I. Bulgarien und seine Balkannachbarn
Das Wort „balkan" bezeichnet in der türkischen Sprache eine „hohe, bewaldete Gebirgskette". Darüber hinaus ist „Balkan" der Name der südosteuropäischen Halbinsel, die gewissermaßen eine europäisch-asiatische Übergangszone darstellt. Der umfassendere Wortsinn kam erstmals in den'russisch-türkischen Kriegen des 18. Jahrhunderts auf und blieb für lange Zeit russischer Alleinbesitz: Als Philipp Felix Kanitz um 1877 sein klassisches Werk „Donau-Bulgarien und der Balkan“ schrieb, da hatte er selbstverständlich das Gebirge im Sinn, das die alten Griechen „Hämus“ nannten und die Bulgaren bis heute „Stara Planina — Alter Berg" nennen; als die Russen jedoch Kanitz'Buch übersetzten, machten sie aus dem Titel „Donau-Bulgarien und die Balkan-Halbinsel". Erst im 19. Jahrhundert setzte sich der Regionsname „Balkan“ auch im westeuropäischen Sprachgebrauch durch — ganz offenkundig im Gefolge der zahlreichen Kriege dort, wobei es für die Berichterstattung angebracht erschien, nach bewährtem Muster eine Halbinsel nach ihrem herausragendsten Gebirgszug zu benennen.
Europa mußte sich im 19. Jahrhundert für den Balkan interessieren, weil er zu einem sprichwörtlichen „Pulverfaß" geworden war. Immer hatten sich in dieser Region Großmachtinteressen gekreuzt — was jedoch jahrhundertelang keine weiterreichenden Fernwirkungen hatte, weil die meisten betroffenen Völker erst daran gingen, von der Stammes-zur Staatsorganisation überzuwechseln. Infolgedessen konnten sich etwa vom 9. bis 13. Jahrhundert Byzanz und Bulgarien in der Rolle des Hegemon auf dem Balkan abwechseln, bis dieser von den Türken komplett erobert und bis zum Beginn der Neuzeit behalten wurde. Die Türken waren alles in allem liberale Fremdherren, die mit den Eroberten auch keine größeren Probleme hatten oder sich solche machen wollten. Jahrhundertelang war z. B. die osmanische Bevölkerungsstatistik, der „nufuz nasareti“, nach einem einfachen Raster gestrickt: Wer zu Allah betet, gehört der „islami millet" an und muß Wehrdienst leisten — alle anderen sind „rumeli millet“ (griechische, d. h. christliche Nation) und steuerpflichtig, in ihren geistlichen Belangen zudem dem Griechischen Patriarchen von Konstantinopel unterworfen.
Obwohl diese Regelung erstaunlich lange und erstaunlich gut funktionierte, barg sie den Keim künftiger Konflikte in sich: Die Kirche wurde zum „Vehikel" nationaler Aspirationen — gegen die die Hohe Pforte die Griechen ins Feld schickte. Auf griechisches Betreiben hin wurde im Sommer 1767 das mazedonische „Erzbistum Ohrid“ aufgelöst — gegen griechischen Willen gewährte der Sultan 1870 den Bulgaren ein nationalkirchliches „Exarchat“. Und über die Kirchenfrage mischten sich die Großmächte auf dem Balkan ein — zuerst Rußland, das seinen Drang zum Bosporus hinter der Forderung tarnte, „Protektor“ der Balkan-Christen zu sein, sodann Österreich, das seine Interessen durch den russischen Konkurrenten bedroht sah.
Zwischen 1804 und 1817 erreichte Serbien eine weitgehende Teilautonomie, 1830 Griechenland die völlige Unabhängigkeit vom Os-manischen Imperium — zwei christliche Kleinstaaten, die im Zentrum der gefährlichen Triangel Rußland (das sich nördlich der Donau in den rumänischen Fürstentümern festgesetzt hatte), Österreich-Ungarn (das Kroatien und weitere Teile des Balkans hielt) und der Türkei (die Bulgarien und das ganze Mazedonien noch als ihre Reichsteile hatte) standen. In Belgrad und Athen träumte man von Balkan-Föderationen — unter serbischer bzw. griechischer Führung —, mußte in der Praxis aber kunstvoll zwischen wechselnden Großinteressen und -allianzen lavieren.
Nach dem Russisch-Türkischen Krieg 1877/78 entstand mit Bulgarien ein dritter autonomer Staat auf dem zentralen Balkan. Zugleich aber kulminierte der Großmächteinfluß, so daß am Ende wahrhaft jeder gegen jeden stand: Österreich schanzte Serbien Gebiete zum Nachteil Bulgariens zu und besetzte Bosnien-Herzogewina und den strategisch wichtigen Sandschak Novi Pasar; Bulgarien wurde wieder geteilt, weil man es als russisches Sprungbrett zum Mittelmeer ansah. Die Türkei behielt Mazedonien, England griff sich Zypern, und als Verantwortlicher für das ganze Durcheinander, das auf dem „Berliner Kongreß“ im Sommer 1878 ausgehandelt worden war, stand der „ehrliche Makler" Deutschland da. Die Deutschen hatten niemals Balkan-Interessen gehabt, sich aber jetzt das größte Mißtrauen der Russen zugezogen.
Die folgenden Jahrzehnte waren nur deswegen einigermaßen ruhig, weil die Türkei immer schwächer wurde, doch blieb die antitürkische Orientierung der einzige gemeinsame Nenner der Balkanstaaten. Davon abgesehen, waren sie zu wechselnden Zeiten austrophil und antirussisch oder umgekehrt, dazu einander nicht grün — was z. B. zum Bulgarisch-Serbischen Krieg von 1885 führte —, und das bot den Großmächten immer neue Eingreifmöglichkeiten, die ihrerseits den Gegensatz unter ihnen verstärkte.
Bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs hielt der in Berlin ausgehandelte Status quo, doch wurde Mazedonien zunehmend Objekt bulgarischer, serbischer und griechischer Begehrlichkeiten. 1912 drängte eine bulgarischserbisch-griechisch-montenegrinische Allianz im „Ersten Balkankrieg" die Türken fast ganz aus Europa heraus. Sofort anschließend kam es Mazedoniens wegen zum „Zweiten Balkankrieg" (auch „Interalliierter Krieg“ genannt), in dem sich 1913 die eben noch Verbündeten, zu denen noch Rumänien stieß, untereinander bekriegten. Der große Verlierer war Bulgarien, das in den zwei Weltkriegen unseres Jahrhunderts als Deutschlands Verbündeter versuchte, seine mazedonischen Aspirationen dennoch zu realisieren.
Seit Ende des Zweiten Weltkriegs durchlebt der Balkan seine beste und friedlichste Phase seit Menschengedenken, in der jedoch potentielle Konflikte in Fülle stecken, die alle in den Balkankriegen und im Ersten Weltkrieg entstanden sind: Die Aufteilung Mazedoniens unter Griechenland, Serbien und Bulgarien von 1912 schuf die „mazedonische Frage“. Mit Albanien entstand ebenfalls 1912 ein neuer Staat, der Serbien den Zugang zur Adria verwehrte und dadurch dessen latente Tendenzen zu einer südslawischen Einigung förderte. Von dieser Einigung war Bulgarien von Anfang an ausgenommen (was auch den Absichten aller Beteiligter entsprach), und das 1918 entstandene „Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen“, das sich ab 1929 . Jugoslawien“ nannte, empfand von Anfang an keine freundschaftlichen Gefühle für die bulgarischen Nachbarn. Griechenland war zwar der große Gewinner der Balkan-Kriege — im Norden bekam es Ägäisch-Mazedonien, im Süden Kreta und die Ägäischen Inseln —, kam dadurch aber in reale Konflikte mit der Türkei und in potentielle mit Bulgarien und Jugoslawien. Serbien wurde das erste Opfer des Weltkriegs, wich der Anerkennung der Niederlage aber durch die Flucht von Königshaus und Armee auf die Insel Korfu aus — noch heute singt man in Jugoslawien die elegischen Lieder, die damals entstanden, und bis heute lebt das unerschütterlich progriechische Sentiment der Serben.
Bulgarien wurde auf Seiten der Mittelmächte in die Niederlage gezogen; die von den Allierten auf den Absterbeetat gesetzte Türkei entdeckte unter Mustafa Kemal (. Atatürk“) den Nationalismus als neue politische Leitlinie anstelle der überlebten Theokratie und behauptete sich 1920/21 erfolgreich im Krieg gegen die Griechen, zumal sie mit der Sowjetunion eines der stabilsten und langfristigsten Abkommen der ganzen Balkangeschichte geschlossen hatte. Auf Anregung Nansens wurde der griechisch-türkische Bevölkerungsaustausch ausgehandelt, der auf dem Balkan Menschenströme in Bewegung setzte, die der Türkei willkommen waren, für Griechenland aber eine weitere Schwächung bedeuteten. Albanien wurde italienisches Protektorat; das auf Kosten Ungarns und Rußlands enorm vergrößerte Rumänien lebte in der Dauerfurcht vor dem „Revisionismus“ seiner Nachbarn, dem es mittels der „Kleinen Entente“ zu begegnen suchte. Kurz gesagt: Das Weltkriegsende hatte auf dem Balkan scheinbar das Nationalitätsprinzip triumphieren lassen, tatsächlich aber die Vorkriegskonflikte vermehrt, verstärkt und vertieft Bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs machten Jugoslawien, Bulgarien und Griechenland in etwa identische Entwicklungen durch. Die inneren Verhältnisse waren gespannt, Staatsstreiche und diktatorische Regierungsformen an der Tagesordnung; in dem von den Serben „unitaristisch“ dominierten Vielvölkerstaat Jugoslawien regte sich die Opposition der Kroaten und Mazedonier, die rasch zu terroristischen Formen griff. Zudem waren alle drei untereinander zerstritten, da Bulgarien unverändert Ansprüche auf Thrakien, Jugoslawien auf eine Freihandelszone in Saloniki erhoben, und alle später geschlossenen Balkanpakte und -bünde konnten diese Zwiste nicht endgültig ausräumen. Der Balkan war von einem Netz der Bündnisverpflichtungen überspannt, das trügerische Sicherheit vermittelte, tatsächlich aber zur Fessel wurde, die alle in den Zweiten Weltkrieg riß.
Rumänien mußte seine östlichen Landesteile an die Sowjetunion, „Nordsiebenbürgen" an Ungarn abtreten; ungarische, italienische, bulgarische und deutsche Truppen zerschlugen Jugoslawien, von dem große Landesteile Deutschland, Ungarn, Italien und Bulgarien zugeschlagen wurden, während Kroatien und Bosnien den „Unabhängigen Staat Kroatien“
bildeten und Serbien deutsches Besatzungsgebiet war; Albanien und Griechenland waren deutsch-italienisch besetzt.
Am Tag nach der jugoslawischen Niederlage begann der Kampf der jugoslawischen Partisanen — der monarchistischen unter Drasha Mihajlovi und der kommunistischen unter Tito. Bald fielen das Übergewicht und der Erfolg den Tito-Kämpfern zu, obwohl sie bis Kriegsende von Stalins Sowjetunion materiell nicht unterstützt und politisch auf Schritt und Tritt behindert wurden. Zugang zum Balkan fand die Sowjetunion erst, nachdem der rumänische Umsturz vom 23. August 1944 ein großes Loch in die deutsche Front gerissen hatte. Rumänien und Bulgarien fielen dem Machtbereich der Sowjetunion zu (obwohl Bulgarien sich nicht am deutschen Krieg gegen die Sowjetunion beteiligt hatte und bei der Jalta-Konferenz ein gewisser Westeinfluß in beiden Staaten vereinbart worden war), Griechenland wurde westliche Einflußzone, woran auch der griechische Bürgerkrieg nichts änderte, zumal Stalin die griechischen Kommunisten im Stich gelassen hatte. Die Türkei war im Krieg neutral geblieben, und Jugoslawien gestattete keine fremde Einflußnahme, nachdem es sich aus eigener Kraft befreit hatte. Das blockfreie Jugoslawien, das NATO-Mitglied Griechenland und das Warschauer-Pakt-Mitglied Bulgarien sind zwar geographische Nachbarn, politisch aber von denkbar größter Heterogenität. Ein Mikrokosmos für sich ist schon Jugoslawien mit seinen über zwei Dutzend Völkern und Volksgruppen, wo im Norden, im industrialisierten Slowenien, der Weltrekord an Vollbeschäftigung, in der südlichen Provinz Kosovo aber der Europarekord der Arbeitslosigkeit gehalten werden. Hinzu kommen seine politischen Probleme, seine Auslandsverschuldung, seine immense Inflation etc., die allesamt den Eindruck einer tiefen Krise hervorrufen.
Demgegenüber nimmt sich Bulgarien fast wie ein Hort der Ruhe aus — Wirtschaft und Landwirtschaft prosperieren im Schiebewind pragmatischer Reformen, Innen-und Kultur-politik sind von ruhiger Konfliktvermeidung geprägt, außenpolitisch lebt es in „geklärten Verhältnissen“, da das traditionell prorussische Sentiment der Bulgaren die Anerkennung der sowjetischen Führungsrolle erleichtert. Im Süden schließlich Griechenland, wo Papandreous PASOK radikalsozialistische Thesen verbreitet und eine pragmatisch-sozialdemokratische Politik betreibt, die besonders der Landbevölkerung zugute kommt und zudem unter den Augen einer wachsamen Opposition vollzogen wird. Außenpolitisch scheint Griechenland bemüht, die westliche Einflußnahme jeder Art auf seine Geschicke zurückzudämmen und auf dem Balkan die Gunst der Stunde zu nutzen: Das Verhältnis zu Bulgarien ist gut, und fehlende Sowjetraketen in Bulgarien erlauben es Athen, Truppen von der Grenze zu Bulgarien abzuziehen und gegenüber dem NATO-Partner Türkei zu postieren. Der Balkan ist dabei, das größte Übel seiner Geschichte — die Fremdbestimmung durch fremde Mächte — abzustreifen und die eigenen Dinge in die eigene Hand zu nehmen. Das latente balkanische Gemeinschaftsgefühl ist nie ganz tot gewesen, und im Moment regt es sich in Konzepten zur „balkanischen Kooperation", zur „atomwaffenfreien Zone Balkan“ u. a. Daß auf dem Wege zu konkreten Ergebnissen noch Hindernisse in Fülle überwunden werden müssen, von wechselseitigem Mißtrauen über variierende ideologische Orientierungen bis zu unterschiedlichen außenpolitischen Verpflichtungen, wird von niemandem bestritten, vielmehr wird dieser Tatsache mit Bekundungen des guten Willens und der Bereitschaft zum Dialog ausdrücklich entsprochen. Im übrigen: „Yavash, yavash — langsam, langsam", sagten die alten Türken, und diesen Ausdruck gibt es immer noch in allen Balkansprachen.
II. Rot sind nur die Rosen ...
Vielleicht ist Bulgarien Europas unbekanntestes, bestimmt aber sein verkanntestes Land.
Bis heute trifft in gewisser Weise zu, was der „Balkan-Kolumbus" Felix Philipp Kanitz um 1860 notierte: „In Europa denkt man von den Bulgaren, sie seien ein faules, rückständiges, verkommenes Volk. Ich fand jedoch zu meiner größten Verwunderung ein Volk mit dicht besiedelten Städten und Dörfern, und die Stadtbewohner beschäftigen sich mit verschiedenen Spezialhandwerken."
In ähnlicher Weise umlernen mußte dieser Tage ein Autor der in Paris erscheinenden polnischen Exilzeitschrift „Kultura"; in der Märznummer 1985 berichtete er von seinen Balkan-Impressionen, und nachdem er sich etwas über gewisse „sowjetische" Äußerlichkeiten Bulgariens mokiert hatte, fuhr er fort: „Die Straße ist gut instand und spiegelglatt... Auf beiden Seiten der Chaussee sieht man mustergültig bewirtschaftete Staatsgüter — ein Aspekt des Wohlstands dieses Landes, dessen Lebensstandard der zweithöchste nach der Volksrepublik Ungarn ist.“
Noch jeder, der sich mit Bulgarien etwas näher befaßte, hat sich in dieses schöne Land mit seiner gelassenen Atmosphäre und seinen freundlich-selbstbewußten Menschen „verliebt“. Und man muß auf Bulgarien etwas intensiver eingehen, um zu merken oder zu spüren, was in ihm so anders ist. Bildlich gesprochen: Milch ist überall dieselbe — damit aus ihr erfrischendes Joghurt wird, muß der „Bacillus bulgaricus" (er heißt tatsächlich so!) hinzukommen. „Realer Sozialismus" ist auch überall in etwa gleich — aber offenkundig gibt es einen politischen „Bacillus bulgaricus", der ihn mit Charme und Effizienz aufzuladen vermag.
Bulgarien ist kein „reformkommunistisches“ Land, war es nie; auch sein „Joghurt-Kommunismus" zeichnet sich vor allem durch die Dinge aus, die er im guten wie im schlechten nicht hat: keine polnische „Solidarno" und keine polnische Wirtschaftskrise, keine tschechoslowakische Föderation und keine tschechoslowakische Kirchen-und Intellektuellenverfolgung, keinen „innerdeutschen“
Handel und keine DDR-, Abgrenzung", keine rumänische Außenpolitik und keine rumänischen Westschulden. Dafür kann der „Joghurt-Kommunismus" mit anderen Vorzügen aufwarten: mit einem gelassenen Verhältnis zu ideologischen Doktrinen, die allesamt mehr oder minder nach dem Grundsatz gehandhabt werden, daß „sozialistisch“ ist, was Bulgarien nützt; mit einem intakten Rückgrat gegenüber nationaler Historie, in die er sich bruchlos einzufügen bemüht ist; mit einem pragmatischen Verständnis von Wirtschaft und Gesellschaft, wo vieles ausprobiert und Nichtbewährtes augenblicklich verworfen wird; mit gesunden Eigeninteressen, die gelegentlich mit beachtlicher Ellbogenhärte durchgesetzt werden; mit unterentwickeltem Talent für ideologisch-politische Berührungsängste. Die Bulgaren von heute sind ein Volk, das sich in sympathischer Weise treu geblieben ist — ganz besonders in seiner sprichwörtlichen „negativen Loyalität“, welche bereits die früheren Zaren kennenlernten und wie sie auch die heutigen Generalsekretäre in Rechnung stellen müssen. Die Keimzelle bulgarischer Gesellschaftsstruktur und Staatsorganisation ist immer noch die über die Jahrhunderte wechselnder Fremdherrschaften bewährte „Großfamilie“, wo einer das Sagen hatte und die anderen ihn aufmerksam beobachteten, ob er es auch gut sagte und zu aller Nutzen agierte. (Weh'ihm, wenn er’s nicht tat!) Die jetzigen Bulgaren lassen hinter tausenden Meckereien und Witzeleien leicht erkennen, daß sie im Grunde mit dem Lauf der Dinge ganz zufrieden sind: Unter dem „Joghurt-Kommunismus" ging es von agrarischer Rückständigkeit zu agroindustrieller Moderne aufwärts, und so ist es mehr als ein Bonmot, wenn der bulgarische Staats-und Parteichef Todor Shiwkoff von „Kommunisten ohne Parteibuch" spricht und damit die Mehrheit seiner Landsleute meint. Es gibt in Bulgarien einen recht tragfähigen Minimalkonsens zwischen Führern und Geführten, den beide Seiten ausbauen wollen. Wenn es so etwas wie ein „Erfolgsgeheimnis" Bulgariens gibt, dann ist es darin verborgen.
III. Patriarchalische Politik
Bulgaren lieben gepfefferte Debatten, die sie stets nach demselben Prinzip bestreiten: kräftig zuschlagen — und gelassen das Echo abwarten. So gibt es auf der bulgarischen Szene eigentlich ständig kreative Kräche, die auch immer einen gewissen „Ertrag“ haben. Anfang 1984 war beispielsweise ganz Bulgarien verärgert über eine Fernsehserie über den altbulgarischen Herrscher Simeon I. (893— 927), die irgendein übereifriger allzu „klassenmäßig" stilisiert hatte — die Herrschergestalt trat völlig in den Hintergrund, während „kleine Leute“ im hellsten Rampenlicht standen. Derartiges entspricht zwar dem „sozialistischen Realismus“, nicht aber dem Geschichtsempfinden der Bulgaren, für die Simeon unverrückbar die Lichtgestalt ihres „zlaten vek“ (goldenen Zeitalters) bleibt, als Bulgarien den halben Balkan beherrschte, ebenbürtiger Konkurrent von Byzanz und Heimat der Schüler der „Slawenapostel" Kyrill und Method war. Unter Simeon (möglicherweise sogar auf seine Initiative hin) wurde das altslawische Alphabet der „Glagolica" zur praktischeren „Kyrillica" vereinfacht, die dann von Bulgarien aus ihren Siegeszug bei den meisten Slawen antrat. Auf Simeon geht auch der bulgarische Anspruch auf den intraslawischen Kulturprimat zurück: Mit der Begründung, „Bulgarien ist neben Hellas und Rom das dritte klassische Land der Slawenheit“, wurde 1977 in Bulgarien der altsprachliche Unterricht wiedereingeführt, und zu den „alten“ Sprachen zählt auch Altkirchenslawisch, das in Bulgarien . Altbulgarisch“ genannt wird. Und einen mächtigen Auftrieb bekam dieses Selbstbewußtsein 1981, als Bulgarien ganzjährig das 1300jährige Bestehen des eigenen Staates feierte. Seele und Kopf der Feiern war Shiwkoffs Tochter Ljudmila, die es nicht interessierte, daß die Sowjets über die Feiern verärgert waren — weil die erste russische Staatsgründung 200 Jahre „jünger“ ist Nach dem „Goldenen Zeitalter“ kam, was in Bulgarien martialisch „robstvo“ (Sklaverei) oder „igo“ (Joch) genannt wird: die über 700 Jahre der Fremdherrschaft durch Byzanz und die Türken. In dieser langen Phase entwickelten sich andere Eigenheiten der Bulgaren, die bis heute präsent sind: ihre dankbare Anhänglichkeit an die Bulgarische Orthodoxe Kirche, da nur in deren Klöstern das Flämmchen bulgarischer nationaler und nationalkultureller Identität lebendig erhalten wurde; ihr (groß) familiärer Zusammenhalt, weil es in der bulgarischen Welt sonst nichts Verläßliches mehr gab; ihre Hochschätzung für Bildung und Wissen, in deren Zeichen sich die nationale „vyzrashdane" (Wiedergeburt) ab 1770 vollzog; ihr trotziger „inat“ (Störrigkeit) gegen jede Form von Fremdbestimmung und ihr prorussisches Sentiment, da die Befreiung Bulgariens eines der Ergebnisse des Russisch-Türkischen Krieges von 1877/78 war. Politik in Bulgarien, die an bulgarische Empfindlichkeiten rührt, hat auf Dauer keine Chance: Die ersten politischen Unruhen im stalinistischen Osteuropa traten in Bulgarien auf, wo schon 1950 im nordwestlichen Kula Bauern so vehement gegen die Zwangskollektivierung rebellierten, daß diese spürbar gemildert werden mußte. Und eine sowjetservile Moskowitischer-als-Moskau-Politik wurde ab 1965 zugunsten einer nationalbewußteren Profilierung aufgegeben, als ein nationalkommunistischer Militärputsch gerade noch vereitelt werden konnte.
Im Grunde startete damals erst der bulgarische . Joghurt-Kommunismus", und seine seitherige Kontinuität ist paradoxerweise nicht zuletzt das Verdienst des Mannes, der ihn anfangs überhaupt nicht förderte: Todor Shiwkoff, Jahrgang 1911, seit 1954 im Amt und somit „dienstältester" Parteichef Osteuropas. In jungen Jahren wollte er Schauspieler werden, kam dann aber in die Politik und gehörte im Zweiten Weltkrieg zu den bulgarischen Partisanen — nur wirklich gute Freunde dürfen ihn mit seinem alten Tarnnamen Janko“ anreden. Shiwkoff gehört zu jener Spezies selbstbewußter Menschen, die es darauf anlegen, unterschätzt zu werden — um desto kräftiger Kontra geben zu können. Prominente Blessierte säumen seinen politischen Weg, beispielsweise der „bulgarische Stalin“ Vylko Tschervenkoff, der ihn als vermeintlich schwachen „Ersatzkaiser“ in die Parteiführung holte und sich umgehend selber ausgebootet sah. Oder gar sein Intimfeind Walter Ulbricht, dessen gelegentlich arroganten Angebote Shiwkoff lächelnd mit dem Hinweis abfertigte, so habe bereits einmal ein Deutscher mit den Bulgaren verhandelt — Hitler. („Und nun sagen Sie mir, Genosse Ulbricht, wie ich das meinen schlichten Bulgaren erklären soll.“) Selbst Shiwkoffs politische Gegner aus der bulgarischen Emigration rühmen seine persönlichen Eigenschaften — seinen mitunter skurrilen Humor, seine persönliche Anspruchslosigkeit, seine Fähigkeit zuzuhören, seine Kenntnis der eigenen Grenzen und seine „Nase" für Dinge, die morgen wichtig werden. Das erste Jahrzehnt seiner Herrschaft war nicht besonders gut; die sozioökonomischen Wandlungen des Landes verliefen zu rasch, so daß etwa in der kollektivierten Landwirtschaft mehr Arbeitskräfte frei wurden, als die beginnende Industrialisierung verkraften konnte. Das schuf innenpolitische Unruhe und Belastungen für eine Partei, in der Shiwkoff noch keine „Hausmacht“ hatte. Zeitweilig orientierungslos, lehnte er sich gleich so sehr an Moskau an, daß sein Vorgänger Tschervenkoff von den Menschen so etwas wie einen Nostalgie-Bonus eingeräumt bekam.
Aber diese Dinge sind in Bulgarien mittlerweile so steingraue Vergangenheit daß man ganz offen darüber reden kann — auch und gerade mit Parteifunktionären: Für „baj Toscho“ — nur wirklich verehrte Alte werden in Bulgarien mit „baj“ und Vornamen bezeichnet — gibt es momentan keine personelle Alternative. Er ist in die Rolle eines akzeptierten Landesvaters hineingewachsen, über den man zwar pausenlos meckert, ihn aber auch als „unseren Mann“ achtet: Als vor einigen Jahren die Staats-und Parteispitze die Prachtresidenz „Bojana“ (Farbenfrohe) bauen ließ, hatte diese augenblicklich bei den Sofiotern den Spitznamen „tschitscho Toschova koliba — Onkel Hütte“ weg; dann die als Todors Hauptstädter auch noch zu reden begannen, daß die bulgarischen Zaren früher doch weit bescheidener residiert hätten, ließ Shiwkoff „Bojana“ für Wochenendbesucher öffnen — und jetzt sind alle stolz auf das wirklich schöne Gebäude.
Parteichef Shiwkoff hat mittlerweile vier sowjetische „Kollegen" überlebt, und im engsten Kreis gibt er sich stolz darauf, daß er noch mit jedem persönliche Konflikte hatte: Chruschtschow hatte ihn scharf kritisiert wegen seiner eigenwilligen Landwirtschaftspolitik und der Wiederannäherung an Griechenland. Mit Breshnew hatte er Auseinandersetzungen über den Tod seiner Tochter Ljudmila (geb. 1942) im Sommer 1981, hinter dem das stets gerüchteverliebte Sofia die Hand des sowjetischen KGB vermutete. Andropow ließ er im Herbst 1983 abblitzen, als der ihm — selber bereits auf dem Totenbett — durch höchste Sowjetmilitärs Raketen aufdrängen und seine Lieblingsidee vom „atomwaffenfreien Balkan" ausreden lassen wollte. Ein fast herzliches Verhältnis scheint nur zu Tschernenko bestanden zu haben, der als Schwiegervater eines Bulgaren, Träger höchster bulgarischer Orden und Dauerurlauber an bulgarischen Schwarzmeerstränden bei den Bulgaren ohnehin als „unser Mann in Moskau" galt Shiwkoff entstammt dem westbulgarischen Stamm der „Schopen", über den die Ethnographin Elena Ognjanova 1983 eines der schönsten bulgarischen Bücher der letzten Jahre veröffentlich hat: „Wir sind nicht von heute — Die Lebensphilosophie eines Schopen“. Zäh und gesund, querköpfig und witzig, besitzstolz und gastfreundlich sagen sie von sich, sie habe „der Herrgott mit Liebe geschaffen, Mann für Mann am Vormittag, erst am Nachmittag hat er den Rest der Menschheit gemacht“. Keine Frage, daß Shiwkoff ein echter Schöpe ist. Seine Wiederwahl auf dem 13. Parteitag im März 1986 steht außer Zweifel, und für die 100-Jahrfeiern der Sofioter Universität 1988 hat er bereits die Schirmherrschaft übernommen. Nein, Führungsprobleme sind in Bulgarien derzeit nicht gravierend; wenn sie überhaupt auftreten, werden sie unauffällig bereinigt. 1983 wurde der Chefideologe Aleksandyr Liloff, Politbüromitglied und ZK-Sekretär, entlassen, und Anfang 1984 gab es eine Reorganisation der Ministerien und ZK-Abteilungen, um in alle mehr Effizienz hineinzubringen. Aus dem Politbüro verschwand im Januar 1984 auch Zola Dragojtscheva, „grand old lady" der bulgarischen Politik, die mit 86 Lebensjahren gewiß pensionsberechtigt ist. Ob ihr Rückzug eine Klimaverbesserung gegenüber Jugoslawien signalisiert, da ihre mehr-bändigen Memoiren in Belgrad größte Verärgerung auslösten, ist fraglich, da sie just diese Memoiren — samt allen sperrigen Ausführungen über Mazedonien und die „mazedonische Frage" — im Ruhestand weiterschreiben will.
IV. Gesellschaft im Umbruch
Im Dezember 1948 verlangte Georgi Dimitroff, bulgarischer Ministerpräsident und Führer der Bulgarischen Kommunistischen Par-tei, vor dem 5. BKP-Kongreß: „In den nächsten Planjahrfünften muß das bulgarische Volk durch Geburtenzuwachs und Abnahme der Kindersterblichkeit eine Bevölkerungszahl von zehn Millionen erreichen." Nach wie vor gilt Dimitroff als „Bulgariens größter Sohn“, aber an manche seiner Aussagen werden die Bulgaren nicht mehr gern erinnert — beispielsweise an die zitierte Zehn-Millionen-Prognose. Am 2. April 1962 wurde erst der achtmillionste Bulgare geboren, und am 1. Januar 1985 lebten 8 972 000 Menschen in Bulgarien. « Bisher haben die Bulgaren noch nicht den Fehler der Tschechen und Rumänen begangen, in eine demographische Gigantomanie zu verfallen, d. h. die Geburtenraten um jeden Preis — in Rumänien 1965 z. B. durch das Verbot aller antikonzeptionellen Mittel, das immer noch besteht — zu stimulieren, ohne an die sozioökonomischen Folgelasten zu denken. In Bulgarien hat man die Dinge immer gelassener betrachtet — Kinderreichtum wurde hier auch als Zeichen agrarischer Rückständigkeit, kleinere Familien als unvermeidliche Begleiterscheinung einer Entwicklung zu urban-industrieller Modernität angesehen. Hinzu kommt, daß bloßes Appellieren noch immer an bulgarischer Störrigkeit scheiterte: Düsteren demographischen Prognosen, die das Ende der Nation beschworen, wurden in der Vergangenheit stets mitleidslos fehlende Sozialleistungen entgegengehalten, die die Geburtenfreudigkeit dämpfen.
Zu der seit Beginn der achtziger Jahre berechtigten Sorge um den ferneren Bestand der Nation kommen mittlerweile auch Befürchtungen, ob die Arbeitskraftressourcen vorhalten. 1920 bis 1946 betrug der Zuwachs 62 900, der sich zwischen 1946 und 1976 auf 32 300 fast halbierte. Damit können jedoch auch Wirtschaftswachstum, intensive Entwicklung u. a. gefährdet sein.
Verbesserte Geburtenraten erscheinen für Bulgarien als dringliche Notwendigkeit, aber die langfristigen demographischen Trends deuten in die gegenteilige Richtung: Familien mit sechs, acht und mehr Mitgliedern — in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts die Norm — sind seit 1965 praktisch nicht mehr anzutreffen; die Entwicklung ist längst bei der Zwei-Kinder-Familie angekommen, und für die nähere Zukunft zeichnet sich nur noch ein Kind pro Ehepaar ab. Die bulgarischen Frauen machen aus ihren Wünschen nach „höchstens" zwei Kindern gar kein Hehl, und die sehr aktive Soziologie in Bulgarien kann mit empirischen Daten in Fülle aufwarten.
Kiril Vasileff, der geistvolle und streitbare bulgarische Sozialwissenschaftler, hat im Januar 1985 in dem theoretischen BKP-Organ „Neue Zeit“ Partei für die Frauen genommen. Zum einen ist die patriarchalische Großfamilie der bulgarischen Vergangenheit verschwunden, und emanzipierte Frauen wollen weniger Kinder.
Zum zweiten können die Frauen nur eines sein — Mutter oder Arbeitskraft, und die bulgarische Wirtschaft käme augenblicklich in die Krise, würden die Frauen in Massen in Mutterschaftsurlaub gehen. 1970 waren 48, 3 Prozent aller Arbeitskräfte in Bulgarien Frauen, 1983 49, 2 Prozent In der Industrie stieg ihr Anteil von 44, 7 auf 48, 9 Prozent, in der Wissenschaft von 47, 4 auf 53 Prozent usw. Daraus folgt, daß die Frau zugleich Konkurrent des Mannes (in Berufsausübung, Leistungsfähigkeit etc.) und sein Partner bei der Auffüllung des Haushaltsbudgets ist Das eine wie das andere stärkt ihr Selbstbewußtsein, und auf beides müßte sie im Falle einer Geburt wenigstens temporär verzichten.
Drittens schließlich sind gerade bulgarische Frauen immer weniger bereit, den balkanischen „machismo“ der Männer zu ertragen. 1955 entfielen auf 1000 Ehen 60 Scheidungen, 1976 waren es 165 — bei ansteigender Tendenz, da bereits rund 80 Prozent aller Scheidungsanträge von Frauen gestellt werden. Auch zeigen die Frauen immer weniger Bereitschaft eine Schwangerschaft auch wirklich auszutragen. Schon 1967 kamen auf 100 Lebendgeburten 79 künstliche Schwangerschaftsunterbrechungen; seit den späten siebziger Jahren ist das Verhältnis gleichbleibend ausgeglichen.
Gerade im Bereich von Partnerschaft und Sexualität trägt die bulgarische Gesellschaft noch zahlreiche Tabus der Vergangenheit mit sich herum, und Sexualwissenschaftler wie etwa Todor Bostandshieff lesen ihr dafür die Leviten. Die von Bostandschieff bereits 1974 beklagten sexualerzieherischen „Versäumnisse" wurden indirekt noch zehn Jahre später deutlich, als in Bulgarien 1984 der Entwurf für ein neues Familiengesetzbuch — Erschwerung der Scheidungen, Eigentumsregelung in Scheidungsfällen, Hilfen für Kinder aus geschiedenen Ehen, neue Adoptionsregelungen etc. — öffentlich und bemerkenswert frei diskutiert wurde. Jugendliche beteiligten sich praktisch nicht an der Diskussion, obwohl sie als künftige Eheleute doch am ehesten betroffen waren. 1984 brachte Bulgarien noch zwei weitere, in diesem Zusammenhang wichtige Entscheidungen. Zum einen wurde ein Sozialprogramm verabschiedet, das insbesondere jungen Ehen zugute kommen soll. Junge Familien können ab l. Juli 1985 Kredite bis zu 20 000 Leva bekommen, die nach DDR-Muster „abgekindert“ werden können: Werden binnen vier Jahren zwei Kinder in die Welt gesetzt, werden 20 bis 50 Prozent des Kredits erlassen, beim dritten Kind wird der Rest gestrichen. Zweitens machte sich die bulgarische Führung sehr pragmatisch Teile des bulgarischen Brauchtums zunutze: Seit dem Frühjahr 1984 wurde eine ganze Reihe altbulgarischer Feiertage „rehabilitiert“ — interessanterweise vor allem solche, die dem Zusammenhalt der Familie und dem besseren Verhältnis der Generationen untereinander dienen, wie z. B.der „Proschka-Verzeihungstag“ vierzig Tage vor Ostern.
Neben den rein demographischen Entwicklungen ist vor allem die Binnenwanderung der Bulgarien geeignet, den Umbruch der bulgarischen Gesellschaft zu illustrieren: Vor dem Krieg hatte Bulgarien nur wenig Industrie. Erst die danach einsetzende Industrialisierung des Landes entfaltete ihre Sogwirkung auf die Menschen. Zwischen 1966 und 1980 haben 2 085 851 Personen den Wohnsitz gewechselt — sie verließen zumeist die Dörfer und zogen in die Städte. Dabei zeigte sich zweierlei. Einmal waren nur relativ wenige Städte Migrationsgewinner: die Hauptstadt Sofia, das Schwarzmeerzentrum Varna, die zentral-und nordbulgarischen Industriestädte Stara Sagora, Gabrovo, Lovetsch und Ruse; hinzu kamen im Süden noch Plovdiv, Bulgariens „heimliche Hauptstadt“, und Smoljan, das machtvoll aufstrebende Zentrum des Rhodopen-Gebirges. Alle anderen Städte gaben Menschen ab. Zum zweiten waren die bulgarischen Dörfer die großen Verlierer; in ihnen werden künftig noch mehr junge Menschen als Arbeitskräfte und künftige Eltern fehlen. Bereits 1978 hat man berechnet, daß von den 4 354 bulgarischen Dörfern bis 1990 rund 1000 völlig entvölkert sein und von der Landkarte verschwinden werden, also nicht einmal mehr jene wenigen Alten haben, die heute bereits in zu vielen bulgarischen Dörfern praktisch nur noch unter sich sind.
V. Landwirtschaft, Wirtschaft, Umweltschutz
Das oben erwähnte Buch von Elena Ognjanova über die „Schopen“ — ein potentieller internationaler Bestseller bulgarischer Provenienz, der aber wie viele vor ihm „übersehen“ werden wird — beginnt mit einem Gespräch, das die Autorin 1952 führte, und in dem sich ein Bauer bei ihr beklagte: „Von meinem Vater habe ich zwei Hektar Land, schöne, fruchtbare Erde — da gedeiht alles. Zweiunddreißig Jahre ist es her, daß ich meine Frau genommen habe — Tag und Nacht haben wir gearbeitet, Werk-und Sonntag. Noch zwei Hektar haben wir uns gekauft, und das war noch schönerer Boden. Und jetzt soll ich das in die LPG geben, damit sich mein Eigentum unter allem anderen verkrümelt, damit morgen niemand mehr sagen kann: der Acker gehört Nikola Polenski. Wie käme dir so eine Sache vor? Wie können überhaupt meine Söhne — drei habe ich, gesund und lebendig sollen sie sein — noch wissen, wofür sich Vater und Mutter das ganze Leben geschunden haben?“ „Die ewige bulgarische Furcht, nur nicht über s Ohr gehauen zu werden“, vermutete die Autorin hinter den bäuerlichen Vorbehalten gegenüber den neuen Kollketivwirtschaften.
Dabei hatten die als organisatorische Form gar nicht einmal einen schlechten Start — sofern man sie als Fortsetzung der altbulgarischen Großfamilienwirtschaft ansah. Das eigentliche Hindernis lag im klassischen Erbrecht der Bulgaren, nach dem Landbesitz unter allen Erbberechtigten aufgeteilt werden mußte, was zu seiner immensen Zerstückelung des Landes und zur Verarmung der Landbevölkerung führte. Insofern hätte eine vernünftige Kollektivierung schon einen Sinn gehabt Doch was da ab Herbst 1950 in Bulgarien „massenhaft" anlief, war das Gegenteil von vernünftig — es war sowjetisch-stalinistisch. Die Landwirtschaft wurde zur inneren Kolonie, die hemmungslos ausgebeutet wurde — über Aufkaufpreise, die unter den Entstehungspreisen lagen, speziell bei Tabak und Baumwolle, Bulgariens Hauptexportgütern.
Bulgaren sind fleißige Leute, die aber auch mit einem gesunden Sinn für den Ertrag ihrer Arbeit begabt sind. Eben dadurch waren Beginn und Fortgang der Kollektivierung der Landwirtschaft ständig von Unruhe unter der Landbevölkerung begleitet, was eine der Triebkräfte der bulgarischen Entstalinisierung war, die das ZK-Plenum vom April 1956 vornahm. Die Parteiführung beeilte sich, den Bauern entgegenzukommen — Steuererleichterungen, verminderte Ablieferungskontingente, erhöhte Aufkaufpreise, freie Märkte etc. Zugleich schaffte Bulgarien 1956 den industriellen Durchbruch, da die 7. RGW-Tagung ihm grünes Licht zum Ausbau seiner Buntmetallurgie und zum Aufbau einer Akkumulatorenproduktion gab. (Die entsprechenden Kapazitäten wurden partiell aus der Tschechoslowakei ausgelagert, was die dortigen Arbeiter mit Streiks beantworteten.) Inzwischen ist Bulgarien der Welt zweit-bzw. drittgrößter Produzent und Exporteur von Hebefahrzeugen.
„Nehmt euch alles, aber gebt mir die Hälfte ab", besagt ein bulgarisches Sprichwort, das wohl als Motto über der staatlichen Agrarpolitik der Folgezeit stand. Faktisch war der Staat Alleininhaber der Landwirtschaft, was ihm indessen wenig nützte, wenn aus dieser die Arbeitskräfte wegliefen, und zwar um so mehr, je jünger und qualifizierter sie waren. Ab Mitte der sechziger Jahre und verstärkt ab 1970 wurden daher die Kollektivwirtschaften (und Staatsgüter) zu „Agro-Industriellen Komplexen“ (AIK) vereinigt; diese Maßnahme hatte zum Ziel, der Landbevölkerung ganzjährige Beschäftigungsmöglichkeiten zu verschaffen, die landwirtschaftliche Produktion in großem Stil zu spezialisieren und mit der regionalen Verarbeitungsindustrie zu verbinden und in der gesamten Landwirtschaft industrielle Leitungsmethoden einzuführen. Das klappte relativ gut, vor allem verschaffte es den Bauern spürbar bessere Einkommen, so daß die Landflucht nicht im alten Tempo weiterging.
Der große Tag der bulgarischen Landwirtschaft war der 21. Dezember 1973, als die „persönlichen Wirtschaften" — um das . Unwort’ „privat" zu vermeiden — per Gesetz abgesegnet wurden: . Alle Hindernisse administrativer und wirtschaftlicher Art sind zu beseitigen, die die Möglichkeiten einer vollen Nutzung der persönlichen Wirtschaft bremsen, da diese nicht nur eine Erzeugung für den Eigenbedarf der produzierenden Familie hervorbringen soll, sondern auch eine Warenproduktion, die an die Aufkauforganisationen zu verkaufen ist" Das war auch wichtig, denn 1977/78 wurde die Territorialgliederung Bulgariens geändert: über das Land spannt sich seither ein Netz von „Siedlungssystemen" — Nachbargemeinden werden sozusagen als Viertel einer fiktiven Stadt behandelt, die Selbstversorger ist —, was erfolgreich den Regionalpatriotismus (ein für Bulgaren nicht unbedeutender Faktor!) stimulierte, nachdem die persönlichen Wirtschaften schon die „materielle Interessiertheit“ der Bauern auf Touren gebracht hatten.
Schon wenige Jahre später konnten sich die Initiatoren der neuen Politik selber gratulieren: Jeder Bauer darf einen halben Hektar Land privat bewirtschaften und soviel Vieh halten, wie er mag, dafür auch noch Weideland und Kredite vom Staat in Anspruch nehmen. Zum ersten Mal sind die Bauern mit der politischen Führung rundum zufrieden — und umgekehrt auch die politische Führung mit den Bauern; denn schon 1976 kam über ein Drittel des gesamten bulgarischen Fleischaufkommens aus den persönlichen Wirtschaften. Wer heute durch die bulgarische Provinz reist, muß den Eindruck gewinnen, daß Schafzucht und Viehhaltung die neuen Nationalhobbies der Bulgarien sind — die sehr wohl wissen, warum sie das tun.
Wer das sowjetische Landwirtschaftschaos vor Augen hat, kann sich dieselben ob der bulgarischen Verhältnisse nur noch verwundert reiben. Die „Preußen des Balkans" haben ganze Sache gemacht, wie z. B. das Fachblatt „Wirtschaftsleben“ im September 1983 vorrechnete: 1 866 000 Bauern betreiben auch persönliche Wirtschaften, wozu noch 168 000 Rentner und auch noch Arbeiter, Angestellte etc. kommen. Zusammen bewirtschaften sie zwölf Prozent des in Bulgarien verfügbaren Ackerbodens. Auf diesem erzeugen bzw. halten sie (in Prozent des gesamtstaatlichen Aufkommens): 23% der gesamtlandwirtschaftlichen Produktion, 34% der Vieh-und 16% der Pflanzenproduktion; 47% des Geflügels, 38% der Schafe, 29% der Kühe und 26% der Schweine.
Keine Frage: die persönlichen Wirtschaften sind ein großer Erfolg, und deshalb wird ihnen auch wohl nichts geschehen — die Folgen wären fatal. Dennoch wird über sie von diametral entgegengesetzten Positionen aus diskutiert: „Bereichert euch“, sagen die Wirtschaftler und rechnen vor, wo es überall noch „Reserven“ für die persönlichen Wirtschaften gibt, wie sie auf neue Bedürfnisse reagieren müssen, was man von Staats wegen noch alles für sie tun könnte. Auf der anderen Seite stehen konservative Opponenten, zumeist dem Partei-und Sicherheitsapparat entstammend.
Sie stoßen sich an jenen „unternehmerischen"
Einzelbauern aus Burgas, Schumen, Tolbuchin und anderen ostbulgarischen Regionen (wo immer ein gediegener bäuerlicher Wohlstand anzutreffen war), von denen fast jeder 50— 100 Schafe, über 100 Schweine, bis zu 20 000 Hühnern usw. hält Wohlgemerkt: das dürfen sie, denn die Gesetzesbestimmungen von 1973/74 haben keine Obergrenzen markiert. Ärgerlich ist nur, daß diese „Unternehmer" immer häufiger auf ihren LPG-Job pfeifen, um sich nur noch ihren eigenen Wirtschaften zu widmen, und daß immer mehr AIK sich an ihren Erfolg anhängen, indem sie Exklusivverträge mit ihnen abschließen, ihnen mehr Land als erlaubt zuschanzen und andere Dinge tun, die nicht so recht zu „sozialistischer Gesetzlichkeit"
passen.
Die Debatte dauert noch an, doch ist mit größter Sicherheit anzunehmen, daß sie mehr oder minder zugunsten der ökonomischen Ratio beendet werden wird. Schließlich war die Landwirtschaft auch Prüffeld für die umfassendere Wirtschaftsreform, die als „Neuer Ökonomischer Mechanismus“ (NOM) am 1. Januar 1982 gestartet wurde. Beim NOM dürfte es ziemlich gleichgültig sein, ob er ein Zwilligsbruder der ungarischen Wirtschaftsreform von 1968 ist (wie man nach erstem Augenschein denken möchte), oder ob die Ungarn damals ein bulgarisches Konzept realisierten (wofür diverse Indizien sprechen). Wichtig ist im Moment nur: der NOM ist die geeignete Antwort auf drängende Probleme, die einer Lösung bedürfen.
Wie sieht das sozioökonomische Gesamtbild Bulgariens in den achtziger Jahren aus? Der notwendige Übergang von extensiver zu intensiver Wirtschaftsentwicklung — Wirtschaftwachstum resultiert überwiegend aus innerbetrieblicher Rationalisierung und Qualifikationsverbesserungen — wird durch bestehende Strukturen behindert; für die Zukunft ist kein Arbeitskräftezuwachs in Sicht; Investitionen müssen an technischen Fortschritt, Qualität und internationale Konkurrenzfähigkeit gebunden werden. Der bestehende Lebensstandard der Bulgaren muß gehalten und ausgebaut werden — unter Beachtung von Bulgariens angespannter Rohstoff-, Energie-und Umweltsituation.
Hier soll nun der NOM neue Verhältnisse schaffen; bei seiner Formulierung war viel Wolkigkeit mit im Spiel, aber schließlich ging es auch um ideologisch brisante Fragen, die nicht ganz so kraß ausgesprochen werden konnten. Im Grunde geht es um zwei Dinge: durch ökonomisch stimulierte Interessiertheit Initiativen auszulösen und Verantwortung auf allen Ebenen zu stärken; und zweitens: durch Neubestimmung und -einsatz von Preisen, Gewinnen, Zinsen und Krediten die Mittel dazu zu erhalten. Im Idealfall käme dabei ein dritter Weg zwischen westlicher Markt-und östlicher Planwirtschaft heraus.
Die Praxis des NOM sieht so aus, daß Wirtschaftsverantwortung zweifach delegiert wird: Zum einen an „Sozialistische Wirtschaftsorganisationen“ (SWO), die als „separate, relativ selbständige Warenproduzenten“ im Rahmen staatlicher Planauflagen tätig werden, dabei aber große Freiräume haben und vor allem „Gewinn" machen sollen. Amtliche „Bevormundung" und steuerliche Übervorteilung — klassische Übel zentraler Planwirtschaft — sollen ausgeräumt werden, damit die SWO auch wirklich von den neuen Möglichkeiten hinsichtlich Vertragsabschlüssen, Preisbildung, Kreditaufnahme, Finanzierung, Partnersuche, „wirtschaftlichem Risiko" etc. Gebrauch machen.
Volkswirtschaftlich-produktive Grundzelle des NOM ist die „Brigade neuen Typs", die man sich sozusagen als eine SWO im Kleinformat vorzustellen hat: „Geschlossener technologischer Zyklus zur Gesamt-oder Teilproduktion", kollektiver „Bewirtschafter“ von Maschinen, Anlagen und Materialien, Ausführer von kollektiv gestellten „Produktionsaufgaben", Buchhalter einer brigadeinternen „Wirtschaftsrechnung“, die die Einkünfte der Mitglieder nach Menge, Güte und Selbstkosten der Produktion regelt.
So will man die Werktätigen „materiell und moralisch" — in dieser Reihenfolge! — an qualitativer Produktion interessieren, die den Binnenmarkt befriedigt und die außenwirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit Bulgariens fördert, indem sie ihm eine Spezialisierung auf „bewährte“ Bereiche erlaubt. Wieviel von all dem Wirklichkeit wird, bleibt abzuwarten; bemerkenswert sind immerhin schon mehrere Momente — das pragmatische, ohne übergroße ideologische Ängstlichkeit erstellte Konzept des NOM, die ersten guten Ergebnisse für die Versorgung der Bevölkerung (zu deutlich erhöhten Preisen) und die den NOM begleitende politische Liberalisierung, die zu wirtschaftlichen Detailfragen praktisch jeden Diskussionsbeitrag erlaubt
Erst seit neuestem betreibt auch Bulgarien . Joint Ventures" mit westlichen Firmen, wogegen es sich früher entschieden gewehrt hat. Vorrangig aber bleibt seine RGW-Bindung. 1983 wurden 55, 4 Prozent des „NationaleinB kommens" — gesamtgesellschaftliche Wert-schöpfung minus Dienstleistungen — von der Industrie erzeugt; 1984 wickelte Bulgarien 77 Prozent seines Außenhandels mit „sozialistischen“ Ländern ab, allein 57 Prozent mit der Sowjetunion. Diese liefert an Rohstoffen, was die Bulgaren brauchen, und nimmt an Gütern ab, was jene anbieten, toleriert mittlerweile auch alle Wirtschafts-und anderen Reformen (Bulgarien vielleicht auch als „Pflanzgarten" für eigene Reformvorhaben ästimierend). Zudem machen die Bulgaren seit den ausgehenden sechziger Jahren etwas, was die anderen Osteuropäer jetzt erst lernen müssen — Rohstoffe in der Sowjetunion selber zu produzieren. Rund 21 000 Bulgaren sind in der Komi ASSR, in der Kursker Magnetanomalie, in Orenburg, im Erzlager von Krivoj Rog und anderen Orten der UdSSR tätig, um dort Holz, Erz, Ol, Gas usw. für Bulgarien zu fördern.
Eine wirtschaftliche Würdigung Bulgariens wäre unvollständig ohne Erwähnung seiner touristischen Reize (die schon den antiken Römern ein angenehmer Begriff waren). Chef-manager des bulgarischen Tourismus ist derzeit Lytschesar Avramoff, in den frühen siebziger Jahren als bulgarischer „Kronprinz“ im Gespräch, bis er auf sowjetische Intervention hin in der Versenkung verschwand. Aus der tauchte er kürzlich wieder auf, mit ungebrochenem Elan der neuen Aufgabe hingegeben. Bulgarien ist als Touristikland ideal — heiße Mineralquellen finden sich im ganzen Westen, die zentralbulgarischen Gebirgsmassive des „Balkan“ und der „Rhodopen“ sind für den Wintersport so geeignet, daß Bulgarien für eine der nächsten Winterolympiaden kandidieren wird, und die Schwarzmeerstrände vom Kap Kaliakra im Norden bis zur exotischen Pracht von Nesebyr im Süden sind längst international akzeptiert. Schon fünf Jahre vor Stalins Tod gab die BKP-Führung die Weisung aus, den „internationalen Tourismus“ ins Land zu holen. Seitdem ist der Tourismus zur dritten Säule der bulgarischen Volkswirtschaft geworden — eine halbe Million Betten, 36 000 Arbeitsplätze, jährlich rund sechs Millionen ausländische Besucher. Kein Zweifel: den Bulgaren von heute geht es gut — der „Joghurt-Kommunismus" honoriert ihre Anstrengungen und zahlt sich für sie aus (gelegentlich zu Preisen, deren ständiges Anheben Shiwkoff Leistenbrüche eingetragen hat, lästern sie selber). Aber das ist nur eine Seite der Medaille — auf deren Rückseite Umweltbelastungen, Bodenerosion, Luft-und Wasserverschmutzung, verödende Stadtzentren und anderes eingraviert sind. Bulgarien hat seinen industriellen Aufschwung auch mit industriellen Schadstoffemissionen und abwässerverschmutzten Flußläufen bezahlt; seine „sozialistische Landwirtschaft“ schlug ihre Großflächen auch in intakte Wälder, schädigte sie durch Monokulturen und Über-düngung, zermahlte sie durch schweres Gerät und überließ sie schutzlos der nagenden Kraft von Wind und Wasser. Die früher dichten Wälder der nordbulgarischen Donauebene sind bis auf einige Inseln abgeholzt, „Vandalismus" und „Bodenraub“ treten auf, wo Industriebauten errichtet werden.
über Umweltprobleme wurde in Bulgarien schon vor rund zwölf Jahren debattiert, und seither wuchs das ökologische Bewußtsein, das sich in einer verwirrenden Fülle staatlich-gesellschaftlicher Institutionen manifestierte: Legislative („Nationalversammlung"), Exekutive („Ministerrat"), der „Staatsrat“ (Mischform aus Legislative und Exekutive) und der Organisationsdachverband „Vaterländische Front“ legten sich jeweils eigene Oko-Gremien zu, über denen seit 1977 als oberstes Kontrollorgan das „Umweltschutzkomitee" wirkt. Hinzu kommt folgendes: Als alte Bauernnation haben die Bulgaren ein instinktives Verhältnis zu ökologischen Belangen und eine emotionale Bindung an die bulgarische Scholle. Wenn da über die Umwelt diskutiert wird, dann kommen gewissermaßen polnische Faktenhärte und bulgarische Streitlust zusammen, dann fließt in Wortwahl und Argumentationsweise eine mitunter atemberaubende Schärfe hinein, da klagen Zeitschriften — etwa die intellektuell-rauflustigen „Anteni" aus Sofia — „sozialistische" Industriegiganten vehement an, da erstellen Bodenkundler der Sofioter Universität ein ganzes Sündenregister der „sozialistischen Landwirtschaft“ und fordern die Abkehr von ihrer Großfelderbewirtschaftung u. a. m. Beides zusammen, die institutioneilen Vorkehrungen des bulgarischen Staates und die psychischen „Befindlichkeiten“ der bulgarischen Gesellschaft, haben bereits ihren nachweisbaren Effekt für den Umweltschutz.
IV. Kultur und Wissenschaft
„Betrüge dich nicht selber, Bulgare, kenne und liebe dein Volk, lerne seine Sprache, wisse, daß die Bulgaren die ersten auf dem Balkan und die tapfersten der Slawen waren“, diese Donnerworte gegen die „Väterverächter" stieß der Athos-Mönch Paisij Chilendarski in seiner „Slavo-Bulgarischen Geschichte von Zaren und Heiligen und allen bulgarischen Taten und Ereignissen" von 1762 aus. Mit diesem handgeschriebenen — später hundertfach abgeschriebenen — Buch setzte das Erwachen der Bulgaren aus ihrem Geschichtsschlaf ein, das später zu Recht „Wiedergeburt“ genannt wurde.
Bis zur bulgarischen Befreiung von 1877/78 dauerte es noch lange Jahre, während derer die Volksbildung das einzige Gebiet war, auf dem man sich für nationalbulgarische Belange betätigen konnte. Deutsche Ortschaften gruppieren sich um eine Kirche, bulgarische um ein „tschitalischte", was mit „Lesehalle“ nur unvollkommen übersetzt ist — sie waren Klub, Theater, Bibliothek, Volkshochschule etc., und sie sind es noch, lebendiger Nachklang der „Wiedergeburt“, die in ihnen vor allem vorbereitet wurde. Damals bildete sich auch die für Bulgaren charakteristische Hochachtung für Bildung und Wissen heraus: und wenn die ganze Familie hungerte und analphabetisch blieb — der begabteste Sohn ging zur Schule und studierte, und notfalls legte das ganze Dorf zusammen, um ihn zur Hochschule nach Odessa, Breslau oder München zu schicken.
In kaum etwas lassen sich Bulgaren so ungern hineinreden wie in die Bildungspolitik. In Mitteleuropa waren Böhmen und Mähren einmal europäische Vorhut in Schulfragen — über ein Dutzend kurzsichtig-übereilter „sozialistischer Schulreformen" seit 1948 haben die Tschechoslowakei mittlerweile zur osteuropäischen Nachhut werden lassen. So etwas möchte man in Bulgarien vermeiden, wo Schulreformen lange überlegt, ausführlich diskutiert und umsichtig realisiert werden. Die vorletzte wurde 1969, die bislang letzte im Juli 1979 gestartet Sie zielt auf eine konzeptionelle (von der „Akademisierung" zur „Professionalisierung" der Sekundarstufe II), strukturelle (Schuleintrittsalter sechs Jahre, zehn Jahre Schulpflicht, obligatorische Berufsbildung in zweijährigen „Berufslehrkomplexen“ für alle) und methodisch-didaktische (vom Memorieren zum aktiven Wissenserwerb) Umgestaltung der Schule ab, die auch das Hochschulstudium strafft (dreistufige Spezialisierung binnen vier bis sechs Studienjahren) und von der Hoffnung der Planer getragen ist, dem Land ein „langfristig stabil funktionierendes" Bildungswesen zu verschaffen.
Von der Reform kaum tangiert waren die so-genannten „Sprafhenschulen“ — Gymnasien mit fremder Unterrichtssprache, unter ihnen acht Gymnasien mit deutscher Unterrichts-sprache. Alle diese Unterrichtsanstalten sind Eliteschulen, deren Absolvierung einem Karrierefreibrief gleichkommt Bulgarien war schon im ausgehenden 19. Jahrhundert das klassische Land fremdsprachiger Schulen und hat diese Tradition nach 1945 beibehalten — was ihm in Osteuropa eine vielbeneidete Pionierrolle auf diesem Feld eintrug.
Diese und andere Schulen gehören zumeist nicht in die Kompetenz des Volksbildungsministeriums, sondern zum „Komitee für Kunst und Kultur“, einem 1966 gegründeten Super-ministerium für alle Kulturangelegenheiten Bulgariens. Bis zu ihrem Tod am 21. Juli 1981 leitete Ljudmila Shiwkowa, die Tochter des Staats-und Parteichefs, das Komitee. Die in Oxford promovierte Historikerin und Kunstgeschichtlerin hatte zwar Sitz und Stimme im ZK und Politbüro der BKP, aber ideologische Scheuklappen waren ihr völlig fremd; von ihr bekam der „Joghurt-Kommunismus" seine nationalbewußte Weltoffenheit. Sie managte 1981 die 1300-Jahrfeiern, organisierte internationale Kongresse (und orientierte sich an sowjetischen und rumänischen Vorbildern, wie eine solche Organisation nicht aussehen dürfe), schickte bulgarische Künstler in alle Welt, ließ bulgarische Ausstellungen, etwa das „Thrakische Gold", durchs Ausland reisen, brachte Ideologie und fernöstliche Philosophie zusammen. „Sozialistisch" ist, was Bulgarien nützt — also knüpfte Ljudmila Kontakte zum Vatikan, um aus dessen Geheimarchiv altbulgarische Handschriften und Landkarten zu publizieren; also organisierte sie in Bulgarien Leonardo-da-Vinci-Feiern, was ihr nicht nur höchste italienische Ehren eintrug, sondern auch ein bulgarisch-italienisches special relationship begründete (das derzeit wegen der unsäglichen „bulgarian connection" leider in Trümmern liegt); also publizierte sie ihre aufwendigen Bildbände über Kunstschätze in Bulgarien mit Vorliebe in einem Recklinghäuser Verlagshaus u. ä. m.
Ganz nebenbei wurde damals auch dem Kunstdogma des „sozialistischen Realismus" in Bulgarien der Garaus gemacht. Lebensfähig war er in dem Lande nie; die bulgarischen Literaten der Vergangenheit waren ohnehin Realisten, und was ihre „sozialistischen“ Nachfahren schrieben, paßte nicht einmal zu Zeiten des Stalinismus in die sozialistisch-realistische Schablone. Heutzutage sind von bulgarischen Autoren „gesamtnationale" Prinzipien gefordert, d. h. literarisches Schaffen soll sich möglichst bruchlos in die national-kulturellen Kontinuitäten einfügen. Wie diese aussehen, verdeutlicht die 1982 auf Anregung der Sofioter Literaturzeitschrift „ABV" (nach den ersten Buchstaben des bulgarischen Alphabets benannt) geschaffene Buchreihe „Die ewigen Bücher Bulgariens". Hier wird noch einmal alles beisammen sein, was den Bulgaren zu allen Zeiten etwas bedeutet hat — das literarische Erbe des „goldenen Zeitalters" unter den Herrschern Boris und Simeon, die Schriften des Patriarchen Evtimij aus dem 14. Jahrhundert von denen der „zweite südslavische Einfluß" auf die Slawenheit ausging, Paisijs eingangs zitierte „Slawobulgarische Geschichte", die bulgarischen Sprichwörter, die Petko Slavejkoff im vorigen Jahrhundert sammelte, die Lyrik von Christo Boteff, die witzigen Feuilletons von Aleko Konstantinoff, die Romane des Nationaldichters Ivan Vasoff, die Geschichtswerke des „bulgarischen Thukydides“ Sachari Stojanoff (aus denen keineswegs die vielen antirussischen Stellen gestrichen werden), Dimityr Taleffs Tetralogie über das Mazedonien zur Türkenzeit — alles wird da sein und dafür sorgen, daß es in Bulgarien einmal wieder Käuferschlangen gibt: vor den 1 300 Buchhandlungen des Landes.
Wie Chruschtschow mit Pasternak und Breshnew mit Solshenizyn umsprangen, wurde in Sofia selbst von konservativsten Parteileuten als „Idiotie" bezeichnet. Bulgarischer Stil ist anders — erst mal reden lassen, dann heftig diskutieren. So war es 1958, als die bulgarischen Literaten geschlossen mit der Partei in den Ring stiegen. So ging es in den sechziger Jahren weiter, als u. a. Radoj Ralins bissige Satiren und Ljubomir Levtscheffs aggressiv-subjektive Lyrik die Kritik ratlos und ärgerlich machten. In den siebziger Jahren war Bulgarien Schauplatz sehenswerter Kämpfe: Dogmatiker, versammelt um das Organ des Schriftstellerverbandes „Literaturfront", gegen Liberale um die Zeitschrift „Nationalkultur". Beide Periodika kämpften mit härtesten Bandagen gegeneinander, wobei Bulgariens beste Autoren demonstrativ von der „Literaturfront“ abrückten, etwa die weltbekannte Poetessa Blaga Dimitrova.
All diese und viele andere Kämpfe sind heute Vergangenheit. Levtscheff beispielsweise, ein enger Vertrauter von Ljudmila Shiwkowa, ist mittlerweile Präsident des Schriftstellerverbandes, und seine ehedem angefeindeten Verse sind bereits ins Deutsche übersetzt, z. B. „Tagesmond" (Tübingen/Basel 1978). Nicht übersetzt, weil unübersetzbar, ist Radoj Ralins Schaffen, das seine doppelbödige Wirkung aus der Sprache bezieht — seine „reißfesten Wörter“ („Vasallto mortale", „Resolutionär", „Toastfreundschaft", „Zensornamente"), seine berühmten „Druckfehler“ („Nach seinem Tod hinterließ er viele Leichen" /trupove-statt „trudove-Werke“), seine bösen Aphorismen („Wenn es bei uns so viele strahlende Dinge gibt, warum soll dann der Satiriker keine schwarze Brille wie ein Schweißer tragen — sonst würde er erblinden") und seine widerhakigen Epigramme: MENSCHENWÜRDE Warum sich ducken, sich verneigen!
Was soll die Jagd nach Protektion!
Ich kann mich ganz bescheiden zeigen — bei Papas Spitzenposition. ENGAGEMENT Als Chef des Rates für Frieden ist er nunmehr ausgeschieden sein Neubau macht den Abgang leicht für Auto und Piano hat's auch noch gereicht.
Radoj Ralin, im Ausland praktisch unbekannt, wird in Bulgarien wahrhaft vergöttert, und die 1984 erschienenen zwei Bände . Ausgewählter Werke“ waren ein großer Bucherfolg. Das ist verständlich, denn Ralins thematische und sprachliche Meisterschaft muß ihn zum Publikumsliebling machen. Weniges liegt Bulgaren so am Herzen wie die eigene Sprache, und wohl nur in Bulgarien sind linguistische und soziolinguistische Studien weit mehr als esoterische Fachwissenschaft. Sprachenfragen sind auf dem Balkan immer politische Fragen, in Bulgarien mehr als anderswo. Zum Beispiel steht das Land unter einem starken Einfluß des offiziellen Russischen, was die Bulgaren ungemein ärgert und immer wieder ihre Gegenwehr provoziert. Von der „erdrückenden Flut unnötiger Russizismen“, von den „kabbalistischen Zeichen" der vielen Abkürzungen u. a. ist da die Rede.
Für die Arbeitsstätten der bulgarischen Wissenschaftler gelten drei interessante Organisationsformen: „Institute" als reine Forschungsstätten, die etwa ein Drittel aller wissenschaftlichen Einrichtungen ausmachen, „Wissenschaftliche Produktionsorganisatio15 nen" für angewandte Forschungen und Umsetzungstechnologien (rund zehn Prozent) und „Basen für Entwicklung und Einführung" als sozusagen werkseigene Forschungsabteilungen (über 40 Prozent). Daneben steht noch die akademische Sphäre, in der die Bulgaren schon in den frühen siebziger Jahren die für Osteuropa typische Trennung von Lehre und Forschung durch die Gründung von „Einheitszentren“, wo Ausbildung, Spezialisierung und Forschung wiedervereinigt wurden, überwunden haben.
Eigene Forschungsstätten unterhalten die BKP und der Jugendverband „Komsomol“. Ersterer sind die „Institute für moderne Sozial-theorien" zuzurechnen, die sich höchst unbefangen in aller Welt umschauen, was es Neues gibt und ob es für Bulgarien brauchbar ist. Beim Komsomol ist das „Institut für soziologische Jugendforschung" tätig, früher von Mintscho Semoff, jetzt von Petyr Miteff geleitet — ein selbstbewußtes, weltoffenes und „freches" Institut, das Tabus mit Wollust zertrümmert. Seine kleine Zeitschrift . Jugendprobleme" ist es allein wert, daß man Bulgarisch lernt, und Bulgarisch muß können, wer z. B. etwas über die Jugend — der DDR erfahren möchte. Was den DDR-Jugendforschern daheim an Publikationsmöglichkeiten fehlt (alles!), haben sie in den Sofioter . Jugendproblemen“, und die frische Offenheit des Blattes hat auf DDR-Autoren noch immer abgefärbt.
Wie es sich für Wissenschaftler gehört, sind auch die bulgarischen Kollegen untereinander heftig zerstritten. Wenn es einem prominenten Historiker passiert, daß ein Buch seines Assistenten von der Zensur gestoppt wird, weil es zwar den „Faschismus" behandelt, in jedem Satz aber „unerwünschte Analogien" zu einer anderen Gesellschaftsordnung enthält — der Fall ereignete sich 1983—, dann wird solches halb bedauernd, halb schadenfroh sofort herumgetratscht. Die „Hauptkampflinie“ aber verläuft auch wie anderswo zwischen den Generationen — die Alten blockieren Aufstiegsmöglichkeiten, sind dogmatischer und „sklerotisch“ und benachteiligen die Jungen bei interessanten Auslandsreisen; das und ähnliches mehr wird in Bulgarien offen gesagt und in der Presse offen beschrieben.
VIII. Außenpolitik
„If one wants to know, who will loose the next war, one has to check which side the Bulgarians will be on“, lästerten vor langem die Amerikaner, auf Bulgariens deutsche „Gefolgschaftstreue" in zwei Weltkriegen anspielend. Es gibt unter den Bulgaren die vielfältigsten Vorlieben, die Boris III., Bulgariens letzter Monarch (gestorben 1943), einmal mit den klassischen Worten beschrieb: „Die Königin ist italophil, das Volk russophil, die Generäle germanophil, die Beamten anglophil — ich bin der einzige Neutrale in Bulgarien.“
Bulgarische Bündnisloyalität ist sprichwörtlich — aber niemals waren die Bulgaren ein Satellit irgendeiner fremden Macht. Zwar haben die Russen Bulgarien von den Türken befreit, aber als sie aus ihm ein „Transdanubisches Gouvernement“ machen wollten, handelten sie sich die Feindschaft aller Bulgaren ein. „Wir wollen von Rußland weder den Honig noch den Stachel", sagte Dragan Zankoff, Bulgariens weitblickendster Politiker des 19. Jahrhunderts, und der „bulgarische Bismarck" Stefan Stamboloff ließ nach 1885 keine Gelegenheit verstreichen, den Russen massiv Kontra zu geben.
Daß die Bulgaren keine Manipuliermasse sind, mußten im 20. Jahrhundert die Deutschen erfahren. Weder machte Bulgarien Hitlers „Rußlandfeldzug" mit, noch ließ es zu, daß auch nur einer seiner 55 000 Juden außer Landes deportiert wurde — obwohl Eichmann in Sofia aus und ein ging und deutsche Truppen im Lande standen.
Die heutige bulgarische Außenpolitik wird nicht im Kreml gemacht, aber von seinen Interessen mrtbestimmt — die durch die Moskauer Unfähigkeit, zu lernen, seit über 250 Jahren dieselben sind. Das ist einer von drei Fixpunkten — die anderen beiden sind die balkanischen Antagonismen und die balkanischen Gemeinsamkeiten. Zu allen ist im einzelnen zu sagen:
1. Das Verhältnis der Bulgaren zu den Russen war immer extrem extrem herzlich oder extrem disharmonisch. Begeistert von „djado Ivan“ („Großvater Ivan“, wie Rußland von den Bulgaren seit Ivan Groznyj bezeichnet wird) waren die Bulgaren, als nach dem Russisch-Türkischen Krieg im März 1878 ein Groß-Bulgarien entstand, das von der Donau bis zur Ägäis, vom Schwarzen Meer bis (fast) zur Ar-B dria reichte. Drei Monate hatte es Bestand — dann zerschlug es der Berliner Vertrag wieder, und das Verhältnis zu den Russen kühlte sich ab. Eisig wurde es, als die Bulgaren partout nicht nach der russischen Balalaika tanzen wollten. Erst im ausgehenden 19. Jahrhundert fand man wieder zusammen, weil Rußland die Bulgaren brauchte. Die klassischen russischen Wünsche gelten nicht dem Besitz des Mittelmeeres — der Happen wäre selbst für des Kremls Appetit zu groß —, vielmehr soll das Schwarze Meer als „mare nostrum“ und durch den Besitz des Bosporus und der Dardanellen abgesichert werden.
2. Dieser russisch-sowjetische Wunsch ist noch kein außenpolitisches Balkan-Konzept; so etwas hat es nie gegeben. Gegenwärtig ist sowjetische Balkanpolitik vor allem von der Angst bestimmt, die heterogene Staatengemeinschaft der südosteuropäischen Halbinsel, wo NATO-Mitglieder (Türkei, Griechenland), Warschauer Paktstaaten (Bulgarien, Rumänien), Blockfreie (Jugoslawien) und Isolationisten (Albanien) Zusammenleben, könnte eines Tages zu einer multilateral abgestimmten Kraft werden. Deswegen zogen sich die Sowjets z. B. schon im Dezember 1947 aus Bulgarien zurück, und kurz darauf ließen sie auch die kommunistischen griechischen Partisanen fallen, um nicht den Westen zu balkanischen Aktivitäten zu provozieren bzw. die Balkan-staaten gegen Bulgarien zusammenzutreiben. Deswegen hält Moskau aber auch die bulgarisch-jugoslawischen Dauerkonflikte lebendig, deren Auf und Ab ganz offenkundig mit sowjetischem Wohlwollen oder Mißfallen für Belgrad synchronisiert sind.
3. Noch sind die politischen Grenzen auf dem Balkon nicht so verfestigt wie weiter nördlich, und dieser Umstand bringt Bulgarien und die Sowjetunion gewissermaßen in eine außenpolitische Schicksalsgemeinschaft. In Ermangelung besserer Eingriffsmöglichkeiten sind die Sowjets an diesem balkanischen Schwebezustand interessiert, der den Bulgaren wiederum die Chance verschafft, für „balkanische Kooperation", „atomwaffenfreier Balkan" etc. zu werben — allerdings nur bilateral, wie Moskaus Weisung lautet. Und selbst dabei ist man noch vorsichtig, denn den Sowjets steckt noch der Schrecken in den Gliedern, den sie 1947/48 über Titos und Dimitroffs Föderationsplänen bekamen.
Kurz gesagt: Es gibt ein balkanisches Gemeinschaftsgefühl, das aus historischen, ökonomischen, sprachlichen, religiösen, politischen, ethnischen etc. Gemeinsamkeiten herrührt Dieses Gefühl wurde von den Sowjets immer gefürchtet, partiell-temporär aber auch gefördert, so daß die Bulgaren eigentlich niemals ganz in ihrem ureigensten Interesse handeln können.
Der sowjetischen Taktik kommt zugute, daß auch den Bulgaren die Unfähigkeit, zu lernen, nicht fremd ist — anderenfalls gäbe es die unsägliche „mazedonische Frage“ nicht Im Grunde gibt es sie auch nicht — wie kann eine autonome Nation mit allen unveräußerlichen Identitätsmerkmalen, die der Mazedonier, in „Frage“ stehen? In den altbulgarischen Reichen gehörte Mazedonien zu Bulgarien, unter der Türkei hatten Mazedonier und Bulgaren identische Interessen, von den Türken freizukommen. Für die Bulgaren kam dieser Tag 1870 in greifbare Nähe, als der Sultan ihnen ein nationalkirchliches „Exarchat" zubilligte und für dieses Traumgrenzen absteckte. Diese Grenzen spuken noch in vielen Köpfen herum — noch 1984 hörte der Verfasser von einem bulgarischen Akademiker: „zwei Drittel Bulgariens sind außerhalb der bulgarischen Grenzen: die ganze Dobrudsha, Südserbien, Mazedonien, Thrakien usw.“.
Im Juni 1878 hatte der Berliner Kongreß Mazedonien den Türken zurückgegeben. In den „Balkankriegen" 1912/13 drängten die Balkan-staaten die Türken fast ganz aus Europa heraus — um sich sofort anschließend Mazedoniens wegen in die Haare zu kriegen. Griechenland nahm sich Ägäisch-Mazedonien um Saloniki, Serbien Vardar-Mazedonien zwischen Skopje und Ohrid, Bulgarien das kleine Pirin-Mazedonien. In beiden Weltkriegen schaffte es Bulgarien als Deutschlands Verbündeter, Mazedonien zu erobern, um es hinterher wieder herausrücken zu müssen. In der geographischen Region „Mazedonien“ leben „Bulgaren", die „Bulgarisch“ sprechen, zumindest aber „westbulgarische Dialekte" — so besagt es der bulgarische Standpunkt, der nur wenige Jahre unter Georgi Dimitroff keine Gültigkeit hatte. Mit Bulgaren ist über Mazedonien schwer zu reden, obwohl es mittlerweile wissenschaftliche Gemeinplätze sind, daß die slawisch-turkstämmige Ethnogenese der Bulgaren mit der der Mazedonier nichts gemein hat, daß beider Sprache und Kultur schon unter den Schülern der Slawen-Apostel im 10. Jahrhundert auseinanderdrifteten.
In Mazedonien leben Bulgaren, aber territoriale Ansprüche haben wir nicht — bedeutet Sofia seit Jahren Jugoslawien, wo man dem Frieden nicht traut und immer nervöser wird, zumal sich im Zeichen der Negation mazedo17 nischer Eigenständigkeit eine bulgarisch-griechisch-albanische Allianz herauszubilden scheint: Für die Griechen gibt es in Nordgriechenland nur „slawophone Hellenen", die von den Papandreou-Sozialisten in ihrer slawomazedonischen Identität noch schärfer unterdrückt werden, als es die diktatorischen Obristen vorher taten. Albanien gewährt seiner mazedonischen Minderheit zwar minimale Rechte, hält sie aber statistisch klein — offiziell es nur 4 100, tatsächlich aber gibt mindestens 000 Mazedonier in Albanien.
Das Verhältnis Jugoslawiens zu Griechenland und Albanien ist schlecht, aber die Beziehungen Sofias zu Athen und Tirana werden immer besser. Seit über zwanzig Jahren „kungeln“ Sofia und Athen miteinander, weil die Bulgaren immer noch auf einen „Korridor" zur Ägäis hoffen, die Griechen aber sowjetische Militärpräsenz in Bulgarien verhindern möchten. Derzeit glauben sich die Griechen diesem Ziel so nahe — nach fester Athener Überzeugung gibt es keine sowjetische Raketen in Bulgarien, nach jugoslawischer doch—, daß sie ihre Nordgrenze praktisch von Truppen entblößt haben, um sie desto massiver gegen den NATO-Partner Türkei aufmarschieren zu lassen. Und je feindlicher Belgrad und Tirana einander sind, desto näher kommen sich Bulgaren und Albaner.
Mit einem Wort: Die Situation ist so verfahren wie zum Jahrhundertbeginn, als der Balkan das „Pulverfaß Europas" und die Balkan-staaten Bauern im Spiel der Großmächte waren. Aber ganz stimmt die Analogie doch nicht, denn niemand ist daran interessiert, daß die Lage explosiv wird. Bereits 1981 lancierte Todor Shiwkoff die Idee eines „atomwaffenfreien Balkans“ (möglicherweise unterstützt vom rumänischen Staats-und Parteichef Nicolae Ceausescu, zu dem er beste persönliche Beziehungen hat). Im Frühjahr 1984 wurde in Athen darüber debattiert. Bulgaren, Rumänen und Griechen waren dafür, Türken dagegen, Jugoslawen zurückhaltend und Albaner gar nicht zugegen. Dennoch versicherten alle, daß sie eine „Fortsetzung des Dialogs" wollten.
Momentaner Gewinner sind die Bulgaren. Im Herbst 1983 schmetterte Shiwkoff sowjetische Wünsche nach Raketenstationierung damit ab, daß er ein Versprechen Breshnews als Joker zog, die UdSSR werde den Wunsch des bulgarischen Volkes „respektieren" und keine Raketen in Bulgarien stationieren. Und als westliche Medien im Frühsommer 1984 meldeten, die Stationierung sei doch erfolgt, tönte es triumphierend aus Sofia: „In Bulgarien gibt es keine Atomraketen ... Die Frage der Installierung sowjetischer Raketen auf bulgarischem Territorium hat weder zur Debatte gestanden, noch ist sie auf irgendeiner Ebene oder von irgendeinem Forum diskutiert worden ... Bulgarien tritt aktiv für die Idee ein, den Balkan zu einer atomwaffen-freien Zone zu machen."
Bulgarien könnte das Zugpferd einer friedlichen Zukunft auf dem Balkan sein; daraus aber wurde bisher nichts, weil in und mit Bulgarien Dinge passierten, die mißtrauisch machten, zumindest aber unerklärlich erschienen. Da war zunächst das Attentat auf den Papst, hinter dem eine „bulgarian Connection" vermutet wurde. Alle Bulgaren waren empört (besonders die jungen Wissenschaftler, die schon ein Visum für Italien hatten, nun aber wieder ausgeladen wurden), und drastisch formulierte Todor Shiwkoff im Mai 1983 gegenüber dem westdeutschen Außenminister Genscher: „Die bulgarian connection ist ein ausgemachter Blödsinn; wenn ein Bulgare auf etwas schießt, dann trifft er auch — wie er jede Frau glücklich macht, mit der er ins Bett steigt!"
Man muß sich ja diese Argumentation nicht zu eigen machen — dunkel bleibt die Sache. Was hat Bulgarien mit dem slawischen Papst in Rom zu schaffen, das sich für außenpolitisch heikle Missionen doch so gern seiner Kirchenoberen bedient und zudem ganz ausgezeichnete Beziehungen zu Italien und dem Vatikan unterhielt? Die Antwort weiß niemand. Sollte sich jemals an der ganzen Angelegenheit etwas „Bulgarisches" zeigen, dann kann das nur den Geheimdienst „Staatssicherheit" (DS) betreffen, der aber nur dem Namen nach bulgarisch ist. Er wurde von den Sowjets geschaffen und jede seiner Abteilungen hat bis heute einen oder mehrere sowjetische „Berater". Alle leitenden Mitarbeiter wurden in Moskau ausgebildet und dort durch ein spezielles „Gelöbnis der Treue zur Sowjetunion" zu Zuträgerdiensten verpflichtet Ein „Geheimer" oder „deren Mann" zu sein — eine größere Schande gibt es für Bulgaren nicht!
Zweitens gab es zwischen 1982 und 1984 unerklärliche Vorfälle um Shiwkoff selber. Ende 1982 war er monatelang aus der Öffentlichkeit verschwunden, nachdem er die oben erwähnten Auseinandersetzungen mit den Sowjets um den Tod seiner Tochter gehabt und zu Hause gerade einige allzu sowjettreue Spitzenpolitiker wegen „krimineller Verfehlungen" für 20 Jahre ins Gefängnis gesperrt hatte. Plötzlich aber war er wieder da, und munter erklärte er vor Studenten: „Gewisse Viren haben versucht, mich aus den Reihen zu drängen. Aber wir auf dem Balkan werden mit allen möglichen Viren fertig." „Virus" heißt auf bulgarisch „virus", Plural „virusi" — was schnell gesprochen auch „Ihr Russen“ bedeuten könnte. Shiwkoffs Witz war schon immer doppelbödig. Aber Russen sind humorlos, und möglicherweise ist das auch die Ursache dafür, daß im August und September 1984 überall dort in Bulgarien Bomben hochgingen, wo Shiwkoff gerade eintraf. Aus Anlaß der 40Jahrfeiern der kommunistischen Machtübernahme reiste er im Land umher, doch wurden die Feiern durch Explosionen gestört Warum? Wem zum Nutzen?
Alles in allem: In Bulgarien stehen die Zeichen auf verstärkter nationaler Kohäsion, auf dem Balkan insgesamt auf vorsichtig geförderter Gemeinschaft — selbst wenn der Pulverdampf temporärer Störmanöver und Friktionen diese Zeichen momentan vernebelt Kaum eine Region Europas hat sich in der Geschichte so in Geduld üben müssen und hat von der Geschichte so schwere Lektionen gelernt — beides wirkt nach und wirkt sich eines Tages auch aus — wie der Balkan. „Mach dich nicht zum Gürtel fremder Hosen", sagt ein bulgarisches Sprichwort, und auf dem Rand altbulgarischer Münzen war eingeprägt: „Boshe pasi Bylgarija — Gott schütze Bulgarien“. Heute fehlt diese Prägung — aber Berechtigung hat die Bitte noch allemal!
IX. Zusammenfassung
Bulgarien-Kenner werden es bestätigen: es herrscht Ruhe im Lande — nicht die Ruhe einer Masse, sondern die einer potentiellen Kraft. Bulgarien, in Ost und West gleich wenig wahrgenommen, hat nach dem Zweiten Weltkrieg einen unauffälligen Weg zurückgelegt, der ihm größere Erschütterungen ersparte, es aber zu sicht-und zählbaren Erfolgen führte. Daß diese Erfolge fast ausschließlich auf innen-und wirtschaftspolitischen Gebiet lagen und das auswärtige Ansehen Bulgariens damit nicht Schritt hielt (aus welchen Gründen auch immer) — diese eigentümliche Diskrepanz wird vom „bulgarischen Mann auf der Straße" relativ gelassen hingenommen.
Patriarchalität und Pragmatismus kennzeichnen die moderne bulgarische Gesellschaft — individuelles Selbstwertgefühl ihre einzelnen Mitglieder. Die personell stabilste politische Führung Osteuropas ist mit den Jahren immer stärker auf die Wünsche der von ihr Geführten eingegangen, ein tragfähiger Minimalkonsens hat sich herausgebildet; unterentwickelte Berührungsängste und mangelndes Talent zum Dogmatismus „oben", Leistungsbereitschaft, Erwerbssinn und Unbefangenheit „unten“ — diese Strömungen führten dazu, daß in Bulgarien Liberalität und Loyalität immer deutlicher in kommunizierenden Röhren pulsieren. Wer die Isobaren des spezifisch bulgarischen Klimas sucht: hier sind sie.
Bulgarien ist nach 1944 von agrarischer Unterentwicklung zu agroindustrieller Moderni-tät fortgeschritten. Es ist stolz auf das Erreichte und verschweigt aber auch negative Begleiterscheinungen nicht. Diese zeigen sich vor allem im weiten Bereich demographischer Trends: rückläufige Natalitätsraten, „Altern" der Gesellschaft, steigende Scheidungs-und Schwangerschaftsabbruchsziffern, Landflucht und Stadtkernverödung. Diese und ähnliche Dinge sind partiell umvermeidlich — restlos abfinden kann und will man sich in Bulgarien mit ihnen nicht Bulgariens wirtschaftliche Erfolge werden mittlerweile in Ost und West anerkannt Sie stellten sich in dem Maße ein, wie das Land aufgezwungene sowjetische Muter — Kollektivierung, Planwirtschaft — im Sinne nationaler Traditionen zu modifizieren begann. Seit 1973 wurden die „persönlichen" Erwerbsmöglichkeiten in der „sozialistischen" Landwirtschaft laufend ausgeweitet — mit denkbar bestem Effekt und in einer Weise, die ihre Abkunft von der altbulgarischen Großfamilien--Wirtschaft nicht verleugnen kann. Ähnlich positiv hat sich der 1982 gestartete „Neue ökonomische Mechanismus" angelassen, der Bulgarien ein kleines Wirtschaftswunder bescherte. Wer will, mag das Reformkonzept „sozialistisch" nennen — konkreter wird es, wenn man es sich als systemare Ausweitung der Reformen vorstellt, die schon 1926 im westbulgarischen Kohlerevier von Pernik und 1929 bei den „Bulgarischen Staatsbahnen" eingeführt wurden: Staatseigentum plus budgetär-administrative Autonomie in der Hoffnung auf Gewinn und Konkurrenzfähigkeit. Daß „sozialistische Landwirtschaft" und Industrialisierung nicht ohne Schädigung der Umwelt abgehen, erkannten die Bulgaren früher als andere — als erstes Land der Welt legte sich Bulgarien ein eigenes „Ministerium für Umweltschutz“ (1971) zu. Daß aber die Umweltschäden weitergingen, schmerzt die alte und schollenbewußte Bauernnation der Bulgaren besonders, weswegen in kaum einem Land Osteuropas so hart über Ökologieprobleme diskutiert und soviel für sie getan wird wie gerade in Bulgarien.
Bulgarien betrachtet sich als die älteste Kulturnation der Slawen und bezieht aus diesem Postulat nach dem intraslawischen Kulturprimat einen wesentlichen Teil seines Nationalbewußtseins. Der gesamte Kulturbereich — von der Sprache über die Bildung bis zur Literatur und Kunst — ist etwas, das jeder Bulgare mit einem Mea-resagitur-Empfinden betrachten wird. Und die Politik paßt sich dem an — speziell in der Bildungspolitik, die es bislang schaffte, die übliche Hektik und Kurzsichtigkeit osteuropäischer „Schulreformen" zu vermeiden.
Die bulgarische Außenpolitik ist von zwei Determinanten geprägt: dem traditionell prorussischen Sentiment der Bulgaren und der Verwobenheit des Landes in balkanische Geschicke. Beide Momente konnten früher gelegentlich säuberlich getrennt werden — Phasen der Russophobie und Russophilie wechselten sich in Bulgariens Politik häufig ab —, gegenwärtig können sie es nicht mehr. Die sowjetische Balkanpolitik — getreue Fortsetzerin des russischen Imperialismus und gegenüber Südosteuropa konzeptionslos wie dieser — ist vor allem von der Angst bestimmt, daß die politisch heterogene Staatengemeinschaft der Region zu einer multilateral abgestimmten Kraft werden könnte. Dagegen wird Bulgarien ins Feld geschickt, das seine Wünsche nach einem atomwaffenfreien, kooperativen Balkan lediglich strikt bilateral verfolgen darf und z. Z.den Vorteil hat, weder sowjetische Besatzungstruppen noch sowjetische Raketen beherbergen zu müssen.
Alles in allem Bulgarien muß von Europa erst noch „entdeckt" und von uns Deutschen „wiederentdeckt" werden. Die Bulgaren sind ein sehr deutschfreundliches Volk, dessen historisches Gedächtnis offenkundig etwas besser ist als das unsrige: Sie wissen, daß schon der altbulgarische Herrscher Boris I. im Jahre 864 einen „Freundschaftspakt" mit den Deutschen schloß, daß die erste bulgarische Zeitung 1848 in Leipzig ediert wurde und tausende bulgarische Wissenschaftler ihre Ausbildung in Deutschland erhalten haben — beginnend mit dem größten überhaupt, dem „bulgarischen Leibniz" Petyr Beron (1800— 1871). Daß das gegenwärtige deutsch-bulgarische Verhältnis gut ist — politisch wie wirtschaftlich, denn die Bundesrepublik ist seit Jahrzehnten der größte westliche Handelspartner Bulgariens —, diese Feststellung wird in Bonn und Sofia schon fast monoton getroffen. Aber wie gut wäre das Verhältnis erst, wenn es die alten freundschaftlichen Bande wieder auf-nähme, die sich auf dem soliden Fundament einer kulturellen Affinität entwickelt haben?