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Die KVAE als Spiegel der Großmachtpolitik | APuZ 37/1985 | bpb.de

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APuZ 37/1985 Zehn Jahre KSZE-Prozeß. Bilanz und Perspektiven gesamteuropäischer Entspannung und Zusammenarbeit Die KVAE als Spiegel der Großmachtpolitik

Die KVAE als Spiegel der Großmachtpolitik

Karl E. Birnbaum

/ 32 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der Beitrag versucht die Positionen der wichtigsten Verhandlungspartner — NATO-, Warschauer Pakt-und neutrale und nichtpaktgebundene (N + N-) Staaten — an Hand der im Laufe des Frühjahrs 1984 eingebrachten vier Hauptvorschläge sowie des Konferenzverhaltens der einzelnen Staaten darzulegen. Es wird aufgezeigt, daß die Hauptvorschläge zwar gewisse gemeinsame Elemente enthalten, die sich vor allem auf die Weiterentwicklung der in Helsinki beschlossenen Maßnahmen beziehen, ansonsten aber diametral entgegengesetzte Zielvorstellungen reflektieren, die Ost und West in Stockholm verfolgen. Die Staaten des Warschauer Pakts, mit der Sowjetunion an der Spitze, befürworten ein umfassendes Programm zur Wiederherstellung eines Entspannungsklimas, während die NATO-Staaten — und auch die N + N-Gruppe — konkrete Maßnahmen zur Förderung der Berechenbarkeit militärischer Aktivitäten anstreben. Als weiteres Anliegen der pakt-ungebundenen Staaten tritt der Wunsch hervor, Umfang, Intensität und Bedeutung militärischer Maßnahmen in der Ost-West-Politik möglichst zu begrenzen. Wie bei früheren KSZE-Verhandlungen entbrannte auch bei der KVAE ein heftiger und langwieriger Streit um die Verfahrensfragen, da diese von Sachfragen nicht säuberlich zu trennen sind. Die im Herbst 1984 beginnende Entkrampfung im Verhältnis zwischen den Supermächten hatte unmittelbare Rückwirkungen auf das Konferenzgeschehen in Stockholm und führte schließlich am 3. Dezember zur Einigung über die Arbeitsstruktur der KVAE, bei deren Anbahnung die N + N-Staaten, vor allem Schweden und Finnland, eine wichtige Rolle gespielt haben. Während der Westen nunmehr bereit zu sein scheint, eine Bestätigung des Gewaltverzichtes in irgendeiner Form als Krönung des Verhandlungswerkes vorzunehmen, ist es vorläufig eine offene Frage, ob die NATO-Staaten gewillt sein werden, in bezug auf die sogenannten „constraints“, d. h. physische Beschränkungen militärischer Optionen, Zugeständnisse zu machen. Dabei ist zu beachten, daß nicht nur die Staaten des Warschauer Pakts, sondern auch die N + N-Gruppe auf „constraints" bestehen. Auf weitere Sicht wirft die KVAE die Frage einer Verselbständigung des Abrüstungsbereiches innerhalb des KSZE-Prozesses auf, wie er von der Sowjetunion mit großer Wahrscheinlichkeit angestrebt wird. Hier stehen nicht nur die Staaten des Westens, sondern auch die N + N-Staaten vor einer schwierigen Herausforderung.

Als die Außenminister der 35 am KSZE-Prozeß beteiligten Staaten Mitte Januar 1984 zum Auftakt der Konferenz über vertrauensund sicherheitsbildende Maßnahmen und Abrüstung in Europa (KVAE) in Stockholm zusammentrafen, war dies ein in der Presse und anderen Massenmedien viel beachtetes Ereignis. Seitdem ist es um diese Konferenz, in der man sich erst gegen Ende des Jahres 1984 auf eine Arbeitsstruktur einigen konnte, recht still geworden. Der Mangel an echten Fortschritten bei den Verhandlungen hat dazu zweifellos beigetragen. Denn das erste Jahr der Stockholmer Konferenz war u. a. durch eine augenfällige Diskrepanz zwischen der zähflüssigen diplomatischen Arbeit einerseits und den Erwartungen und Hoffnungen andererseits gekennzeichnet, die in der Öffentlichkeit so mancher Teilnehmerstaaten an diese Konferenz geknüpft worden sind. Ein Hauptgrund dafür dürfte darin bestehen, daß von vielen oberflächlichen Beobachtern nicht genügend beachtet wurde, wie stark der Gang der Dinge in Stockholm von der politischen Großwetterlage abhängt. Eine genauere Analyse des bisherigen Verlaufs der KVAE erhellt diesen Zusammenhang mit aller Deutlichkeit.

Zur Vorgeschichte der KVAE

Die KVAE ist ein Bestandteil des multilateralen Verhandlungsprozesses über Fragen der Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE-Prozeß), der mit der Unterzeichnung der Schlußakte von Helsinki am 1. August 1975 einen Höhepunkt erreichte. Dieses von den Staats-und Regierungschefs 33 europäischer(aller außer Albanien) und zwei nordamerikanischer Staaten (USA und Kanada) verabschiedete Dokument war als Richtschnur für die zukünftige Gestaltung der Beziehungen zwischen den Teilnehmerstaaten gedacht. Zur Operationalisierung des breitgefächerten Vorhabens sind eine Reihe von Folgekonferenzen vorgesehen, bei denen die Verwirklichung der Bestimmungen der Schlußakte überprüft und neue Vorschläge erarbeitet werden sollen, um die Zusammenarbeit zwischen den Teilnehmerstaaten zu vertiefen und weiterzuentwickeln. Zwei solcher Folgekonferenzen haben bisher stattgefunden: 1977/78 in Belgrad und 1980/83 in Madrid.

Der KSZE-Prozeß ist das umfassendste Forum, in dem über Fragen der Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa verhandelt wird. Dies gilt sowohl für die zur Diskussion stehenden Themen wie auch in bezug auf den Teilnehmerkreis. Die Tagesordnung, Beteili-gung und Prozedurregeln der KSZE reflektieren die Tatsache, daß es sich hier nicht nur, und nicht einmal in erster Linie, um Ost-West-Politik im Sinne des Verhältnisses zwischen den Militärblöcken handelt, sondern vielmehr um ein Verhandlungsgremium formell gleichberechtigter Staaten, in dem die Neutralen und Nichtpaktgebundenen (N + N) eine nicht unwichtige Rolle spielen.

Der KSZE-Prozeß ist ein Produkt der Entspannungspolitik der siebziger Jahre, der sich aber auch in einem weniger milden weltpolitischen Klima insofern bewährt hat, als sämtliche Teilnehmerstaaten weiterhin bemüht zu sein scheinen, diesen Verhandlungsmechanismus trotz verschärfter machtpolitischer und ideologischer Gegensätze zur Wahrnehmung gemeinsamer bzw. paralleler Interessen zu benutzten. Die Konfrontation zwischen den Supermächten und die Unruhen in Polen zu Anfang der achtziger Jahre haben diese Bemühungen erschwert. Aber sowohl den Vereinigten Staaten als auch der Sowjetunion war — schon aus Rücksicht auf die öffentliche Meinung in Europa — daran gelegen, nicht als ausgemachte Feinde der Entspannung in Erscheinung zu treten. Der KSZE-Prozeß galt seit jeher als Inbegriff und Symbol der Entspannung in Europa. Er konnte nach dem weltpolitischen Wettersturz 1979/80 fortgesetzt werden, wenn auch mit bescheideneren Zielsetzungen und Erwartungen als zur Zeit der Gipfelkonferenz in Helsinki 1975.

Als Folge der Belastungen im Ost-West-Verhältnis zu Beginn der achtziger Jahre gestaltete sich die Madrider KSZE-Folgekonferenz zu einem langwierigen Tauziehen mit oft sehr harten Auseinandersetzungen. Ein zeitweise drohender völliger Zusammenbruch der Verhandlungen konnte schließlich, nicht zuletzt durch die Initiativen der neutralen und nichtpaktgebundenen Staaten, verhindert werden. Nach beinahe dreijährigen Verhandlungen einigten sich die Teilnehmerstaaten auf ein Schlußdokument, das sich im Gegensatz zu dem Schlußdokument nach der ersten Folge-konferenz in Belgrad nicht darauf beschränkte, die Kontinuität des KSZE-Prozesses zu garantieren, sondern auch eine Reihe von konkreten Aussagen und Bestimmungen enthielt, die dazu beitragen sollen, die Zusammenarbeit der Teilnehmerstaaten zu fördern und zu erweitern. Sie betreffen die drei in der Schlußakte von Helsinki angesprochenen Themenkreise: Sicherheitsfragen, Zusammenarbeit auf wirtschaftlichen und anderen Gebieten sowie die Erleichterung und Erweiterung intersystemarer Kontakt-und Kommunikationsprozesse.

Die schärfsten Auseinandersetzungen während der Madrider Folgekonferenz betrafen die militärischen Fragen. Die Warschauer-Pakt-Staaten hatten seit Jahren eine Konferenz über „militärische Entspannung und Abrüstung in Europa“ befürwortet, während die anderen Teilnehmerstaaten vor allem eine Weiterentwicklung des einzigen konkreten sicherheitspolitischen Elements der KSZE, der sogenannten Vertrauensbildenden Maßnahmen (VBM), anstrebten. Auf diesem Gebiet hatte die KSZE einen innovativen Prozeß eingeleitet, der jedoch in seiner ersten Etappe ein nur sehr begrenztes System zur Verbesserung der gegenseitigen Information und Beobachtung von Militärmanövern vorsah. Diesen Ansatz auszubauen und zur Entfaltung zu bringen, erschien vielen der KSZE-Teilnehmerstaaten Anfang der achtziger Jahre besonders dringlich. Ihre Haltung war durch die allgemeine Verschärfung der internationalen Spannungen und die in dieser Großwetterlage markant verschlechterten Aussichten für Fortschritte in den verschiedenen Abrüstungsverhandlungen (START, INF und MBFR) bedingt Die neue Führungsequipe in Washington unter Präsident Ronald Reagan hatte kurz nach ihrer Machtübernahme im Januar 1981 dem von Frankreich lancierten Plan einer Abrüstungskonferenz sämtlicher KSZE-Staaten zugestimmt, nach dem in einer ersten Phase ausschließlich über VBM-Fragen verhandelt werden sollte.

Um sicherzustellen, daß mit diesem Vorhaben substantielle Verbesserungen im Bereich der VBM für Europa erreicht werden könnten, hatten sich die Mitgliedstaaten der westlichen Allianz auf eine Reihe von „Kriterien“ geeinigt, deren Annahme sie als Vorbedingung für das Zustandekommen der Konferenz verlangten. Die zu beschließenden Vertrauensbildenden Maßnahmen sollten somit politisch verbindlich, militärisch bedeutsam sowie nachprüfbar sein, und sie sollten sich auf den gesamten europäischen Kontinent beziehen. Die in der KSZE-Schlußakte vereinbarte VBM-Ordnung hatte denjenigen Ländern, deren Staatsgebiet auch nichteuropäisches Territorium umfaßt, einen speziellen Status zuerkannt, in dem nur ein Streifen von 250 km Breite entlang der Westgrenze dieser Staaten (Sowjetunion und Türkei) in das VBM-System einbezogen war. Diese Ordnung war von den meisten westeuropäischen Staaten als ein nur in der Einleitungsphase eines auszubauenden VBM-Systems akzeptables Provisorium betrachtet worden. Sie bestanden jetzt auf einer VBM-Ordnung, die diese Asymmetrie abschaffen würde.

Wie zu erwarten, entbrannte um das geographische Kriterium in Madrid ein heftiger Streit zwischen Ost und West. Nachdem sich Moskau Ende Februar 1981 durch eine überraschende Kehrtwende prinzipiell bereiterklärt hatte, eine VBM-Ordnung bis zum Ural zu akzeptieren, schien der Weg frei für eine Einigung, die zur Einberufung einer Konferenz über Abrüstung in Europa (KAE) führen konnte.

Mehrere Umstände trugen jedoch dazu bei, eine Lösung zu verzögern. Für ihr Entgegenkommen verlangte die Sowjetunion Kompensationen, zu denen sich der Westen nicht bereitfinden konnte (Einbeziehung amerikanischen Territoriums bzw.der Seewege zwischen Amerika und Europa). Den NATO-Staaten ihrerseits war sehr daran gelegen, eine ausbalancierte Weiterführung des gesamten KSZE-Prozesses zu sichern. Sie waren daher nicht zu bewegen, einer KAE zuzustimmen, solange in anderen, für die westlichen Staaten besonders wichtigen Bereichen wie Menschenrechte und intersystemare Kommunikation keine für sie zufriedenstellenden Abmachungen getroffen worden waren. Schließlich bedeutete die Krise in Polen und besonders ihre Zuspitzung im Dezember 1981 eine schwere Belastung für den KSZE-Prozeß und die Ost-West-Politik. Erst im Spätsommer 1983 gelang es, diese verschiedenen Hindernisse soweit auszuräumen, daß die an der Madrider Folgekonferenz teilnehmenden Staaten ein Schlußdokument unterzeichnen konnten. In diesem Aktenstück war u. a. auch die Einberufung einer Konferenz über vertrauens-und sicherheitsbildende Maßnahmen und Abrüstung in Europa (KVAE) vorgesehen, deren Arbeit am 17. Januar 1984 in Stockholm beginnen sollte -Die auf Betreiben Jugoslawiens beschlossene Einführung des erweiterten Begriffs („vertrauens-und sicherheitsbildende Maßnahmen = VSBM) reflektierte die Verschlechterung in den Ost-West-Beziehungen. Während Jugoslawien wie den meisten N + N Staaten, besonders an Maßnahmen gelegen war, die die militärischen Optionen der Großmächte beschränken konnten, war mit der Einführung des Sicherheitsbegriffes ein für sämtliche Teilnehmerstaaten nicht nur optisch bedeutungsvoller Bezugspunkt geschaffen worden, der angesichts der verschärften sicherheitspolitischen Auseinandersetzungen gerechtfertigt erschien.

Das Mandat für die Stockholmer Konferenz und ihr Platz in der Ost-West-Politik

Das Ziel der KVAE ist in dem abschließenden Dokument der Madrider Folgekonferenz in recht allgemeinen Formulierungen umrissen, nämlich w.. etappenweise neue, wirksame und konkrete Schritte zu unternehmen, die darauf gerichtet sind, Fortschritte bei der Festigung des Vertrauens und der Sicherheit und bei der Verwirklichung der Abrüstung zu erzielen.. Die . Annahme eines Satzes einander ergänzender vertrauens-und sicherheitsbildender Maßnahmen“ durch die Konferenz soll nach den Worten des Dokuments für die Stockholmer Konferenz „die Gefahr einer militärischen Konfrontation in Europa... vermindern". Sämtliche von den NATO-Staaten geforderten „Kriterien" scheinen in dem Text auf: der geographische Geltungsbereich (ganz Europa sowie das angrenzende Seegebiet und der angrenzende Luftraum), die militärische Bedeutsamkeit und politische Verbindlichkeit der vertrauensbildenden Maßnahmen sowie angemessene Formen der Verifikation. Die Formulierungen des Auftrags, des sogenannten Mandats für die Stockholmer Konferenz, lassen sich jedoch, besonders in bezug auf den Geltungsbereich und die Verifikationsbestimmungen unterschiedlich auslegen Hier wurden somit zentrale Fragestellungen in Madrid nicht gelöst, so daß sie in Stockholm wiederum zur Diskussion stehen. Was schließlich die Durchführung der bei der KVAE zubeschließenden Maßnahmen betrifft, kann laut Mandat die Konferenz selbst über Form und Verfahren ihrer Implementierung entscheiden. Damit ist zumindest die theoretische Möglichkeit gegeben, mit der Durchführung beschlossener Maßnahmen noch vor der nächsten KSZE-Folgekonferenz in Wien, die für November 1986 angesetzt ist, zu beginnen.

Der politische Stellenwert der KVAE ist sowohl durch die Modalitäten und Erfahrungen des KSZE-Prozesses als auch durch die spezifische internationale Lage 1984/85 gekennzeichnet Die KVAE ist — wie im Madrider Mandat ausdrücklich festgehalten wurde — „substantieller und integraler Bestandteil des durch die KSZE eingeleiteten multilateralen Prozesses" Dieser Gesamtprozeß ist bisher niemals eigentlicher Hauptschauplatz der Ost-West-Politik gewesen, die vielmehr in erster Linie durch das Verhältnis zwischen den Blöcken und durch die Beziehungen zwischen den Supermächten bestimmt wurde. Der KSZE-Prozeß hat in seinen verschiedenen Phasen die jeweilige politische Großwetterlage sehr deutlich widergespiegelt. Angesichts seiner außerordentlich breitgefächerten Traktanden demonstriert er aber auch besonders klar die Querverbindungen und Zusammenhänge zwischen verschiedenen Sachfragen bei der Bewältigung intersystemarer Beziehungen sowie zwischen europäischer und globaler Entspannungspolitik.

Formell ist die KVAE eines jener zahlreichen Expertentreffen, wie sie für verschiedene Sachbereiche in den Zeitabschnitten zwischen den KSZE-Folgekonferenzen abgehalten werden. Durch eine Reihe von Umständen ist der KVAE aber eine bedeutungsvollere Rolle als allen anderen Expertentreffen im Rahmen des KSZE-Prozesses zugefallen.

Das hängt zunächst einmal mit ihrer Vorgeschichte zusammen, die besonders deutlich zeigte, wie sehr der Sowjetunion an der Einberufung einer „europäischen Konferenz über Abrüstung" gelegen ist. Die zentrale politische Bedeutung des vorgesehenen Verhandlungsthemas sowie die zu erwartende Dauer der KVAE — nicht wie andere Expertentreffen einige Wochen, sondern mindestens zweieinhalb Jahre — legen es nahe, sie als ein Verhandlungsvorhaben sui generis zu betrachten. Die internationale Konstellation zum Zeitpunkt des Beginns der Stockholmer Konferenz hat dazu beigetragen, ihre politische Bedeutung hervorzuheben. Als während des Herbstes 1983 in Großbritannien, Italien und der Bundesrepublik Deutschland mit der Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen begonnen wurde, antwortete die Sowjetunion bekanntlich mit dem Abbruch sämtlicher Abrüstungsverhandlungen. Stockholm wurde somit zum einzigen Forum, wo verantwortliche Vertreter der Großmächte im Augenblick einen Dialog weiterführen konnten. Das auf der Tagesordnung stehende Thema — Vertrauen zu schaffen oder mindestens das massive gegenseitige Mißtrauen abzubauen — erschien in der zugespitzten Lage besonders wichtig. Sowohl die Vereinigten Staaten wie die Sowjetunion waren darum bemüht, ihren good willunter Beweis zu stellen, indem sie prinzipielle Verhandlungsbereitschaft signalisierten. Und die durch die neuen Spannungen beunruhigten europäischen Staaten versuchten, den moralischen Druck der öffentlichen Meinung nutzbar zu machen, um einen Dialog zwischen Moskau und Washington auf möglichst hoher Ebene wiederherzustellen. Diese Bestrebungen kennzeichneten die Politik der Europäer in Ost und West um die Jahreswende 1983/84. Ausschlaggebend für den zumindest partiellen Erfolg dieser Bemühungen war die Entscheidung der westeuropäischen Staaten, zur Eröffnung der KVAE ihre Außenminister nach Stockholm zu schicken. Nach einigem Zögern entschlossen sich daraufhin auch die beiden Supermächte, diese relativ hohe Ebene für die Eröffnungsphase der Stockholmer Konferenz zu akzeptieren.

Die Eröffnungsphase der KVAE

Die Ansprachen des schwedischen Ministerpräsidenten und der Außenminister der Teilnehmerstaaten während der ersten Sitzungswoche brachten keine eigentlichen Überraschungen. Olof Palme betonte in seiner Eröffnungsrede die der KVAE zukommende Bedeutung angesichts der Verschärfung der internationalen Lage und des Mangels an Vertrauen zwischen Ost und West. Er befürwortete die Erarbeitung von Alternativen zur Konzeption der nuklearen Abschreckung und bezeichnete die KVAE als Etappe auf dem Wege, der dazu führen sollte, die Abhängigkeit von der Abschreckung allmählich zu vermindern und die Elemente des Vertrauens und der Zusammenarbeit zu verstärken

Aus naheliegenden Gründen wurden die Akzente in den Ansprachen der Außenminister der beiden Supermächte mit besonderer Aufmerksamkeit registriert. Die Rede von Außenminister George Shultz reflektierte jene versöhnlichere Haltung, die Präsident Reagan in einer Erklärung am Vorabend der Stockholmer Konferenz zur Schau getragen hatte. Ähnlich wie sein Vorgesetzter appellierte Shultz an die Adresse Moskaus, die abgebrochenen Abrüstungsverhandlungen wieder aufzunehmen und versicherte, seine Regierung sei zur Wiederaufnahme des Dialogs bereit, sobald die andere Seite ihre negative Position überprüft habe. Shultz skizzierte in großen Zügen die Hauptpunkte der spezifischen Vorschläge zum Thema der Konferenz, mit denen der Westen in die Verhandlungen einzutreten beabsichtige, betonte aber gleichzeitig, daß „Vertrauens-und Sicherheitsbildung eine größere Dimension haben“. Er erinnerte dann an die grundlegenden Fragen, die im Mittelpunkt des Problems der europäischen Sicherheit stehen und unterstrich den Zusammenhang der KVAE mit dem umfassenderen KSZE-Prozeß.

Ein gewisses Aufsehen erregte der Passus in der Rede des amerikanischen Außenministers, in dem es hieß, daß die Vereinigten Staaten „die Rechtmäßigkeit“ („legitimacy") der „künstlich auferlegten Teilung Europas" nicht anerkennen. Diese Erklärung wich zwar in der Sache nicht von dem Standpunkt ab, den die USA seit jeher eingenommen haben, sie bedeutete aber, daß einer der neuralgischen Punkte der Ost-West-Politik in einer Weise angesprochen wurde, die dazu nicht beitragen konnte, die Gegensätze zu mildern. Die Aussage des amerikanischen Außenministers konnte nämlich als eine ausdrückliche und demonstrative Infragestellung des Status quo in Europa interpretiert werden, und Sie wurde von der sowjetischen Propaganda auch sogleich in diesem Sinne ausgeschlachtet Die westeuropäischen Alliierten der USA haben im allgemeinen seit über einem Jahrzehnt eine derartige Herausforderung gegenüber dem Osten vermieden. Die Grundkonzeption einer gemeinsamen westeuropäischen Ostpolitik, wie sie in der Schlußakte von Helsinki verankert ist und in den westlichen Stellungnahmen während des KSZE-Prozesses immer wieder deutlich zum Ausdruck kam, beinhaltet vielmehr eine Doppelstrategie: einerseits die Verweigerung einer De-jure-Anerken- nung der Teilung Europas, andererseits die Hinnahme des territorialen und politischen Status quo als Ausgangspunkt für Bemühungen um eine Veränderung der derzeitigen Lage mit friedlichen Mitteln.

Außenminister Andrej Gromyko ließ von vornherein einen harten Ton anklingen. Seine Rede enthielt eine lange Liste von Anklagen gegenüber den USA die er eines aggressiven Verhaltens in allen Ecken der Welt bezichtigte. Die Stationierung von Mittelstreckenraketen in Westeuropa war in dieser Darstellung Ausfluß desselben rücksichtslosen Vorgehens, wie es laut Gromyko auch bei der Invasion von Grenada, in Mittelamerika und im Libanon in Erscheinung getreten sei. Der sowjetische Außenminister betonte den engen Zusammenhang zwischen der KVAE und den Beziehungen zwischen den Großmächten in und außerhalb Europas. Gleichzeitig kündigte er an, die Sowjetunion werde mit ihren Vorschlägen in Stockholm wirksam dazu beitragen, das internationale Klima zu verbessern und den Rüstungswettlauf zu stoppen.

Auf den Inhalt der zu erwartenden sowjetischen Vorschläge ging Gromyko nur in großen Zügen ein. Sie waren praktisch alle aus früheren Appellen der Warschauer-Pakt-Staaten wohlbekannt. Die Stoßrichtung der sowjetischen KVAE-Strategie mit einer Befürwortung „großangelegter vertrauens-und sicherheitsbildender Maßnahmen“ konnte aus diesen Verlautbarungen ziemlich klar abgelesen werden.

Die Ansprachen der anderen Außenminister enthielten nicht nur allgemeine Beschreibungen der internationalen Lage und ihrer Erfordernisse, sondern auch konkrete Anregungen in bezug auf verschiedene Typen und Modalitäten von vertrauensbildenden Maßnahmen. Diese grundlegenden Ideen wurden dann in den formellen Vorschlägen einzelner Staaten und Staatengruppen weiterentwickelt.

Sowohl in offiziellen Verlautbarungen wie in der Publizistik wurde Anfang des Jahres 1984 immer wieder die These vertreten, die KVAE könnte kurzfristig mindestens eines erreichen: den abgerissenen Dialog zwischen Ost und West wiederanzuknüpfen. Diese Erwartungen haben sich schon in der Eröffnungsphase der KVAE als berechtigt erwiesen. Am Rande der offiziellen Veranstaltungen kam es während der ersten Konferenzwoche zu einem ausführlichen informellen Gedankenaustausch zwischen den Außenministern der beiden Supermächte und ihren Ratgebern. Damit war der amerikanisch-sowjetische Kontakt auf dieser relativ hohen Ebene, der seit dem Abschuß des südkoreanischen Verkehrsflug-zeugs im September 1983 unterbrochen gewesen war, wiederhergestellt. Ein erstes konkretes Ergebnis der vertraulichen bilateralen Gespräche zwischen Shultz und Gromyko war die kurz danach bekanntgegebene Wiederaufnahme der MBFR-Verhandlungen in Wien.

Die Hauptvorschläge Die 16 NATO-Staaten präsentierten ihren in bilateralen und multilateralen Konsultationen abgesprochenen gemeinsamen Vorschlag schon am 24. Januar 1984. Das NATO-Papier enthielt folgende sechs Punkte, die alle zu -mehr Berechenbarkeit bei militärischen Aktivitäten und zur Minderung des Risikos eines Überraschungsangriffs beitragen sollten 1. Ein jährlicher Informationsaustausch über die Struktur (z. B. Stationierungsort und Organisation) ihrer Landstreitkräfte und landgestützten Luftstreitkräfte.

2. Ein jährlicher Austausch von vorausschauenden Übersichten über im voraus anzukündigende militärische Aktivitäten in der KVAE-Zone.

3. Vorankündigung militärischer Aktivitäten in bezug auf Landstreitkräfte außerhalb ihrer normalen Standorte sowie bei Mobilisierungs-und Landungsübungen innerhalb der KVAE-Zone.

4. Einladung von Beobachtern aus allen Teilnehmerstaaten zu sämtlichen vorher angekündigten militärischen Aktivitäten und zu den Alarmaktivitäten, die innerhalb der KVAE-Zone auf ihrem Territorium länger als einen bestimmten Zeitraum andauern.

5. Sicherstellung der Einhaltung und Verifikation eingegangener VBM-Verpflichtungen durch nationale technische Mittel der Verifikation und Inspektionsverfahren.

6. Maßnahmen zur Verbesserung der Kommunikation zwischen den Teilnehmerstaaten

Der Vorschlag Rumäniens wurde der KVAE in der Plenarsitzung des darauffolgenden Tages am 25. Januar 1984 unterbreitet In diesem Vorschlag werden eine Reihe von Zielen anvisiert, unter denen die folgenden zu erwähnen wären: — den Argwohn und das Gefühl der Unsicherheit auszuräumen, die durch bestimmte militärische Maßnahmen verursacht werden; — die militärische Tätigkeit in Grenzgebieten einzuschränken und Zurückhaltung bei militärischen Aktivitäten zu erwirken, die Mißtrauen und Spannung hervorrufen; sowie — den geographischen Bereich militärischer Tätigkeiten einzuschränken, die zum Risiko der Konfrontation führen.

Der rumänische Vorschlag umfaßt vier Typen von vertrauensbildenden Maßnahmen:

1. die vorherige Ankündigung von militärischen Manövern (Land-, Marine-und Luftstreitkräfte bestimmter Größenordnung) sowie von größeren militärischen Bewegungen und Alarmmaßnahmen nationaler und ausländischer Streitkräfte;

2. die Beschränkung militärischer Aktivitäten besonders in grenznahen Regionen durch Vereinbarungen über quantitative und qualitative Begrenzungen der an Manövern teilnehmenden Streitkräfte und Waffensysteme sowie durch verschiedene Typen von Zonen-Arrangements;

3. ein umfassendes System zur Verbesserung der Information, Kommunikation und Konsultation zwischen den Teilnehmer-staaten, wobei sowohl an einen regelmäßigen, institutionalisierten Meinungsaustausch zwischen Regierungen wie auch an technische Vorkehrungen zur Sicherstellung rascher Verbindungen zwischen Staats-und Regierungshäuptern in Krisenfällen gedacht ist; 4. politische Maßnahmen genereller Natur, unter denen der Abschluß eines gesamteuropäischen Vertrages über Nichtanwendung und Nichtandrohung von Gewalt sowie das Einfrieren der Militärausgaben auf dem Stand von 1984 besonders hervorgehoben wurden

Der am 9. März 1984 eingebrachte Vorschlag der N + N-Staaten war nicht als ein Kompromiß der zu diesem Zeitpunkt in ihren Grundzügen wohlbekannten Positionen von Ost und West gedacht. Er reflektierte vielmehr die nationalen Sicherheitsinteressen der dieser Gruppierung zugehörigen Staaten. Eine Aufzählung derselben — Finnland, Jugoslawien, Liechtenstein, Malta, Österreich, San Marino, Schweden, Schweiz und Zypern — genügt, um zu veranschaulichen, daß es sich hier schon aus geopolitischen Gründen um Staaten mit sehr verschiedenartigen Interessen und Anliegen handelt. Darüber hinaus sind auch ihre Vorstellungen in bezug auf Ziele und Möglichkeiten der KVAE keineswegs identisch. Gegenüber den eher „maximalistisch" orientierten Bemühungen Schwedens und Jugoslawiens haben die Schweizer und Österreicher eine zurückhaltendere Position eingenommen, mit der sie sich z. B. in bezug auf den von ihnen abgelehnten Gedanken einer militärischen Ausdünnung entlang der Grenzen gewisser kleinerer Staaten (eine nicht nur von Jugoslawien, sondern auch von Rumänien bevorzugte Konzeption) durchsetzten. In der Forderung, daß eine VBM-Ordnung für Europa nicht nur, wie die NATO vorgeschlagen hatte, mehr Information, sondern auf jeden Fall auch militärische Beschränkungen (sogenannte „constraints") beinhalten müßte, fanden die Staaten der N+N-Gruppe einen wichtigen gemeinsamen Nenner. Da die notwendige gegenseitige Rücksichtnahme und Kompromißbereitschaft in der Gruppe vorhanden war, konnte schließlich ein gemeinsames Maßnahmen-Paket vorgelegt werden, dessen Schwerpunkt auf konkreten Schritten sowohl im Bereich des Informationsaustausches und der Beobachtung militärischer Aktivitäten wie auch der Beschränkung solcher Tätigkeiten liegt Das ins Auge gefaßte VBM-System war als eine Weiterentwicklung der in Helsinki 1975 vereinbarten Maßnahmen gedacht, sah aber darüber hinaus qualitativ neue Elemente vor allem im Bereich der „constraints“ vor.

Zwölf konkrete Maßnahmen wurden in dem Vorschlag zur Veranschaulichung der anzustrebenden Ordnung aufgezählt. Sie betrafen u. a. die vorherige Ankündigung größerer militärischer Manöver sowie kleinerer Manöver, die in räumlicher und zeitlicher Nähe zueinander durchgeführt werden. Auch militärische Manöver mit amphibischen, seetransportierten, Luftlande-und luftbeweglichen Truppen sowie größere militärische Bewegungen sollten vorher angekündigt werden. In dem N + N-Vorschlag waren sodann Obergrenzen bei Manövern und Beschränkungen bei der Stationierung von Verbänden und Streitkräften vorgesehen, „die für langdauernde Offensivoperationen von grundlegender Bedeutung sind“.

In ihrem Papier gingen die neutralen und nichtpaktgebundenen Staaten auf den seitens der Warschauer Pakt-Staaten lancierten Gedanken eines Vertrages über Verzicht auf Anwendung und Androhung von Gewalt nicht näher ein. Sie betonten die Bedeutung einer Bestätigung des Gewaltverzichts, die aber ihrer Meinung nach eine Einigung auf konkrete vertrauensbildende Maßnahmen, wie sie in dem Dokument aufgezählt waren, voraussetzte. Schließlich ging aus dem Vorschlag der N+N-Gruppe deutlich hervor, daß den betreffenden Staaten sehr an einer baldigen Einführung einer VBM-Ordnung gelegen war, um damit einen Übergang zur zweiten Phase der KVAE zu ermöglichen, in der über eigentliche Abrüstungsmaßnahmen verhandelt werden sollte

Beim Auftakt zur 2. Sitzungsperiode Anfang Mai 1984 legte die sowjetische Delegation einen formellen Vorschlag nur im Namen der eigenen Regierung vor Die grundsätzliche Position Moskaus war im Laufe der 1. Sitzungsperiode nicht nur von Außenminister Gromyko, sondern auch in einer Reihe von Ansprachen sowjetischer Diplomaten dargelegt worden. Sie vertraten immer wieder die schon in Gromykos Rede angeklungene Ausgangsthese über die radikale Verschlechterung der internationalen Lage: Als Folge der Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen in Westeuropa seien die Ost-West-Beziehungen einer so gravierenden Belastung ausgesetzt worden, daß der angerichtete Schaden allein durch „militärtechnische'1 Maßnahmen jener Art, wie sie von der NATO und den N +N-Staaten vorgeschlagen wurden, nicht wiedergutzumachen sei. Die kritische Situation erfordere vielmehr eine kraftvolle politische Initiative, um die vergiftete internationale Atmosphäre zu bereinigen. Nur im Rahmen eines derartigen umfassenden Programms zur Wiederherstellung eines Entspannungsklimas sei es berechtigt zu erwarten, daß begrenzte „technische“ Maßnahmen, die von den sowjetischen Vertretern keineswegs abgelehnt wurden, die erstrebte Wirkung von mehr Vertrauen und Sicherheit haben könnten.

Der sowjetische Vorschlag umfaßte sechs Elemente, von denen fünf politisch-deklaratorischer Art waren, während der sechste Punkt Anregungen enthielt, die, obschon weniger präzise in ihren Aussagen, den vom Westen und den N + N-Staaten eingebrachten Vorschlägen ähnelten. Im einzelnen wurde von der Sowjetunion folgendes vorgeschlagen:

1. Eine Verpflichtung der kernwaffenbesitzenden Teilnehmerstaaten der Konferenz, Nuklearwaffen nicht als erste einzusetzen;

2. ein Vertrag über den Verzicht auf Anwendung militärischer Gewalt und über die Aufrechterhaltung friedlicher Beziehungen zwischen den Teilnehmerstaaten;

3. eine Vereinbarung aller Teilnehmerstaaten über die Nichterhöhung bzw. Kürzung der Rüstungsausgaben im Sinne eines am 5. März 1984 von den Warschauer-Pakt-Staaten an die NATO-Staaten gerichteten Appells

4. Maßnahmen, um Europa von chemischen Waffen zu befreien und um vor allem sicherzustellen, daß diese Waffen dort, wo es zur Zeit keine gibt, nicht stationiert würden;

5. Befürwortung von Vorschlägen zur Errichtung kernwaffenfreier Zonen in verschiedenen Teilen Europas — bei ausdrücklicher Erwähnung des Balkans und Nordeuropas — sowie einer gefechtsfeldkernwaffenfreien Zone in Mitteleuropa;

6. eine Reihe konkreter Maßnahmen, um die mit der Schlußakte von Helsinki eingeführte VBM-Ordnung zu verbessern und auszubauen, wobei nicht nur eine Intensivierung und Verbesserung des Informationsaustausches und der Modalitäten zur Beobachtung von militärischen Aktivitä-ten ins Auge gefaßt wurden, sondern auch eine zahlenmäßige Obergrenze des Umfahgs militärischer Manöver von Land-streitkräften

Ein fünfter formeller Vorschlag wurde am 8. November 1984 von der Delegation Maltas eingebracht Er betrifft die Verhältnisse im Mittelmeer und zielt u. a. darauf ab, die Stationierung von Kernwaffen im Mittelmeerraum zu unterbinden. Die Auseinandersetzungen in Stockholm hat dieser Vorschlag jedoch bisher kaum beeinflußt Bei aller Verschiedenartigkeit der referierten vier Hauptvorschläge war mit ihrer Einbringung eine gewisse Grundlage für zukünftige Substanzverhandlungen geschaffen worden. Das gilt in erster Linie für diejenigen Elemente der Vorschläge, die auf die Weiterentwicklung der in Helsinki beschlossenen Maßnahmen abzielten.

Gleichzeitig demonstrierten die Vorschläge jedoch mit aller Deutlichkeit die fundamentale Gegensätzlichkeit der Zielvorstellungen, die Ost und West in Stockholm verfolgen. In den Plenarsitzungen und auch bei informellen Besprechungen bezeichneten die Vertreter der NATO-Staaten die politischen Elemente des sowjetischen Vorschlages als deklaratorische Leerformeln, die mit dem Konferenz-mandat nicht vereinbar seien. Manche gingen sogar weiter und sprachen von „mißtrauenbildender“ Wirkung der sowjetischen Vorschläge Die Vertreter Moskaus und der anderen Warschauer-Pakt-Staaten konterten ihrerseits mit der Behauptung, die Forderungen des Westens liefen auf eine „Legalisierung von Militärspionage''hinaus.

Nachdem seitens des Westens ein gewisses Entgegenkommen in der Frage eines Gewaltverzichts signalisiert worden war — worauf in einem nachstehenden Abschnitt noch näher einzugehen ist —, stellten die Diplomaten aus dem Osten kategorisch fest, es werde zu keinen Substanzverhandlungen über „techni-sehe“ Maßnahmen kommen, solange nicht sämtliche politischen Elemente des sowjetischen Vorschlages einer sachlichen Prüfung unterzogen worden wären

Außer diesen prinzipiellen Meinungsverschiedenheiten in bezug auf die in Stockholm zu behandelnde Materie wurde ein Übergang zu eigentlichen Verhandlungen über Sachfragen auch durch das weiterhin äußerst gespannte Verhältnis zwischen den Supermächten erschwert Die sowjetische Führung war im Frühjahr und Sommer 1984 offensichtlich bemüht, jegliche politischen Signale oder Initiativen zu vermeiden, die als Entgegenkommen gegenüber Washington gedeutet werden und damit unter Umständen die Wiederwahl Ronald Reagans zum Präsidenten der Vereinigten Staaten erleichtern konnten. Als Reagans Wahlsieg im Spätsommer praktisch sicher erschien, begann sich Moskaus Haltung zu ändern, und es häuften sich die Anzeichen dafür, daß die sowjetische Führung eine Wiederaufnahme des Dialogs mit dem weltpolitischen Hauptgegner über die zentralen Fragen der Rüstungspolitik und Abrüstung in Erwägung zog. Eine wichtige Etappe in dieser Entwicklung war der Besuch von Außenminister Gromyko in Amerika und seine Gespräche mit Außenminister Shultz im September 1984. Es dürfte kaum ein Zufall sein, daß etwa zur selben Zeit in Stockholm eine entgegenkommendere Haltung der Sowjetunion zu verzeichnen war.

Der Kampf um die Arbeitsstruktur der KVAE

Während beinahe des ganzen Jahres 1984 hatte die KVAE nur ein offizielles Arbeitsorgan: das Plenum, wo in erster Linie die Delegationschefs das Wort ergriffen. Frühzeitig wurde die Tatsache allgemein anerkannt, daß diese Arbeitsform, die nur durch informelle Gespräche und Arbeitsessen komplettiert wurde, nicht geeignet war, die eingehende Sachdiskussion der Einzelfragen zu bewältigen, da eine solche den Gedankenaustausch im kleineren Kreis voraussetzt. Es zeigte sich jedoch sehr bald, daß eine für alle Teilnehmerstaaten akzeptable Lösung dieser Frage deshalb schwer zu erreichen war, weil mehrere Staaten berechtigterweise befürchteten, ein bestimmtes Prozedere — in diesem Falle vor allem die Zahl der vorgesehenen Arbeitsgruppen — könne inhaltliche Entscheidungen zentraler Probleme präjudizieren. Um dieser Gefahr zu entgehen, schlug die norwegische Delegation als eine Übergangslösung vor, zunächst nur eine einzige Arbeitsgruppe zu bilden, die eine erste Übersicht und „Sortierung“ der Vorschläge und Einzelfragen vornehmen sollte, worauf in einem späteren Stadium die eigentliche Arbeitsstruktur der Konferenz zu vereinbaren wäre. Die norwegische Initiative konnte in der vorgesehenen Form zwar nicht verwirklicht werden, war aber ein Wegbereiter für weitere Überlegungen zu diesem Thema innerhalb einer informellen Kontakt-gruppe, in der die N + N-Staaten bald eine führende Rolle übernahmen. Kurz vor Ende der zweiten Sitzungsperiode im Frühsommer 1984 wurde ein von der schwedischen Delegation erarbeiteter Vorschlag zur Regelung der Prozedurfrage nicht nur von der ganzen Gruppe der neutralen und nichtpaktgebundenen Staaten abgesegnet, sondern schließlich auch von den westlichen Staaten akzeptiert. Im entscheidenden Augenblick gewann dieser Vorschlag aber, trotz einer vorherigen informellen Zusage seitens der sowjetischen Delegation, nicht die Unterstützung Moskaus, über die Gründe für diese Absage, durch die eine Einigung über die Arbeitsstruktur der Konferenz vor der Sommerpause nicht zustande kam, kann man nur Vermutungen anstellen. Angesichts des oben skizzierten allgemeinen Verhaltens der UdSSR gegenüber den USA erscheint es aber als plausibel, davon auszugehen, daß eine eindeutig positive Haltung zu dem gegebenen Zeitpunkt — Anfang Juli 1984 — nicht in die von Moskau verfolgte Generallinie paßte. Während der 3. Sitzungsperiode der KVAE übernahm die finnische Delegation die Initiative bei den weiteren Sondierungen zur Frage der Arbeitsstruktur. Hauptziel der Bemühungen innerhalb der informellen Kontaktgruppe war es, Voraussetzungen für eine gleichwertige Behandlung sämtlicher Vorschläge in den vorgesehenen Arbeitsgruppen zu schaffen, ohne gleichzeitig Entscheidungen über Substanzfragen und über die Struktur eines Schlußdokumentes vorzugreifen. Die sowjetische Delegation verhielt sich nach der Sommerpause zunächst abwartend und nahm zeitweise widersprüchliche Standpunkte ein. In dieser Lage entschlossen sich mehrere westliche und neutrale Delegationen, eine Sachdiskussion im Plenum in Gang zu setzen. Seitens dieser Delegationen begann damit eine intensivierte Darlegung ihrer Positionen an Hand der eigenen Vorschläge, wobei Fragen der vorherigen Ankündigung und Beobachtung militärischer Aktivitäten im Vordergrund standen. Nur die Vertreter der Warschauer-Pakt-Staaten kommentierten und unterstützten in ihren Ausführungen im Plenum den von Moskau bevorzugten Maßnahmen-Katalog politischer Art.

Durch diese Entwicklung veränderte sich die Verhandlungslage, zumindest optisch, zuungunsten der Sowjetunion. Es war daher nicht überraschend, daß ein Mitglied der sowjetischen Delegation gegen den Verlauf der Konferenzarbeit protestierte und in kategorischen Formulierungen feststellte, es werde in Stockholm keine Fortschritte geben, falls die Vertreter der anderen Staaten die Vorschläge der Sowjetunion weiterhin unbeachtet ließen. Ähnliche Beschwerden waren von sowjetischer Seite schon früher zu hören gewesen, aber der Tenor der abschließenden Bemerkungen des sowjetischen Diplomaten war diesmal durchaus konstruktiv: Der Abgesandte Moskaus vesicherte, seine Regierung sei an einer Einigung über die Arbeisstruktur Konferenz interessiert. weitere der Es folgten positive Signale seitens der Sowjetunion als Reaktion auf die intensivierten finnischen Bemühungen um eine Lösung des umstrittenen Problems. Sie fielen in den Zeitraum der oben erwähnten beginnenden Entkrampfung im Verhältnis zwischen den Supermächten und wurden im allgemeinen als Indiz dafür interpretiert, daß Moskau im Zuge der sich anbahnenden Verbesserung der internationalen Großwetterlage bereit sei, sich auch in Stockholm auf ernstgemeinte Verhandlungen einzulassen. Dieser Eindruck wurde verstärkt, als nach dem Wahlsieg Ronald Reagans Anfang November sehr bald eine Vereinbarung zwischen den Regierungen der USA und der UdSSR zustande kam, „Verhandlungen über Verhandlungen“ bei einem Außenminister-treffen Anfang Januar 1985 einzuleiten. Die Annäherung zwischen den Supermächten spiegelte sich sofort auch in Stockholm wider und zeigte sich in verdoppelten Anstrengungen, um zu einer Lösung der Prozedurfragen zu gelangen. Dabei galt es weiterhin, die Modalitäten des bevorstehenden substantiellen Verhandlungsprozesses so zu gestalten, daß die Hauptanliegen beider Seiten berücksichtigt wurden: einerseits alle auf dem Tisch liegenden Vorschläge im Sinne der Forderungen des Ostens gleichwertig zu behandeln, andererseits aber eine Situation zu vermeiden, die dazu führen konnte, daß Fragen, die der Westen als mit dem Madrider Mandat unvereinbar und daher als nicht verhandelbar betrachtete — z. B. die Verpflichtung zum Nichtersteinsatz von Kernwaffen —, dennoch in einem Schlußdokument irgendwie auf-scheinen müßten. Von Seiten der USA wurde mit besonderem Nachdruck hervorgehoben, daß die Bereitschaft, bestimmte Vorschläge zu diskutieren, keineswegs die Einwilligung impliziere, entsprechende Maßnahmen in ein erstes VBM-Paket aufzunehmen.

Diesen schwer zu vereinbarenden Forderungen wurde in dem Vorschlag zur Arbeitsstruktur Rechnung getragen, den die Delegation Finnlands im Namen der N+N-Gruppe Ende November einbrachte und der der formellen Entscheidung vom 3. Dezember 1984 zugrunde lag, durch die eine Einigung über die Prozedurfragen endlich zustande kam -Ähnlich wie in dem ursprünglichen Vorschlag Schwedens sollten danach zwei Arbeitsgruppen (A& B) gebildet werden, von denen mit über eine (B) sich Vorschlägen Vorankündigungen und Beobachtungen militärischer Aktivitäten befassen sollte, während in der anderen (A) alle übrigen Vorschläge zu behandeln waren, mit Ausnahme derjenigen, die das Plenum unter Umständen weiteren noch zu bildenden Arbeitsgruppen zuzuweisen beschließen könnte. Um eine gleichwer-tige Behandlung aller Vorschläge sicherzustellen, wurde die Zahl der wöchentlichen Sitzungen für jede der beiden Arbeitsgruppen im Konferenzjournal ausdrücklich festgelegt: drei für die Arbeitsgruppe A und zwei für B. Außerdem enthielt der Annextext eine Formulierung, in der eine „strukturierte“ Behandlung der Vorschläge sowie eine balancierte Zuteilung von Zeit für die verschiedenen Fragen vorgesehen war Aber auch die Interessen des Westens waren in dem Text beachtet worden: keine weitere Aufteilung der Vorschläge als die oben erwähnte wurde vorgenommen und der Text hielt ausdrücklich fest, daß die Zustimmung zur Diskussion eines Vorschlags nicht seine Annahme impliziere und in keiner Weise das Recht jeder Delegation einschränke zu beurteilen, ob der Vorschlag mit dem Mandat für die Konferenz konform sei. Die angenommene Arbeitsstruktur sollte bis zum Ende der 6. Sitzungsperiode, d. h. bis Mitte 1985, gültig sein. Sie sollte dann im Lichte der bis dahin gemachten Erfahrungen überprüft werden.

Die für die Stockholmer Konferenz nunmehr gültigen Prozedurregeln wurden sofort praktiziert, so daß die Diskussion von Substanzfragen während der letzten zwei Arbeitswochen des Jahres 1984 beginnen konnte. Bei den intensiven Auseinandersetzungen in den Arbeitsgruppen zeigte sich sehr bald, daß die Einigung über die Arbeitsstruktur der Konferenz keinen Durchbruch in bezug auf die sachlichen Standpunkte bedeutete. Hier kamen die Gegensätze, trotz der verbesserten Verhandlungsatmosphäre, mit aller Deutlichkeit zum Vorschein.

Substanzfragen, Machtkonstellationen und Zukunftsperspektiven

Ein informeller Gedankenaustausch über Sachfragen hat in Stockholm auch vor der Einigung über die Arbeitsstruktur der Konferenz stattgefunden, so daß die Entwicklung während des Jahres 1984 in dieser Beziehung keineswegs völlig blockiert war. Von Bedeutung sind hier vor allem die Denkprozesse und Positionsverschiebungen innerhalb der westlichen Allianz in bezug auf zwei zentrale Probleme gewesen: eine Bestätigung des Gewaltverzichtes sowie Maßnahmen, die eine physische Beschränkung militärischer Aktivitäten implizieren, sogenannte „constraints".

Die meisten der von der Sowjetunion vorgeschlagenen politischen bzw.deklaratorischen Maßnahmen sind von den Staaten des Westens als nicht verhandelbar abgelehnt worden. Nur in der Frage einer Bestätigung des Gewaltverzichtes durch die Stockholmer Konferenz zeigten sich die Mitglieder der NATO-Gruppe relativ bald zu einem gewissen Entgegenkommen bereit.

Am frühesten und deutlichsten wurde die Bereitschaft seitens der Bundesrepublik Deutschland signalisiert. Angesichts der wichtigen Rolle, die der Gewaltverzicht in der Ostpolitik Bonns während mehr als anderthalb Jahrzehnten gespielt hat, war diese westdeutsche Haltung durchaus natürlich. Dabei wurde von Sprechern der Bundesrepublik und der regierenden CDU/CSU hervorgehoben, eine Bestätigung des Gewaltverzichtes käme nur in Frage, wenn sie das Verhandlungswerk krönen würde und setze somit voraus, daß zuvor eine Einigung über konkrete vertrauensbildende Maßnahmen erzielt worden wäre

Die Vertreter der USA bezogen in diesem Punkt anfangs eine völlig ablehnende Position. Im Laufe des Jahres lockerte sich aber die amerikanische Haltung nicht zuletzt als Folge der westdeutschen Argumentation. Dies zeigte sich nicht nur im Rahmen der informellen Konsultationen in Stockholm, sondern auch in offiziellen Verlautbarungen, unter denen vor allem zwei Reden von Präsident Reagan zu erwähnen sind Der andere Problemkomplex, über den im westlichen Bündnis mindestens eine sehr intensive Auseinandersetzung stattgefunden hat, betrifft die für die NATO-Staaten sehr sensitiven „constraints". Sowohl die War-schauer-Pakt-Staaten wie die N+N-Gruppe fordern, wie dargelegt, Maßnahmen, die eine physische Beschränkung militärischer Optionen mit sich führen würden. Es ist natürlich kein Zufall, daß diese Kategorie von vertrauensbildenden Maßnahmen im NATO-Vorschlag völlig fehlt. Alle derartigen Beschränkungen — ob geographischer, quantitativer oder qualitativer Art (z. B. „Verdünnungszonen“, Obergrenzen bei Manövern oder Beschränkungen bei gewissen Typen von Streitkräften und Waffengattungen) — stellen die NATO als multinationale Verteidigungsallianz mit Streitkräften, die in einem sehr begrenzten und dichtbevölkerten Raum in der Bundesrepublik Deutschland konzentriert sind, vor schwierigste — wenn nicht unlösbare — Probleme.

Das von anderen Teilnehmerstaaten klar zur Schau getragene Interesse an optionsbeschränkenden Maßnahmen bewegte die Staaten des Westens dazu, in bisher recht unverbindlichen Aussagen ihre Bereitschaft zu bekunden, auch in diese Richtung zielende Vorschläge zu prüfen. Innerhalb der NATO-Gruppe hat im Laufe des Herbstes 1984 eine intensive Studienarbeit zu diesem Problem-komplex begonnen. Angesichts der derzeit gültigen Einschätzung der eigenen Interessenlage, vor allem seitens der USA und der Bundesrepublik Deutschland, muß es aber heute noch als eine offene Frage gelten, ob der Westen sich auch bei einem einigermaßen günstigen Verlauf der Stockholmer Verhandlungen schließlich dazu bereit finden wird, restriktive Elemente in jenes Paket von vertrauensbildenden Maßnahmen aufzunehmen, das laut Mandat aus der ersten KVAE-Phase hervorgehen soll.

Die Beschlüsse der Stockholmer Konferenz werden nach denselben Regeln gefaßt, die bei allen Konferenzen im Rahmen des KSZE-Prozesses gelten, d. h. durch ein Konsensverfahren. Ein Vorschlag kann somit nur dann angenommen werden, wenn keiner der Teilnehmerstaaten sich ihm ausdrücklich widersetzt. Diese Regel sollte die formelle Gleichberechtigung und Unabhängigkeit jedes einzelnen Teilnehmerstaates sicherstellen. Sie reflektiert aber nicht die wirklichen Machtverhältnisse und den tatsächlichen Verhandlungsverlauf. Dieser wird vielmehr durch kontinuierliche Konsultationen und ein intensives Feilschen zwischen einer Reihe von informellen Gruppierungen gekennzeichnet. Die wichtigsten dieser Gruppen sind bereits mehrfach erwähnt worden: die NATO-Gruppe, die Warschauer-Pakt-Gruppe und die Gruppe der neutralen und nichtpaktgebundenen Staaten. Auf Grund ihrer Hegemonialstellung in Osteuropa dominiert die Sowjetunion die Arbeit in der eigenen Gruppe vollständig, wenn man von den bekannten Extra-Touren Rumäniens absieht. Im Gegensatz zu früheren KSZE-Verhandlungen spielt aber in Stockholm auch die andere Supermacht in der Konferenzarbeit und den gruppeninternen Auseinandersetzungen eine sehr hervortretende Rolle. Der endgültige Durchbruch im Kampf um die Arbeitsstruktur der Konferenz wurde bezeichnenderweise bei einem bilateralen Gespräch zwischen den Delegationschefs der USA und der UdSSR erreicht.

Die Dominanz der Supermächte hängt nicht nur mit dem „militärischen“ Verhandlungsthema zusammen, sondern dürfte auch Folge der weltpolitischen Polarisierung sein, die die Entwicklung der letzten Jahre gekennzeichnet hat. Die Gruppe der EG-Staaten — bei früheren KSZE-Verhandlungen oft der eigentliche Gegenspieler der Sowjetunion — ist in Stockholm nicht so stark hervorgetreten, was u. a. darauf zurückzuführen sein dürfte, daß verteidigungspolitische Fragen nicht in den Kompetenzbereich der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ) fallen.

Die internationale Großwetterlage und das Verhältnis zwischen den Supermächten wird zweifellos auch in Zukunft den Gang der Dinge in Stockholm entscheidend beeinflussen. Im Laufe des ersten Halbjahres 1985 konnten Fortschritte in den Verhandlungen insofern erzielt werden, als der Gedankenaustausch in den Arbeitsgruppen durch Sachlichkeit, Verzicht auf Polemik und allseitige Bereitschaft zur Konkretisierung der Diskussion gekennzeichnet war. Auch diese Entwicklung muß vor dem Hintergrund der weltpolitischen Ereignisse gesehen werden. Die neuen Signale aus Moskau nach dem Aufstieg Michail Gorbatschows zum höchsten Posten der KPdSU sowie das für November 1985 ange'kündigte Gipfeltreffen zwischen Präsident Reagan und dem neuen sowjetischen Parteiführer haben sich auf den politischen Stellenwert der KVAE positiv ausgewirkt. Das bedeutet jedoch nicht, daß dem in Stockholm begonnenen Prozeß kein Eigenwert zukommt. Von diesem Prozeß können durchaus Impulse ausgehen, die nicht nur auf die allgemeine politische Atmosphäre einwirken, sondern auch die Rahmenbedingungen des Ost-West Verhältnisses verändern. Eine positive Wirkung dieses Prozesses kann aber nur dann erwartet werden, wenn der KVAE nicht eine Alibi-Funktion als Ersatz für ausbleibende Erfolge in anderen Verhandlungsgremien zugeteilt wird, sondern wenn sie als eines der Elemente in einem umfassenderen, auf Interessenausgleich abzielenden Interaktionsmuster der Großmächte ihren besonderen Stellenwert erhält. Dies setzt wiederum voraus, daß im Verhalten der Hauptpartner in Ost und West der Friedenssicherung als einer nur gemeinsam zu bewältigenden Aufgabe die ihr gebührende höchste Priorität zuerkannt wird.

Den europäischen Staaten — nicht zuletzt den neutralen und nichtpaktgebundenen — dürfte die KVAE auch bei einem einigermaßen günstigen Verhandlungsverlauf schwierige Entscheidungen abverlangen. Es liegt im ureigensten Interesse dieser Staaten, daß die Stockholmer Konferenz so bald wie möglich zur Annahme und Realisierung eines Satzes neuer, vertrauens-und sicherheitsbildender Maßnahmen führt. Damit wäre die Voraussetzung für die zweite Phase der KVAE geschaffen, in der es zu den von diesen Staaten sehr dringlich gewünschten Verhandlungen über Abrüstung in Europa kommen soll.

Aber der Wunsch, greifbare Ergebnisse zu erzielen und die Bahn für Abrüstungsverhandlungen frei zu machen, darf nicht dazu verleiten, die Schwierigkeiten und Risiken bei diesem Unterfangen zu unterschätzen. Die KVAE wird sich dem Abrüstungsthema nur dann zuwenden können, wenn in der ersten Phase auf dem Gebiet der vertrauensbildenden Maßnahmen für alle Teilnehmerstaaten zufriedenstellende Ergebnisse erreicht worden sind. Das setzt erst einmal einen Ost-West-Kompromiß in bezug auf die Schnürung eines Pakets von generellen Verpflichtungen einerseits und konkreten Maßnahmen andererseits voraus. Aber dies dürfte für einen positiven Abschluß der ersten Phase nicht genügen. Nach dem derzeitigen Stand der Dinge ist es jedenfalls schwer vorstellbar, daß die N + N-Staaten bereit sein werden, Informationen zur Verfügung zu stellen, die für ihre eigenen, rein defensiven Verteidigungsvorkehrungen von großer Bedeutung sind, wenn die Großmächte sich nicht zu Maßnahmen bequemen, die ihre militärischen Optionen eindeutig beschränken. Wie schwer es für die NATO-Staaten ist, diesen Wünschen der N + N-Gruppe — jedenfalls in der Form, wie sie bisher vorgetragen wurden — zu entsprechen, wurde bereits erwähnt Andererseits sind sich die Staaten der westlichen Allianz der Tatsache sehr wohl bewußt, daß sie die Unterstützung der N +N-Gruppe benötigen, um ihr dringlichstes Verhandlungsziel in Stockholm zu erreichen: größere Offenheit und Berechenbarkeit der militärischen Dispositionen in und um Europa.

Der Nachdruck, mit dem die Sowjetunion und andere Warschauer-Pakt-Staaten auf der Priorität eines Gewaltverzichtsabkommens bestehen, ist von manchen Teilnehmern an dem Stockholmer Verhandlungsprozeß als Indiz für eine langfristig angelegte Strategie gedeutet worden, die darauf hinausliefe, die 1975 in Helsinki erreichte politische Anerkennung des Status quo durch eine rechtlich verbindliche Anerkennung zu untermauern. Angesichts der Schwierigkeiten, eine völkerrechtliche Anerkennung durchzusetzen — so lautet die These —, strebten die Warschauer-Pakt-Staaten ein Verfahren an, das die Einhaltung von Gewaltverzichtsvereinbarungen durch einen Konsultationsmechanismus abstützen sollte. Mit der Einrichtung eines Forums zur Überwachung der Einhaltung des Gewaltverzichts könnte es so zu einer Institutionalisierung.des VBM-Bereiches kommen, die, wenn ausbaufähig gestaltet, schließlich einmal das von Moskau lange befürwortete kollektive Sicherheitssystem in Europa in greifbare Nähe bringen würde.

Der Gedanke einer Institutionalisierung des VBM-Bereiches war auch in dem ursprünglichen schwedischen Entwurf zu einem gemeinsamen Vorschlag der neutralen und nichtpaktgebundenen Staaten aufgetaucht, stieß aber auf Vorbehalte anderer Mitglieder dieser Staatengruppe. Sie argumentierten — vorläufig mit Erfolg — gegen eine frühzeitige Institutionalisierung von Teilbereichen der KSZE-Materie, da dies zu einer Aushöhlung der Implementationsdiskussion bei den Fol37 gekonferenzen und zu negativen Rückwirkungen auf den Gesamtprozeß der KSZE führen könnte.

Damit ist ein weiteres Problem angesprochen, das unter Umständen in der zweiten Phase der KVAE aktuell werden könnte. Viele Anzeichen deuten darauf hin, daß Moskau eine Fragmentisierung des KSZE-Prozesses und eine Verselbständigung der KVAE anstrebt. Dadurch würden die Probleme der Abrüstung in Europa den Schwerpunkt des multilateralen Verhandlungsprozesses ausmachen und für die Sowjetunion lästige Fragen wie die Achtung von Menschenrechten und die freiere Kommunikation zwischen Ost und West in den Hintergrund gestellt werden. Eine solche Entwicklung kann nicht im Interesse der anderen europäischen Staaten sein, da sie die Stellung der Sowjetunion als regionaler Hegemonialmacht noch stärker hervorheben und den Gesamtprozeß der KSZE schwer beeinträchtigen würde. Die Perspektive, daß dieser Prozeß einmal zu einer Überwindung der Teilung Europas führen kann, setzt nämlich voraus, daß er über viele Jahre hinweg einigermaßen ungestört fortgesetzt wird und das Gesamtregister jener Probleme der Sicherheit und Zusammenarbeit umfaßt, die in der Schlußakte von Helsinki aufgezählt sind.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. das abschließende Dokument des KSZE-Folgetreffens in Madrid vom 6. September 1983, in: Europa Archiv, 38 (1983) 20, D 537—D 554.

  2. Zur Interpretation des Geltungsbereiches der vertrauensbildenden Maßnahmen durch die War-schauer-Pakt-Staaten siehe Joachim Fesefeldt, Der Warschauer Pakt auf dem Madrider KSZE-Folgetreffen und auf der KVAE (ohne Rumänien), in: Berichte des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien, (1984) 40, S. 31bis33.

  3. Vgl. Anm. 1.

  4. Conference on Security and Cooperation in Europe/Stockholm Conference (CSC/SC) R. 1, S. 1 bis 9.

  5. CSCE/SC/R 2, S. 17— 24.

  6. CSCE/SC/R. 3, S. 11— 25.

  7. CSCE/SC. 1, vom 24. Januar 1984.

  8. CSCE/SC. 2, vom 25. Januar 1984.

  9. 1 Vgl. „Einigung der N + N Staaten in Stockholm“, in: Neue Zürcher Zeitung (NZZ) vom 9. März 1984.

  10. CSCE/SC. 3, vom 9. März 1984.

  11. Vgl. Joachim Fesefeldt (Anm. 2), S. 45.

  12. Vgl. Europa Archiv, 39 (1984) 7, S. D 207—D 208.

  13. CSCE/SC. 4, vom 8. Mai 1984.

  14. CSCE/SC. 5, vom 8. November 1984.

  15. Siehe Volker Rühe, Das Für und Wider eines Gewaltverzichtsvertrags im Rahmen der KSZE, der hierzu schreibt: „... Der Vorschlag eines Vertrages über Nichtersteinsatz von Nuklearwaffen ist jedoch für die NATO von mißtrauenbildender Wirkung, da er ihr die — wegen ihrer konventionellen Unterlegenheit zur Abschreckung notwendige — Option eines möglichen Ersteinsatzes von Atomwaffen nehmen würde ...“, in: Europa-Archiv, 39 (1984) 6, S. 164.

  16. Die kompromißlose Haltung Moskaus war außer durch taktische Überlegungen (siehe unten) auch durch die Tatsache bedingt, daß man in Moskau die Ansicht vertrat, bei der Formulierung des VBM-Mandats in Madrid zu kurz gekommen zu sein. Die ausgehandelte Kompromißformel, so konnte man von Ostdiplomaten in Stockholm immer wieder hören, gebe der sowjetischen Seite keine Garantie, für Breschnews Ural-Konzession aus dem Jahre 1981 „echte" westliche Kompensation zu erhalten.

  17. CSCE/SC. Journal Nr. 117 von der 123. Plenarsitzung der KVAE.

  18. Ebd., Annex.

  19. Eine frühere Version des finnischen Papiers hatte eine „Gruppierung" der Vorschläge innerhalb der beiden Arbeitsgruppen vorgesehen, durch die der Eindruck vermittelt werden konnte, tatsächlich seien fünf Arbeitsgruppen entstanden: dies wiederum konnte die Erwartung hervorrufen, daß jedes dieser fünf Themen je einem Hauptabschnitt im, Schlußdokument von der ersten Phase der KVAE in Stockholm entsprechen werde.

  20. Vgl. Volker Rühe (Anm. 15), S. 166.

  21. Vgl. z. B. die Aussagen von Unterstaatssekretär Lawrence Eagleburger kurz vor dem Konferenz-start in Stockholm in der New York Times vom 13. Januar 1984 mit den Reden von Präsident Reagan in Dublin am 4. Juni und vor der UNO am 24. September 1984; siehe Weekly Compilation of Presidential Documents, S. 833 bzw. S. 1357.

Weitere Inhalte

Karl E. Birnbaum, Dr. phil., geb. 1924; von 1958 bis 1960 Professor für Zeitgeschichte an der Universität Stockholm; 1960 bis 1970 Direktor des Außenpolitischen Instituts in Stockholm, anschließend Forschungsleiter sowie wissenschaftlicher Berater desselben; 1979 bis 1982 Direktor des Österreichischen Instituts für internationale Politik in Laxenburg bei Wien; zur Zeit Mitarbeiter des Außenpolitischen Instituts in Stockholm sowie Forschungsbeauftragter des SIPRI (Stockholm International Peace Research Institute). Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg. zus. mit Nils Andren) Belgrade and Beyond: The CSCE Process in Perspective, Alphen aan den Rijn 1980; (Hrsg.) Confidence Building Measures and East-West Relations, in: The Laxenburg Papers, 5 (April 1983), des österreichischen Instituts für internationale Politik.