I. Neu geweckter Realitätssinn
Nach einer Periode, die im Urteil afrikanischer Politiker und Publizisten „voller Dramatik" war und das Wort vom „verzweifelten" oder gar „zum Elend verdammten" Kontinent aufkommen ließ, regt sich im Schwarzen Erdteil ein neues Realitätsbewußtsein. Die Organization for African Unity (OAU), über Jahre von turbulenten politischen Auseinandersetzungen (so über den Tschad und die ehemals spanische West-Sahara) innerlich zerrissen und Ende 1984 durch den Auszug Marokkos und Zaires nochmals von Zerfall bedroht, will Lehren aus der afrikanischen Krise ziehen. Die 21. Gipfelkonferenz soll vom 18. bis 21. Juli 1985 ausschließlich — und erstmals — Wirtschaftsfragen erörtern. Im Mittelpunkt stehen nach der bereits erarbeiteten Tagesordnung vier Problemkreise: „Die Dürre, der Vormarsch der Wüsten, die demographische Entwicklung und die Außenschulden“; dabei „beziehen sich die ersten beiden Probleme auf die mangelnde Eigenproduktion an Nahrungsmitteln und auf den Hunger" Vorgeschaltete Beratungen der Außen-, Finanz-und Wirtschaftsminister haben in selten gewordener Sachlichkeit und Offenheit Details der „katastrophalen Lage Afrikas" erörtert. Ebenso bemerkenswert ist es, daß Schuldzuweisungen an außerafrikanische Mächte und Kräfte dabei weitgehend unterblieben und daß zumindest der Versuch gemacht wurde, „die Ursachen der akuten Krise bei uns selbst zu suchen“
Auch in den meisten der 51 OAU-Mitgliedsstaaten, besonders in einigen von der Dürre und den Dürrefolgen besonders betroffenen Ländern West-, Zentral-und Ostafrikas, wird die aktuelle politische Debatte stärker denn je während des letzten Jahrzehnts von ökonomischen Erwägungen und Analysen bestimmt. Hier und in Konferenzen von Regionalorganisationen wie ECOWAS oder OCAM wurde die Vernachlässigung der Agrarproduktion als entscheidendes Manko bezeichnet. Nicht länger werden negative Basisdaten ignoriert: In Schwarzafrika ist die Nahrungsmittelproduktion pro Kopf in den letzten zwei Jahrzehnten um etwa 20 % abgesunken. Steigende Getreideimporte und Nahrungsmittel-Nothilfen haben diesen fatalen Trend nicht ausgleichen können. Die Pro-Kopf-Versorgung fiel im gleichen Zeitraum um etwa 10%. In der Hälfte der subsaharischen Länder konnte die Nahrungsmittelproduktion gerade noch mit dem ungebremsten, kontinental im Durchschnitt um 2, 9 % p. a. gestiegenem Bevölkerungswachstum mithalten; in einem Viertel der Länder nahm sie sogar ab
. 150 Millionen Afrikaner waren zur Jahres-wende 1984/85 durch Hunger bedroht; die lang andauernde Dürre mit ihren letalen Folgen für mehrere Millionen Menschen übertraf die furchtbaren Auswirkungen der Trans-Sahel-Katastrophe von 1972/74. Hilfsfähig zeigten sich nur die westlichen Staaten und die beim Mitteleinsatz ganz auf sie angewiesenen internationalen Organisationen und übernational wirkenden karitativen Verbände und Einrichtungen. Die afrikanischen Staaten zeigten sich, von ganz wenigen Ausnahmen (Zimbabwe) abgesehen, hilflos im wahrsten Sinn des Wortes, obendrein politisch gehemmt und politisch handlungsunfähig, die Notlage selbst zu meistern. Die Dürre und der Hunger wurden zudem lange gegenüber der Außenwelt bagatellisiert oder sogar vertuscht. In Äthiopien und im Sudan waren dabei politische Motive vorherrschend.
Dürre und Hunger müssen jedoch in einem größeren Kontext kontinentaler Konzeptionsund Wirtschaftskrisen gesehen werden. Auf extreme Weise zeigen Nigeria und Tanzania das Scheitern einer vor allem durch Profitgier und Korruption entarteten marktwirtschaftlichen bzw. einer überbürokratisiert-sozialistischen Konzeption auf. In allen Fällen ist die Abhängigkeit der schreiende Kontrast zur betonten politischen Unabhängigkeit Für den Ernst, ja die Auswegslosigkeit der Lage ist kennzeichnend, daß im Jubiläumsjahr" 1985 fast nirgendwo in Afrika — und wenn, dann nur verhalten — des Auf-und Umbruchs gedacht wird, der vor fünfundzwanzig Jahren in der großen Unabhängigkeitswelle Afrika radikal und mit immensen weltpolitischen Begleit-und Auswirkungen verändert hat.
II. „Afrika? Was ist das?"
Fünfundzwanzig Jahre sollen bereits seit dem Jahr Afrikas“, dem magischen Umbruchjahr 1960, dem Beginn der neuen Eigengeschichte eines ganzen, des „schwarzen" Erdteils vergangen sein? Der Zeitsinn findet sich nur schwer zurecht. Obendrein sind „nur" 18 der heute 40 subsaharischen Staaten Afrikas damals unabhängig geworden. Ghana wurde es schon 1957, Guinea brach 1959 aus der von de Gaulle vorgezeichneten „organischen Entwicklung“ aus, andere Länder erlangten die Selbständigkeit mit Verzögerung — Angola, Mozambique erst Mitte der siebziger Jahre, Zimbabwe 1980. Dennoch markierte 1960 eine historische kontinentale Scheidelinie. Oder irren wir uns, setzt wieder nur unser an Daten, Namen, Markierungen festgekralltes Geschichtsbewußtsein Zäsuren, die der Afrikaner selbst nicht oder ganz anders empfindet? „Unabhängig? Schon die Frage, mein Herr, ist eine Beleidigung", sagt aufgebracht Mongo Beti, einer der tiefgründigsten Dichter des „neuen Afrika", und zornig, höhnisch, verbittert korrigiert er das Bild der „Indöpendance": „Unsere Unabhängigkeit war der größte Theaterschwindel des 20. Jahrhunderts. Man ersetzte weiß mit schwarz und sagte: Eine neue Zeit ist angebrochen — Afrika ist frei! Lug und Betrug. Unsinn. Wir haben zwar schwarze Puppen. Aber verändert sich das Wesen des Mercedes, wenn er eine andere Farbe erhält? Weißer Mercedes — schwarzer Mercedes — Mercedes sind beide. Beides ist Kolonialismus."
Immer wieder taucht diese Automarke in der afrikanischen Rezeption auf, auch und gerade, um an diesem Statussymbol der „neuen Klasse" darzutun, wie wenig sich wirklich mit der oft in Anführungsstriche gesetzten Unabhängigkeit Afrikas geändert habe. „Wa-benzi" heißen in Swahili ironischer-und bezeichnenderweise die neuen Herren. Und Ngugi wa Thiong'o, der ostafrikanische politische Romancier, läßt in „Trial of Dedan Kimathi" fragen: „Ihr wollt also bloß den Meister wechseln? Einen schwarzen Meister anstelle eines weißen Meisters?" In der eigenen Literatur — als dem konsequentesten Ausdruck des Bewußtseins und der Reflexion —, in ihr zumindest stellt sich heute das neue Afrika ganz unvermittelt und ohne Scheu selbst in Frage. Dabei ist das immer wieder nur variierte Hauptthema nicht mehr wie in Chinua Achebes berühmtem, seit 1958 in 30 Sprachen und drei Millionen Exemplaren verbreiteten Roman „Things Fall Apart" (dtsch: Okonkwo oder Das Alte stürzt) das Auseinanderfallen des überkommenen durch die Berührung mit der weißen Macht und der importierten Religion. Es ist Richard Wrights „Schwarze Macht", welche „die Dinge auseinandertallen" und die großen Hoffnungen des Umbruchjahres 1960 als schiere Illusionen erscheinen läßt. Senghors „Ngritude" versagt da als intellektueller Schutzschild, da Afrika gegen Afrika steht, Afrikaner gegen Afrikaner vorgehen.
Die Unabhängigkeit habe, so Okot p'Bitek aus Uganda, die afrikanische Identität nicht wiederhergestellt, sondern weiter zerstört. In seinem Poem „Song of Ocol“ von 1970 schreibt er:
. Afrika? Was ist das?
Was bedeutet es mir?
Ein Sammelsurium von Tabus, Bräuchen und Traditionen.
Warum wurde ich schwarz geboren?
Sehr viel direkter formuliert Mongo Beti in seinem 1974 erschienenen Roman „Perptue ou l'habitude du malheur" Klage und Anklage. Unabhängig seien in Wahrheit nur wenige geworden: „Wir haben einen Präsidenten, der gemütlich in seinem Palast sitzt, ganz zu schweigen von seinen Besitztümern an der Cöte dAzur. Wir haben fette Minister mit Mercedes-Straßenkreuzern, wir haben eine Armee mit Obersten, Maschinengewehren, Kanonen und sogar Panzern.. Doch „bei uns", sagt Perp 6tue, die mißbrauchte, am Ende in den Tod getriebene Gegen-Heldin zu Senghors verklärter „Mutter Afrika", „sieht es so aus, als hätte eine Verschwörung beschlossen, uns für die nächsten tausend Jahre zu zerschmettern." 7)
Ein abgründiger Kontrast wird hier zu jenen Erwartungen erkennbar, zu den Hoffnungen, ja Selbstverheißungen, mit denen Afrika vor einem Vierteljahrhundert in die eigene Zukunft blickte: beseligt, wie im Taumel, ja im .. Rausch der Freiheit". Hunderttausende tanzten damals in Lom, in Oudagougou, Brazzaville, Lagos und in den anderen „neuen Metropolen", die sich von der Metropole — dem jeweiligen kolonialen Zentrum — gelöst hatten. Nirgendwo geschah dies sinnfälliger als in Lopoldville. Als Belgiens noch junger König Baudouin, aufrecht im Auto stehend, durch den Boulevard Albert zu jener Zeremonie fuhr, mit der dann die „Macht am Kongo" an die Kasavubus und Lumumbas übertragen werden sollte, sprang ein junger Afrikaner aus der jubelnden Menge; mit schnellen Schritten erreichte er den langsam fahrenden Wagen, sprang auf und riß Baudouin den umgeschnallten Paradesäbel ab. Triumphierend schwang er diesen über dem Kopf. Niemand wagte es, ihm das Beutestück zu entreißen. Die jubelnde Menge erkannte, daß da dem „großen Weißen Mann" viel mehr genommen worden war als nur ein Stück militärischen Zierats: Symbolisch war der höchste Repräsentant des Kolonialregimes und mit ihm der Kolonialismus entmannt worden.
Auf ähnliche, wenngleich undramatischere Weise vollzog sich der . Akt der Freiheit“ überall in jenen Tagen des Umbruchs. Selbst die bescheidensten und weiter auf „amiti" zu den Weißen eingeschworenen neuen Regenten ließen sich in triumphaler Geste in die bisherigen Gouverneurs-oder Hochkommissarspaläste geleiten oder tragen. Da war nicht nur, wie der Dichter Okot p'Bitek es geisselte, „apemanship", also Nachäfferei, im Spiel. In den meisten Fällen wurde vielmehr das Ritual der afrikanischen Häuptlingshuldigung vollzogen, die „chefferie" — das Häuptlingsamt — für die ganze Nation angetreten. Und wie im Stamm ein solches Ereignis stets mit großzügigen Gaben des neuen „Chefs" verbunden gewesen war, mit der Zusage behütender Ordnung und immerwährender Wohltaten, so mußte die neue Nation verlangen dürfen und erwarten, daß es fortab für alle aufwärts gehen, wenn nicht gar Manna vom Himmel regnen werde.
Daß dies nicht machbar sein würde, auch nicht mit den massiven Zuschüssen, Krediten, Schenkungen, „Wiedergutmachungszahlungen" der entwickelten Welt, wurde von Fall zu Fall früher oder später erkennbar. Niemals zuvor jedoch brach die Einsicht so massiv-niederschmetternd durch wie eben jetzt, 25 Jahre nach dem Unabhängigkeitsschub von 1960. Am knappsten hat der kenyanische Journalist Hilary Ng'weno, Chefredakteur des angesehenen „Weekly Review" in Nairobi, die aktuelle Malaise Afrikas deutlich gemacht: „Ein überaus beunruhigender Aspekt der gegenwärtigen Krise Afrikas ist, daß sie alles durch-29 dringt. Sie hat alle Nationen erfaßt, gleich welcher politischen oder ethnischen Zuordnung. Armut, Hunger, Pestilenz und interne Kämpfe sind jetzt das Los zahlloser afrikanischer Nationen, ein ferner Widerhall des Traums afrikanischer Führer aus jener Zeit, da ihre Nationen die Unabhängigkeit erlangten. Das Ziel der meisten neuen Nationen war damals, mit dem Rest der Welt gegen Ende des Jahrhunderts gleichzuziehen.'Doch statt gleichzuziehen, fällt Afrika rasch zurück... Und es gibt keinen Hinweis, daß dieser Trend in naher Zukunft umgekehrt werden kann. Afrika scheint dazu bestimmt, noch tiefer in Armut und Elend zu verfallen."
Ngweno legt schonungslos dar, daß jetzt nicht mehr — so bequem dies auch gewesen sein mag — Außenstehende für die afrikanischen Nöte gescholten werden könnten: Die afrikanischen Führer selbst seien verantwortlich; sie hätten die Zukunft ihrer Völker buchstäblich weggeworfen. Widerwillig bestätigen einzelne Politiker solche Diagnosen — wenn man unter vier Augen oder in kleinem Kreis mit ihnen spricht, oder wenn sie mit Vorgängern abrechnen, die sie beseitigen „mußten, damit die Nation nicht im Chaos versinkt", wie es Nigerias General Mohammed Buhari nach dem Silvesterputsch 1983 in Lagos erklärte.
III. Ein Kontinent der Putsche?
Doch vor schnellen und in der Substanz oberflächlichen — oder um Selbstentlastung bemühten — Schuldzuweisungen muß gewarnt werden. In den frühen sechziger Jahren, als in mehreren ehemals französisch beherrschten Staaten die ersten der bis jetzt über siebzig kontinentalen Putsche die „Männer der Ersten Stunde“ beseitigten, wurde hochmütig behauptet, das „britische System" habe seine Bewährungsprobe bestanden und seine Überlegenheit hinlänglich demonstriert. Doch schon 1964 mußte Tanzanias Präsident demütig um, die Entsendung britischer Truppen nachsuchen, um seine meuternden Soldaten zu entwaffnen. Jomo Kenyatta in Nairobi und Milton Obote, damals wie heute wieder Präsident Ugandas, mußten sich, auf die gleiche, entwürdigende Art von der bisherigen Kolonialmacht herauspauken lassen. Ghanas Kwame Nkrumah verhöhnte die ostafrikanischen „Chefs” und nannte sie „Lakaien, die sich jetzt selbst entlarvt haben"; zwei Jahre später wurde er selbst auf einer Auslandsreise von jener Macht abgesetzt, die der afrikanische Politikprofessor Ali A Mazrui — in Abwandlung des Marx-Wortes vom Lumpen-proletariat — das „Lumpen-Militariat" genannt hat. Es folgte der Zusammenbruch der nigerianischen Illusion; schließlich versank auch Uganda unter dem paranoiden Idi Amin „in einem Meer von Blut" (um seinen eigentlichen Überwinder, Julius K. Nyerere von Tanzania, zu zitieren).
Kein einziges der schwarzafrikanischen Länder ist seit der Unabhängigkeit, die als der Beginn einer langen Periode ruhiger Stabilität (und Prosperität) vorbezeichnet worden war, von Putschversuchen, Putschen, Interventionen — offen oder verdeckt — verschont geblieben. In einigen Staaten ist geradezu eine „Tradition der Revolte" begründet und sanktioniert worden, so in Benin, Kongo-Brazzaville, Obervolta/Burkina Faso, und auch hier bildet das große stolze Nigeria keine Ausnahme. Selten wurden diese Staatsstreiche mit nüchtern-pragmatischen Argumenten begründet. Fast immer gab es pathetisch-verklärende Formeln und Floskeln der Sieger, die sich, wie der Fliegerhauptmann Jerry Rawlings von Ghana, als „Erlöser" (redeemer) preisen ließen oder selbst priesen.
Die Meutereien, Umstürze, Revolutionen wurden adäquat zu Vollzugshandlungen im Namen einer höheren, quasi göttlichen Instanz ausgedehnt. Der Begriff „Revolution" wurde dafür in den meisten Fällen als unzureichend erachtet (abgesehen davon, daß er selten nur korrekt gewesen wäre). Es mußten . „große“ und „gerechte" Revolutionen daraus werden, und nie fehlten Hinweis und Berufung auf das Volk, das erst jetzt, mit dem neuen (jeweils neuen) Machtwechsel, „wahrhaft" repräsentiert und verkörpert werde. „Worte, Worte, Worte", befindet darüber Emmanuel Boundzöki Dongola aus dem Kongo in seinem raffiniert konstruierten Schlüsselroman „Un fusil dans la main, un pome dans la poche“. Sein Held ist durch Putsch an die Macht gekommen und jetzt Opfer des Gegen-putsches. Vor der Exekution sagt ihm der Priester: „Sie haben verloren... In einem Land, in dem sich alles um Karrierismus und Opportunismus dreht, ist es leicht, sich als Revolutionär aufzuspielen."
In Brazzaville nennt das Volk, wie der Kongo-lese Henri Lopes in seinem Roman „San Tamtam“ (dtsch.: Die strafversetzte Revolution) mitteilt, die Revolutionshelden wortspielerisch „yanga-yanga", die „großen Schwätzer". Und Lopes, der an die UNESCO nach Paris ins „diplomatische Exil“ ging, läßt seine Hauptfigur, den politischen Verweigerer Gats, einem hohen Funktionärsfreund antworten: „Du fragst Dich, wie man sich Revolutionär nennen kann, ... ohne das — sagen wir sakrale? — Vokabular zu verwenden. Du stellst fest, daß ich in mehreren Briefen nicht Begriffe wie Klassenkampf oder Diktatur des Proletariats benutzt habe, und wenn ich schon von den Massen spräche, präzisierte ich nicht, daß sie werktätig seien."
Nun ist diese „Sakralisierung" der Sprache nichts originär Afrikanisches. Sie hat nur — in der Tradition der „Griots“, der großen Geschichtenerzähler dieses Kontinents — eine besondere afrikanische Einfärbung erhalten, teils unbewußt, teils aber eben auch bewußt, um kalte Machtansprüche und dann machtpolitische Ratlosigkeit zu kaschieren. Paradoxerweise geriet und gerät dabei solche „Sakralisierung" der Sprache in jenen Ländern am weitesten, in denen die Widersprüche zwischen Tat und Wort extreme Schärfe annehmen. In der Außenwelt hat dies zu erheblichen, nicht selten grotesken Mißverständnissen geführt. Das gilt nicht für die eher mit Verständnis begleitete Rückbesinnung auf altafrikanische Reiche, wie sie — wenn auch nicht immer geographisch deckungsgleich — in den neuen Staatsbezeichnungen Ghana, Mali, Benin, Zaire oder Zimbabwe zum Ausdruck kam. Wohl aber faszinierten oder verschreckten jene Proklamationen von „volksdemokratischen Republiken" oder gar „Volksdemokratien", wie sie ab Mitte der sechziger Jahre in Afrika Mode wurden, die Außenwelt. Ideologisch und politisch sind so internationale Zu-und Gegenordnungen gesucht, konstruiert oder bloß eben zugelassen worden, die der Wirklichkeit nicht oder nicht exakt entsprachen und entsprechen.
Im Westen sah man angesichts solcher und ähnlicher Selbstetikettierungen in Afrika — auch in den Bezeichnungen von Parteien, Gewerkschaften und Verbänden — manche Staaten zweifelsfrei auf „pro-östlichem Kurs", oft so leichtfertig vorschnell, daß man Disqualifikationen aussprach, bloßen Verdacht zu Verdächtigungen umformte, am Ende Positionen räumte und so nun tatsächlich massiv einwirkenden kommunistischen Kräften das Terrain überließ. Wir können indes ebenso sehen, daß auch in Moskau und Peking — ironischerweise — in mehreren Fällen falsche Schlüsse aus terminologischen Angleichungen afrikanischer Staaten gezogen worden sind; zumal dann, wenn in die staatsoffizielle Phraseologie auch noch, und nicht selten arglos, Huldigungen an ein nicht näher definiertes Sozialismusbild einflossen. Doch im Westen, der vom Umbruch in Afrika und den bald anbrechenden Wirren in einer immer größeren Anzahl der „jungen Nationen“ zutiefst verunsichert wurde, ging so die Bereitschaft zu ideologischer Toleranz und taktischer Nachsicht sehr viel rascher verloren. Das zeigte sich erst recht in dem offen beklagten und verdammten „Scheitern der Demokratie in Afrika", angesichts der Hinwendung von schließlich 45 der 51 gesamtkontinentalen Staaten zu Einparteiregimes und/oder Militärdiktaturen.
Der Kolonialismus selbst hatte freilich bis in seine afrikanische Abdankungsphase hinein Demokratie nur rhetorisch dargestellt, niemals und nirgendwo in Afrika aber in der politischen Praxis zugelassen oder eingeübt. Zudem wurde der Demokratiebegriff in den westlichen Vorhaltungen immer wieder streng und verhängnisvoll auf das „Westminster-Modell" eingeengt, also auf ein stark bildungsabhängiges, äußerst kompliziertes, auch in der westlichen Welt ja erst in historisch knappster Frist komplett ausgeprägtes Reprä-sentativsystem.
Die idealtypischen Demokratieentwürfe des Westens ließen schließlich und oftmals übersehen und übergehen, wie wichtig es war, elementare Menschenrechtsfragen aufzuwerfen und fordernd, sogar mit Druck durchzusetzen — wofür es oft genug Mittel und Wege gegeben hätte. Unter solchen Umständen jedoch mußte sich beispielsweise die Europäische Gemeinschaft in ihren Neuverhandlungen der Lom-Verträge (zuletzt 1984) in der Frage besonderer Menschenrechtskataloge auf einseitige Stellungnahmen zurückziehen, die in der Praxis unverbindlich für die afrikanischen Partner blieben. Nur gegenüber Uganda unter Idi Amin wurden von Ministerrat und Kommission der EG Hilfszusagen und Vertragsleistungen ausgesetzt (im übrigen gegen den Protest eines damals im Kampala amtierenden deutschen Diplomaten).
IV. Machtvergötzung, Kulturkonflikt, Kulturverachtung
Daß Afrikas neue Staaten so rasch und so zahlreich den Diktatoren anheimfielen, daß in Uganda, dem Zentralafrikanischen „Reich" des „Kaisers" Bokassa, im ehedem Spanischen Guinea sogar „kambodschanische Beispiele"
gesetzt wurden, hat jedoch subjektive, genuinafrikanische Ursachen. Zu verweisen ist dabei auch zuerst auf die traditionellen, stark autokratischen, ja diktatorischen Herrschaftsformen des Stammes und supratribaler Ordnungen. Sie werden bezeichnenderweise in manchen Darstellungen der neuen afrikanischen Literatur (Lopes, Mungo, Beti, Taban, Sembne) vorurteilsfrei herausgearbeitet, ebenso bezeichnenderweise in einer in Schwang gekommenen westlichen „Gefälligkeitsafrikanistik" mit ihren Idealisierungen aber geschönt und verniedlicht, als ob Macht an sich erst nach Afrika hätte importiert werden müssen.
Der Gegensatz zwischen den Mächtigen und den Ohnmächtigen aber wird überall in Afrika in den eigenen Sprachen schonungslos enthüllt. Ihre Symbole und Symbolbegriffe sind fest verankert. Der Schweizer Autor Toni Stadler macht das am Beispiel des Haussa für den Sahelbogen deutlich. In seinem Reportageroman „Ziege frißt Hyäne" legt er dar, daß Hyäne (in Haussa: kura), die uralte Bezeichnung für starke heimtückische, unersättliche Machthaber ist. Den Hyänen stehen die „Talaka", die „Ziegen" — meist'hilflos ausgeliefert — gegenüber. Aus der eigenen Geschichte ist dieser Gegensatz bruchlos in die Gegenwart überkommen. Er ist durch die Aneignung europäisch-kolonialer Herrschaftstechniken mithin nur „modernisierend" verschärft worden. Stadler schreibt über ein Gespräch mit einem Haussa und faßt dann eigene Erfahrungen zusammen: , „Was genau ist ein Talaka?'— . Einer, der Angst vor der Macht hat’, erwiderte er. Mir ist aufgefallen, daß Städter nie Talaka genannt werden, auch wenn sie nicht arm sind. Ihre Hauptstadt nennen die Talaka wurin iko. Ort der Macht. Dienstfahrzeuge ... motar iko, Wagen der Macht. Steuern heißen kudin iko, Gelder der Macht. Macht beschäftigt die Bauern, denn sie kommt hautnah in Form von mai iko, Menschen mit Macht, daher. Doch sie durchschauen die mai iko nicht, sie ahnen bestenfalls: Hinter Leuten, die Talaka wie Dreck behandeln, muß etwas stehen, das stark ist“
„Mai iko“, Männer der Macht also, waren jene, die in der Spätphase des Kolonialismus in der jeweiligen Kapitale — in „wurin iko“, dem Ort der Macht — die Führungspositionen untereinander auskämpften. Die meisten von ihnen hatten aus Europa zudem raffiniertere Rezepte der Machtergreifung und Machterhaltung mitgebracht, um sich gegenüber Vertretern der Traditionselite vorteilhaft zu behaupten und schließlich durchzusetzen. Dazu gehörten, wie Kwame Nkrumah in seiner 1956 geschriebenen Autobiographie „Ghana" nur dürftig verschlüsselnd klarmacht, vor allem zwei Elemente: eine schlagkräftige, breite Organisation mit einem militanten, hausmachtartig-personenverpflichteten Kern und ein Reservoir eingängiger „Botschaften“ und Slogans, präzise für den antikolonialen Kampf formuliert, emotional auf den „afrikanischen Reflex" eingefärbt.
Der Aufstieg von Männern wie Kwame Nkrumah, Skou Tour, Modibo Keita, „Abb" Foul-bert Youlou, Flix Houphouet-Boigny, Yomo Kenyatta und Julius Nyerere war eben dieser euro-afrikanischen Machtlehre zuzuschreiben. Dabei trat freilich bald nach dem Sieg über Mitkonkurrenten und über den Kolonialismus erschreckend zutage, daß die Eroberung der Macht nicht bereits das Ziel war, dem man sich selbst „vorbestimmt" hatte (Nkrumah schreibt: „destined”). Man mußte das Feuer des Kampfes um die Macht ständig schüren, um die Macht zu behaupten, sie abzusichern. In den Biographien der „neuen Männer Afrikas" ist nachzulesen, aus ihren biographischen Bemerkungen herauszuhören, daß da bei den meisten von ihnen ein Moment entsetzlicher Leere und Depression eintrat. Sie sahen sich einem auf den von ihnen proklamierten Nationenbegriff — nach kurzen Aufwallungen — völlig unansprechbaren, ja abweisend reagierendem „Volk" gegenüber, das in sich noch nicht'einmal kohärent war. Der südafrikanische Autor Peter Abrahams hat 1959 beschrieben, wie er Nkrumah und Kenyatta, nach gemeinsamen Londoner Studienjahren, in Accra und Nairobi in solchen Momenten der Verzweiflung antraf; der eine war bereits Premierminister der Goldküste, der andere kurz davor, das Signal für die „Mau-Mau”-Revolte zu geben. In London hatten beide noch europäische Vornamen getragen, Francis der eine, Johnstone der andere; jetzt hatten sie sich „afrikanisiert". „Nkrumah“, schreibt Abrahams, „machte sich zum Führer einer vorwiegend aus Stämmen bestehenden Bevölkerung und versuchte sich in Blut-ritualen ... Um ihn entstanden Stammesmythen." Doch das Bündnis mit den Häuptlin-B gen und den Stämmen zerbrach. Eher widerwillig entschloß sich Nkrumah, gegen die Stammesfürsten vorzugehen. Abrahams weiter: „Als moderner Sozialist rechtfertigt er diese Maßnahmen als vorübergehendes Mittel. Seine weniger gebildeten Minister aber sprechen offen die tribalistische Sprache der Macht.., alle zu zerstören, die sich nicht einordnen.“
Nkrumah wirkte auf Abrahams in dieser vorentscheidenden Phase seiner Politik bemerkenswert introvertiert und zurückhaltend. Viel deutlicher noch brachte Kenyatta dem Besucher gegenüber zum Ausdruck, was da eigentlich an ihm nagte und ihn quälte. Kenyatta nahm Abrahams mit zu einer Versammlung der Kikuyu, in der Stammesführer traditionelle Zeremonien veranstalteten, in deren Mittelpunkt Kenyatta stand. Abrahams wörtlich: „Afrika scheint sich nicht zu ändern', flüsterte Kenyatta zwischen den Würdenträgern. Hinter den leise geflüsterten Worten versteckte sich ein schrecklicher Unterton von Bitterkeit... Für einen kurzen Augenblick sah er aus wie ein in die Falle gegangenes, eingesperrtes Tier... Niemand im Stamm konnte ihm die intellektuelle Kameradschaft, die ihm so wichtig geworden war, geben ... (Jetzt) war er sowohl das Opfer einer kranken Stammesordnung wie auch des westlichen Systems.“
Es ist dieser doppelte Kulturbruch, der den modernen afrikanischen Führer in die Isolation — bestenfalls in die Isolation Gleichgesinnter — treibt, ihn am Ende nur noch „im Raum der Macht" hausen läßt, im Extremfall in einen neurotischen Zustand versetzt Weil die Nkrumahs, Tour 6s, Nyereres so hoffnungslos in den Konflikt zugleich zur traditionellen afrikanischen Ordnung und Gesellschaft und zur angenommenen westlichen Kultur gerieten, mußten sie sich schließlich ideologisch und politisch versteigen Nkrumah, der sehr bald auch große Teile seiner Gefolgschaft abstieß, weil er ihnen keinen unmittelbaren wirtschaftlichen Aufstieg sichern konnte, erhob sich erst zum „Osagyefoh" (Heiland, Messias) der nur unscharf definierbaren Nation; als diese sich in der stärker werdenden ökonomischen Krise wieder in Stämme, Clans, Familienverbände aufsplitterte, verstieß er das eigene Volk und machte sich nun gar zum „Retter Afrikas". Sein Ende war zwangsläufig: Im Exil zu Conakry verfiel er in dumpfes Brüten, da niemand mehr seine Heilssprüche hören mochte. Er starb fast unbemerkt Zu Hause waren bereits vorher seine Prunkstatuen gestürzt und zerschlagen worden, hatte man ihn verwünscht und verteufelt. Es war nur Macht gewesen, die er noch suchte und verkörperte. Denen, die ihn früher schon gefragt hatten, welche wirtschaftliche Konzeption er für das neue Ghana habe, hatte er in sakralem Englisch geantwortet: „Seek ye first thy political kingdom“ (Suchet zuerst Euer politisches Königreich).
Die verächtliche Ignoranz wirtschaftlicher Tatbestände und Erfordernisse ging im übrigen einher mit einer höhnischen Mißachtung der kulturellen Traditionen und neuer kultureller Werte. Die höchst artifizielle ghanaische Malerei erstarrte in politischen Plakat-aufträgen. Die kunstvollen Holzschnitzereien verkamen zu Massenkitsch, sofern man damit Touristen und Kaufhausakquisiteure erfreuen konnte. Die große Universität von Legon bei Accra wurde zu einer Art Parteischule auf niedrigstem Niveau. Ähnliche Niedergänge haben sich — zeitversetzt und bis heute — in anderen neuen Staaten Afrikas ereignet oder abgezeichnet. Das krasseste Beispiel lieferte auch hier Uganda. Das berühmte Makerere-College in Kampala war nicht nur eine wissenschaftliche Ausbildungsstätte ersten Ranges gewesen, deren Diplome in Oxford oder Cambridge hochgeschätzt wurden; hier hatten in den frühen sechziger Jahren Schriftsteller, Schauspieler, Journalisten ein weit über Uganda hinaus wirkendes künstlerisches Zentrum begründet. Sie alle wurden von Idi Amin mit seiner pathologischen Haßangst vor der geistigen Überlegenheit anderer auseinandergejagt. Böse Ironie der Geschichte: In Ghana wurde nach Nkrumah der anerkannte Gelehrte Dr. Busiah Premier, in Uganda der nicht minder geachtete Professor Lule; der eine hatte vor Nkrumah in Legon gelehrt, der andere vor Obote und Amin am Makerere-College. Beide versprachen beim Amtsantritt (1966 bzw. 1979) sowohl die Behebung akutester Wirtschaftsnöte als auch den Wiederaufbau der nationalen Universitäten. Beide wurden schnell wieder gestürzt; Youssef Lule nach nur elf Wochen Amtszeit durch den „Oberbefehlshaber“ der tanzanischen Invasionsarmee, den Präsidenten Tanzanias, Julius Nyerere.
V. Gescheiterter Afrikanischer Sozialismus
Der Fall — im doppelten Wortsinn! — des Dr. Julius Nyerere ist tragischer zu nennen als der mancher anderer Führer des neuen Afrika. Sie mochten sich „Messias", „Kaiser“ oder bloß „Bruder Führer“ oder „Vorsitzender des Provisorischen Rates zur Errettung des Vaterlandes“ nennen — er, der Shakespeare ins Kiswahili übersetzt und zugleich Stammesmärchen bewahrend aufgezeichnet hatte, begnügte sich stets mit dem bescheidenen Titel „Mwalimu“ (Lehrer). Ungeachtet dessen wollte auch er, daß sein Werk über die Grenzen Tanganyikas/Tanzanias hinaus wirkte und (wie er es in einem Vorwort zu einer Schrift zu werten zuließ) als „ein großer Beitrag zur Ideengeschichte des XX. Jahrhunderts" gerühmt werde. Ende dieses Jahres wird Julius Nyerere vom Präsidentenamt Abschied nehmen; er will nicht abermals für den höchsten Staatsposten kandidieren. Wenngleich dieser Schritt auch durch die Beibehaltung des Parteivorsitzes der TANU und durch viele Lobesworte und Ehrungen (schon ist eine Benennung zum Friedensnobelpreis durchgesickert) abgefedert wird — dieser Rücktritt ist letztlich Ausdruck tiefer Enttäuschung, Resignation, ja Verbitterung.
Nyerere wollte in Tanzania nicht irgendeinen, sondern den . Afrikanischen Sozialismus" begründen und durchsetzen. Er sollte den „wahrhaft Dritten Weg“ markieren. Doch sein Hauptfehler bestand schon darin, daß als genuin afrikanisch ausgegeben wurde, was in Wahrheit eine aus dem britischen Fabiertum und Elementen der skandinavischen Schule der Sozialdemokratie, mithin eine für hochindustrielle Staaten mit breiter Bildungsbasis entworfene Konzeption war. Diese (heute auch in Europa nicht eben für sonderlich erfolgreich befundene) Modellvorstellung wurde mit dem Kiswaheli-Wort „Ujamaa" überzogen. „Ujamaa“ bringt in seiner ursprünglichen Bedeutung den engen Zusammenhalt, das Prinzip des Füreinander und Miteinander im traditionell-afrikanischen Familienverband zum Ausdruck. „Ujamaa" wurde zum Schlüsselwort der Arusha-Deklaration von 1967 umgeprägt. In ihr aber nahm es eher den Begriff der „Self-reliance" an, des Abstützens auf die eigene Kraft, die eigenen Güter und Ressourcen. Und die Spontaneität, die in solchen Begriffen — und schließlich in vielen tausend Seiten einer „Ujamaa" -Literatur — durchschimmert, war unter den gegebenen Bedingungen nur Floskel, Ausrede, Verbalkostüm. In anderen Dokumenten oder Dokumententeilen, erst recht in der Alltags-praxis des . Afrikanischen Sozialismus", wurde statt der Spontaneität und des „brüderlichen Miteinander" der Staat mit der Staatspartei und der Staatsbürokratie zum alleinigen Motor des verheißenden Fortschritts. Zwar wurde für „später“ ein „freies Wirken der Kräfte" in Aussicht gestellt, doch ummittelbar wurden Banken, Versicherungen, Industriebetriebe, vor allem aber die landwirtschaftlichen und gewerblichen Vermarktungsorganisationen verstaatlicht Um den Gegensatz Stadt-Land abzubauen, begann Nyerere mit einem großen Umsiedlungsprogramm; die Landbevölkerung sollte fortab in „Ujamaa" -Dörfern zusammengefaßt und nach und nach auf einen genossenschaftlich genannten kollektiven Produktionsprozeß umgestellt werden.
Diese Aktion — von 1973 bis 1977 forciert — weckte massiven Widerstand, dem durch den weitgespannten und in den Anfangszahlen beeindruckenden Aufbau des Gesundheitsund Erziehungssystems auf dem Lande nur so lange begegnet wurde, bis auch hier die verheerenden Schwächen des Gesamtsystems durchbrachen. Die enormen übernahmekosten für enteignete Unternehmen und die unverzüglich einsetzende Konzentration auf den industriellen Sektor bei Ausklammerung aller Rentabilitätsfaktoren führte zwangsläufig zu einer rapiden Kapitalverknappung. Sie konnte auch durch immer neue, zeitweilig äußerst freigiebige Finanzhilfen (vornehmlich der skandinavischen Länder und der Bundesrepublik Deutschland) nicht behoben werden. Zugleich mußten immer mehr und sehr oft ungeschulte, nur durch ihre Partei-oder Staatsgewerkschaftszugehörigkeit „qualifizierte" Kräfte von den zentralen und regionalen Behörden eingestellt und bezahlt werden. Ganz zwangsläufig verursachte ein Störfaktor den anderen. Kapitalmangel machte zunehmend die Beschaffung von Rohstoffen und Ersatzteilen für die neuen Industrien unmöglich. Die Produktionsausfälle häuften sich, in nicht wenigen Fällen mußte die Produktion (Reifen, Papier) sogar eingestellt werden. Dramatisch verschärfte sich die Gesamtlage der Wirtschaft Tanzanias mit der zweiten Erdöl-krise 1978/79 und den sich verschlechternden internationalen „Terms of Trade“. Tanzania hat, so stellte schließlich die Weltbank in einem streng vertraulichen Bericht vom August 1984 fest, „durch das Ineinandergreifen verschiedener Negativtrends, die im wesentlichen in der Unfähigkeit der bürokratischen Struktur kulminieren, seine Kräfte überfordert". Ein Hauptproblem bilde die „DekapitaliB sierung" („the country consuming its own Capital stock"): Dieser Prozeß „ist in jedem Sektor und jeder Region im Gange". Zusammenfassend stellt die Weltbank fest: „It is the very opposite of development."
Mitentscheidend für diese völlige Umkehrung von Verprechungen, Zielvorgaben und idealistischen Träumen ist das Scheitern der „Ujamaa" -Konzeption auf dem Lande. Die Erzeugung nahm dort gleichmäßig ab und war bis Ende der siebziger Jahre gerade noch durch erhöhte Importe landwirtschaftlicher Güter auszugleichen. Die Beschleunigung der Inflation jedoch, vor allem aber das starre Festhalten an bewußt niedrigen Aufkaufpreisen durch die staatlich-halbstaatlichen Marketing-boards führten dazu, daß immer mehr Bauern „aus dem Markt ausstiegen", sich auf die Subsistenzwirtschaft zurückzogen oder ausschließlich für den Schwarzen Markt produzierten. Dort konnte man für einen 90-Kilo-Sack Mais bis zu 1 000 tanzanische Shilling (Tsh) erlösen, während der offizielle Preis bei 280 Shilling eingefroren blieb (jetzt 360 Tsh). Auch die Belieferung des Schwarzen Marktes wurde indessen immer schwieriger, da die Regierung — mangels Devisen — den Ankauf von landwirtschaftlichen Ausrüstungen und Kunstdünger einstellte. Tanzania verfügt zwar über erhebliche Vorkommen an Pyrethrum (Flores Pyrethri), das aus den Blütenköpfen von Chrysanthemum cinerariifolium gewonnene Insektizid. Doch der anteilige administrative Aufwand ist, wie die Weltbank ermittelte, inzwischen von fünf auf 17 Schilling für ein Kilo gestiegen, wobei der Weltmarkt-preis ganze Shilling/kg betrug.
Seit Jahresbeginn 1985 — und nicht zufällig zeitgleich mit der Ankündigung Nyereres, nicht erneut für das Präsidentenamt zu kandidieren — wurde das Steuer in Tanzania radikal herumgeworfen. Abwertungen, wenngleich nicht im Umfang der IWF-Forderungen, Importfreigaben, Entstaatlichung, mäßig erhöhte Ankaufspreise für landwirtschaftliche Erzeugnisse, Entlassungen in der aufgeblähten Staatsbürokratie — darin kündigt sich unwiderruflich das auch in feinsten Bemäntelungen nicht mehr zu verbergende Scheitern des Experiments . Afrikanischer Sozialismus" in Tanzania deutlich genug an. Und wie es aussieht, muß Nyerere eines Tages die Schuld für das Scheitern seines Traumes selbst tragen.
VI. „Kapitalistische Exzesse“
Das benachbarte Kenia hat dieses Scheitern hochmütig und schadenfroh vorausgesagt und belacht. Doch besteht dazu Anlaß? Nairobis „Daily Nation“ kommentierte (am 7. 5. 1985) den „Fall Tanzania" mit Sätzen, die auch auf die kenianische Situation bezogen werden könnten: „Weil sie der jüngeren Generation entstammter, war die Mehrheit der TANU-Führer dem Privateigentum, so klein es auch sein mochte, unverrückbar verpflichtet. Der gesamte öffentliche Dienst war durchdrungen von den Attributen des britischen Establishments. Seine Angehörigen wollten mit irgendwelchen neumodischen Ideen von der Beteiligung an den Produktionsmitteln nichts zu tun haben ... (sie) wurden für ihre Unfähigkeit, ihre Habgier und ihre Korruption bekannt. Das , Wie-man-am-schnellsten-reich-wird-Rennen', das alle heuen mächtigen Gruppen kennzeichnet, wandelte sich unweigerlich zur Korruption, dem wichtigsten Instrument der Habgier." 15)
Kenia gilt zwar noch immer als das stabilste Land Ostafrikas, als „Wachstumsoase", als Modell des funktionierenden „free enterprise"; mehr und mehr freilich erweisen sich solche Bezeichnungen, geht man über Nairobi („this exotic suburb of London") und die Touristen-regionen hinaus, als haltlose Klischees. Der Übergang der Macht von Kenyatta zu Daniel arap Moi mag gelungen erscheinen, doch unbestreitbar ist das „Staatsvolk" der Kikuyu, das den Unabhängigkeitskampf „für ganz Kenia“
ausgetragen hatte, unter dem Nicht-Kikuyu Moi bis in die niedrigsten Ränge der Macht unterrepräsentiert. Benachteiligt fühlen sich mit anderen auch die Luo. Benachteiligung bedeutet unter den konkreten Bedingungen zuerst, daß für die nachdrängende „intelligentsia" keine Aufstiegschancen in einem Sektor bestehen, der längst nicht mehr der „tertiäre", sondern der „primäre“ ist und im englischsprachigen Afrika bezeichnenderweise „smart sector“ heißt Eben dieser Staatsapparat aber ist, bis in seine lokalen Verzweigungen, maßlos aufgebläht und überbesetzt. Von 250 000 „civil servants" gingen bisherige Berechnungen in Kenia aus. Eine erste gründliche Überprüfung Ende 1984 indessen ergab, daß der . Staat insgesamt 456 583 Kräfte beschäftigt. Nairobis „Nation“ kommentierte das am 8. November 1984 veröffentlichte Ergebnis sarkastisch: Jetzt ist es statistisch bestätigt, daß die einzige wirkliche Wachstumsbranche des Landes die Administration ist."
Kenias Geburtenzuwachsrate beträgt offiziell vier Prozent p. A und hält damit einen Weltspitzenplatz. Die Hälfte der Kenia-Bevölkerung ist jünger als 14 Jahre. 300 000 Nachwachsende drängen Jahr für Jahr neu auf den Arbeitsmarkt Ein immer geringerer Teil davon ist unterzubringen. Die Arbeitslosigkeit erreicht in den städtischen Agglomerationen 30 %. Hier wächst ein Konfliktpotential an, das auf Dauer durch die bestfunktionierende Maschinerie der Macht nicht einzudämmen sein dürfte. Das wachsende Heer von Arbeitslosen und Unterbeschäftigten ist zudem, bei genauerer Analyse (deren Einzeldaten sorgsam geheimgehalten werden), nicht „dumpfe" Masse. Ein hoher Prozentsatz der Arbeitslosen besteht aus Absolventen von Primary und Secondary Schools. Diese Schicht der „White collar jobless people" steht in enger Korrespondenz zur Studentenschaft, die das „Kenya System" zunehmend kritisch bewertet. Die Universität von Nairobi mit über 3 000 Immatrikulierten war nach dem Putschversuch vom August 1982 erstmals und dann für über ein Jahr geschlossen worden. Sie ist seit dem Februar 1985 erneut und anhaltend das Zentrum von Unruhen.
Dabei versucht die Regierung, die mehrmals in diesem Jahr Polizei auf dem Campus einsetzte, die Studenten als „undankbare Söhne des Volkes“, als „verwöhnte Söhnchen“, als „selbsternannte Elite" hinzustellen. Demgegenüber argumentieren Führer der (aus Re-gierungssicht illegal) organisierten Studentenschaft, eine „arrogante, unakademische Macht“ politisiere unablässig den Universitätsbereich, indem sie — paradoxerweise — gerade ihn zu einer „un-und a-politischen Insel machen" wolle. Die „Wa-benzi", die „Parteibonzen, die sich mit dickem Honig, Gelee und Butter vollstopfen" (Okot p’Bitek), hätten mit Schmiergeldern und politischem Druck dafür gesorgt, daß immer mehr „dumme Söhne von dummen Leuten mit Macht und Geld“ eingeschrieben würden und Qualifizierten die Studienplätze wegnähmen.
Der Schriftsteller Ngugi wa Thiong'o war an der Universität von Nairobi zunächst Dozent, dann stellvertretender Dekan der Fakultät für Englische Literatur. Er wurde 1977 in Vorbeugehaft genommen, weil seine Bücher und Theaterstücke in Kikuyu zu erscheinen begannen und erst von diesem Zeitpunkt an ihre sozialkritisch-explosive Wirkung entfalteten. Nach dem Tod Kenyattas 1978 begnadigt, erhielt Ngugi jedoch seine Professur nicht zurück. Er mußte sich „ins Bauernexil" begeben und schließlich emigrieren. Ngugi wa Thiong'o ist längst unter den Studenten und Schülern Kenias zur intellektuellen Leitfigur geworden. Seine Bücher „Petals of Blood", „The River Between“, „Devil on the Cross" oder „The Grain of Wheat“ variieren — für die heranwachsende Elite Kenias völlig einsichtig — immer aufs neue das Thema der mißbrauchten Macht, des „aufs Blech" (Geld, Auto) gekommenen, korrupt gewordenen Kämpfers und Helden von gestern. Für ihn ist Kenia ein einziger „kapitalistischer Exzess".
VII. Funktions-statt Wertelite
Ngugi sieht im Kapitalismus die Wurzel des Übels. Wole Soyinka erweitert den Vorwurf mit Blick auf Nigeria; während des Biafrakrieges verhaftet (zeitweilig im Hochsicherheitstrakt von Kaduna isoliert), weil er als Yoruba Verständnis für die Sezession der Ibo gezeigt und sie in „Granatgedichten“ als nötige Reaktion auf den tyrannischen Mißbrauch der Macht durch die Zentralgewalt anklagend dargestellt hatte, entlarvt er die neue Elite als eine „in sich perpetuierende Funktions-und Bereicherungsgesellschaft". Der . Abfall von Afrika" ist, so sagt er, „mit dem großen Geld gekommen" und hat sich „mit den großen Posten“ vollendet. Die nigerianische Demokratie war demnach nur Fassade, auch die „neue Macht“ der Militärs, im Silvesterputsch 1983 abermals begründet, führt nur „zu demselben Rundlauf'der „Sugar daddies“.
Ist es ein Zufall, daß Max Webers Schriften und vor allem seine Gegenüberstellung von Funktions-und Wertelite an der Universität von Ibadan zu einem Seminarthema wurden, das über die Fakultätsgrenzen hinaus heiß diskutiert worden ist? Andererseits: Massiv schlägt die Austerity-Politik des neuen Militärregimes unter General Mohammed Buhari gerade im wissenschaftlich-kulturellen Bereich durch. 900 Studenten aus Nigeria, die in Indien studieren, wurden im April 1984 die Gelder gesperrt; weitere Tausende müssen sich in Europa auf die Sperre von Zuwendungen einstellen. Doch da die eigenen Universitäten bereits für „überfüllt" erklärt wurden, ändert die erzwungene Heimkehr am Studienabbruch nichts. Zurück zur „etablierten" Elite Nigerias. Sie ist, sieht man vom islamisch geprägten Norden mit noch halbwegs intakter traditioneller Struktur ab, ausschließlich auf die Stadt bezogen. Sie hat in diesem „Ort der Macht“ weitgehend ihre tribale ethnische Eigenheit — und damit ein Element der schwersten Konflikte Nigerias — abgetan und so tatsächlich „nationale Identität" geschaffen. Andererseits bewirkt diese Konzentration auf das herkunftslos-urbane Dasein, daß das Land hinter den städtischen Außenbezirken mit seinen Slums förmlich „aus den Augen“ gerät Das Resultat ist niederschmetternd: Der ölboom, der 1980 noch 25 Milliarden Dollar(D) einbrachte (1984 sanken die Einnahmen dann auf 10 Mrd Dollar), verführte zu der Auffassung, man brauche die eigenen Bauern nicht, wenn man „alles" billiger und besser fernweg kaufen könne: polierten Reis statt Sorghum, hellweißes Weizenmehl statt Mais, Yams oder Kasava. 1970 hatte Nigeria noch 572 914 t Erdnüsse exportiert; die Exportstatistik für 1983 nennt keine Zahlen mehr, da die nigerianische Gesamtproduktion bereits 1981 auf ganze 4 488 t schrumpfte. In den siebziger Jahren fiel die Eigenerzeugung an Kakao um zwei Drittel, an Kautschuk um drei Viertel
Das ist freilich, wenden wir den Blick von Nigeria ab, kein „kapitalistisches Phänomen". Das auf den „Sozialismus" eingeschworene Madagaskar exportierte ehedem Reis, mußte 1982 indessen bereits 350 000 t Reis einführen. Guineas Landwirtschaft zerfiel unter Skou Tour völlig. Das ehedem fruchtbare Land — . Afrikas Wasserschloß" — wurde zum Hungerleider, ohne daß die Dürre, wie in den angrenzenden Staaten des Sahel, nur den geringsten Schaden anrichtete. Die neuen Männer, die den am 26. März 1984 bei einer Not-operation in den USA gestorbenen Präsidenten „posthum stürzten", enthüllten, der „afrikanische Nero“ Tourt habe „das ganze Land einfach vergessen und aus seinem Blick verbannt". Die Herrschaft habe tatsächlich nur „in der Oberhoheit über ein paar Straßenzüge und Kasernen" bestanden, „finanziert durch den Verkauf" der Produktion und der Produktionsrechte im Bauxitkomplex Fria. Wie aus einem Fort heraus, so ein Mitarbeiter der neuen Militärregierung im Gespräch, habe die Staatsmacht Streifzüge durch das Land unternehmen und Mißliebige verhaften lassen. Zwei Millionen der sechs Millionen Guineaner sind unter Tourt außer Landes gegangen. Weit über Zehntausend sind „einfach verschwunden“, mehrere Tausend wurden Opfer des Kerker-und Foltersystems, das im Camp Boiro eingerichtet worden war und mit seinen „cabines techniques“ zu den „wenigen wirklich modernen Einrichtungen Guineas“ gehört habe.
VIII. Offene Fragen
Wir haben im Rahmen dieser knappen Studie nur Illustrationsmaterial an Hand von Beispielen ausgebreitet, die sich erweitern ließen: Am Fall Zaire könnte die schamlose Ausbeutungspolitik eines reichen Landes durch eine um den Präsidentenclan gescharte Funktionärskaste demonstriert werden, wobei es zugleich aufzuzeigen gälte, wie durch bloße Slogans von der „Authentecit" der Eindruck erweckt werden soll, hier sei „Afrikanertum“ spirituell neu begründet worden. Doch Zaire wäre wiederum nur ein Beispiel für einen kontinentalen Prozeß, in dem Macht, Machtgewinn, Machterhaltung die Dominanten der Politik bilden, Ideologien vornehmlich dazu dienen, diesen Komplex zu »erklären", zu „verklären", zu verschleiern oder zu mystifizieren. „Ist dieser ganze Wirrwarr", läßt der kongolesische „Marxist" und Diplo-
mat Henri Lopes seinen nachdenklichen Helden Gats — nun wirklich im Sinne des französischen Titels „Sans Tam-Tam" — fragen, „für die Massen, auf die wir uns alle berufen, nutzbringend gewesen?" Er antwortet sich selbst: „Wir wollten sehr schnell vorankommen. Dabei haben wir oft nicht gemerkt, daß wir rückwärts gingen ... Wer trägt die Verantwortung für all das? Das Auseinanderklaffen zwischen Wort und Tat? Wir alle! Nein, bedenkenlos ist dieser Prozeß von den zumeist tragischen neuen Männern Afrikas nur selten in Gang gebracht, in Gang gehalten worden. Es war Verzweiflung, viel Verzweiflung im Spiel, und sie wiederum wurde durch eine Vielzahl tiefklaffender Widersprüche und durch die objektiv geringe Chance ausgelöst, diese Widersprüche zu überwinden.
Sie führten immer wieder auf das Ausgangs-dilemma zurück: Ein Staat mußte begründet werden, ohne daß eine Nation existiert. Das Dilemma vertiefte sich, als „Nation-building" zu einem Prozeß voller Rückschläge und Fall-tücken wurde, der in jedem Falle weit mehr Zeit — und Mittel, ja „Künste" der Politik — 15 erforderte, als den aktuell Herrschenden zur Verfügung stand. Zugleich erwies es sich, daß Nkrumahs Weisung „Seek ye first thy political kingdom“ nicht nur nicht ausreichte. Er führte angesichts der grundlegenden wirtschaftlichen und sozialen Problemstellungen in die Irre; zudem war nirgendwo ein Rezept zu finden, die von außen und wie in einem Diktat festgelegten ökonomischen Bedingungen — für den Im-und Export, die Kredite, die Zinsen und ihre Höhe — zu ändern. Unter solchen Bedingungen war die Konzentration der herrschenden Eliten auf die Frage der Macht fast unausweichlich; sie wurde es erst recht, je bohrender und bedrängender die Forderung nach den am Unabhängigkeitstag versprochenen „grundlegenden Veränderungen“ und den Segnungen des Wandels an eben diese herrschenden Eliten gerichtet wurde und nicht mehr — oder nur unzulänglich und allzu durchsichtig — an die Fremdinstanz Kolonialismus/Neokolonialismus abgegeben werden konnte.
Diese fatale Konzentration auf die Macht-frage war es indessen, die wiederum die ursprünglich elementare Furcht vor „neuen Abhängigkeiten“ minderte. Einerseits wurden — zuerst verdeckt, dann offen, ja offen bis zur Schamlosigkeit — Bindungen an die abgetretenen oder zum Abtritt gezwungenen Kolonialmächte erneuert; in einigen Fällen wurden sie gar als lebensrettend erkannt: Der Tschad als Beispiel. Hier wiederum setzte eine andere Fraktion auf die Lockungen und Verlokkungen des Libyers Ghadafi, und charakteristisch für den Opportunismus der „chefs" wurde es, daß wechselweise Hissen Habr und Gukuni Weddei gegen den Rivalen um die Gunst in Tripolis buhlten. Für Ghadafi widerum war es ohne Belang, wen er im Tschad gegen wen — erst mit Waffen, dann mit dem Einsatz eigener Truppen — stützte; ihm ging (und geht es) um den eigenen Gewinn, einschließlich der Absicherung des früher schon oktroyierten Azou-Streifens und der Vertiefung dieses Gebietsvorteils.
In den gleichen Kontext gehören die demütigenden Abkommen, die das weiße Regime von Südafrika seinen Nachbarstaaten 1984 aufzwang. Am 16. Februar 1984 mußte sich die Volksrepublik Angola im Vertrag von Lusaka, am 16. März 1984 die Volksrepublik Mosambik im Nkomati-Vertrag den Bedingungen Pretorias beugen, ohne daß sie dafür bis heute — oder auf absehbare Zeit — wirkliches Wohlverhalten des „Großen Nachbarn" eingehandelt hätten. In Angola ist die MPLA auf wenige Städte und Regionen zurückgedrängt; die Herrschenden und die von ihnen Beherrschten stehen buchstäblich mit dem Rükken an der Wand; bezeichnend ist vor allem, daß die anwesende kubanische Streitmacht operativ nicht handlungsfähig oder auch nur handlungswillig erscheint; sie ist in ihrer Funktion auf die bloße Absicherung der „Macht“ der MPLA reduziert. In Mozambik sieht sich die FRELIMO einer ganz ähnlichen Lage ausgeliefert. Der „Busch“ gehört den Rebellen, ob sie nun weiter von Südafrika angeleitet und gestützt werden oder nicht Die durch Dürre geschwächte Wirtschaft ist zusammengebrochen; eine Infrastruktur existiert kaum noch. Das Bündnis mit der Sowjetunion hat sich in beiden Volksrepubliken des südlichen Afrikas nur noch als wertvoll für den Erhalt von Fassaden der Macht erwiesen.
Bei genauerer Prüfung wird man dies auch für Äthiopien diagnostizieren müssen. Der Sturz des Kaisertums 1974, das seine Herrschaftstradition eher auf Legenden denn Geschichte zurückführte, dieser verspätete Zusammenbruch eines in sich verfaulten Systems mit einem schließlich nur mehr dahindämmernden denn regierenden Monarchen an der Spitze brachte zwar radikalen Wandel — aber eben auch und zuerst nur „oben“. Die jungen Offiziere sahen sich nach zwei blutigen Kämpfen um die Macht und den Kurs sehr bald vor die Grundprobleme des Alten Reiches" gestellt und bei dem Versuch ihrer Lösung schnell und hoffnungslos überfordert. Als zum Konflikt mit Somalia und zum Bürgerkrieg — in Eritrea, Wollo, Tigre — die Dürre 1984/85 mit ihren Millionen von Opfern und Gefährdeten kam, erwies sich die inzwischen vollzogene Anlehnung an die UdSSR und ihr Lager im Effekt als unzureichende Wendung. Fast trotzig wurde zwar am zehnten Jahrestag der Revolution, am 12. September 1984, die Bildung der „Ye Ethiopia Serto Ader Party" und damit der ersten regulären, von Moskau voll anerkannten regierenden Kommunistischen Partei in Afrika vollzogen. Doch die Praxis macht klar: Alle strengen Kriterien einer KP fehlen, die verbal ausschweifend dargelegte ideologische Überein-stimmung ist Fiktion; in den Beteuerungen seiner marxistisch-theoretischen Glaubwürdigkeit wirkt Mengistu Haile Mariam wie ein Zauberkünstler, der mit dem Kunststück zugleich kundtut, daß es sich nur um einen Trick handelt. Wie anderswo ist denn auch in Äthiopien der propagierte „Marxismus-Leninismus" lediglich ein Instrument, das benutzt wird, den Kern des Sowjetkontrakts zu verhüllen: Er soll die Macht der jetzt Herrschenden sichern, wie dies unter anderen Bedingungen andere Instrumente besorgt hätten oder besorgen. Letztlich geht es eben in Afrika überall darum, auf das „Einsetzen der Eigenkräfte''zu warten und zu hoffen.
Doch wie stark können diese Eigenkräfte Afrikas entwickelt, wann wirksam werden? „Wir müßten Zeit haben, aber wir haben keine Zeit, man läßt uns keine Zeit", erklärte Youssef Lule kurz nach seiner Entmachtung: . Alles drängt. Alle wollen zu schnell zu viel, alle schauen uns auf die Finger, alles wird registriert — im Land selbst, von außen her.“ Europa, so legte der hochgebildete Mann aus Uganda dar, „hat Jahrhunderte zu seiner Verfügung gehabt, sich auszutoben und zu entwickeln. Uns sind nur Jahrzehnte, wenn nicht gar nur Jahre gestattet." Hochmut wäre eine unzureichende Antwort auf die Fragen, die Afrika ein Vierteljahrhundert nach der Unabhängigkeit an sich selbst und an die Welt richtet