der Unterhaltung dienende Belletristik. Es war für uns Einflußnahme, Veränderung der Mentalität, langfristig natürlich, nicht kurzfristig. Wir glaubten noch an das geschriebene Wort, an die Möglichkeit, mit Schreiben die Gesellschaft mit verändern zu können."

Die politische Machtlosigkeit der Deutschen in einem von den Alliierten besetzten Land wird von vielen Zeitschriftenautoren nicht nur als Behinderung, sondern auch als Chance aufgefaßt. Deutschland habe jetzt Zeit, heißt es in Heft 1 der „Gegenwart", seine politischen Begriffe gründlich zu klären; es habe bei allem Unglück das Glück, sich nicht sofort entscheiden zu müssen; die Pflicht, nicht ungeduldig in der geistigen Sphäre sich zu regen. Die politische Kultur im Nachkriegsdeutschland wurde durch die vielen Zeitschriften in einer ungemein positiven Weise beeinflußt; die Bildung demokratischer und republikanischer Identität wurde gefördert, der geistige Horizont erfuhr eine wesentliche Ausweitung. In einer Stunde äußersten physischen und geistigen Elends, der Unfähigkeit zu kritischem Denken, der Anfälligkeit für die geringsten Tröstungen (Heinrich Vormweg) trugen die Zeitschriften dazu bei, daß das materielle Elend sublimiert, der ideologische Wahn abgebaut, kritisches Denken erneuert und Kultur als Lebenshilfe empfunden werden konnte. Das Spektrum dieser Zeitschriften war dabei in jeder Hinsicht sehr weit — auch was Auflagenhöhe, Verbreitung, Erscheinungsdauer, thematische Ausrichtung, weltanschauliche Orientierung betraf. Alle kamen auch dem Kommunikationsbedürfnis, das jeden herkömmlichen Rahmen sprengte, auf anregende, motivierende Weise entgegen.

Allerdings beklagten sich Kritiker auch bald wegen der Überfülle. Etwas sauertöpfisch stellte Hartmann Goertz fest, daß selbst der Wohlmeinende sich keinen Überblick über die vielfältigen Periodika mehr verschaffen könne. Die Flut steige weiter, die Bibliotheken verzweifelten; eine Übersicht sei kaum mehr zu erlangen, die Fülle nicht mehr zu bändigen. Und noch immer berichteten die Neuplanungen. wieder Zeitungen von „Immer erlebt jeder von uns, daß er auf einer Reise in eine Buchhandlung tritt oder an den Schreibtisch eines Freundes und nun schon etwas ermüdet wieder einen neuen Titel, ein neues Format entdeckt: Jahrgang eins, erstes Heft!" Die zunehmende Quantität beeinträchtige die Qualität; der Herausgeber mag noch interessieren; unter den Autoren begegne man sowieso seit geraumer Zeit immer den gleichen Namen. Und schließlich sei es auch gleichgültig, wo man das Sonett zur Seelenlage des heutigen Menschen finde, in dieser oder jener Zeitschrift; die einschlägigen Autoren dieser Sonette fruchtbar, seien so daß ohne besondere Mühe für jede Zeitschrift ein Erstdruck abfalle: «In nie erwarteter Fülle strömt es auf uns ein. Die Namen sind verschieden, haben aber alle zumeist einen sehr grundsätzlichen Klang. Soweit es sich um das erste Heft handelt, finden sich die Grundsätze noch einmal aneinandergereiht in einer Anrede an die Leser wieder. Ich kann mir vorstellen, daß es bei den Lesern nachgerade eine Grundsatzmüdigkeit geben muß. Und hinter dieser Anrede öffnen sich die Schleusen der Essayistik. Wer wollte leugnen, daß sich darunter gute und wertvolle Arbeiten finden mit wirklicher Substanz. Aber daneben prasselt es auf uns ein, und die ethischen Geschütze feuern fast pausenlos Salutsalven in die Logik der Transzendenten. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, die Deutung der Gegenwart und die Vorschau aufdie Zukunft laufen aufhöchsten Touren. Welches Publikum auch immer angeredet wird, der Mann, die Frau, der Jugendliche, das Kind, es regnet Maßstäbe, die uns an die Hand gegeben werden, und die Berufenen scharen sich um den harmlosen Leser.“

Das Wort könne also sehr oft auch eine Flucht vor der Wirklichkeit und ihren Aufgaben sein. Wenn man die Flut des Gedruckten kritisch betrachte, scheine sich darin eine Flucht zu offenbaren, die man die Flucht in die Zeitschrift nennen könne: ,, In einem Münchner Kabarett konnte man unlängst ein Lehrstück sehen. Vor einem Schutthaufen, der in seiner Existenz aus bemalter Pappe sowohl realiter als auch symbolisch genommen werden kann, stritten heftig drei gut gekleidete Herren miteinander. Es ging anscheinend um höchste Aufgaben, und im allgemeinen Hin und Her waren nur einige Schlagworte zu verstehen. Inzwischen wurde nebenan auf der Bühne ein Schutthaufen von einem schweigsamen Mann, verbissen arbeitend, in ein kleines Haus verwandelt, das in seiner Existenz aus bemalter Pappe sowohl realiter als auch symbolisch genommen werden kann. Der schweigsame Mann bezog schließlich das Kulissenhaus und stellte sogar allen sichtbar einen Blumentopf an sein Fenster. Die drei Herren nebenan diskutierten inzwischen leidenschaftlich vor ihrem Schutthaufen weiter. Vielleicht war einer von ihnen der Herausgeber einer Zeitschrift.“

V. Ausklang der Trümmerzeit: Die Währungsreform

Die Wandlung

Am Abgrund hatte man in der Trümmerzeit sein Dasein ansiedeln müssen; nach der Währungsreform (20. Juni 1948) zog man sich ins „Land der großen Mitte“ zurück. Wer weiterhin in den Randzonen des Zweifels verharrte, galt als Außenseiter. Im Zentrum standen jetzt ganz andere Fragen — nämlich solche nach den Preisen, und nicht nach den Werten. Dies nicht zuletzt bewirkt durch das Kultur-ideal des Liberalismus, der in Wilhelm Röpke seinen bedeutendsten theoretischen Kopf und in Ludwig Erhard, ab 1948 Direktor der Verwaltung für Wirtschaft des Vereinigten Wirtschaftsgebietes der Westzonen, einen dynamischen Pragmatiker hatte.

Schon die ersten Tage nach der Währungsreform zeigten: das Konsumparadies zeichnete sich ab. Kultur wurde nunmehr — und auch längere Zeit danach — ein Ladenhüter. Die konkrete Ästhetik des neuen Warenangebotes faszinierte viel mehr als die Produkte der Kunst. Da man jetzt im . Unterbau'die Sehnsüchte nach einem schöneren, besseren, glücklicheren Leben zu befriedigen vermochte, konnte man der Sublimierung, konnte man des Überbaus entraten. „Kultur ist plötzlich nicht mehr gefragt, und die Drohung des wirtschaftlichen Zusammenbruchs hier entsprechend am stärksten“, heißt es in einem Bericht kurz nach der Währungsreform.

Viele Zeitschriften mußten ihr Erscheinen einstellen, darunter auch die „Wandlung"; deren Mitherausgeber Dolf Sternberger zog ein Fazit in dem es u. a. hieß: „Der Friede ist fern. Die Friedfertigkeit wird täglich härter auf die Probe gestellt. Die Vorstellung eines künftigen Krieges zugleich täglich grausiger. Unterdessen sind in Deutschland das Ressentiment und die steigende Lust an der Furcht noch weit verbreitet. Wir leben nahe an der Demarkationslinie der Welt. Europa ist ein Fragment, hat eine reale Lebens-aussicht nur als Element des umfassenderen atlantischen Systems. Deutscher Nationalismus kann nur noch, sich selbst mißverstehend, als Werkzeug und Hilfstrupp neuer Parteidiktatur wirken. Lm fortdauernden Unfrieden der Welt innere Neutralität bewahren zu wollen, kann die Menschenwürde kosten. Die edelsten Begriffe sind in der Anwendung die zweideutigsten: Friede, Freiheit, Gerechtigkeit. Diese Spannungen sind kaum zu ertragen. Der wahre Friede kann nicht in Sklaverei und Unterdrückung liegen. Die wahre Freiheit soll nicht durch das Verbrechen eines Atomkrieges erkauft und besudelt werden. In diesen Widersprüchen, in dieser Gefahr leben wir. Wer sich nicht entscheidet, wird verloren sein. Doch wollen wir Glück und Sicherheit — endlich nach so viel mutwillig-gefährlichem Leben.“ 36 Jahre sind vergangen, seitdem diese Worte geschrieben wurden; 40 Jahre trennen uns von der Stunde Null, von der wir heute wissen, daß sie eine solche nicht gewesen ist Die Sätze, die Dolf Sternberger seinerzeit niederschrieb, haben leider ihre Aktualität nicht verloren: Nach wie vor ist Europa ein Fragment; der Unfriede der Welt dauert fort, und die edelsten Begriffe wie Friede, Freiheit, Gerechtigkeit werden in den einzelnen Lagern in jeweils eigenem Interesse manipuliert Das Verbrechen eines Atomkrieges steht bedrohend vor uns: „In diesen Widersprüchen, in dieser Gefahr leben wir.“

Nach wie vor ist die Bundesrepublik ein Idyll, nach wie vor ein panisches Idyll. Apropos „Panik“: das bereitgestellte Atompotential entspricht inzwischen 6 000 Zweiten Weltkriegen ...

In der Auseinandersetzung um die Frage, wie man den 8. Mai als Tag der bedingungslosen Kapitulation 40 Jahre danach begehen solle, dominierten ambivalente Feststellungen: einerseits habe es sich um die Befreiung vom nationalsozialistischen Terror gehandelt, andererseits seien die Ostgebiete verlorengegangen, sei das deutsche Reich in zwei Staaten aufgespalten worden. Solche Argumentationen verkennen die Tatsache, daß die fürchterliche Niederlage erst die konsequente Folge von‘Hitlers Machtergreifung war. Deutschlands Zerstörung, die innere wie die äußere, begann 1933. Man kann nur froh sein, daß wenigstens nach zwölf Jahren das „Reich der niederen Dämonen" sein Ende fand. Wäre dies früher geschehen, hätten noch viele gerettet werden können. Aber die totalitäre Maschinerie, zusammen mit der Verblendung des überwiegenden Teils des Volkes, sorgte dafür, daß die Deutschen den bitteren Kelch der Leiden bis zur Neige leeren mußten. Be-freiung und Katastrophe des Jahres 1945 bedeuten also eine Einheit: Die Befreiung erfolgte durch eine Katastrophe; nur durch eine Katastrophe war eine Befreiung möglich. 40 Jahre nach Kriegsende wird deutlich: Die Wurzeln bundesrepublikanischer Geschichte sind vielfach verschüttet Sie müssen, um der republikanischen Identität willen, aufgedeckt werden. Die Dinge genau betrachten, heißt Abschied nehmen. Ein solches Wort von Günter Grass hat seine individuelle wie geschichtliche Berechtigung. Die Trümmerzeit ist über die Jahre hinweg in historische Distanz gerückt — und damit zu einer relativierten Epoche geworden.

Zugleich aber wird, wenn man mit Einfühlungsvermögen und kritischem Nachdenken diesen wesentlichsten Wurzelgrund bundes-republikanischen Daseins und Soseins aufspürt, deutlich: Wir sollten gerade von jener Zeit nicht Abschied nehmen, sondern uns ihrer kulturellen Leistungen, Irrtümer, Errungenschaften, Fehlentwicklungen, Fortschritte, Versäumnisse, Erfolge und Rückschläge vergewissern. Die Betrachtung der unmittelbaren Nachkriegszeit, die Betrachtung der Kultur der Trümmerzeit verhilft uns zu aktuellen Antworten auf alte Sinnfragen. Diese lauten sei eh und je — und wohl mehr denn je: Woher kommen wir? Was sind wir? Wohin gehen wir? Was können wir tun? DIE FRAGE Frage einen Milchhändler. In Paris.

Was bist du?

Er wird sagen:

Ich bin Franzose.

Frage einen Zeitungsverkäufer. In New York.

Was bist du?

Er wird sagen:

Ich bin Amerikaner.

Frage einen Schiffer. In Amsterdam. Was bist du?

Er wird sagen:

Ich bin Niederländer.

Frage einen Bürger.

In Berlin.

Was bist du?

Er wird sagen:

Ich bin Oberpostausträgeranwärter.

Das ist zum Lachen? Nein.

Zum Weinen.

Günter Kunert (Erstveröffentlichung in: Ulenspiegel, Heft 1/1948)

Kunert (geb. 1929) war in der NS-Diktatur für wehruntüchtig erklärt worden, weil er unter die nazistischen Rassengesetze fiel. Er begann nach Kriegsende ein Kunststudium (1945— 1947) und lebte ab 1947 als freier Schriftsteller in Berlin. Der vorstehende Text des achtzehnjährigen Autors zählt zu seinen ersten Veröffentlichungen. Die Neubelebung des Pressewesens zeigte sich in den ersten Nachkriegsjahren vor allem in einem breiten Zeitschriftenangebot. 1946/47 existierten rund 200 kulturelle Zeitschriften, wobei die politisch-literarische Publizistik besondere Aufmerksamkeit fand. Die . Frankfurter Hefte“, der . Merkur“ und . Die Wandlung“ (Abb. 5— 7) wurden in den westlichen Besatzungszonen lizenziert, während der . Ulenspiegel“ (Abb. 8) in Berlin vom Dezember 1945 bis 1950 erschien, zunächst mit einer amerikanischen Lizenz, nach der Währungsreform im sowjetischen Sektor der Stadt Vor der Währungsreform erreichte der „Ulenspiegel" eine Auflage bis zu 120 000 Exemplaren.Conrad Felixmüller: 6 Blätter zu der Holzschnittfolge: Jeh sah und schnitt in Holz“, die der Künstler zwischen 1947 und 1951 in Dresden schuf (© Titus Felixmüller). Die graphische Bildchronik aus „Tagebuchblättern" schildert den Alltag der ersten Nachkriegsjahre und wurde 1952 in einer Buchausgabe zusammengefaßt. Im Vorwort schreibt Felixmüller: . Das Mitgefühl für die Kämpfe ums Dasein, das Glück und die Niederlagen der Menschen ergriffen mich. So entstand ein kleines Denkmal für die Arbeitenden, die Mütter und die Kinder.“ Der bekannte Expressionist Felixmüller (1897— 1977) war von denNationalsozialisten als . entarteter Künstler“ verfemt worden. Nach Kriegsende erhielt er eine Professur für Zeichnen an der Universität Halle (1949— 1962), 1967 siedelte er nach West-Berlin über. Die 1. Allgemeine Deutsche Kunstausstellung vom 25. August bis 31. Oktober 1946 war mit 250 Künstlern die bedeutendste gesamtdeutsche Kunstschau der Nachkriegszeit. Den Umschlagentwurf für Katalog und Plakat schuf Wilhelm Lachnit (1899— 1962). — Das Plakat zu Werner Egks Abraxas entwarf G.Trump.

Das illustrierte Markus-Evangelium wurde von der Evangelischen Haupt-Bibelgesellschaft zu Berlin (Ost) 1950 in 5000 Exemplaren ediert. Umschlagzeichnung von Josef Hegenbarth (1884— 1962), Dresden. — Von Rolf Italiander und Ludwig Benninghoff herausgegebene Anthologie (1948). Holzschnitt von Gerhard Marcks (1889— 1981). Ernst Jazdzewski: Pressezeichnung zum II. Parteitag der SED, 1947. (Aus: Die Künstler in der Deutschen Demokratischen Republik. Aus ihrer Geschichte in drei Jahrzehnten. Autorenkollektiv unter Leitung von Hannelore Gärtner, Henschel-Verlag Kunst und Gesellschaft, DDR-Berlin 1979, Abb. 11).

Der II. Parteitag der SED fand vom 20. bis 24. September 1947 in Berlin statt. In der Entschließung des Parteitages wurde der . Kampf um die demokratische Einheit Deutschlands" zur . dringendsten Aufgabe des deutschen Volkes" erklärt und ein gesamtdeutscher . Volksentscheid“ gefordert.

Otto Niemeyer-Holstein: Der Zweifler, Holzschnitt 1957. (Aus: Das Meer. 6 Holzschnitte von Otto Nie-meyer-Holstein. Texte von Johannes R. Becher, Verlag Philipp Reclam jun., Leipzig 1982).

Niemeyer-Holstein (1896— 1984) hat die Tradition expressionistischer Graphik unter den Anfechtungen der 1948 einsetzenden Kritik am .

Formalismus“ in Kunst und Literatur beharrlich weiterentwickelt. Eva Schulze-Knabe: Einer frohen Zukunft entgegen, Linolschnitt 1952 (© VG Bild-Kunst Bonn).

Die in Dresden lebende Eva Schulze-Knabe (1907— 1976) war seit 1929 Mitglied der KPD und der . Assoziation Revolutionärer Künstler“ (ASSO). Aktiv im Widerstand tätig, wurde sie 1942 zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt. Der abgebildete Linolschnitt nimmt Bezug auf den durch die 2. Parteikonferenz der SED im Juli 1952 proklamierten . Aufbau des Sozialismus“ in der DDR und sucht als Reaktion auf die Kritik am . Formalismus in der bildenden Kunst eine Synthese zwischen Anklängen expressionistischer Graphik und dem parteioffiziellen sozialistischen Realismus zu finden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Richard Matthias Müller, über Deutschland. 103 Dialoge, Olten und Freiburg i. B. 1965, S. 10.

  2. Eine umfassende Übersicht der Gesamtentwicklung gibt Hermann Glaser, Kulturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, Band 1: Zwischen Kapitulation und Währungsreform. 1945— 1948, München 1985.

  3. Erich Kästner, Notabene 45. Ein Tagebuch, in: Gesammelte Schriften für Erwachsene, Band 6, München-Zürich o. J., S. 83.

  4. Wolfgang Borchert, Draußen vor der Tür und ausgewählte Erzählungen, Hamburg 1956, S. 8, 23.

  5. Vgl. Dieter Franck, Jahre unseres Lebens. 1945 bis 1949, München-Zürich 1980, S. 32f.

  6. Hartmut von Hentig, Aufgeräumte Erfahrung, sete zur eigenen Person, München-Wien 1983,

  7. Günter Eich, Gesammelte Werke, Band 1, Frankfurt am Main 1973.

  8. Joachim Kaiser, Wieviel gelogen wird. Auch eine Erinnerung an die Stunde Null, in: Süddeutsche Zeitung v. 28. /29. 4. 1979.

  9. Vgl. hierzu Herbert Marcuse, über den affirmativen Charakter der Kultur, in: Kultur und Gesellschaft I, Frankfurt am Main 1965, S. 63ff. '

  10. Thornton Wilder, Wir sind noch eipmal davongekommen, Frankfurt am Main—Hamburg 1960,

  11. Vgl. Henric L. Wuermeling, Die weiße Liste 1*. Umbruch der politischen Kultur in Deutschland 1945, Berlin 1981.

  12. Max Frisch, Tagebuch 1946— 1949, München— Zürich 1965, S. 30f„ 35, 37.

  13. Herman Nohl, Die geistige Lage im gegenwärtigen Deutschland, in: Die Sammlung, November 1947, S. 604.

  14. Vgl. Siegfried Unseld, Begegnungen mit Hermann Hesse, Frankfurt am Main 1975.

  15. Programmheft zur Neuinszenierung des „Schwarzen Jahrmarkt", Nürnberg 1975.

  16. Zit. nach Peter Roos, Genius loci. Gespräch über Literatur und Tübingen, Pfullingen 1978, S. 60.

  17. Reinhold Schneider, Das Unzerstörbare, Frei“ urgi, B. 1945, S. 3ff.

  18. Karl Jaspers, Antwort an Sigrid Undset, in: Neue Zeitung v. 4. 11. 1945.

  19. Alfred Weber, Abschied von der bisherigen Geschichte. Überwindung des Nihilismus?, Hamburg

  20. Friedrich Meinecke, Die deutsche Katastrophe. Betrachtungen und Erinnerungen, Wiesbaden 1946,

  21. Gerhard Storz, Zwischen Amt und Neigung. Lebensbericht aus der Zeit nach 1945, Stuttgart 1976, S. 34.

  22. Hierzu und für das Folgende: Jutta B. Lange-Quassowski, Demokratisierung der Deutschen durch Umerziehung? Die Interdependenz von deutscher und amerikanischer Politik in der Vorgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 29/78; ferner Manfred Heinemann (Hrsg.), Umerziehung und Wiederaufbau. Die Bildungspolitik der Besatzungsmächte in Deutschland und Österreich, Stuttgart 1981; Karl Dietrich Erdmann, Überblick über die Entwicklung der Schule in Deutschland 1945— 1949, in: Neue Sammlung, (1976) 3, S. 215ff.

  23. Für das Folgende: Ludwig Kerstiens, Die höhere Schule in den Reformplänen der Nachkriegszeit, in: Zeitschrift für Pädagogik, (1965) 6, S. 538ff.

  24. In: Die Sammlung, (1946) 4, S. 197ff.

  25. Hans J. von Goerzke, Internationale Diskussion in Marburg. Ausländische Professoren vor deutschen Studenten, in: Neue Zeitung v. 13. 9. 1946.

  26. Karl Barth, Der deutsche Student, in: Neue Zeitung v. 8. 12. 1947.

  27. Karl Jaspers, Die Verantwortlichkeit der Universitäten, in: Neue Zeitung v. 16. 5. 1947.

  28. Vgl. Hans Mayer, Von Lessing bis Thomas Mann. Wandlungen der bürgerlichen Literatur in Deutschland, Pfullingen 1959.

  29. Adolf Guggenbühl, Die deutsche Tragödie (II), in: Neue Zeitung v. 29. 1. 1948.

  30. Zit. nach E. Gross, Die Schuld der Kirchen, in: Die Wandlung, (1947) 2, S. 133ff.

  31. Peter Buchka, Der Porträtist des deutschen Charakters. Zum Tode des Filmregisseurs Wolfgang Staudte, in: Süddeutsche Zeitung v. 21. /22. 1. 1984.

  32. Norbert Frei, Die Presse, in: Wolfgang Benz (Hrsg.), Die Bundesrepublik Deutschland. Ge-schichte in drei Bänden, Band 3: Kultur, Frankfurt am Main 1983, S. 275ff.; ferner Harry Pross, Deutsche Presse seit 1945, Bern - München - Wien

  33. Norbert Frei, Die Presse (Anm. 32), S. 280f.

  34. Hartmann Goertz, Die Flucht in die Zeitschrift, in: Neue Zeitung v. 13. 1. 1947.

  35. Karl Jaspers, Geleitwort, in: Die Wandlung, (1945) 1.

  36. Eugen Kogon und Walter Dirks, An unsere Leser, in: Frankfurter Hefte, (1946) 1, S. 2.

  37. Alfred Döblin, Geleitwort, in: Das Goldene Tor, (1946) 1, S. 3ff.

  38. Rudolf Pechei, In eigener Sache, in: Deutsche Rundschau, (1946) 1, S. 1.

  39. Hans Paeschke, Verantwortlichkeit des Geistes, in: Merkur, (1947) 1, S. 109f.

  40. Heinrich Vormweg, Literatur als ein Asyl, in: Nicolaus Born und Jürgen Manthey (Hrsg.), Nachkriegsliteratur. Literaturmagazin 7, Reinbek bei Hamburg 1977, S. 203.

  41. Theodor W. Adorno, Auferstehung der Kultur in Deutschland?, in: Frankfurter Hefte, (1950) 5, S. 469ff.

  42. Ingrid Laurien, Politisch-kulturelle Zeitschriften in den Westzonen von 1945— 1949, in: Helga Grebing (Hrsg.), Zur Politischen Kultur im Nachkriegsdeutschland. Politische und kulturelle Zeitschriften in Deutschland 1945— 1949. Projektantrag Göttingen 1980 (unveröffentlicht), S. 11.

  43. Hans Werner Richter, Briefe an einen jungen Sozialisten, Hamburg 1974, S. 113.

  44. Heinrich Vormweg, Literatur als Asyl (Anm. 40), S. 203.

  45. Hartmann Goertz, Die Flucht in die Zeitschrift (Anm. 34).

  46. Zit. nach Bernhard Zeller (Hrsg.), „Als der Krieg zu Ende war". Literarisch-politische Publizistik 1945 bis 1950. Eine Ausstellung des Deutschen Literatur-archivs im Schiller-Nationalmuseum, Marbach a. N„ Katalog Nr. 23, Stuttgart 1973, S. 512f.

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Hermann Glaser, Dr. phiL geb. 1928: Studium der Germanistik, Anglistik, Geschichte und Philosophie in Erlangen und Bristol; zunächst im Schuldienst; seit 1964 Schul-und Kulturdezernent der Stadt Nürnberg; Mitglied des PEN; Vorsitzender des Kulturausschusses des Deutschen Städtetages. Autor zahlreicher Bücher; zuletzt u. a.: Maschinenwelt und Alltagsleben. Industriekultur in Deutschland vom Biedermeier bis zur Weimarer Republik, Frankfurt 1981; Ein deutsches Bilderbuch. 1870— 1918. Die Gesellschaft einer Epoche in alten Photographien (zus. mit Walter Pützstück), München 1982; Im Packeis des Unbehagens. Eine persönliche Bilanz des Generationenkonflikts, Bonn 1982; Von der Kultur der Leute. Ein Lesebuch, Frankfurt—Berlin—Wien 1983; Die Kultur der Wilhelminischen Zeit Topographie einer Epoche, Frankfurt 1984; Kulturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Band 1: Zwischen Kapitulation und Währungsreform, München 1985.