In der Ausgabe B 6/85 dieser Zeitschrift, die dem Thema „Krise des Parlamentarismus?" und der Diskussion um eine Parlamentsreform gewidmet war, bejahte unter sechs amtierenden oder ehemaligen und in ihrer Zeit durchaus herausragenden Mitgliedern des Deutschen Bundestages strictu sensu nur Hildegard Hamm-Brücher das Vorhandensein einer einer solchen Krise. Zwei (Friedrich Schäfer und Norbert Lammert) verneinten dies ganz klar, zwei weitere (Hermann Höcherl und Hans de With) glaubten zumindestens an ernste, aber relativ leicht behebbare Mängel. Der Abgeordnete der GRÜNEN, Hans Verheyen, schließlich ging bei seinen ebenfalls durchaus interessanten Reformvorschlägen zur Parlamentsarbeit im einzelnen von einem grundsätzlich anderen Konzept aus, das heißt, er plädierte unter anderem für eine neue Verbindung von repräsentativer Demokratie und Basisdemokratie. Letzteres ließe sich vielleicht noch mit den Kernelementen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes vereinbaren, erforderte aber zweifelsfrei eine Änderung zumindestens von Art. 38 GG.
Aus der Sicht des Politikwissenschaftlers stellt dieser Grundgesetz-Artikel, der schon viel Stoff für wissenschaftliche Abhandlungen abgegeben hat
I.
Zwar ist zunächst darauf hinzuweisen, wie auch in der Fachliteratur fleißig vermerkt wird, daß es in der 35jährigen Geschichte des Bundestages durchaus bemerkenswerte Beispiele für Abstimmungsentscheidungen von Abgeordneten gibt, die sich nach ihrem Gewissen, nicht aber nach der erkennbaren oder zum Ausdruck gebrachten Mehrheit ihrer Fraktion und Partei gerichtet haben — so zum Beispiel bei der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht in den fünfziger Jahren, der Notstandsgesetzgebung der sechziger Jahre oder der Reform des Paragraphen 218 in den siebziger Jahren. Dennoch wird bislang in der bundesdeutschen Politikwissenschaft, aber auch in publizistischen Abhandlungen der weitere Befund zu wenig scharf herausgearbeitet: Die Bundestagsabgeordneten aller „traditionellen" Fraktionen werden in einem Ausmaß direkt und indirekt von ihren Fraktionsführungen gegängelt, das nicht nur im Widerspruch zu Art. 38 GG, sondern auch zu der immerhin indirekt im Grundgesetz verankerten Geschäftsordnung des Bundestages steht. Der Verfasser muß bei dieser Feststellung die „GRÜNEN" unberücksichtigt lassen, weil ihm dazu noch keine empirisch abgesicherten Daten vorliegen.
Unter direkter Gängelung ist in diesem Zusammenhang einmal die nachweisbare Tatsache gemeint, die daher längst hätte problematisiert werden müssen, daß gemäß den (immer noch so geltenden) Fraktionsgeschäftsordnungen die mündlichen und schriftlichen Fragen, die der einzelne Abgeordnete als einer von über 500 legislativen Kontrolleuren der Exekutive wöchentlich an die Bundesregierung richten kann, der Vorzensur durch die Fraktionsgeschäftsführungen unterliegen und zumindest aber auf diesem Wege erheblich verändert werden können
Zum anderen ist in diesem Zusammenhang auf den Widerspruch zwischen Bestimmungen des Grundgesetzes und der Bundestags-geschäftsordnung einerseits und politischer Alltagspraxis andererseits im Hinblick auf das grundsätzlich garantierte, jederzeitige Rederecht des Abgeordneten im Plenum zu verweisen
Für gravierende Beschneidungen des parlamentarischen Rederechtes des einzelnen Abgeordneten gibt es eine Fülle von Belegen.
Erwähnt seien hier nur drei: So „durfte" in der 7. Legislaturperiode der SPD-Verteidigungsexperte Konrad Ahlers (damals Mitglied des Verteidigungsausschusses, früher immerhin auch einmal Sprecher des Bundesverteidigungsministeriums, ganz abgesehen von seiner langjährigen Tätigkeit als Sprecher der gesamten Bundesregierung) in einer wichtigen Verteidigungsdebatte nicht das Wort ergreifen. Dasselbe widerfuhr damals Walther Leisler Kiep (immerhin Schatzmeister seiner Bundespartei und in jener Legislaturperiode unter anderem Mitglied des Auswärtigen Ausschusses) in einer Debatte über ostpolitische Verträge, oder — in jüngster Zeit, das heißt 1985 — dem Abgeordneten Herbert Hupka in der Debatte über das umstrittene Schlesiertreffen im jetzigen Frühsommer. Das letztere Beispiel ist besonders bemerkenswert und eben leider nicht als atypisch anzusehen, weil der Name dieses Abgeordneten und Vorsitzenden der Landsmannschaft der Schlesier von vielen Rednern im angreifenden, manchmal auch im verteidigenden Sinne erwähnt wurde und der so in den Mittelpunkt Gerückte durchweg in dieser Debatte im Plenum anwesend war
Angesichts solcher klaren Befunde ist daher der Forderung des früheren Bundesinnenministers Hermann Höcherl zuzustimmen
Stellt schließlich — so sei abschließend im Hinblick auf Art. 38 GG gefragt — der Rekurs auf die stets als notwendig beschworene Fraktionsdisziplin einen Ausweg aus dem Dilemma zwischen der Scylla (Verbot des Fraktionszwanges) und der Charybdis (Abschaffung des ganzen Art. 38 GG) dar?
Die Antwort muß ein „Jein" sein: „Ja", weil es in der Tat keiner Fraktion im Parlament, ja keiner Partei insgesamt ohne ein Maximum an politischer Geschlossenheit möglich wäre, sich vor der Öffentlichkeit als politisch wirksame Kraft zu profilieren, politische Macht zu erwerben oder zu erhalten. In einer Fraktion muß die Linie der Gesamtheit letztlich per Mehrheitsentscheidung festgelegt und dann auch von den Sprechern dieser Fraktion nach außen vertreten werden. Auf diese Weise summiert sich also gewissermaßen die von den einzelnen Fraktionsangehörigen implizit übernommene Verpflichtung zur Selbstdisziplin im Endeffekt zu dem, was man als Fraktionsdisziplin bezeichnet
Von direkten Zwängen bzw. einer direkten Gängelung war schon die Rede; an indirekten Formen wäre auf eine ganze Skala subtiler Möglichkeiten der Druckausübung durch die Fraktions-und Parteiführungen in Richtung einzelner Abweichler hinzuweisen, was in politikwissenschaftlichen Abhandlungen leider zu wenig in concreto geschieht. Allgemein gehaltene Hinweise auf eine Druckausübung sind wenig aussagekräftig
Ein Ausweg bietet sich dadurch an, daß man in der Parlamentspraxis der Bundesrepublik Deutschland von dem Gedanken Abschied nimmt, wonach eine Abstimmungsniederlage der Regierung in jedem Einzelfalle ein irrepa-rables Unglück für diese Regierung darstellt, weil sie damit in ihren Grundfesten erschüttert würde. Zu Recht hatte demgegenüber schon 1979 der damalige Bundestagspräsident Richard Stücklen, heute einer der Vizepräsidenten, auf einer Tagung der Deutschen Vereinigung für Parlamentsfragen formuliert: „Das einzige, was ich bedauere, ist die Angst vor einer Abstimmungsniederlage, obwohl nach unserem Grundgesetz, wenn damit nicht die Vertrauensfrage verbunden ist, für die Regierung keine Konsequenzen entstehen, es sei denn, daß das Erscheinungsbild der Koalition oder der Regierung in der Öffentlichkeit ... in Mitleidenschaft gezogen wird."
Bei den besonders knappen Mehrheitsverhältnissen in der Schlußphase der-Ära Schmidt hätte es also zum Beispiel durchaus möglich sein müssen, daß die Regierung das eine oder andere Gesetz im Plenum „verlor" — zu denken wäre hier etwa an die Antiterrorgesetzgebung der Jahre 1977/78 —, ohne daß damit eine Dolchstoßlegende innerhalb des Regierungslagers aufgekommen oder tatsächlich die Regierung zu einem Rücktritt veranlaßt worden wäre. Nur bei echten politischen „Schicksalsfragen" oder solchen, die der Regierungschef als Inhaber der Richtlinien-kompetenz so ansieht und deklariert, müßte der Bundeskanzler eine bestimmte Gesetzesvorlage oder sonstige Maßnahme mit der Vertrauensfrage verbinden, was in der Bundesrepublik bislang in 35 Jahren strictu sensu überhaupt noch nie geschehen ist — in Großbritannien hingegen sehr häufig vorkommt—, und auf diese Weise vor der gesamten Öffentlichkeit deutlich machen, daß Abgeordnete auf der Regierungsseite, sollten sie auf ihren abweichenden Abstimmungsintentionen im Zusammenhang mit einem Vertrauens-oder Mißtrauensantrag bestehen, „ihre" Regierung zu Fall bringen würden. Anfang 1983 hätte zum Beispiel Helmut Kohl — jetzt allerdings auf das Oppositionsverhalten abzielend — zu diesem Instrument Zuflucht nehmen können, indem er eine Grundgesetzänderung im Parlament eingebracht und diese dann mit der Vertrauensfrage verbunden hätte
In Großbritannien — einer parlamentarischen Demokratie, zu der es im übrigen entgegen vieler in der Literatur vertretener Ansichten
II.
Damit kommen wir zu dem zweiten Problemkreis, den wir im Bereich einer politischen Ethik ansiedeln können: Sollte man nicht besonders in einer Zeit — so wäre zu fragen —, in der die Parlamentstätigkeit zumindest auf Bundesebene unausweichlich und sogar belegt durch entsprechende Feststellungen des Bundesverfassungsgerichts
Die Konzentration auf die in Mode gekommene Forderung nach sogenannten gläsernen Taschen der Abgeordneten ist in diesem Zusammenhang insofern recht unglücklich, weil in der Tat nicht einzusehen ist, warum sich unter allen Berufsgruppen allein die Bundestagsabgeordneten finanziell — vor wem auch immer — sozusagen öffentlich ausziehen sollten. Dies würde im übrigen auch gegen grundgesetzlich verankerte Gleichheitsgrundsätze verstoßen.
Bei den ins Auge zu fassenden Möglichkeiten der Überwindung dessen, was im Bereich des Abgeordnetenverhaltens zu einer Krise (zumindest zu Krisenerscheinungen) des Parlamentarismus in der Bundesrepublik Deutschland (aber keineswegs nur dort) beigetragen hat, geht es — so lautet jedenfalls die These des Verfassers — nicht darum, die Mitglieder des Deutschen Bundestages sozusagen in einer Art Apartheid-Reservat anzusiedeln, sondern vielmehr um den altmodischen Ruf nach Fixierung einer Standesehre, eines allgemeinen Ehrenkodexes für diesen Berufsstand. Ärzte haben nach wie vor ihren hypokratischen Eid und ebenso wie zum Beispiel Anwälte, Zeitungsverleger, Redakteure oder Handwerker Standes-(Ehren) gerichte. Sie alle dürfen keine schludrige, ihrem speziellen Beruf zuwiderlaufende Arbeit mit ihrem Güte-siegel versehen. Werbetreibende dürfen keine irreführenden, wahrheitswidrigen Angaben über gepriesene Produkte in Umlauf setzen, Theologen und Seelsorger keiner doppelten Moral huldigen, geschweige denn „leben" usw. Die Beispiele ließen sich beliebig vermehren.
Keineswegs bedeutet dies ein Plädoyer für das Aufstellen von Eignungsvoraussetzungen und schon gar nicht für das Praktizieren von „Eignungstests" in Sachen Bundestagsabgeordnete oder Politiker ganz allgemein, obwohl es sehr stringente Anforderungen dieser Art für den Einstieg in viele andere Berufs-sparten gibt — vom öffentlichen Dienst bis hin zu Managementfunktionen aller Art. Allerdings könnte man sich tatsächlich idealiter — um einen ganz anderen Bereich anzusprechen — psychologische und andere Tests bei der Vorauswahl zum Beispiel von Kandidaten für höchste Staatsämter wünschen. Festzuhalten bleibt jedenfalls: In den westlichen Demokratien hat der Prozeß der Auslese von Führungskräften im Hinblick auf höchste Ämter in Legislative und Exekutive in letzter Zeit immer wieder Anlaß zu Besorgnis gegeben
Allein mit einer Verbesserung der bislang schon geltenden, aber sicherlich auslegungsfähigen und vor allem in der Praxis zu lax gehandhabten „Verhaltensregeln" für die Mitglieder des Deutschen Bundestages, die speziell auf eine mögliche Verquickung von persönlichen finanziellen Vorteilen und der Ausübung des Mandats im Namen des Volkes abzielen
An welche „Gebote" oder „Verbote" wäre zu denken? Zum Beispiel: „Du sollst keine zu-* sätzlichen, das heißt durch keine zusätzliche Arbeit verdienten, öffentlichen Gelder in Anspruch' nehmen, wenn Du schon aus öffentlichen Geldern (nämlich als einfacher Bundestagsabgeordneter) bezahlt wirst, nur weil Dir solche zusätzlichen Gelder möglicherweise zustehen." Oder: „Erst recht sollst Du Dir keine Sondervorteile durch die öffentliche Hand, zum Beispiel auf dem Wege von billigem öffentlichen Bauland, verschaffen." Oder: „Du sollst in Bundestagsausschüssen nicht an finanziellen Beschlüssen mitwirken, wenn es um Deinen eigenen . Hauptberuf geht, also etwa als Beamter oder Landwirt." Oder: „Du sollst Dich mit größter Sorgfalt selbst an alle Gesetze halten und Dein Mandat freiwillig aufgeben, da Du ja nach Art. 38 GG im Zweifelsfalle nicht zur Aufgabe gezwungen werden kannst, wenn Du rechtskräftig zu einer Geld-oder Gefängnisstrafe verurteilt worden bist."
Dieses letztere Gebot scheint auf den ersten Blick banal und überflüssig, hat aber einen empirisch abgesicherten Hintergrund. Bis heute war und ist es nicht möglich, einen Bundestagsabgeordneten zum Beispiel selbst dann zur Aufgabe seines Mandates zu bewegen, wenn dieser mit einer Gefängnisstrafe unter einem Jahr wegen falscher Angaben und anderer Betrügereien gegenüber geldgebenden öffentlichen Stellen verurteilt wurde. Zunächst ist hier ein Urteil mit „Bewährung" ins Auge zu fassen. Rein theoretisch wäre es aber durchaus möglich, daß ein Strafgefangener zur Teilnahme an Plenar-und Ausschußsitzungen des Deutschen Bundestages bei einem solchen Strafmaß „vorgeführt" würde. In der Praxis ist letzteres in der Bundesrepublik Deutschland gottlob noch niemals in den Bereich des Möglichen gerückt. Lange vor dem abträglichen „Flickwerkeln" gab es aber schon zumindest einen nachgewiesenen Fall der Erschleichung öffentlicher Mittel zur Aufbesserung nicht der eigenen Kasse, sondern derjenigen der eigenen Partei, ohne daß dies zu einer Beendigung des in Frage stehenden Mandats geführt hätte, was im übrigen in Großbritannien grundsätzlich praktiziert wird.
Im Grunde ginge es um die Möglichkeit, für „jedermann" klar erkennbare Verstöße eines einzelnen Abgeordneten gegen das Ansehen des Gesamtparlaments auch unter Beibehaltung von Art. 38 GG zu ahnden, zumindest aber eine Instanz zu schaffen, die auf einen moralischen Delinquenten einen so starken moralischen Druck ausübte, daß dieser aus Gründen der Selbstachtung gar nicht umhin könnte, sein Mandat zur Verfügung zu stellen. Wird dieser Grundsatz erst einmal akzeptiert, so wäre der nächste Schritt die Konzipierung und Einsetzung eines entsprechenden parlamentarischen Ehrenrates. Er könnte zweckmäßigerweise aus allen Fraktionsvorsitzenden ex officio bestehen und einer gleichen Anzahl von ehemaligen Parlamentariern, die sich im Laufe ihrer parlamentarischen Tätigkeit ein hohes öffentliches Ansehen erwarben — und dies alles unter Vorsitz des jeweiligen Bundestagspräsidenten sowie unter Einschluß seiner Stellvertreter
Ob zusätzlich an die Errichtung eines besonderen parlamentarischen „Ethik-Ausschusses“ nach dem Vorbild der USA zu denken wäre, kann im Rahmen dieser Überlegungen zunächst einmal offen bleiben
III.
Wo sieht nun der Politikwissenschaftler „essentials" eines neuzuschnürenden Parlarnentsreformpaketes und wie bewertet er in diesem Zusammenhang — wiederum kurz zusammengefaßt — die diesbezüglich seit einem halben Jahr, zum Teil erstmalig, zum Teil erneut im Raume stehenden Vorschläge?
Zunächst zu einem aus politikwissenschaftlicher Sicht grundlegenden Mißverständnis, dem einige der heutigen Reformer im Deutschen Bundestag, an der Spitze Hildegard Hamm-Brücher, selbst zum Opfer fallen. Letztere formuliert in ihrem Beitrag: „Im politischen Kräftefeld verläuft die Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Legislative nach wie vor eindeutig zuungunsten der Legislative ... Dieses Ungleichgewicht ist keine Theorie, sondern eine Erfahrung, die mir... zur Gewißheit geworden ist: Die eindeutige Überlegenheit der Exekutive und die selbstverschuldete Unterlegenheit der Legislative."
Demgegenüber ist festzustellen: In modernen parlamentarischen Demokratien — dies gilt also etwa für die britische genauso — verläuft eine Gewaltenteilung strictu sensu nicht mehr zwischen Exekutive und Legislative als Ganzem, kann also das Parlament gar nicht mehr gegenüber der Regierung als Gesamt-kontrolleur auftreten, weil es zu einer unauflöslichen und durch Personalunion von Kabinettsmitgliedern, Parlamentarischen Staatssekretären und Bundestagsabgeordneten gefestigten politischen Interessenidentität zwischen Regierung und Regierungsmehrheit in der Legislative gekommen ist. Für die politische Wissenschaft stellt dies eine schon sehr alte Erkenntnis dar, der vielleicht die ebenso alte hinzuzufügen wäre, daß auch in Großbritannien die im obigen Zitat zum Ausdruck gebrachte idealtypische Vorstellung von Gewaltenteilung unter den Bedingungen einer parlamentarischen Demokratie nie in Reinkultur verwirklicht worden ist. Kontrolle obliegt daher der Opposition, die aber aus der Natur der Sache heraus — als „mathematisch" immer unterlegen in Plenum und Ausschüssen — die Regierung sozusagen nur „anbellen", nicht aber „beißen" kann, da sie nicht über die entscheidende Voraussetzung von wirksamer Kontrolle verfügt, nämlich über die Möglichkeit, gegen diese Regierung zu effektiven Sanktionen zu schreiten. Somit fällt solche wirksame Kontrolle der Exekutive im engeren Sinne heute eigentlich nur noch der Regierungsfraktion bzw.den Regierungsfraktionen in dem stillen Kämmerlein stundenlanger, wöchentlicher Fraktionssitzungen zu
Darüber hinaus kann, um den zweiten Teil des Zitates aus dem Beitrag von Hildegard Hamm-Brücher aufzugreifen, die Legislative als Gesetzgebungsorgan ihre „Unterlegenheit" im modernen Gesetzgebungsverfahren niemals ausgleichen (und ist somit diese „Unterlegenheit" nicht „selbstverschuldet"), weil die Bürokratie bei den so überaus komplizierten Lebensbereichen, die in unserer Zeit regelungsbedürftig sind, zwangsläufig mit einem nicht wettzumachenden Informations-und Expertenvorsprung ausgestattet ist. Nicht zufällig weisen die Statistiken aus, daß seit vielen Legislaturperioden rund 80% aller Gesetzgebungsvorhaben von der Bundesregierung eingebracht werden und nicht aus dem Bundestag (oder dem Bundesrat) selbst kommen. In Großbritannien liegt dieser Prozentsatz sogar noch höher.
Dem einzelnen Bundestagsabgeordneten können keine durchorganisierten Ministerialapparaturen zur Seite gestellt werden. Insofern geht auch die immer wiederkehrende Forderung von Abgeordneten nach einer noch besseren administrativen Infrastruktur für sie selbst (also etwa nach je zwei ausgebildeten Assistenten) am Kern der Sache vorbei
Mit einem weiteren parlamentstheoretisch ernsteren, aber sicherlich reformierbaren Befund haben wir es — und damit soll bewertend zu einigen anderen im Raume stehenden Reformvorschlägen aus Wissenschaft und Politik übergegangen werden — im Hinblick auf die Tätigkeit des Vermittlungsausschusses im Gesetzgebungsverfahren zu tun. Dieser Ausschuß hat sich immer mehr zu einem „Parlament im Parlament" entwickelt, das viele bedeutsame Gesetze verabschiedet, da seine einvernehmlich erzielten Ergebnisse vom Bundestagsplenum automatisch per Abstimmung und ohne längere Aussprache gebilligt werden, wobei wichtige gesetzliche Bestimmungen durch die Beratungen im Vermittlungsausschuß völlig verändert worden sein können. Grundsätzlich sollte daher ein halber Debattentag für die Plenardiskussion solcher Ergebnisse des Vermittlungsausschusses reserviert werden. Schließlich dürfte es sich in den meisten Fällen um sehr wichtige Gesetze handeln, die ja gerade deshalb der Bundesrat in der Vergangenheit entweder mit einem suspensiven oder mit einem absoluten Veto versah
Eine Reform auf diesem Gebiet sollte endlich voll formalisiert und mit dem weiteren Reformrezept verbunden werden, als Regel an die Stelle der zweiten Lesung im Plenum die Beratung aller beteiligten Ausschüsse zusammen unter Leitung des jeweils federführenden Ausschusses zu setzen und diese Ausschußberatungen dann auch der Öffentlichkeit zugänglich zu machen
An diesem Punkt werden Grundfragen des parlamentarischen Selbstverständnisses berührt, weil in solchen Gremien, die eben nicht einmal allen Bundestagsmitgliedern offenstehen — in der sogenannten parlamentarischen Kontrollkommission der Nachrichtendienste ist die Zahl der „Geheimwissenden" sogar auf nur acht Bundestagsabgeordnete reduziert —, Informationen gehandelt werden, die dem Gesamtparlament nicht zugänglich gemacht werden dürfen. Natürlich müssen zum Beispiel Fragen der inneren und äußeren Sicherheit streng vertraulich behandelt werden. In der bundesrepublikanischen Praxis wird aber zweifellos des Guten — oder auch Schlechten — zu viel getan, mit anderen Worten: Es gibt auch in dieser Beziehung zu viele Parlamente im Parlament als Kontrollinstanzen der Exekutive. Mit der Realisierung all dieser — zum Teil schon vor längerer Zeit gemachten — Vorschläge wären sozusagen mehrere Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Die Gesetzgebungsarbeit würde gestrafft, der Vorgang selbst für die allgemeine Öffentlichkeit transparenter und last not least der Anreiz der Präsenz von Abgeordneten im Plenum und den Ausschüssen
Das leidige Problem der Plenarpräsenz würde aber natürlich vor allem auch dadurch entschärft werden können, daß alle Abgeordneten — also gerade auch die sogenannten Hinterbänkler — eine größere Chance zur Intervention in Plenardebatten bekämen, worauf in anderem Zusammenhang schon hingewiesen wurde. Es ist einfach unverständlich, daß in dieser Hinsicht längst auf dem Tisch liegende Vorschläge in praxi noch nicht realisiert worden sind. Sicherlich ist es auch kein Zufall, daß sowohl bei den „ 110" -Bundestagsreformern als auch bei den Abgeordneten, die die neueste (Eigen-) Umfrage beantworteten, in diesem Punkte der größte Konsens zu verzeichnen ist
Nur auf diesem Wege können im Parlament Frustrationen abgebaut, vor allem aber zwei von dem Klassiker unter den Parlamentstheoretikern, Walter Bagehot, in den Mittelpunkt seiner Analyse gestellten Parlamentsfunktionen besser verwirklicht werden, nämlich die „educative" und die „informative" Funktion. Die Abgeordneten sollten in toto das betreiben, was wir im deutschen Sprach-und Politikgebrauch politische Bildungsarbeit nennen; sie können dies aber nur, wenn sie selber im Plenum „ernst" genommen werden. Hinzu kommen muß allerdings in diesem Zusammenhang — und dies betrifft eine weitere Reformforderung, der auch in der Praxis zunehmend entsprochen wird —, daß die Abgeordneten, ob Wahlkreis-oder Listenabgeordnete
Ein letzter Reformvorschlag im Rahmen eines Prioritätenpaketes betrifft die Arbeit der Untersuchungsausschüsse des Deutschen Bundestages. Auch dieses Feld ist analytisch in bezug auf konkrete Vorschläge schon lange bestellt worden
Im Deutschen Bundestag hingegen spiegeln auch alle Untersuchungsausschüsse von der Zusammensetzung her die Mehrheitsverhältnisse im Gesamtparlament wider und bestehen ausschließlich aus Bundestagsabgeordneten einschließlich des Vorsitzenden. Diese Ausschüsse wenden zwar sinngemäß die deutsche Strafprozeßordnung an — etwa im Hinblick auf die Vorladung und Anhörung von Zeugen —, täuschen aber bei'näherer Betrachtung ein richterliches oder justizförmiges Verfahren vor, weil sie letztlich nur eine Arena des politischen Kampfes mit quasi juristischen Mitteln darstellen.
So ist es denn auch nicht verwunderlich, daß — von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen — bei der Abfassung eines Abschlußberichtes an das Plenum und der Abstimmung im Ausschuß über diesen Bericht sich Mehrheitsund Minderheitsvoten im Detail gegenüberstehen. Auch in diesen Gremien ist also die parlamentarische Mehrheit bestrebt, „ihre" Regierung herauszupauken, die jeweilige Minderheit bestrebt, ihr gerade am Zeug zu flicken. Mit anderen hat der Verfasser die dezidierte Ansicht vertreten, daß diese Form von Untersuchungsverfahren unter den Gesichtspunkten einer effektiveren Kontrolle der Exekutive durch die Legislative reformbedürftig ist.
Als Gesamtfazit dieser politikwissenschaftlichen Anmerkungen zu einem wichtigen Thema kann festgehalten werden, daß aufgrund der eigenen theoretischen und praktischen Erfahrungen mit allem Nachdruck Hildegard Hamm-Brücher „und Genossen" (so bekanntlich die traditionelle Antragsformel auch deutscher Parlamente) aus allen Fraktionen zugestimmt werden muß, die eine Krise des bundesdeutschen Parlamentarismus konstatieren. Weder in der Bundesrepublik Deutschland noch in Großbritannien haben wir es dabei allerdings mit einer „Krise zum Tode" zu tun. Dennoch müssen die sichtbaren und latenten Krankheitssymptome, von denen einige hier angedeutet wurden, von allen sich der Idee der westlichen Demokratie verpflichtet Fühlenden ernstgenommen werden.