Einleitung
Nachdem das hohe Alter Titos die politische Publizistik schon in den frühen siebziger Jahren zu immer neuen Spekulationen über das Schicksal Jugoslawiens „nach Tito" angeregt hatte, trat im Mai 1980 mit dem Tode des Partei-und Staatschefs die viel beschworene Belastungsprobe für den Vielvölkerstaat ein. Nunmehr hatte es sich zu entscheiden, ob das von ihm hinterlassene System des jugoslawischen Sozialismus stabil genug sein würde, auch ohne den Integrations-und Machtfaktor Tito auszukommen.
Der Verlust dieser Führungspersönlichkeit traf Jugoslawien aber nicht unvorbereitet. Schon seit Beginn der siebziger Jahre hatte Tito begonnen, in'Staat und Partei Vorkehrungen zu treffen, die darauf gerichtet waren, dem Lande auch ohne seine Führung innere und äußere Stabilität zu sichern. Um eine Bestandsgefährdung des Staates nach Titos Tod zu vermeiden, wurde ein System gleichberechtigter Teilhabe aller föderativen Gliedstaaten an der Politikgestaltung erdacht: Die Kompetenzen des Bundes wurden seit Beginn der siebziger Jahre rigoros zugunsten der Republiken und Provinzen beschnitten, und selbst die beim Bund verbliebenen Entscheidungen sollen aus der Absprache der föderativen Teileinheiten hervorgehen. Bei wichtigen Fragen ist gar der Konsens aller Republiken und der beiden Provinzen erforderlich. Alle zentralen Machtorgane werden paritätisch aus Repräsentanten der Republiken und — mit etwas geringerem Vertretungsanspruch — der Provinzen zusammengesetzt.
Um die Herausbildung von Machtzentren zu verhindern, regte Tito zudem ein Jahr vor seinem Tod an, die Führungsposten von Partei und Staat nur für die Dauer eines Jahres und nach einem Rotationsverfahren mit Vertretern der Republiken und Provinzen zu besetzen.
Der geordnete Übergang vom alten Staats-und Parteichef zu einem Kollektiv von im Ausland weithin unbekannten Funktionären demonstrierte in den Tagen des Mai 1980 der Welt, daß diese Nachfolgeregelung tragfähig zu sein schien. Der amerikanischen Politologe George Zaninovich sah in dem reibungslosen Wechsel von der Tito-zur Nach-Tito-Ära gar ein „unique experiment among Communist Systems" — ein Lehrstück für jene westlichen Sozialwissenschaftler, die es gewohnt waren, Jugoslawien nur aus der „internal crisis perspective" zu betrachten • Die lange Krankheit des Staatschefs hat den problemlosen Über-gang dabei zweifelsohne erleichtert. Der jährliche Wechsel an der Spitze von Partei und Staat hat die Funktionsfähigkeit des rotierenden Führungssystems aber auch über die Zeit der unmittelbaren Nachfolge hinaus seither mehrfach bestätigt.
Daß damit aber allenfalls eine Voraussetzung für die Wahrung von Stabilität geschaffen war, sollte sich schon bald nach dem Tode Titos zeigen. Wohl mit Ausnahme der Außenpolitik haben sich seither nämlich beinahe alle Teilbereiche jugoslawischer Politik als ausgesprochen krisenanfällig erwiesen.
I. Die Wirtschaftskrise
Nirgends wurde dies so schnell und so nachhaltig deutlich wie auf wirtschaftlichem Gebiet; nirgends zeigte sich aber auch so klar, daß die gegenwärtige Krise letztlich ein Ergebnis der Fehler in der Spätphase der Ära Titos ist. Relativ günstige Wachstumsraten von jährlich 5, 7% in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre hatten allzu leicht vergessen lassen, daß diese dynamische Wirtschaftsentwicklung auf einer inflatorischen Finanzierung und vor allem auf einer bedenkenlosen Nutzung ausländischer Kredite aufgebaut war Die ungehemmte Investitionstätigkeit der siebziger Jahre war aber nicht nur „geborgt", sie erbrachte zudem auch ökonomisch höchst zweifelhafte Resultate. Regionale Wirtschaftsinteressen verleiteten nicht selten zu einer unsinnigen Duplizierung der Kapazitäten. Eine niedrige Arbeitsproduktivität und ungenügende Qualität bei gleichzeitig relativ hohen Preisen machten jugoslawische Waren auf dem Hartwährungsmarkt zudem nicht konkurrenzfähig. Die Exporttätigkeit verlagerte sich so zunehmend auf den im Clearing-Verfahren abgewickelten „Osthandel". Der mangelnden Exportfähigkeit trat dabei eine nur gering ausgeprägte Exportneigung jugoslawischer Unternehmen zur Seite, da diese aufgrund der starken Binnennachfrage den bequemen inneren Markt dem Exportrisiko vorzogen. Bei stetig steigenden Importen aus Hartwährungsländern hatte diese Exportschwäche die entsprechend fatalen Folgen für die jugoslawische Leistungsbilanz. Gastarbeiter-Transferzahlungen und die Einnahmen aus dem Tourismus waren immer weniger in der Lage, das durch handelspolitische Unausgewogenheit gerissene Loch zu stopfen. -
Zur verfehlten Wirtschaftspolitik kamen ungünstige exogene Faktoren wie der Anstieg der ölpreise und die Zinssprünge auf dem internationalen Kapitalmarkt. Beide Faktoren verschärften die negativen Auswirkungen einer auf externe Mittel angewiesenen Wirtschaftsstrategie. Aber auch die zu Beginn der siebziger Jahre eingeleiteten Reformen des Selbstverwaltungssystems wirkten sich effizienzmindernd und damit krisenverschärfend aus. Vor allem die radikale Dezentralisierung der Unternehmen durch die Schaffung kleiner, aber weitgehend autonomer „Grundorganisationen der vereinigten Arbeit'1 innerhalb der Betriebe erschwerte die unternehmerische Entscheidungsbildung, zersplitterte das Betriebskapital und förderte so den durch Inflation und niedrige Zinsen ohnehin bereits ausgeprägten Trend zur Fremdfinanzierung von Investitionen noch zusätzlich.
Die Folge dieser Politik der siebziger Jahre war eine wachsende Verschuldung des Landes, die zu Beginn dieses Jahrzehnts pro Kopf sogar die Polens überstieg. Hatten die Auslandsschulden 1975 noch bei 5, 75 Mrd. Dollar gelegen, so schnellten sie bis 1984 auf ca. 20 Mrd. Dollar hoch Zinsen und Tilgung werden das Land noch bis mindestens 1990 jä 75 Mrd. Dollar gelegen, so schnellten sie bis 1984 auf ca. 20 Mrd. Dollar hoch 3). Zinsen und Tilgung werden das Land noch bis mindestens 1990 jährlich mit über 5 Mrd. Dollar belasten; allein der Schuldendienst hat in den vergangenen zwei Jahren ca. 60% der jugoslawischen Deviseneinnahmen geschluckt 4). Schon jetzt zeichnet sich ab, daß auch in diesem Jahr die notwendigen 5, 4 Mrd. Dollar — nach anderen Angaben gar Mrd. — wohl nicht aufzubringen sein werden 5).
Die jugoslawische Regierung reagierte auf die sich zuspitzende Situation im Herbst 1982 mit einem rigiden Austerity-Programm, dessen oberstes Ziel die Erhaltung der Liquidität war. Mit drastischen Importrestriktionen und einer verstärkten Exportorientierung wollte man den Liquiditätsengpass überwinden. Durch Einschränkung der freien Verfügbarkeit der Devisenkonten jugoslawischer Bürger sowie durch die (inzwischen wieder aufgehobene) Erschwerung von Auslandsreisen sollte der Devisenabfluß verhindert werden. Die zeitweilige Rationierung von Benzin, täglich mehrstündige Stromabschaltungen sowie die Verknappung von Waren des täglichen Gebrauchs prägten im Winter 1982/83 einen seit den ersten Nachkriegsjahren in dieser Weise nicht mehr gekannten Krisenalltag.
Waren diese Maßnahmen als kurzfristig wirkendes Krisenmanagement zur Überwindung der akuten Liquiditätsprobleme und damit zur Besänftigung der internationalen Gläubiger gedacht, so sollte das im Juli 1983 mit großem propagandistischem Aufwand ins Werk gesetzte „Langfristige Stabilitätsprogramm''dem schrittweisen Strukturwandel der jugoslawischen Wirtschaft hin zu mehr Effizienz und zu größerer Integration in den Weltmarkt dienen. In einer ersten Phase bis 1986 sollten die Zahlungsbilanz stabilisiert, die Exportorientierung weiter verstärkt, die Inflation bekämpft sowie die längst überfällige Überprüfung des Kredit-, Devisen-und Preissystems vorgenommen werden. In den darauf-folgenden Jahren soll dann eine langfristig wirksame Modernisierung der jugoslawischen Wirtschaft in Angriff genommen werden 6).
Die ergriffenen Maßnahmen zielten nicht zuletzt darauf, die internationalen Banken für weitere Hilfsmaßnahmen zu gewinnen. Nachdem schon im März 1983 Banken und Internationaler Währungsfonds (IWF) mit Finanzhilfen und Zahlungsaufschub eingesprungen waren, kam im März 1984 nach langen und zähen Verhandlungen mit dem IWF ein Finanz-paket von 3, 5 Mrd. Dollar zur Überbrückung der Liquiditätsprobleme zustande. Auch für 1985/86 wurde den Jugoslawen ein Überbrückungskredit avisiert Anders als in früheren Jahren war man allerdings nurmehr um den Preis konkreter Auflagen bereit, Jugoslawien unter die Arme zu greifen. So verpflichtete das IWF-Abkommen die jugoslawische Regierung zu vier Reformen:
— Abwertung des Dinars um real 25% sowie eine regelmäßige Anpassung der jugoslawischen Währung an den realen Außenwert, — Einführung positiver realer Zinsen, — Aufhebung der administrativen Preisbildung für die Mehrheit der Waren sowie — Stärkung der Finanzdisziplin der Unternehmen, denen bei Verlusten oder Nichterfüllung finanzieller Verpflichtungen eine unterdurchschnittliche Einkommensanhebung verordnet wurde.
Man würde den jugoslawischen Stabilitätsbemühungen nicht gerecht werden, wollte man ihnen jeglichen Erfolg absprechen. Im ganzen freilich kann von einem Durchbruch zum Besseren noch keine Rede sein. Positive Effekte wurden vor allem hinsichtlich einer Verbesserung der Leistungsbilanz erreicht, also in einem Sektor, in dem der größte Erfolgsdruck gegenüber den westlichen Gläubigern bestand. Die 1983 eingeleitete Politik der rigiden Importdrosselung und des Exports um jeden Preis erbrachte erstmals seit 1976 wieder einen Leistungsbilanzüberschuß Das Defizit im Handel mit Hartwährungsländern, das 1979 die Rekordhöhe von über 6 Mrd. Dollar erreicht hatte, konnte 1983 auf 1, 8 Mrd. Dollar reduziert werden. Die Deckungsrate der Importe, die 1979 bei nur knapp 50% gelegen hatte, schnellte auf über 80% hoch. Diese Erfolge des Jahres 1983 waren jedoch nicht Ergebnis eines insgesamt gestiegenen Export-volumens, sondern gingen zum einen auf eine Umleitung der Exporte vom Clearing-auf den Hartwährungssektor zurück; zum anderen waren sie Ergebnis der ständigen Importbeschränkungen, mit denen selbst zu Lasten der einheimischen Produktion die Einfuhren gedrosselt worden waren.
Die 1983 erzielte Verbesserung der Leistungsbilanz setzte sich auch 1984 fort. Im Unterschied zu 1983 war das Leistungsbilanzplus des vergangenen Jahres jedoch ein Ergebnis. realer Exportsteigerungen von insgesamt 6%. Von besonderem Wert war dabei die Zunahme des Exports in den konvertiblen Sektor, der um 9% gegenüber 1983 stieg Dennoch blieb dieses Ergebnis weit unter dem erhofften Zuwachs von 17%. Der Durchbruch auf dem westlichen Markt gelang somit auch 1984 nicht. Zudem zeigte sich bereits in der zweiten Jahreshälfte 1984 ein deutlicher Trend zur Abschwächung der Exportexpansion, so daß zweifelhaft ist, ob das Ergebnis des Vorjahres zu wiederholen sein wird.
Die Verbesserung der Leistungsbilanz war jedoch nicht ohne erhebliche negative Begleitumstände zu erzielen, denn die bedingungslose Exportoffensive bedeutete zugleich eine erhebliche Beeinträchtigung der einheimischen Produktion. Der den Jugoslawen auferlegte Zwang zur Devisenerwirtschaftung führte bisweilen zu absurden Ergebnissen. So wurden im Inland dringend benötigte Rohstoffe und Repromaterialien exportiert und mußten, wie z. B. in der Autoindustrie, anschließend wieder teurer importiert werden. Auch die angestrebte Verbesserung der Warenstruktur bei Exporten konnte nicht erreicht werden. Nach wie vor dominieren unter den exportierten Gütern Rohstoffe und Halbfertigwaren, während Endprodukte nur schwer abzusetzen sind
Neben der Verbesserung der Leistungsbilanz wird man wohl auch die Steigerung der Industrieproduktion, die 1983 um 1, 3% und 1984 um 5, 3 % anstieg, als Teilerfolg der bisherigen Stabilitätsbemühungen werten dürfen Bei Aufrechterhaltung der strikten Begrenzung der Investitionen, die 1983 um 13% und 1984 um 10% rückläufig waren, dürften einer weiteren Steigerung der Industrieproduktion allerdings Grenzen gesetzt sein.
Während die Leistungsbilanzerholung und die Hebung der Industrieproduktion als positive Ansätze der jugoslawischen Stabilisierungsbemühungen zu werten sind, ist man in allen anderen Bereichen des wirtschaftlichen Lebens unverändert weit von einer Besserung entfernt. Dies gilt vor allem für die Inflation, die in den ersten Monaten dieses Jahres auf ca. 80% angestiegen ist Alle von der Regierung ergriffenen Maßnahmen, die sich allerdings vorwiegend in administrativ verhäng-ten Preisstopps erschöpften, haben bislang keine Wirkung gezeigt. Zum Teil stellten sich sogar gegenteilige Wirkungen ein, so im Dezember 1983, als das vorzeitige Bekanntwerden eines Preisstopps zu einem erheblichen Teuerungsschub führte.
Auch die rückläufige Arbeitsproduktivität — sie zählt zu den niedrigsten in Europa — konnte nicht gestoppt werden und sank allein seit 1980 um 4% Ursächlich für deren niedriges Niveau sind zum einen hohe Fehlzeiten und eine gering ausgeprägte Arbeitsdisziplin. Zum anderen fällt auch der Lohn als Anreiz für Produktivitätssteigerungen aufgrund der hohen Inflation und damit verbundener Reallohneinbußen zunehmend aus. Nicht zuletzt stehen aber auch die trotz Wirtschaftskrise immer noch recht expansive Beschäftigungspolitik und eine latente Überbeschäftigung, insbesondere in der Verwaltung, einer Produktivitätssteigerung im Wege.
Nach wie vor uneingelöst ist aber vor allem die im Stabilitätsprogramm angestrebte Strukturreform der jugoslawischen Wirtschaft, die eine Besserung nicht von kurzfristigen „Roßkuren" abhängig macht. So wartet die beabsichtigte Reform des Planungs-, Kredit-und Devisensystems immer noch auf ihre Vollendung Ihre Ergebnisse bleiben ebenso abzuwarten wie die im vergangenen November beschlossenen Erleichterungen für ausländische Investoren, die dazu dienen sollen, den bislang marginalen Anteil ausländischer Investitionen am Gesamtinvestitionsvolumen (0, 6%) zu steigern Alle strukturellen Reformabsichten werden dabei freilich nicht zuletzt durch die sich blockierenden Interessen der Republiken und Provinzen erschwert, auf die noch näher einzugehen sein wird.
Sowohl die bisherigen Ergebnisse des Sanierungskurses als auch die wenig ausgeprägte Fähigkeit der politischen Führung zur Verwirklichung der Reformabsichten machen es daher wenig wahrscheinlich, daß die für das Jahr 1985 gesteckten Ziele auch tatsächlich erreicht werden. Ein Wachstum des Bruttosozialprodukts von 3% in diesem Jahr wird von ausländischen Beobachtern als zu optimistisch angenommen. Auch die avisierte Steigerung der Exporte um 12% scheint nach den Ergebnissen der ersten drei Monate dieses Jahres kaum mehr realisierbar. Das Exportvolumen lag insgesamt in diesem Zeitraum nur um 1 % über dem des vergangenen Jahres. Im konvertiblen Sektor war die Ausfuhr gar um 5% geringer Die bis 1990 angestrebte Reduzierung der Auslandsverbindlichkeiten von 19 auf 16 Mrd Dollar wurde daher selbst unter den Abgeordneten der Bundesversammlung als zweifelhaft angesehen > auf 16 Mrd Dollar wurde daher selbst unter den Abgeordneten der Bundesversammlung als zweifelhaft angesehen 17). In jedem Fall wird die Erreichung dieses Ziels ohne die Mitwirkung des Internationalen Währungsfonds (IWF) kaum zu erreichen sein. Die jugoslawische Ankündigung, künftig keine „Diktate" ausländischer Banken und des IWF mehr zu akzeptieren und statt dessen auf einem langfristigen Umschuldungsabkommen anstelle der mit strikten Auflagen verbundenen jährlichen Vereinbarungen zu beharren, dürfte dabei allerdings an der nach wie vor schwachen Position Jugoslawiens scheitern.
II. Die soziale Krise
Die wirtschaftlichen Einbrüche der vergangenen Jahre haben zwangsläufig auch zu einer erheblichen Beeinträchtigung der sozialen Lage der Bevölkerung geführt. So sank der Reallohn zwischen 1980 und 1984 um 34% 18). Der monatliche Lohn deckt mittlerweile allenfalls noch zwei Drittel der Lebenshaltungskosten einer vierköpfigen Familie, — der Rest wird aus Schwarzarbeit, Devisenreserven oder Ersparnissen bestritten. Nebenerwerbslandwirtschaft oder verwandtschaftliche Be-Ziehungen zum Dorfe sind in vielen Fällen der einzige Notnagel, der ein Durchstehen der Krise ohne allzu große Substanzverluste ermöglicht. 2, 5 Millionen Menschen, so bilanzierte der „Sozialistische Bund" im Juli 1984, seien gegenwärtig in die Kategorie der „sozial gefährdeten" Bürger einzuordnen.
Neben den Auswirkungen der Krise auf den Lebensstandard weitet sich die Arbeitslosigkeit immer mehr zum dringendsten sozialen Problem aus. Der Optimismus der frühen siebziger Jahre, als man sich einen schrittwei-sen Abbau der Beschäftigungslosigkeit bis zur Mitte der achtziger Jahre erhoffte, ist längst von der Realität widerlegt worden. Die Zahl der Arbeitssuchenden ist vielmehr konstant gestiegen und hat mit fast 1 Million mittlerweile eine Quote von 13, 1% erreicht. Dabei wurde in Jugoslawien stets eine Politik des gezielten Beschäftigungswachstums betrieben. Seit 1970 wuchs die Zahl der Beschäftigten mit 185 000 pro Jahr doppelt so schnell wie die Erwerbsbevölkerung. Selbst in den vergangenen Krisenjahren hat man auch bei unausgelasteten Kapazitäten und ohnehin niedriger Produktivität die Beschäftigungszahlen weiter gesteigert. Dennoch ließ sich ein Ansteigen der Arbeitslosenzahlen nicht verhindern. Hierbei gilt es zudem die erheblichen regionalen Differenzen zu berücksichtigen, die von Vollbeschäftigung in Slowenien bis zu 30% Arbeitslosen in Kosovo reichen. Bedrohlicher noch als die absolute Zunahme der Arbeitslosenzahlen ist dabei der Struktur-wandel innerhalb der Beschäftigungssuchenden zu werten, der sich in den vergangenen zehn bis fünfzehn Jahren vollzogen hat. Drei Viertel der Arbeitslosen sind heute keine 30 Jahre alt, immer häufiger handelt es sich dabei um qualifizierte Kräfte, die erst am Anfang ihres Berufslebens stehen
Die soziale Aufstiegsmobilität, die für das Jugoslawien der sechziger Jahre kennzeichnend war, ist damit offenkundig an ihre Grenzen gestoßen. Wie schwer dieses Problem zu bewältigen sein wird, geht allein aus der Tatsache hervor, daß die für 1985 angestrebte Steigerung der Beschäftigtenzahlen um 2, 5% lediglich die nachrückende Generation und die Quote der aus der Landwirtschaft Drängenden absorbieren würde; zu einem Abbau der Arbeitslosigkeit kann auch sie nicht beitragen. Eine im „Langfristigen Stabilitätsprogramm" bis zum Jahre 2000 angestrebte Reduzierung der Arbeitslosigkeit „bis nahe an die Vollbeschäftigung" wird daher wohl nur schwer zu erreichen sein. Realistischer dürfte in diesem Zusammenhang die Prognose des Belgrader „ökonomischen Instituts" sein, die auch für das Jahrhundert noch von einem unbewältigten Beschäftigungsproblem ausgeht 21).
Vor dem Hintergrund der sich ständig verschlechternden sozialen Lage der Beschäftigten sind vor allem Streiks als Ausdruck einer Verschärfung des sozialen Klimas und als Vorboten politischen Protestes gewertet worden. Eine Analyse der insgesamt eher dürftigen Angaben über Streiks rät hier aber zur Vorsicht. So hatte es zu Beginn der Krise 1981 mit 174 Streiks laut Belgrader NIN die seit fünf Jahren niedrigste Zahl an Ausständen gegeben. In den ersten sechs Monaten des Jahres 1983 war mit 172 Streiks zweifelsohne eine bedeutsame Steigerung zu verzeichnen, doch erhöhte sich deren Zahl 1984 im gleichen Zeitraum mit 176 nicht mehr nachhaltig Hinsichtlich der Merkmale der Ausstände läßt sich zudem eine signifikante Radikalisierung, etwa verglichen mit den Streiks der sechziger Jahre, bislang nicht feststellen. Wie seit eh und je blieb die Zahl der Teilnehmer gering und beschränkte sich auf die unmittelbar von Mißständen betroffenen Betriebe bzw. Betriebsteile. In Kroatien etwa nahmen in den ersten zwei Monaten des Jahres 1984 an 20 Streiks durchschnittlich nur 50 Arbeiter teil Auch die Dauer der Streiks bewegte sich in dem seit den sechziger Jahren bekannten Rahmen. In aller Regel handelt es sich um Arbeitsniederlegungen, die innerhalb eines Arbeitstages beigelegt werden Die Ursachen der Streiks freilich spiegeln die Auswirkungen der Krise deutlich wider: verzögerte Lohnzahlungen oder Einschränkungen des Einkommens infolge betrieblicher Liquiditätsprobleme, häufig aber auch eine verfehlte Informationspolitik gegenüber den Beschäftigten sind die häufigsten Anlässe für die Einstellung der Arbeit. Gemessen an den gravierenden sozialen Folgen der Krise scheint aber eher das immer noch relativ geringe Maß an Streiks erklärungsbedürftig zu sein, als daß man bereits von einer radikaler werdenden Protestbewegung unter den Arbeitern sprechen könnte. Selbst der Vorsitzende des jugoslawischen Gewerkschaftsbundes, Duan Bogdanov, zeigte sich beinahe verwundert darüber, wie wenig gestreikt würde. Daß dies keinen Wechsel auf die Zukunft darstellt, ist aber auch Partei, Regierung und Gewerkschaften klar. Das Vorstandsmitglied des kroatischen Gewerkschaftsverbandes Ivan Bildandiija mochte denn auch bei anhaltender Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage die Möglichkeit sozialen Unfriedens nicht mehr ausschließen
III. Die Krise des politischen Systems
Die Krisenerscheinungen beschränken sich nicht auf den wirtschaftlichen und sozialen Sektor allein. Auch in Jugoslawien wird mittlerweile nicht mehr bestritten, daß auch das politische System eine ganze Reihe von korrekturbedürftigen Fehlentwicklungen aufweist, die zum Teil für die wirtschaftlichen Schwächen mitverantwortlich sind. Ähnlich wie bei der wirtschaftlichen Entwicklung verweisen auch die Schwachstellen im Selbstverwaltungssystem dabei letztlich auf die frühen siebziger Jahre, also auf die Spät-Phase der Ära Tito. Um die unmittelbaren Entscheidungskompetenzen der Arbeiter zu stärken, hatte man damals damit begonnen, die Betriebe in überschaubare, autonome betriebliche Teileinheiten, sogenannte „Grundorganisationen der vereinigten Arbeit“ (GOVA), aufzugliedern. Das Gesamtunternehmen wurde demgegenüber auf einen mehr oder weniger lockeren Verbund selbständiger Grundorganisationen reduziert Im bis dahin nur wenig in das Selbstverwaltungssystem einbezogenen „öffentlichen Dienst" wurden die so-genannten Selbstverwaltungsinteressengemeinschaften ausgebaut, in denen die im Dienstleistungssektor Beschäftigten und die diese Dienstleistungen nutzenden Bürger Finanzierung und Leistungsangebot selbständig und ohne staatliche Intervention regeln sollten. Die beabsichtigten demokratisierenden Effekte dieser Reformen blieben allerdings weitgehend aus. Während die Einführung der GOVA den faktischen Einfluß der Arbeiter und des Arbeiterrates auf die betrieblichen Entscheidungen nicht grundlegend gefördert hat verleitete die extreme Dezentralisierung der Unternehmensstruktur zu einer Aufsplitterung der betrieblichen Entscheidungsfindung, die sich auf deren Effizienz ausgesprochen negativ auswirkte. Jede „Grundorganisation", so die Erfahrung, neigt dazu, sich gegenüber anderen abzuschotten, produziert eine Vielzahl an Funktionären und Verwaltungsapparaten und ist in der notwendigen Abstimmung mit anderen „Grundorganisationen" auf langwierige Koordinationsprozesse angewiesen. Auch mit dem Ausbau der »Selbstverwaltungsinteressengemeinschaften“ hat man hinsichtlich einer größeren Mitwirkung der Betroffenen nur wenig gewonnen, dafür aber eine Vielzahl an effektivitätshemmenden Entwicklungen eingetauscht. Interessengemeinschaften wurden in einem Ausmaß gegründet, das häufig rationeller Ressourcen-verwendung widersprach. Beide Reformen, die GOVA und die Interessengemeinschaften, mochten zwar vom Standpunkt des Selbstverwaltungsgedankens aus bestechend erscheinen, waren jedoch in der Praxis nur um den Preis erheblicher Effizienzverluste am Leben zu erhalten.
Als unliebsame Folge der Reformen der siebziger Jahre erwies sich zudem immer deutli-
eher, was gegenwärtig in Jugoslawien unter dem Schlagwort des „übertriebenen Normativismus" kritisiert wird. In der Tat verlangt die Koordinierung der einzelnen dezentralen Selbstverwaltungseinheiten mittels sogenannter Selbstverwaltungsabkommen eine Fülle an gesetzlichen Vorschriften und formalen Prozeduren, für die, wie der Belgrader Politologe Radivoje MarinkoviC kritisierte, . „mehr Zeit und Energie aufgewendet werden muß als auf die wirklichen Probleme"
Hinzu kommt, daß viele dieser mühsam geschlossenen Abkommen zwischen Selbstverwaltungseinheiten in der Praxis nur ungenügend eingehalten werden, strittige Fragen ausklammern oder auf weitere zeitintensive Koordinierungsverhandlungen vertagen.
Seine wohl problematischsten Auswirkungen hat das Prinzip einer auf Konsensbildung von autonomen Teileinheiten beruhenden Entscheidungsbildung dort gezeigt, wo es zugleich am sensibelsten ist — auf der föderativen Ebene. Die 1971 als Stabilisierungsbeitrag für die Zeit nach Tito eingeleitete radikale Föderalisierung hat, so unverzichtbar sie im Prinzip für den Vielvölkerstaat auch ist, in der Praxis letztlich in vielerlei Hinsicht kontraproduktiv gewirkt. Der Grundsatz der Absprachen und des Konsenses zwischen den Republiken und Provinzen bei allen wichtigen bundespolitischen Entscheidungen hat eine Eigendynamik entwickelt, die eine einheitliche und zügige Bundespolitik vielfach behindert, ja in einigen Fällen sogar verhindert hat. Wichtige Beschlüsse wie beispielsweise im Falle der Devisenverteilung wurden aufgrund von Abstimmungsproblemen zwischen Bund, Republiken und Provinzen gar nicht oder zu spät verabschiedet, andere kamen nur als vor-läufige Verordnungen zustande oder waren das Ergebnis von mühsam errungenen, in der Sache wenig nützlichen Kompromissen In diesem Zusammenhang betonte der serbische Politiker Dragoslav Markovic auf der 14. ZK-Sitzung im Oktober 1984, daß die Pflicht zum Konsens aller Gliedstaaten von einem guten Prinzip für bestimmte Fragen zum Entscheidungsprinzip für beinahe alle Fragen und jedes Gremium überdehnt worden sei
Möglichkeiten zur Blockade bundespolitischer Entscheidungen ergeben sich den Republiken und Provinzen dabei nicht nur über den als föderatives Vertretungsorgan fungierenden „Rat der Republiken und Provinzen" des Bundesparlaments. Der ebenfalls nach Republikenproporz gebildete „Bundesrat" dupliziert diesen Einfluß der Gliedstaaten noch, denn auch die Abgeordneten dieser zweiten Kammer des Bundesparlaments tendieren ebenso wie die Abgeordneten des Republiken-Rates dazu, sich in erster Linie als Repräsentanten „ihrer" Republik bzw. Provinz zu verstehen. Gegen diese Einflußmöglichkeiten der Republiken und Provinzen auf die Bundespolitik haben sich weder das ebenfalls paritätisch besetzte kollektive Staatspräsidium mit seinem jährlich wechselnden Vorsitzenden noch die Bundesregierung als richtungsweisendes und zugleich integrierendes Organ behaupten können
Die Gefahr der Handlungsunfähigkeit als Folge der Verselbständigung der Republiken und Provinzen zeigte sich aber nicht nur auf der staatlichen Ebene, auch für die Partei ist eine ähnliche Entwicklung unübersehbar. So wurde insbesondere der von Tito zu Beginn der siebziger Jahre durch rigide „Säuberungen“ vor allem in Kroatien und Serbien erneuerte Imperativ des Demokratischen Zentralismus seit dem Tode des charismatischen Parteiführers zunehmend durch zentrifugale Tendenzen neutralisiert. Nirgends zeigte sich dies in den vergangenen Jahren deutlicher als bei der Bekämpfung der Wirtschaftskrise. Obwohl das 9. Plenum des Zentralkomitees im Sommer 1983 das „Langfristige Stabililtäts-Programm“ angenommen und alle Parteiorganisationen zur konsequenten Realisierung aufgerufen hatte, sind seither die Klagen über dessen schleppende Verwirklichung nicht verstummt -„Einheitlich gefaßte Beschlüsse auf Landesebene“, so resümiert ein Bericht des Parteivorstandes vom Juni 1984 den gegenwärtigen Zustand der Partei, „werden nur halbherzig ausgeführt, und zumeist auch nur das, was einer bestimmten Region momentan gerade entspricht.. .
Ein zweiter Bereich, in dem divergierende Republik-Interessen gegenwärtig gemeinsame Beschlüsse der Partei erschweren, ist die Frage einer Reform des politischen Systems. Als strittig erwies sich dabei vor allem, wie weit eventuelle Änderungen am politischen System zu gehen hätten. Schon bald begann die Presse, die sogenannten „ustavnobranitelji“ — die „Verfassungsverteidiger" — jenen gegenüberzustellen, die auch zu Eingriffen in die institutionelle und verfassungsrechtliche Struktur des Systems bereit waren. Zum Vorreiter von Änderungen machte sich dabei insbesondere die serbische Parteiführung. Ihre Intentionen laufen vor allem auf vier Ziele hinaus:
1. Änderungen an der Unternehmensstruktur, mit denen die 1971 eingeleitete Atomisierung der Betriebe in mehrere GOVA wieder zugunsten größerer Kompetenzen der gesamt-betrieblichen Organe abgebaut werden soll.
2. Das auf Titos Initiative hin eingeführte einjährige Mandat für Spitzenpositionen soll durch eine längere, zwei-bis vierjährige Amtszeit ersetzt werden.
3. Das in der Föderation praktizierte Konsensprinzip soll auf wirkliche Schlüsselfragen beschränkt werden, um eine Blockade bundes-politischer Entscheidungen zu vermeiden 4. Für das meiste Aufsehen sorgten Überlegungen, die auf eine Stärkung der Kompetenzen der Republik Serbien gegenüber den beiden ihrem Territorium inkorporierten Provinzen Kosovo und Vojvodina hinausliefen, da diese sich in serbischen Augen zu weit von Serbien entfernt und praktisch zu eigenständigen Republiken entwickelt haben. Angesichts des zuletzt genannten Vorschlags kann es nicht verwundern, daß Kritik an den serbischen Ideen vor allem aus den beiden genannten Provinzen kommt. Beide mochten den Vorwurf des „autonomatvo" — des übertriebenen Autonomiestrebens der Provin-zen—, wie er in einer für jugoslawische Diskussionen typischen Wortschöpfung genannt worden ist, nicht gelten lassen und machten unmißverständlich klar, daß sie zu einer Beschneidung des Status quo zu Lasten der Provinzen nicht bereit seien Zwar wurden die unterschiedlichen Auffassungen mittlerweile hinter verschwommenen gemeinsamen Beschlüssen verdeckt, in denen einerseits die Stellung der Provinzen bestätigt und andererseits aber mehr „Gemeinsamkeiten“ von Republik und Provinzen gefordert werden, die Differenzen sind damit freilich nur aufgeschoben, nicht aber aufgehoben
Aber auch in anderen Republiken sind die serbischen Intentionen nur auf wenig Gegenliebe gestoßen. Zu sehr befürchtet man eine Renaissance des seit Mitte der sechziger Jahre mühsam abgebauten serbischen Vormachtsanspruchs. Vor allem slowenische Vertreter wandten sich gegen allzu weitgehende Reformabsichten. Der slowenische Parteifunktionär Andrej Marine sprach sich sogar dafür aus, die Diskussionen über eine Reform des politischen Systems künftig nicht mehr öffentlich zu führen, da dies lediglich zu einer „politischen Krise" führen könne Aber auch in Kroatien zeigt man sich gegenüber allzu weitgehenden Vorschlägen überaus reserviert Eine grundlegende Reform des politischen Systems, die über graduelle Modifikationen hinausgeht, dürfte somit gegenwärtig nicht konsensfähig sein.
IV. Unverändert aktuell: die nationale Frage
Auch der seit jeher virulenteste Krisenfaktor des jugoslawischen Staates, die nationale Frage, zeigte die ersten Jahre nach Tito neue Eruptionen. Am meisten gilt dies sicherlich für die mehrheitlich von Albanern bewohnte Provinz Kosovo. Ausgehend von Studenten-demonstrationen, kam es hier im Frühjahr 1981 zu Unruhen, die nur durch den massiven Einsatz von Polizei und Militär zu befrieden waren Die Provinz mußte zeitweilig unter Ausnahmezustand gestellt werden; von offizieller Seite wurden neun Tote gemeldet, andere Schätzungen liegen weit höher
Die Unruhen vom Frühjahr 1981 waren das vorerst letzte Kettenglied in einer ganzen Reihe von Demonstrationen und Unruhen, die diese Region seit Kriegsende erfaßt haben. Will man deren tiefere Ursachen verstehen, gebietet es sich, einen Blick auf die sozialen und ökonomischen Probleme des . Armenhauses Jugoslawiens" zu werfen.
Bis Mitte der sechziger Jahre war die Provinz Kosovo eine von Belgrad vernachlässigte Re-gion; ihre albanische Bevölkerungsmehrheit lebte im Zustand mehr oder weniger offener politischer, kultureller und sozialer Diskriminierung Erst nach dem nationalitäten-politischen Kurswechsel im Gefolge des Rankovi-Sturzes 1966 wurde eine Wende zum Besseren eingeleitet. Insbesondere die siebziger Jahre standen im Zeichen einer politischen Aufwertung der Provinz, der kulturellen und nationalen Entfaltung der albanischen Bevölkerung und einer wirtschaftlichen Förderung dieser so lange vergessenen Region. Schrittweise wurde die Stellung der Provinz Kosovo ausgebaut und ihre Kompetenzen denen der Republiken angenähert. Allerdings blieb ihr die den Republiken eigene Staatlichkeit und damit auch das Recht auf Sezession versagt. Die politische Führung der Provinz ging in die Hände einer albanischen Elite über, die unter der Führung des damaligen Parteichefs Mahmut Bakalli in den siebziger Jahren eine geschickte Politik der Maximierung der Autonomie Kosovos von Serbien und der Stärkung der Position der Provinz innerhalb der jugoslawischen Föderation betrieb, ohne dies jedoch mit der Forderung nach einem Republik-Status zu verbinden. Alle Organe wurden zunehmend entsprechend des Bevölkerungsanteils mit Albanern und Serben besetzt
Erhebliche Anstrengungen wurden zudem unternommen, um die Benachteiligung alba-nischer Jugendlicher im Bildungsbereich abzubauen. Die Zahl der albanischen Mittelschüler wurde so im Laufe der siebziger Jahre ebenso der Bevölkerungsverteilung angenähert wie die Zahl der Studenten. Bei letzteren setzte gar eine unkontrollierte Explosion ein, die die neu gegründete Universität Priätina innerhalb weniger Jahre zur relativ größten Universität des Landes werden ließ. Der forcierte Ausbau des Hochschulwesens im Kosovo hatte dabei eine doppelte Funktion: Zum einen sollte er das Problem der Jugendarbeitslosigkeit mildern helfen, zum zweiten diente er aber auch als ein von der politischen Führung der Region gepflegtes StatusSymbol wachsender nationaler albanischer Eigenständigkeit. Umgekehrt ließen freilich auch Funktionäre aus dem Bund keine Gelegenheit aus, den Bildungsboom im Kosovo als Beleg für eine großzügige Entwicklungshilfe ins Feld zu führen. Der hohe nationalitäten-politische Stellenwert des Universitätsausbaus wird nicht zuletzt aus dem Umstand erkennbar, daß der überwiegende Teil der Studenten in geistes-oder sozialwissenschaftlichen Fächern, häufig in albanischer Geschichte oder Literatur, immatrikuliert war
Eine derartige einseitige fachliche Ausrichtung, die relativ geringe Mobilität albanischer Jugendlicher, häufig aber auch mangelhafte serbokroatische Sprachkenntnisse machten Absolventen der Universität Priätina jedoch außerhalb des Kosovo kaum einsetzbar. Dabei zeigte sich die schwach entwickelte Wirtschaft der Provinz selbst nicht in der Lage, die stetig wachsende Zahl von Hochschulabsolventen aufzunehmen. Der Boom höherer Schulausbildung trug so zwar zum Abbau nationaler Diskriminierung bei, konnte jedoch für eine Vielzahl von Jugendlichen das Problem sozialer Perspektivlosigkeit nicht lösen. Schüler und Studenten wurden denn auch zum „Kerntrupp" des Protestes des Jahres 1981.
Hinsichtlich der Beseitigung des im Kosovo besonders schweren Erbes des Analphabetismus konnten nur Teilerfolge erreicht werden. Zwar gelang es, die Zahl der Analphabeten erheblich zu reduzieren, so daß fehlende Lese-und Schreibfähigkeit heute vornehmlich ein Problem der älteren Generation darstellen, aber dessenungeachtet nimmt der Kosovo in dieser Beziehung nach wie Vor nicht nur insgesamt, sondern auch unter den Jugendlichen sowie den 20-bis 34jährigen den vordersten Rang unter den jugoslawischen Republiken und Provinzen ein.
Als weitgehend gescheitert müssen demgegenüber die Bemühungen um einen ökonomischen Anschluß Kosovos an den jugoslawischen Durchschnitt gewertet werden, denn trotz erheblicher Anstrengungen wuchs der Abstand zu den übrigen Regionen Jugoslawiens kontinuierlich. Hatte Kosovo noch zu Beginn der fünfziger Jahre gut 50% des jugoslawischen Gesellschaftsproduktes erreicht, so betrug der Anteil zu Beginn der achtziger Jahre lediglich ein Drittel Die Arbeitslosenquote stieg auf ca. 30% an. Auch nach jugoslawischen Schätzungen muß jedoch über die offiziell gemeldeten ca. 70 000 Beschäftigungssuchenden hinaus von bis zu 200 000 faktisch Arbeitslosen ausgegangen werden Fast die Hälfte der registrierten Arbeitssuchenden ist unter 25 Jahre alt, 73% unter 30 Jahre. Erschwerend kommt hinzu, daß entgegen allen Bemühungen die Beschäftigungsquote der Albaner unverändert unter ihrem Bevölkerungsanteil liegt, während Serben doppelt so häufig unter den Beschäftigten zu finden sind, wie ihr Anteil an der Bevölkerung ausmacht
Anders noch als in den sechziger Jahren wird man diese prekäre Situation Kosovos kaum mehr dem mangelnden Willen zur Unterstützung der Provinz zuschreiben dürfen, denn von den im Planjahrfünft 1981 bis 1985 vorgesehenen 1, 83% des jugoslawischen Gesellschaftsproduktes zur Förderung der unterentwickelten Regionen entfielen 42, 6% auf den Kosovo; 1961 bis 1965 hatte dieser Anteil noch bei nur 20, 8% gelegen Daß derartige Hilfsmaßnahmen aber dennoch nicht zum gewünschten Erfolg führten und der Provinz keine soziale und ökonomische Entwicklung ermöglichten, die nationale Eruptionen verhindern helfen konnte, liegt ebenso an subjektiven politischen Fehlern wie an kurz-oder mittelfristig kaum zu behebenden Strukturproblemen der Provinz. Zum einen erwies sich deren Investitionsquote, die stets unter dem jugoslawischen Durchschnitt lag, als zu niedrig, um das ambitionierte Ziel des „Einholens" der anderen Regionen zu erreichen. Zum zweiten wurden die aufgewendeten Investitionen zum überwiegenden Teil in kapitalintensive Basisindustrien gesteckt. Damit nutzte man zwar die reichen natürlichen Re-serven der Provinz, erzielte aber nur relativ geringe beschäftigungspolitische Effekte Die verarbeitende Industrie und vor allem die Landwirtschaft wurden hingegen vernachlässigt. Als dritter, die Effizienz der aufgewendeten Förderungsmittel einschränkender Faktor ist die Bevölkerungsentwicklung der Provinz zu nennen. Kosovo hat die höchste Geburtenrate Jugoslawiens und eine der höchsten Europas. Allein zwischen 1971 und 1981 vermehrte sich die Bevölkerung um ein Drittel. Langfristige demographische Prognosen sagen bis zur Jahrtausendwende eine Zunahme um eine weitere Million voraus, so daß mit ca. 2, 5 Millionen Einwohnern die Provinz dann über mehr Einwohner verfügen wird als die Republiken Montenegro, Slowenien, Mazedonien und die Provinz Vojvodina Das in allen nationalen Auseinandersetzungen zu ver. nehmende Argument der Bevölkerungsstärke für die Umwandlung der Provinz in eine eigene Republik dürfte damit immer stärkeres Gewicht erhalten.
Berücksichtigt man, daß infolge der Wirtschaftskrise die Möglichkeiten der Entwicklungsförderung ohnehin zunehmend begrenzt sind, dann dürfte eine spürbare Verbesserung der Lage im Kosovo mittelfristig kaum zu erreichen sein. Die Verluste der Unternehmen im Kosovo haben denn auch in den achtziger Jahren Rekordhöhen erreicht, die Produktivität liegt noch weit unter dem ohnehin niedrigen jugoslawischen Durchschnitt, die erhofften Wachstumsraten konnten ebenfalls nicht erreicht werden. Somit bleibt das soziale und ökonomische Potential für nationale Konflikte unverändert erhalten, wobei das häufig verwendete Argument, den Albanern im Kosovo gehe es letztlich trotz der Rückständigkeit der Region um vieles besser als den Landsleuten in Albanien, auch wenn diese Feststellung unverändert richtig bleibt, zunehmend an Überzeugungskraft verlieren dürfte.
Die ausschließliche Interpretation der Unruhen des Jahres 1981 als „direct result of the past injustices perpetuated against ethnic Albanians in Yugoslavia, their political and economic exploitation, cultural oppression and discrimination and the increasing inequalities of economic development between Albanian inhabitated territories and the rest of the country" greift indes trotz der unzwei-felhaft nach wie vor bestehenden Benachteiligungen von Albanern in der jugoslawischen Gesellschaft zu kurz, denn die vorwiegend jugendliche Trägerschicht der jüngsten Unruhen war zum überwiegenden Teil eben nicht mehr in der Ära der Unterdrückung zur Zeit Rankovit's politisch sozialisiert worden, sondern in einer Phase nationaler Identitätsentfaltung in den siebziger Jahren. Die Unruhen von 1981 waren insofern weniger der verzweifelte Aufstand gegen fortgesetzte Unterdrückung als eine „revolution of rising expectations“, entstanden aus dem Widerspruch zwischen den beanspruchten und den tatsächlich erreichten Lebensumständen.
Die Partei bemühte sich freilich nicht lange um komplizierte Motivsuche. Sie antwortete mit dem undifferenzierten Vorwurf der „Konterrevolution" und beschränkte sich auf eine vorwiegend repressive Beilegung der Krise. Die im Zentrum der Forderungen der Demonstranten stehende Parole nach Umwandlung der Provinz Kosovo in eine eigenständige Republik wurde ähnlich wie schon 1968 kategorisch abgelehnt, da man in ihr nichts anderes als den ersten Schritt zur Sezession Kosovos von Jugoslawien und zum Anschluß an Albanien sehen mochte Im Unterschied zu den Demonstrationen von 1968 war man diesmal allerdings nicht bereit, den Forderungen der Demonstranten durch Konzessionen entgegenzukommen. Statt dessen griff man im wesentlichen auf drei Formen der „Krisenlösung" zurück:
1. auf eine rigorose strafrechtliche Verfolgung, 2. auf die als „Differenzierung" bezeichnete Ausschaltung aller im Verdacht der Unterstützung, Duldung oder mangelnden Gegnerschaft gegenüber nationalistischen Tendenzen stehenden Personen aus Partei und öffentlichen Ämtern sowie 3. auf Versuche von serbischer Seite, die Einflußmöglichkeiten der Republik Serbien auf die Provinz Kosovo zu verstärken.
Die strafrechtliche Verfolgung hat bislang zur Verurteilung von 585 Personen geführt, von denen allein 28, 5% zu Strafen von mehr als fünf Jahren verurteilt wurden -Auch die „Differenzierung“ ist noch nicht abgeschlossen. Hatte man anfangs noch den Eindruck zu erwecken versucht, als handele es sich bei den Demonstranten um eine kleine gesteuerte Minderheit, so mußte man schon bald zugeben, daß „der Feind" tief in die Reihen der Partei eingedrungen war So blieb es denn auch nicht bei der Absetzung des damaligen Parteichefs Bakalli und anderer Spitzenfunktionäre. Bereits in den ersten acht Monaten nach den Unruhen wurden über 1 000 Mitglieder aus der Partei ausgeschlossen oder aus den Mitgliedslisten gestrichen Ähnliche „Differenzierungen“ gab es auch in Betrieben und staatlichen Organen. Allein an der Universität Priätina, der „Festung des Nationalismus“ (so die Belgrader . Politika), wurden 365 der insgesamt 3 500 Parteimitglieder wegen „Passivität“ und 19 wegen Teilnahme an Demonstrationen ausgeschlossen Mittlerweile regt sich freilich selbst unter den des Nationalismus unverdächtigen albanischen Funktionären Widerstand, dem vor allem von serbischer Seite ausgehenden Druck zu noch „konsequenterer Differenzierung" weiter nachzugeben. *
Bereits unmittelbar nach den Unruhen hatte die serbische Regierung zu erkennen gegeben, daß sie die Krise zum Anlaß nehmen wollte, um Kompetenzen der Republik gegenüber den Provinzen wiederzuerlangen, die ihr im Zuge der Autonomisierung Kosovos in den siebziger Jahren verlorengegangen waren. So wurde beispielsweise darüber diskutiert, den Albanern das Recht zu entziehen, ihre mit der des Staates Albanien identische Nationalflagge öffentlich zu zeigen Derartige Überlegungen zeugen freilich nicht nur von mangelnder Sensibilität gegenüber dem Nationalbewußtsein der Albaner, sondern machen auch deutlich, wie politisch hilflos die serbische Führung letztlich dem Problem der Beilegung der Krise gegenübersteht.
Von größerer Tragweite sind allerdings die bereits erwähnten Versuche Serbiens, den Autonomiestatus der beiden Provinzen Kosovo und Vojvodina zu beschneiden. Der erhebliche Widerstand gegen diese Intentionen, nicht nur in der Vojvodina, sondern insbesondere auch im Kosovo, zeigt, daß selbst jene albanischen Funktionäre, die sich tatkräftig an der Niederschlagung der Unruhe und an der „Differenzierung“ beteiligten und nun den schwierigen Prozeß der „Normalisierung" zu tragen haben, nicht bereit sind, sich zum Werkzeug serbischer Politik machen zu lassen und eine substantielle Verschlechterung der Stellung der Provinzen hinzunehmen
Die ergriffenen Maßnahmen, von der strafrechtlichen Verfolgung bis hin zu den Versuchen, die Rechte der Provinzen zu beschränken, haben verständlicherweise nicht dazu beitragen können, das nationalitätenpolitische Klima im Kosovo zu verbessern. Offene Ausbrüche der Unzufriedenheit ’ sind zwar aufgrund der sicherheitspolitischen Kontrolle der Region seltener geworden, die Aktivität „nationalistischer" und irredentistischer Gruppen“ aber ist bis heute nicht verschwunden. Noch folgenreicher sind jedoch die Auswirkungen auf das Zusammenleben der albanischen Mehrheit und der serbischen Minderheit, die sich in einer zunehmenden Distanz im täglichen Umgang und in latenter Feindseligkeit äußern Deutlicher Ausdruck der gestörten zwischennationalen Beziehungen ist die zunehmende Abwanderung von Serben aus dem Kosovo. Ihre Zahl (ähnliches gilt für die kleine Zahl der Montenegriner) hat sich absolut von 1971 (228 264) auf 1981 (209 792) um 8 % verringert. Allein seit den Unruhen sollen über 20 000 Serben die Region verlassen haben.
Der Tatbestand der Abwanderung ist somit kaum zu bestreiten, doch sind die Motive umstritten, die viele Serben zum Verlassen ihrer Heimatprovinz bewegen. Presse und Partei in Serbien haben die Migration bislang ausschließlich auf psychischen und physischen Druck albanischer Nationalisten zurückgeführt, der das Leben für die Serben in der Provinz unerträglich mache Albanische Funktionäre hingegen haben verständlicherweise davor gewarnt, jeden Fall von Abwanderung als Ergebnis nationalistischer Aktivitäten hinzustellen, da es letztlich vor allem die schwierige ökonomische Situation der Provinz sei, die viele Serben zum Aufbruch veranlasse In der Tat sind pull-und push-Faktoren der Abwanderung wohl kaum sauber zu trennen. Daß aber auch direkte Pressionen gegen serbische Familien — Beleidigungen, Übergriffe auf Haus, Hof oder gar Personen, Schändung serbischer Gräber — eine nicht unerhebliche Rolle gespielt haben, scheint festzustehen Angesichts der immer ungünstiger verlaufenden ökonomischen Entwicklung der Provinz und der sich nicht zum Besseren neigenden nationalen Beziehungen dürfte jeder Versuch, das serbische Element im Kosovo zu stabilisieren, wenig Aussicht auf Erfolg haben. Die von den Demonstranten aufgestellte Forderung nach einem „ethnisch reinen Kosovo" wird damit mittelfristig zwangsläufig Wirklichkeit werden.
Die Auseinandersetzungen im und um Kosovo haben die Tatsache in den Hintergrund gedrängt, daß auch andere nationalitätenpolitische Brennpunkte Jugoslawiens nach wie vor existent sind. Dies gilt zum einen für die „klassische" nationalitätenpolitische Konflikt-zone Kroatien. Zwar sind seit der letzten Eruption in Gestalt der „kroatischen Krise“
1971, die Tito zur Auswechselung der dortigen Führung veranlaßte, nur noch Einzelfälle „kroatischen Nationalismus“ zu verzeichnen gewesen. Gerade in jüngster Zeit aber hat die kroatische Parteiführung ihre Angriffe auf einen vermeindlich klerikal unterstützten Nationalismus verschärft. Anlaß hierfür boten vereinzelte Erscheinungen jugendlichen Nationalismus vor allem in Zagreb und einigen dalmatinischen Städten, die sich in der Verbreitung von Symbolen und in dem Absingen von Liedern äußerten, die als nationalistisch gelten
In der Republik Bosnien-Hercegovina sind als nationalistisch eingestufte Erscheinungen bisweilen aus der in jüngster Zeit zu beobachtenden „Renaissance" des Islam erwachsen. So trat beispielsweise eine Gruppe „Junger Muslime" mit der Forderung nach einer „Islamisierung“ Bosniens an die Öffentlichkeit, was dieser nicht nur den Vorwurf des Nationalismus und religiösen „Fundamentalismus" einbrachte, sondern auch strafrechtliche Konsequenzen nach sich zog
Im Unterschied zu den Ereignissen im Kosovo handelt es sich jedoch bei keiner der zuletzt genannten Erscheinungen um wirkliche Massenbewegungen. Gleichwohl deuten auch sie an, daß in Zeiten einer sozialen und ökonomischen Krise die offiziellen politischen Werte an Attraktivität verlieren und nationale Bindungen offenkundig immer noch Fluchtpunkte darstellen. So ergab eine Umfrage in Split, daß nationalistische Syndrome unter Jugendlichen im Vergleich mit den späten sechziger Jahren deutlich zugenommen haben Hingegen fällt es der Partei immer schwerer, unter den Jugendlichen weiteren Anhang zu gewinnen. Während Jugendliche in den siebziger Jahren noch drei Viertel der Neu-Mitglieder stellten, hat sich der Zustrom dieser Gruppe in die Partei seit etwa 1982 deutlich abgeschwächt Die integrativen Intentionen der jugoslawischen Nationalitäten-politik, die sich durch einen weit gefaßten Föderalismus um eine Neutralisierung des bestehenden Konfliktpotentials bemüht hat, haben sich somit gegen die Vitalität nationalistischer Bindungen bislang noch nicht durchsetzen können. Von einem Scheitern der jugoslawischen Nationalitätenpolitik zu sprechen, wäre aber dennoch verfehlt. Vielmehr zeigt sich, daß die Sprengkraft der nationalen Frage auch von rational begründeten staatsrechtlichen Konzeptionen nicht zu neutralisieren ist, wenn die sozialen und ökonomischen Ursachen von Nationalismus nicht gleichzeitig beseitigt werden können.
V, Außenpolitik im Zeichen der Kontinuität
Der wohl einzige nach dem Tode Titos von krisenhaften Erschütterungen freigebliebene Teilbereich jugoslawischer Politik ist der außenpolitische. Ungemindert blieben die Optionen des Landes für eine uneingeschränkt blockfreie Politik gewahrt und nichts deutet gegenwärtig auf eine Änderung dieses Umstands hin. Allerdings hat die Außenpolitik seit dem Verlust der internationalen Renommier-Figur Tito insgesamt deutlich an Gewicht verloren.
Innerhalb der blockfreien Bewegung war es noch Tito selbst gewesen, der auf der 6. Konferenz von Havanna 1979 den kubanischen Versuch einer Instrumentalisierung der Blockfreien zugunsten des sozialistischen Lagers verhindert hatte. Gegen die kubanische These vom sozialistischen Lager als dem „natürlichen Verbündeten" der Blockfreien hatte er auf den „originären Prinzipien" der Block-freiheit, d. h. ihrer prinzipiellen Unabhängigkeit von beiden Blöcken, beharrt Die 1979 mit einem zwar einstimmig angenommenen, im Inhalt aber eher unverbindlichen Schlußkommunique überdeckten Meinungsverschiedenheiten blieben aber auch nach Havanna und über den Tod Titos hinaus erhal-ten. Die sowjetische Invasion in Afghanistan überbrückte die prinzipiellen Auffassungsunterschiede zwar noch einmal und veranlaßte die Blockfreien immerhin, einstimmig den Abzug aller fremden Truppen aus Afghanistan zu fordern. Dies hat freilich den Eindruck wachsender interner Konflikte und sinkenden weltpolitischen Gewichts der Blockfreien nur zeitweilig mildern können. Daß von Jugoslawien als einem der Gründungsstaaten in naher Zukunft entscheidende Impulse für eine nachhaltige Aktivierung der Bewegung der Blockfreien ausgehen könnten, ist gerade nach dem Ableben Titos allerdings kaum zu erwarten. Blockfreiheit symbolisiert somit für Jugoslawien gegenwärtig eine grundsätzliche außenpolitische Abgrenzungsdoktrin nach West und Ost, der es aber international an Einheitlichkeit und Durchschlagskraft mangelt Außenpolitische Grundsatzpositionen blieben auch gegenüber der Sowjetunion gewahrt Die 1955 in der „Belgrader Erklärung" zwischen Tito und Chruschtschow festgeschriebene Position Jugoslawiens als unabhängiges sozialistisches Land wurde auch von Titos Nachfolgern als unverzichtbare Basis der bilateralen Beziehungen ohne Abstriche gewahrt Ebensowenig wie Meinungsverschiedenheiten hat das Beharren auf seiner unabhängigen Position in internationalen Fragen Jugoslawien von der Aufrechterhaltung normaler bilateraler Beziehungen abgehalten. Auch die unterschiedliche Bewertung der Afghanistan-oder der Kambodscha-Frage haben weder die Sowjetunion noch Jugoslawien dazu veranlaßt, die beiderseitigen Beziehungen ernsthaft zu belasten.
Schon gar nicht hinderten bestehende Differenzen die beiden Länder an einer Intensivierung ihrer wirtschaftlichen Zusammenarbeit Jugoslawien hatte aufgrund seiner Export-schwäche auf dem konvertiblen Sektor im Laufe der siebziger Jahre seine Wirtschaftsbeziehungen mit dem RGW kontinuierlich ausgeweitet
Zu Beginn der achtziger Jahre erreichten die Exporte in den RGW-Raum beinahe 50% des gesamten jugoslawischen Export-Volumens, was nicht zuletzt auf die Verteuerung der bezogenen Energieträger, die Jugoslawien im Clearing-Verfahren mit dem RGW durch verstärkte Lieferungen ausgleichen mußte, zurückzuführen ist. Erst in den beiden vergangenen Jahren hat Jugoslawien seine Orientierung auf den RGW-Markt abgeschwächt.
Die Importe aus der Sowjetunion als dem Haupthandelspartner innerhalb des RGW bestehen zum überwiegenden Teil aus Energie-trägern, während sich die jugoslawischen Exporte vornehmlich aus Maschinen, Textilien und Bekleidungswaren zusammensetzen. Der von Irena Reuter-Hendrichs für die siebziger Jahre festgestellte Tatbestand, daß die intensiven wirtschaftlichen Beziehungen zur UdSSR den außenpolitischen Spielraum Jugoslawiens zu keiner Zeit sichtbar beeinträchtigt haben, kann auch für die noch intensivere Kooperation der beginnenden achtziger Jahre gelten. Die Haltung Jugoslawiens zur Afghanistan-Frage zeigt, daß enge außen-wirtschaftliche Verflechtungen mit der UdSSR Jugoslawien nicht zum Abrücken von außenpolitischen Prinzipien veranlaßt haben. Auch die Haltung zu den Ereignissen in Polen läßt eine Rücksichtnahme auf die UdSSR nicht zwingend erkennen. Zwar zeigten sich regierungsoffizielle Stellungnahmen im Unterschied zur jugoslawischen Presse, die die Bestrebungen der polnischen Arbeiter mit mehr oder weniger offener Sympathie verfolgten in der Bewertung der innerpolnischen Ereignisse zurückhaltender. Dies freilich dürfte nicht zuletzt darauf zurückzuführen sein, daß SolidarnoSC oder die katholische Kirche in Polen längst über das hinausgegangen waren, was auch für den BdKJ ideologisch akzeptabel ist. Vor allem nach der Verhängung des Kriegsrechtes im Dezember 1981 wurde jedoch nachdrücklich vor jeder Einmischung von außen gewarnt
Sieht man einmal von den albanisch-jugoslawischen Beziehungen ab, so verlief auch die jugoslawische Politik gegenüber seinen Nachbarstaaten seit Titos Tod in den gewohnten Bahnen. Mit Italien, Österreich und Ungarn gab es keine Probleme nennenswerter Art, die traditionell guten Beziehungen zu Rumänien wurden durch wechselseitige Routinebesuche weiter gepflegt. Auch die Beziehungen zu Griechenland haben sich intensiviert. Die Hoffnung, bestehende Differenzen wegen Mazedonien, die sich aus Reiseerschwernissen für in griechisch-Mazedonien geborene, aber in Jugoslawien lebende Mazedonen er-geben, nach dem Sieg Papandreous beilegen zu können, haben sich freilich bislang noch nicht erfüllt In den stets unter latenter Spannung stehenden Beziehungen zu Bulgarien sind außergewöhnliche Tendenzwenden ebenfalls nicht zu vermelden. Das zwischen beiden Ländern offene Problem der Existenz bzw. aus bulgarischer Sicht Nicht-Existenz einer mazedonischen Nation hat zwar keine direkten und nachhaltigen Störungen der bilateralen Kontakte bewirkt, war aber stets präsent Geschichtswissenschaft und Publizistik sorgen in regelmäßigen Abständen dafür, daß dieses Thema in beiden Ländern nicht in Vergessenheit gerät Auf politischer Bühne nutzte die jugoslawische Premierministerin Milka Planinc ihren Bulgarien-Besuch im Juli 1984 — dem ersten Besuch auf höchster Ebene seit 17 Jahren — dazu, dieses Thema mit unerwarteter Deutlichkeit anzusprechen, indem sie nicht nur die bulgarische Haltung zur mazedonischen Nation in Jugoslawien kritisierte, sondern sich auch zur Anwältin der von Bulgarien geleugneten mazedonischen Minderheit in Bulgarien machte -Die jüngsten Versuche der „Bulgarisierung" der türkischen Bevölkerung haben vor allem die Presse in Jugoslawien erneut dazu veranlaßt, die bulgarische Haltung, wonach es nur eine einzige „monolithische Nation" in Bulgarien gebe, mit Blick auf die mazedonische Frage einer harschen Kritik zu unterziehen Das offene Mazedonien-Problem hindert Jugoslawien aber nicht daran, auf unproblematischem Terrain, wie z. B. im Hinblick auf Bulgariens Bemühungen um die Schaffung einer atomwaffenfreien Zone auf dem Balkan, sich kooperativ zu zeigen. Mehr als ein von periodischen Nadelstichen begleitetes Nebeneinander beider Staaten wird ohnehin nicht zu erreichen sein, solange beide das Mazedonien-Thema mit der bisherigen Hartnäckigkeit handhaben. Während die strittige Mazedonien-Frage eine Zusammenarbeit in unproblematischen Bereichen zwischen Bulgarien und Jugoslawien nicht verhindert hat, haben die Unruhen im Kosovo praktisch zum Einfrieren der jugoslawisch-albanischen Beziehungen geführt. Dabei war in den siebziger Jahren gerade in diese seit dem Kominform-Konflikt stets mehr schlechten als rechten Beziehungen Bewegung gekommen. Nach der Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen beiden Ländern 1968 waren insbeson-dere die Kontakte zwischen den Albanern Kosovos und Albanien reger geworden. Professoren aus Tirana wurden sogar als Lehrkräfte an die Universität Priätina verpflichtet. 1980 besuchte mit dem albanischen Außenhandelsminister Nedin Hoxha erstmals seit 30 Jahren ein albanisches Regierungsmitglied Jugoslawien. Bis auf ein reduziertes Maß an wirtschaftlichen Kontakten haben diese Beziehungen die Unruhen des Jahres 1981 aber nicht überdauert. Albanien hatte sich schon recht bald mit den Zielen der Demonstranten solidarisiert, erhob zwar keine offenen territorialen Ansprüche auf das Kosovo, beanspruchte aber unmißverständlich das jederzeitige Recht, für die Brüder und Schwestern jenseits der Grenze Partei zu ergreifen Jugoslawien antwortete auf die albanischen Solidarisierungsbekundungen mit dem Vorwurf, Unruhen zu schüren und sich in innerjugoslawische Angelegenheiten einzumischen
Die seither andauernde Kontroverse zwischen beiden Ländern hat mittlerweile das Niveau der „Kalte-Kriegs-Auseinandersetzungen“ der fünfziger Jahre erreicht. Auf den nach zeitweiliger Unterbrechung in den siebziger Jahren von albanischer Seite wieder aktualisierten Vorwurf des „Revisionsismus" und der Unterdrückung der albanischen Brüder antwortet Belgrad mit nicht weniger penetranten Enthüllungen des stalinistischen Charakters des albanischen Systems. Wenngleich der Vorwurf des Stalinismus weder besonders schwer zu erbringen noch sehr originell ist, dürfte er dennoch auf die Albaner Kosovos wenig Eindruck machen.
Schon gar nicht wird mit derartigen Scheingefechten die Loyalität der Albaner gegenüber dem jugoslawischen Staat zu vertiefen sein, und auch der Wiederaufnahme der beiderseitigen Beziehungen, zu der sich beide verbal bekennen, sind sie gewiß nicht dienlich. Die wenigen Versuche, wieder zu einer intensiveren Zusammenarbeit zu gelangen, sind denn auch im Sande verlaufen, wie das fehlgeschlagene Bemühen um ein beiderseitiges Kulturabkommen im Herbst des vergangenen Jahres zeigte
Zum innenpolitischen Krisenherd Kosovo gesellt sich also so das ungelöste Problem geregelter nachbarschaftlicher Beziehungen zu Albanien. Daß sich nach dem Tode Enver Hoxhas in absehbarer Zeit an diesem Umstand etwas ändern wird, ist gegenwärtig nicht zu erkennen.