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Anmerkungen zur Diskussion um die Parlamentsreform | APuZ 24-25/1985 | bpb.de

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APuZ 24-25/1985 Der Verhaltenskodex von Abgeordneten in westlichen Demokratien Debattenordnung und Debattenstil Überlegungen zur Reform des Deutschen Bundestages Ansätze und Perspektiven einer Parlamentsreform Anmerkungen zur Diskussion um die Parlamentsreform Artikel 1

Anmerkungen zur Diskussion um die Parlamentsreform

Carl-Christoph Schweitzer

/ 26 Minuten zu lesen

In der Ausgabe B 6/85 dieser Zeitschrift, die dem Thema „Krise des Parlamentarismus?" und der Diskussion um eine Parlamentsreform gewidmet war, bejahte unter sechs amtierenden oder ehemaligen und in ihrer Zeit durchaus herausragenden Mitgliedern des Deutschen Bundestages strictu sensu nur Hildegard Hamm-Brücher das Vorhandensein einer einer solchen Krise. Zwei (Friedrich Schäfer und Norbert Lammert) verneinten dies ganz klar, zwei weitere (Hermann Höcherl und Hans de With) glaubten zumindestens an ernste, aber relativ leicht behebbare Mängel. Der Abgeordnete der GRÜNEN, Hans Verheyen, schließlich ging bei seinen ebenfalls durchaus interessanten Reformvorschlägen zur Parlamentsarbeit im einzelnen von einem grundsätzlich anderen Konzept aus, das heißt, er plädierte unter anderem für eine neue Verbindung von repräsentativer Demokratie und Basisdemokratie. Letzteres ließe sich vielleicht noch mit den Kernelementen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes vereinbaren, erforderte aber zweifelsfrei eine Änderung zumindestens von Art. 38 GG.

Aus der Sicht des Politikwissenschaftlers stellt dieser Grundgesetz-Artikel, der schon viel Stoff für wissenschaftliche Abhandlungen abgegeben hat in der Tat einen entscheidenden Dreh-und Angelpunkt der Gesamt-problematik dar, worauf die Initiatorin der Bundestags-„Reformgruppe der HO", Hildegard Hamm-Brücher, immer wieder zu Recht hingewiesen hat. Ein zweiter Angelpunkt der Gesamtproblematik berührt Kernfragen einer politischen Ethik und ein dritter schließlich Inhalte eines hoffentlich sehr bald erneut zu schnürenden Reformpaketes in Sachen Bundestagspraxis. Zu diesen drei Komplexen seien im folgenden Anmerkungen angebracht, wobei deren empirische Überprüfbarkeit — dies gilt vor allem im Hinblick auf den Stellenwert von Art. 38 GG in’ der Verfassungswirklichkeit — ein wichtiges Auswahl-kriterium dargestellt hat.

I.

Zwar ist zunächst darauf hinzuweisen, wie auch in der Fachliteratur fleißig vermerkt wird, daß es in der 35jährigen Geschichte des Bundestages durchaus bemerkenswerte Beispiele für Abstimmungsentscheidungen von Abgeordneten gibt, die sich nach ihrem Gewissen, nicht aber nach der erkennbaren oder zum Ausdruck gebrachten Mehrheit ihrer Fraktion und Partei gerichtet haben — so zum Beispiel bei der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht in den fünfziger Jahren, der Notstandsgesetzgebung der sechziger Jahre oder der Reform des Paragraphen 218 in den siebziger Jahren. Dennoch wird bislang in der bundesdeutschen Politikwissenschaft, aber auch in publizistischen Abhandlungen der weitere Befund zu wenig scharf herausgearbeitet: Die Bundestagsabgeordneten aller „traditionellen" Fraktionen werden in einem Ausmaß direkt und indirekt von ihren Fraktionsführungen gegängelt, das nicht nur im Widerspruch zu Art. 38 GG, sondern auch zu der immerhin indirekt im Grundgesetz verankerten Geschäftsordnung des Bundestages steht. Der Verfasser muß bei dieser Feststellung die „GRÜNEN" unberücksichtigt lassen, weil ihm dazu noch keine empirisch abgesicherten Daten vorliegen.

Unter direkter Gängelung ist in diesem Zusammenhang einmal die nachweisbare Tatsache gemeint, die daher längst hätte problematisiert werden müssen, daß gemäß den (immer noch so geltenden) Fraktionsgeschäftsordnungen die mündlichen und schriftlichen Fragen, die der einzelne Abgeordnete als einer von über 500 legislativen Kontrolleuren der Exekutive wöchentlich an die Bundesregierung richten kann, der Vorzensur durch die Fraktionsgeschäftsführungen unterliegen und zumindest aber auf diesem Wege erheblich verändert werden können Die diesem parlamentstheoretischen Skandalen, das so zum Beispiel von britischen Unterhausabgeordneten nicht hingenommen werden würde, zugrundeliegende „Philosophie" besagt bei Regierungs-und Oppositionsparteien im Parlament, daß die Fraktionsgeschäftsführungen für eine maximale Geschlossenheit im Erscheinungsbild der Fraktion nach außen zu sorgen haben. Besonders Abgeordnete einer Regierungspartei sollten „ihrer" Regierung in der Fragestunde nicht in den Rücken fallen bzw. diese nicht in Schwierigkeiten bringen können. Gelegentlich wird auch das Argument vom notwendigen Ausbügeln stilistischer Unbeholfenheiten auf Seiten des Fragestellers ins Feld geführt.

Zum anderen ist in diesem Zusammenhang auf den Widerspruch zwischen Bestimmungen des Grundgesetzes und der Bundestags-geschäftsordnung einerseits und politischer Alltagspraxis andererseits im Hinblick auf das grundsätzlich garantierte, jederzeitige Rederecht des Abgeordneten im Plenum zu verweisen Daß in großen Fraktionen nicht alle, die in Plenardebatten reden wollen, auch tatsächlich zum Zuge kommen können, ist in modernen Parlamenten selbstverständlich und gilt auch für Großbritannien: Debatten müssen innerhalb eines gewissen zeitlichen Rahmens abgewicktelt werden. Der Bundestagspräsident ist (wiederum laut Bundestags-geschäftsordnung) verpflichtet, für eine politische Ausgewogenheit der Rednerliste (sozusagen nach dem Pro-und Kontraprinzip) etc. zu sorgen. \ Bei dem, was hier gemeint ist, geht es aber letztlich um die Verletzung eines entscheidenden Prinzips, des Rechtes nämlich eines jeden Parlamentariers auf ein von seiner Fraktion abweichendes Verhalten. Dieses Recht muß, wenn es sinnvoll sein soll, die Möglichkeit implizieren, ein entsprechendes Verhalten vor dem obersten Repräsentationsgremium des Volkssouveräns ausführlich darlegen zu können. Eine sogenannte persönliche Erklärung, die ja laut Geschäftsordnung des Bundestages nur im Zusammenhang mit einem vorausgegangenen Schlagabtausch im Plenum oder aber als Erklärung zu einer Abstimmung zulässig ist, kann kein Ersatz für eine die eigene Position in der Sache begründende Kurzrede sein.

Für gravierende Beschneidungen des parlamentarischen Rederechtes des einzelnen Abgeordneten gibt es eine Fülle von Belegen.

Erwähnt seien hier nur drei: So „durfte" in der 7. Legislaturperiode der SPD-Verteidigungsexperte Konrad Ahlers (damals Mitglied des Verteidigungsausschusses, früher immerhin auch einmal Sprecher des Bundesverteidigungsministeriums, ganz abgesehen von seiner langjährigen Tätigkeit als Sprecher der gesamten Bundesregierung) in einer wichtigen Verteidigungsdebatte nicht das Wort ergreifen. Dasselbe widerfuhr damals Walther Leisler Kiep (immerhin Schatzmeister seiner Bundespartei und in jener Legislaturperiode unter anderem Mitglied des Auswärtigen Ausschusses) in einer Debatte über ostpolitische Verträge, oder — in jüngster Zeit, das heißt 1985 — dem Abgeordneten Herbert Hupka in der Debatte über das umstrittene Schlesiertreffen im jetzigen Frühsommer. Das letztere Beispiel ist besonders bemerkenswert und eben leider nicht als atypisch anzusehen, weil der Name dieses Abgeordneten und Vorsitzenden der Landsmannschaft der Schlesier von vielen Rednern im angreifenden, manchmal auch im verteidigenden Sinne erwähnt wurde und der so in den Mittelpunkt Gerückte durchweg in dieser Debatte im Plenum anwesend war

Angesichts solcher klaren Befunde ist daher der Forderung des früheren Bundesinnenministers Hermann Höcherl zuzustimmen „Der Bundestag wäre gut beraten, jeder offiziellen Tagesordnung eine Stunde anzufügen, in der . Abweichler'in 5-bis lOminütigen Beiträgen ihre persönliche, vom Grundgesetz geschützte Meinung vortragen können." Die einzig denkbare Reformalternative wäre in letzter Konsequenz, den Mut aufzubringen, Art. 38 GG ganz zu streichen, da er der politischen Wirklichkeit nicht mehr gerecht wird, — wenn er überhaupt jemals in der „westlichen" Parlamentsgeschichte einschließlich der Großbritanniens mit den politischen Fakten in Übereinstimmung zu bringen war. Insofern erscheint auch die Feststellung von Hans de With fragwürdig, daß hinter der heutigen Kritik am Parlament ein „überholtes Verständnis von Parlamentarismus" steht Wer könnte allerdings — politikwissenschaftlich gesehen, das heißt unter Einbeziehung aller Befunde nicht nur der Verfassungstheorie (sowie in diesem Falle des bundesrepublikanischen Wahlrechtes), sondern auch der Verfassungswirklichkeit unseres gesamten politischen Systems — leugnen, daß die Logik unserer parteienstaatlichen Demokratie unausweichlich zu einem Primat von Art. 21 gegenüber Art. 38 GG (das heißt Vorrang der Parteienfremdbestimmung des einzelnen Abgeordneten vor seiner Eigenbestimmung) geführt hat? Selbst DIE GRÜNEN gehen davon aus, daß „das Mandat kein Privateigentum ist, sondern auch an die Partei bzw. Fraktion gebunden, solange Partei und Fraktion sich an ihre Wahlaussagen halten (? d. V). Diese freiwillige Rückverpflichtung (? d. V.) des Abgeordneten gegenüber seiner Basis sollte ein selbstverständliches Element der politischen Kultur einer repräsentativen Demokratie sein". Auch sie plädieren also im Grunde mit einer solchen, für ihre Bewegung durchaus als typisch anzusehenden Äußerung für eine Abschaffung von Art. 38 GG, weil sie letztlich für ein sogenanntes imperatives Mandat eintreten

Stellt schließlich — so sei abschließend im Hinblick auf Art. 38 GG gefragt — der Rekurs auf die stets als notwendig beschworene Fraktionsdisziplin einen Ausweg aus dem Dilemma zwischen der Scylla (Verbot des Fraktionszwanges) und der Charybdis (Abschaffung des ganzen Art. 38 GG) dar?

Die Antwort muß ein „Jein" sein: „Ja", weil es in der Tat keiner Fraktion im Parlament, ja keiner Partei insgesamt ohne ein Maximum an politischer Geschlossenheit möglich wäre, sich vor der Öffentlichkeit als politisch wirksame Kraft zu profilieren, politische Macht zu erwerben oder zu erhalten. In einer Fraktion muß die Linie der Gesamtheit letztlich per Mehrheitsentscheidung festgelegt und dann auch von den Sprechern dieser Fraktion nach außen vertreten werden. Auf diese Weise summiert sich also gewissermaßen die von den einzelnen Fraktionsangehörigen implizit übernommene Verpflichtung zur Selbstdisziplin im Endeffekt zu dem, was man als Fraktionsdisziplin bezeichnet Die Antwort muß ein „Nein" ergeben, weil unter dem Deckmantel dieser Fraktionsdisziplin zweierlei nicht passieren darf: Einmal das Abwürgen eines Minderheitenschutzes und zum anderen, damit zusammenhängend, die Einschüchterung eines von seiner Fraktionsmehrheit abweichenden Abgeordneten.

Von direkten Zwängen bzw. einer direkten Gängelung war schon die Rede; an indirekten Formen wäre auf eine ganze Skala subtiler Möglichkeiten der Druckausübung durch die Fraktions-und Parteiführungen in Richtung einzelner Abweichler hinzuweisen, was in politikwissenschaftlichen Abhandlungen leider zu wenig in concreto geschieht. Allgemein gehaltene Hinweise auf eine Druckausübung sind wenig aussagekräftig Zu erwähnen sind hier Belohnungs-und Sanktionsmechanismen etwa im Hinblick auf begehrte Auslandsreisen, begehrte Ausschußsitze und last not least auf das Winken mit der Listenabsicherung auf allen Parteiebenen vor Bundestagswahlen. über allem steht aber natürlich ein mehr psychologisch zu deutender Anpassungsdruck, der sich im Falle eines Abgeordneten der Regierungsseite, besonders bei minimalen „Mehrheitsverhältnissen" im Gesamt-parlament, auf die Frage reduziert: Wer will für den Sturz der eigenen Regierung verantwortlich sein, oder im Falle einer Oppositionspartei auf die Frage: Wer will die Verantwortung für ein Vertun der Chance auf Rückgewinnung der politischen Macht auf sich nehmen?

Ein Ausweg bietet sich dadurch an, daß man in der Parlamentspraxis der Bundesrepublik Deutschland von dem Gedanken Abschied nimmt, wonach eine Abstimmungsniederlage der Regierung in jedem Einzelfalle ein irrepa-rables Unglück für diese Regierung darstellt, weil sie damit in ihren Grundfesten erschüttert würde. Zu Recht hatte demgegenüber schon 1979 der damalige Bundestagspräsident Richard Stücklen, heute einer der Vizepräsidenten, auf einer Tagung der Deutschen Vereinigung für Parlamentsfragen formuliert: „Das einzige, was ich bedauere, ist die Angst vor einer Abstimmungsniederlage, obwohl nach unserem Grundgesetz, wenn damit nicht die Vertrauensfrage verbunden ist, für die Regierung keine Konsequenzen entstehen, es sei denn, daß das Erscheinungsbild der Koalition oder der Regierung in der Öffentlichkeit ... in Mitleidenschaft gezogen wird."

Bei den besonders knappen Mehrheitsverhältnissen in der Schlußphase der-Ära Schmidt hätte es also zum Beispiel durchaus möglich sein müssen, daß die Regierung das eine oder andere Gesetz im Plenum „verlor" — zu denken wäre hier etwa an die Antiterrorgesetzgebung der Jahre 1977/78 —, ohne daß damit eine Dolchstoßlegende innerhalb des Regierungslagers aufgekommen oder tatsächlich die Regierung zu einem Rücktritt veranlaßt worden wäre. Nur bei echten politischen „Schicksalsfragen" oder solchen, die der Regierungschef als Inhaber der Richtlinien-kompetenz so ansieht und deklariert, müßte der Bundeskanzler eine bestimmte Gesetzesvorlage oder sonstige Maßnahme mit der Vertrauensfrage verbinden, was in der Bundesrepublik bislang in 35 Jahren strictu sensu überhaupt noch nie geschehen ist — in Großbritannien hingegen sehr häufig vorkommt—, und auf diese Weise vor der gesamten Öffentlichkeit deutlich machen, daß Abgeordnete auf der Regierungsseite, sollten sie auf ihren abweichenden Abstimmungsintentionen im Zusammenhang mit einem Vertrauens-oder Mißtrauensantrag bestehen, „ihre" Regierung zu Fall bringen würden. Anfang 1983 hätte zum Beispiel Helmut Kohl — jetzt allerdings auf das Oppositionsverhalten abzielend — zu diesem Instrument Zuflucht nehmen können, indem er eine Grundgesetzänderung im Parlament eingebracht und diese dann mit der Vertrauensfrage verbunden hätte

In Großbritannien — einer parlamentarischen Demokratie, zu der es im übrigen entgegen vieler in der Literatur vertretener Ansichten sehr viel mehr Parallelen als Unterschiede gibt — wird heute auch nicht mehr strikt an der „Tradition" festgehalten, wonach eine Abstimmungsniederlage der Regierung im Zusammenhang mit einem Vertrauensoder Mißtrauensantrag automatisch deren Rücktritt nach sich zu ziehen hat. Das berühmte Beispiel des Rücktritts von Arthur Neville Chamberlain im Mai 1940, der damit seinem Parteifreund Winston Churchill Platz machte, nur weil seine Mehrheit in einer solchen Abstimmung geschrumpft war, liegt eben auch schon 45 Jahre zurück!

II.

Damit kommen wir zu dem zweiten Problemkreis, den wir im Bereich einer politischen Ethik ansiedeln können: Sollte man nicht besonders in einer Zeit — so wäre zu fragen —, in der die Parlamentstätigkeit zumindest auf Bundesebene unausweichlich und sogar belegt durch entsprechende Feststellungen des Bundesverfassungsgerichts zu einer Vollzeitbeschäftigung geworden ist, gegenüber der Parlaments-und der allgemeinen Öffentlichkeit deutlicher Merkmale eines spezifischen parlamentarischen Berufsethos herausarbeiten? Sticht gegenüber einer solchen Forderung das Gegenargument, wonach auch Ab-geordnete „Menschen wie alle anderen" sind — mit positiven wie negativen Eigenschaften, unterschiedlichen Intelligenzquotienten, mit beruflichem Ehrgeiz, dem Wunsch nach Karriere, vor allem aber nach materieller Wohlstandsmehrung — und deshalb auch nicht mit besonderen Maßstäben gemessen werden sollten?

Die Konzentration auf die in Mode gekommene Forderung nach sogenannten gläsernen Taschen der Abgeordneten ist in diesem Zusammenhang insofern recht unglücklich, weil in der Tat nicht einzusehen ist, warum sich unter allen Berufsgruppen allein die Bundestagsabgeordneten finanziell — vor wem auch immer — sozusagen öffentlich ausziehen sollten. Dies würde im übrigen auch gegen grundgesetzlich verankerte Gleichheitsgrundsätze verstoßen.

Bei den ins Auge zu fassenden Möglichkeiten der Überwindung dessen, was im Bereich des Abgeordnetenverhaltens zu einer Krise (zumindest zu Krisenerscheinungen) des Parlamentarismus in der Bundesrepublik Deutschland (aber keineswegs nur dort) beigetragen hat, geht es — so lautet jedenfalls die These des Verfassers — nicht darum, die Mitglieder des Deutschen Bundestages sozusagen in einer Art Apartheid-Reservat anzusiedeln, sondern vielmehr um den altmodischen Ruf nach Fixierung einer Standesehre, eines allgemeinen Ehrenkodexes für diesen Berufsstand. Ärzte haben nach wie vor ihren hypokratischen Eid und ebenso wie zum Beispiel Anwälte, Zeitungsverleger, Redakteure oder Handwerker Standes-(Ehren) gerichte. Sie alle dürfen keine schludrige, ihrem speziellen Beruf zuwiderlaufende Arbeit mit ihrem Güte-siegel versehen. Werbetreibende dürfen keine irreführenden, wahrheitswidrigen Angaben über gepriesene Produkte in Umlauf setzen, Theologen und Seelsorger keiner doppelten Moral huldigen, geschweige denn „leben" usw. Die Beispiele ließen sich beliebig vermehren.

Keineswegs bedeutet dies ein Plädoyer für das Aufstellen von Eignungsvoraussetzungen und schon gar nicht für das Praktizieren von „Eignungstests" in Sachen Bundestagsabgeordnete oder Politiker ganz allgemein, obwohl es sehr stringente Anforderungen dieser Art für den Einstieg in viele andere Berufs-sparten gibt — vom öffentlichen Dienst bis hin zu Managementfunktionen aller Art. Allerdings könnte man sich tatsächlich idealiter — um einen ganz anderen Bereich anzusprechen — psychologische und andere Tests bei der Vorauswahl zum Beispiel von Kandidaten für höchste Staatsämter wünschen. Festzuhalten bleibt jedenfalls: In den westlichen Demokratien hat der Prozeß der Auslese von Führungskräften im Hinblick auf höchste Ämter in Legislative und Exekutive in letzter Zeit immer wieder Anlaß zu Besorgnis gegeben

Allein mit einer Verbesserung der bislang schon geltenden, aber sicherlich auslegungsfähigen und vor allem in der Praxis zu lax gehandhabten „Verhaltensregeln" für die Mitglieder des Deutschen Bundestages, die speziell auf eine mögliche Verquickung von persönlichen finanziellen Vorteilen und der Ausübung des Mandats im Namen des Volkes abzielen ist es offensichtlich nicht mehr getan. Noch wichtiger wäre die — nun seit 35 Jahren überfällige, aber vor fünf Jahren ausgerechnet aus der Geschäftsordnung des Bundestages als Postulat wieder gestrichene — Einführung einer allgemeinen Ehrenordnung für die Bundestagsabgeordneten, deren Befolgung oder Verletzung ein besonderer Ehrenrat zu überwachen hätte (sie könnte auch noch mit einer Art „Amtseid" verbunden werden, analog zu dem von Bundesregierung und Bundespräsident zu leistenden). Eine solche Ehrenordnung könnte, ja müßte sicherlich sehr sorgfältig konzipiert werden, wobei zu bedenken ist, daß die Aufstellung einer „Verbotsliste" enumerativ gar nicht möglich wäre. Immerhin, einige Leitsätze ließen sich schon formulieren — vor allem verständlich formulieren für den eigentlichen Volkssouverän bzw. die Gesamtheit der Volkssouveräne, deren feines Gespür für Recht und Unrecht, für Lauterkeit oder Unaufrichtigkeit, Befolgung von Eigennutz oder von Gemeinwohlinteressen durch die Volksvertreter nicht unterschätzt werden sollte, leider aber immer wieder von manchen sich in Bonn und anderswo vom Volke manchmal abkapselnden politischen Führungseliten unterschätzt wird. Solche Volks-sprüche wie „Politik verdirbt den Charakter" sind eben nicht zufällig zu Volksweisheiten geworden.

An welche „Gebote" oder „Verbote" wäre zu denken? Zum Beispiel: „Du sollst keine zu-* sätzlichen, das heißt durch keine zusätzliche Arbeit verdienten, öffentlichen Gelder in Anspruch' nehmen, wenn Du schon aus öffentlichen Geldern (nämlich als einfacher Bundestagsabgeordneter) bezahlt wirst, nur weil Dir solche zusätzlichen Gelder möglicherweise zustehen." Oder: „Erst recht sollst Du Dir keine Sondervorteile durch die öffentliche Hand, zum Beispiel auf dem Wege von billigem öffentlichen Bauland, verschaffen." Oder: „Du sollst in Bundestagsausschüssen nicht an finanziellen Beschlüssen mitwirken, wenn es um Deinen eigenen . Hauptberuf geht, also etwa als Beamter oder Landwirt." Oder: „Du sollst Dich mit größter Sorgfalt selbst an alle Gesetze halten und Dein Mandat freiwillig aufgeben, da Du ja nach Art. 38 GG im Zweifelsfalle nicht zur Aufgabe gezwungen werden kannst, wenn Du rechtskräftig zu einer Geld-oder Gefängnisstrafe verurteilt worden bist."

Dieses letztere Gebot scheint auf den ersten Blick banal und überflüssig, hat aber einen empirisch abgesicherten Hintergrund. Bis heute war und ist es nicht möglich, einen Bundestagsabgeordneten zum Beispiel selbst dann zur Aufgabe seines Mandates zu bewegen, wenn dieser mit einer Gefängnisstrafe unter einem Jahr wegen falscher Angaben und anderer Betrügereien gegenüber geldgebenden öffentlichen Stellen verurteilt wurde. Zunächst ist hier ein Urteil mit „Bewährung" ins Auge zu fassen. Rein theoretisch wäre es aber durchaus möglich, daß ein Strafgefangener zur Teilnahme an Plenar-und Ausschußsitzungen des Deutschen Bundestages bei einem solchen Strafmaß „vorgeführt" würde. In der Praxis ist letzteres in der Bundesrepublik Deutschland gottlob noch niemals in den Bereich des Möglichen gerückt. Lange vor dem abträglichen „Flickwerkeln" gab es aber schon zumindest einen nachgewiesenen Fall der Erschleichung öffentlicher Mittel zur Aufbesserung nicht der eigenen Kasse, sondern derjenigen der eigenen Partei, ohne daß dies zu einer Beendigung des in Frage stehenden Mandats geführt hätte, was im übrigen in Großbritannien grundsätzlich praktiziert wird.

Im Grunde ginge es um die Möglichkeit, für „jedermann" klar erkennbare Verstöße eines einzelnen Abgeordneten gegen das Ansehen des Gesamtparlaments auch unter Beibehaltung von Art. 38 GG zu ahnden, zumindest aber eine Instanz zu schaffen, die auf einen moralischen Delinquenten einen so starken moralischen Druck ausübte, daß dieser aus Gründen der Selbstachtung gar nicht umhin könnte, sein Mandat zur Verfügung zu stellen. Wird dieser Grundsatz erst einmal akzeptiert, so wäre der nächste Schritt die Konzipierung und Einsetzung eines entsprechenden parlamentarischen Ehrenrates. Er könnte zweckmäßigerweise aus allen Fraktionsvorsitzenden ex officio bestehen und einer gleichen Anzahl von ehemaligen Parlamentariern, die sich im Laufe ihrer parlamentarischen Tätigkeit ein hohes öffentliches Ansehen erwarben — und dies alles unter Vorsitz des jeweiligen Bundestagspräsidenten sowie unter Einschluß seiner Stellvertreter

Ob zusätzlich an die Errichtung eines besonderen parlamentarischen „Ethik-Ausschusses“ nach dem Vorbild der USA zu denken wäre, kann im Rahmen dieser Überlegungen zunächst einmal offen bleiben Ohnehin sollten die hier angedeuteten Überlegungen nicht den Eindruck erwecken, der allein schon aus Gründen der Repräsentativität, das heißt im Hinblick auf neuneinhalb Legislaturperioden, völlig falsch wäre, daß Verstöße gegen einen möglichen Ehrenkodex bisher eher die Regel als tatsächlich eine große Ausnahme dargestellt haben. Das Ansehen einer jeden Institution wird aber in den Augen der Öffentlichkeit schon durch einige wenige lä-diert, zumal dann, wenn gegen solche Verstöße anscheinend überhaupt keine sinnvollen, gewissermaßen präventiven Vorkehrungen getroffen wurden. Ohnehin gilt: Das An-sehen des Parlaments lebt ganz entscheidend von „roten Preußen" wie Herbert Wehner und „schwarzen" wie Paul Mikat, um hier prototypisch zwei Namen zu nennen.

III.

Wo sieht nun der Politikwissenschaftler „essentials" eines neuzuschnürenden Parlarnentsreformpaketes und wie bewertet er in diesem Zusammenhang — wiederum kurz zusammengefaßt — die diesbezüglich seit einem halben Jahr, zum Teil erstmalig, zum Teil erneut im Raume stehenden Vorschläge?

Zunächst zu einem aus politikwissenschaftlicher Sicht grundlegenden Mißverständnis, dem einige der heutigen Reformer im Deutschen Bundestag, an der Spitze Hildegard Hamm-Brücher, selbst zum Opfer fallen. Letztere formuliert in ihrem Beitrag: „Im politischen Kräftefeld verläuft die Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Legislative nach wie vor eindeutig zuungunsten der Legislative ... Dieses Ungleichgewicht ist keine Theorie, sondern eine Erfahrung, die mir... zur Gewißheit geworden ist: Die eindeutige Überlegenheit der Exekutive und die selbstverschuldete Unterlegenheit der Legislative."

Demgegenüber ist festzustellen: In modernen parlamentarischen Demokratien — dies gilt also etwa für die britische genauso — verläuft eine Gewaltenteilung strictu sensu nicht mehr zwischen Exekutive und Legislative als Ganzem, kann also das Parlament gar nicht mehr gegenüber der Regierung als Gesamt-kontrolleur auftreten, weil es zu einer unauflöslichen und durch Personalunion von Kabinettsmitgliedern, Parlamentarischen Staatssekretären und Bundestagsabgeordneten gefestigten politischen Interessenidentität zwischen Regierung und Regierungsmehrheit in der Legislative gekommen ist. Für die politische Wissenschaft stellt dies eine schon sehr alte Erkenntnis dar, der vielleicht die ebenso alte hinzuzufügen wäre, daß auch in Großbritannien die im obigen Zitat zum Ausdruck gebrachte idealtypische Vorstellung von Gewaltenteilung unter den Bedingungen einer parlamentarischen Demokratie nie in Reinkultur verwirklicht worden ist. Kontrolle obliegt daher der Opposition, die aber aus der Natur der Sache heraus — als „mathematisch" immer unterlegen in Plenum und Ausschüssen — die Regierung sozusagen nur „anbellen", nicht aber „beißen" kann, da sie nicht über die entscheidende Voraussetzung von wirksamer Kontrolle verfügt, nämlich über die Möglichkeit, gegen diese Regierung zu effektiven Sanktionen zu schreiten. Somit fällt solche wirksame Kontrolle der Exekutive im engeren Sinne heute eigentlich nur noch der Regierungsfraktion bzw.den Regierungsfraktionen in dem stillen Kämmerlein stundenlanger, wöchentlicher Fraktionssitzungen zu

Darüber hinaus kann, um den zweiten Teil des Zitates aus dem Beitrag von Hildegard Hamm-Brücher aufzugreifen, die Legislative als Gesetzgebungsorgan ihre „Unterlegenheit" im modernen Gesetzgebungsverfahren niemals ausgleichen (und ist somit diese „Unterlegenheit" nicht „selbstverschuldet"), weil die Bürokratie bei den so überaus komplizierten Lebensbereichen, die in unserer Zeit regelungsbedürftig sind, zwangsläufig mit einem nicht wettzumachenden Informations-und Expertenvorsprung ausgestattet ist. Nicht zufällig weisen die Statistiken aus, daß seit vielen Legislaturperioden rund 80% aller Gesetzgebungsvorhaben von der Bundesregierung eingebracht werden und nicht aus dem Bundestag (oder dem Bundesrat) selbst kommen. In Großbritannien liegt dieser Prozentsatz sogar noch höher.

Dem einzelnen Bundestagsabgeordneten können keine durchorganisierten Ministerialapparaturen zur Seite gestellt werden. Insofern geht auch die immer wiederkehrende Forderung von Abgeordneten nach einer noch besseren administrativen Infrastruktur für sie selbst (also etwa nach je zwei ausgebildeten Assistenten) am Kern der Sache vorbei Die Mitglieder des Bundestages müssen in erster Linie „Generalisten" sein und sollten sich darüber hinaus im Hinblick auf ihre Ausschußtätigkeit nur auf einem eng überschaubaren Gebiet spezialisieren, was bei großen Fraktionen möglich, bei kleineren unmöglich ist und für diese dann ein unvermeidbares Pech darstellt. Der tatsächliche Einfluß „der" Legislatoren auf „die" Gesetzgebung im Sinne von durchgreifenden Abänderungen von Regierungsentwürfen wird auch weiterhin im Plenum wie in den Ausschüssen marginal bleiben. Der Opposition gelingt es nur ganz selten, kann es nur ganz selten gelingen, wichtige Abänderungsanträge durchzusetzen. Insofern ergeben sich Möglichkeiten in dieser Hinsicht aus der Legislative heraus nur für die jeweilige Regierungsfraktion, und dies (nota bene) vor allem im Vorfeld der Gesetzeserarbeitung durch die Bundesregierung, das heißt durch gemeinsame Beratungen der jeweiligen Fraktionsexperten und der Fraktionsspitzen mit „ihrer" Regierung und deren Experten. Diese Gesamtwertung kann durch empirisch untermauerte politikwissenschaftliche Fallstudien als belegt gelten, obwohl es bedauerlicherweise bisher noch zu wenige dieser Art gibt, was nicht zuletzt auf die mangelnde Forschungsoffenheit von Regierung und Bundestag zurückzuführen ist

Mit einem weiteren parlamentstheoretisch ernsteren, aber sicherlich reformierbaren Befund haben wir es — und damit soll bewertend zu einigen anderen im Raume stehenden Reformvorschlägen aus Wissenschaft und Politik übergegangen werden — im Hinblick auf die Tätigkeit des Vermittlungsausschusses im Gesetzgebungsverfahren zu tun. Dieser Ausschuß hat sich immer mehr zu einem „Parlament im Parlament" entwickelt, das viele bedeutsame Gesetze verabschiedet, da seine einvernehmlich erzielten Ergebnisse vom Bundestagsplenum automatisch per Abstimmung und ohne längere Aussprache gebilligt werden, wobei wichtige gesetzliche Bestimmungen durch die Beratungen im Vermittlungsausschuß völlig verändert worden sein können. Grundsätzlich sollte daher ein halber Debattentag für die Plenardiskussion solcher Ergebnisse des Vermittlungsausschusses reserviert werden. Schließlich dürfte es sich in den meisten Fällen um sehr wichtige Gesetze handeln, die ja gerade deshalb der Bundesrat in der Vergangenheit entweder mit einem suspensiven oder mit einem absoluten Veto versah e Wird in diesem Zusammenhang also eine Ausweitung des Zeitbudgets für den Gesetzgebungsvorgang gefordert, so geht der begrüßenswerte Vorschlag — schon in der Enqute-Kommission für Verfassungsreform vor acht Jahren amtlich vorgebracht —, die Anzahl der einzelnen Lesungen je nach Thema zu reduzieren, in die gegenteilige Richtung:

Eine Reform auf diesem Gebiet sollte endlich voll formalisiert und mit dem weiteren Reformrezept verbunden werden, als Regel an die Stelle der zweiten Lesung im Plenum die Beratung aller beteiligten Ausschüsse zusammen unter Leitung des jeweils federführenden Ausschusses zu setzen und diese Ausschußberatungen dann auch der Öffentlichkeit zugänglich zu machen Man könnte in diesem Zusammenhang unter Umständen sogar soweit gehen und nach britischem Vorbild die Umwandlung des Plenums in einen „Ausschuß des ganzen Hauses“ ins Auge fassen. Die Forderung nach mehr Öffentlichkeit ist generell von großer Bedeutung. Im Vergleich sowohl zur präsidentiellen Demokratie der USA als auch zur parlamentarischen Demokratie Großbritanniens schneidet die Bundesrepublik Deutschland hier, „idealtypisch" gesehen, sehr schlecht ab. Reformen müssen in drei Richtungen zielen: Einmal sollten noch sehr viel mehr Ausschußsitzungen der allgemeinen Öffentlichkeit zugänglich sein; zum zweiten sollte die Anzahl der Anhörungsverfahren mit auswärtigen Experten noch weiter erhöht werden; und zum dritten wäre zu überlegen, ob die grundsätzlich geheim tagenden drei Ausschüsse (Auswärtiges, Verteidigung, Innerdeutsche Beziehungen) nicht nur für die übrigen Bundestagsabgeordneten (also auch für die Nichtausschußmitglieder), son-dem auch häufiger für die allgemeine Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollten, was in den beiden großen angelsächsischen Demokratien selbstverständlich ist.

An diesem Punkt werden Grundfragen des parlamentarischen Selbstverständnisses berührt, weil in solchen Gremien, die eben nicht einmal allen Bundestagsmitgliedern offenstehen — in der sogenannten parlamentarischen Kontrollkommission der Nachrichtendienste ist die Zahl der „Geheimwissenden" sogar auf nur acht Bundestagsabgeordnete reduziert —, Informationen gehandelt werden, die dem Gesamtparlament nicht zugänglich gemacht werden dürfen. Natürlich müssen zum Beispiel Fragen der inneren und äußeren Sicherheit streng vertraulich behandelt werden. In der bundesrepublikanischen Praxis wird aber zweifellos des Guten — oder auch Schlechten — zu viel getan, mit anderen Worten: Es gibt auch in dieser Beziehung zu viele Parlamente im Parlament als Kontrollinstanzen der Exekutive. Mit der Realisierung all dieser — zum Teil schon vor längerer Zeit gemachten — Vorschläge wären sozusagen mehrere Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Die Gesetzgebungsarbeit würde gestrafft, der Vorgang selbst für die allgemeine Öffentlichkeit transparenter und last not least der Anreiz der Präsenz von Abgeordneten im Plenum und den Ausschüssen sehr viel größer — was wiederum dem in dieser Hinsicht völlig zu Recht als lädiert anzusehenden Image der rund 500 vollbezahlten Volksvertreter zugute kommen würde.

Das leidige Problem der Plenarpräsenz würde aber natürlich vor allem auch dadurch entschärft werden können, daß alle Abgeordneten — also gerade auch die sogenannten Hinterbänkler — eine größere Chance zur Intervention in Plenardebatten bekämen, worauf in anderem Zusammenhang schon hingewiesen wurde. Es ist einfach unverständlich, daß in dieser Hinsicht längst auf dem Tisch liegende Vorschläge in praxi noch nicht realisiert worden sind. Sicherlich ist es auch kein Zufall, daß sowohl bei den „ 110" -Bundestagsreformern als auch bei den Abgeordneten, die die neueste (Eigen-) Umfrage beantworteten, in diesem Punkte der größte Konsens zu verzeichnen ist Es muß einfach vom Zeitbudget her möglich sein, endlich zu mehr offenen „Runden" (das heißt nicht mehr von den Fraktionen vorab genau nach Umfang und Redner-einsatz festgelegten) mit Rede-Beiträgen von fünf bis zehn Minuten auch außerhalb von „Aktuellen Stunden" zu kommen. Wenn dies das Zeitbudget für Plenardebatten nicht zuläßt, dann müßten eben analog zu Großbritannien mehr Plenartage in der Woche eingeführt werden.

Nur auf diesem Wege können im Parlament Frustrationen abgebaut, vor allem aber zwei von dem Klassiker unter den Parlamentstheoretikern, Walter Bagehot, in den Mittelpunkt seiner Analyse gestellten Parlamentsfunktionen besser verwirklicht werden, nämlich die „educative" und die „informative" Funktion. Die Abgeordneten sollten in toto das betreiben, was wir im deutschen Sprach-und Politikgebrauch politische Bildungsarbeit nennen; sie können dies aber nur, wenn sie selber im Plenum „ernst" genommen werden. Hinzu kommen muß allerdings in diesem Zusammenhang — und dies betrifft eine weitere Reformforderung, der auch in der Praxis zunehmend entsprochen wird —, daß die Abgeordneten, ob Wahlkreis-oder Listenabgeordnete eine ständige Verpflichtung zur bericht-erstattenden Rückkoppelung ihren Wahlkreisen gegenüber empfinden, und zwar nicht nur ihrer Parteibasis, sondern der gesamten Wählerschaft gegenüber. Der eigentliche Reform-ansatz liegt bei diesem Gedanken darin, daß sich zum Beispiel an den Einbau einer entsprechenden Verpflichtung in irgendeiner Form in unser Parteienrecht denken läßt, da man ja auch hier Art. 38 GG beachten muß, solange er in seiner bisherigen Fassung bestehen bleibt.

Ein letzter Reformvorschlag im Rahmen eines Prioritätenpaketes betrifft die Arbeit der Untersuchungsausschüsse des Deutschen Bundestages. Auch dieses Feld ist analytisch in bezug auf konkrete Vorschläge schon lange bestellt worden Dem Verfasser geht es hier allein um die sogenannten Mißstandsuntersuchungen, das heißt nicht um sogenannte Enquöte-Kommissionen. Letztere sollen ja in erster Linie der Verwirklichung einer besseren Gesetzgebung dienen, wobei anzumerken ist, daß deren mit großem Fleiß oft über Jahre hinweg erarbeiteten konkreten Vorschläge bislang zu 80% Makulatur geblieben sind Im Bereich der Aufdeckung und möglichen Beseitigung von konkreten Mißständen kann und sollte in der Tat das Parlament seiner „ältesten" Aufgabe, nämlich der Kontrolle, noch besser nachkommen und ein Maximum an Transparenz der politischen Vorgänge und Entscheidungsprozesse sicherstellen. In Parenthese sei an dieser Stelle angemerkt, daß der Gedanke, eine solche Transparenz und Kontrolle auf dem Wege von Fragestunden erzwingen zu können, mehr in den Bereich parlamentarischer Utopien fällt. Selbstverständlich gehört es (im übrigen auch in Großbritannien) zu einem gelegentlich sehr beliebten Spiel der jeweiligen Regierung, bohrenden Fragen von Oppositionsabgeordneten — die eigenen werden ohnehin nur selten bohren wollen — mit rhetorischen Glanzleistungen des gekonnten Nichtsagens auszuweichen. Ein kurzer Vergleich zur britischen Praxis von Mißstandsuntersuchungen verdeutlicht die Linie der zu fordernden Reform in diesem Bereich: In beiden Ländern werden zwar solche Untersuchungsausschüsse formal gleichermaßen vom Parlament, das heißt auf einen Beschluß des Parlamentes hin, eingesetzt. In Großbritannien aber hat einerseits die jeweilige Regierung das Vorschlagsmonopol, besonders was die personelle Zusammensetzung betrifft (sie bleibt im Deutschen Bundestag völlig ausgeschaltet); andererseits sind hier die Mitglieder in der Regel unabhängige Persönlichkeiten von hohem öffentlichen Ansehen und mit praktischen Erfahrungen als Richter ausgestattet. Selbst „Ein-Mann-Untersuchungsausschüsse" hat es in Großbritannien schon gegeben, so in Gestalt des Lord Denning, der seinerzeit die Profumo-Affäre zu untersuchen hatte.

Im Deutschen Bundestag hingegen spiegeln auch alle Untersuchungsausschüsse von der Zusammensetzung her die Mehrheitsverhältnisse im Gesamtparlament wider und bestehen ausschließlich aus Bundestagsabgeordneten einschließlich des Vorsitzenden. Diese Ausschüsse wenden zwar sinngemäß die deutsche Strafprozeßordnung an — etwa im Hinblick auf die Vorladung und Anhörung von Zeugen —, täuschen aber bei'näherer Betrachtung ein richterliches oder justizförmiges Verfahren vor, weil sie letztlich nur eine Arena des politischen Kampfes mit quasi juristischen Mitteln darstellen.

So ist es denn auch nicht verwunderlich, daß — von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen — bei der Abfassung eines Abschlußberichtes an das Plenum und der Abstimmung im Ausschuß über diesen Bericht sich Mehrheitsund Minderheitsvoten im Detail gegenüberstehen. Auch in diesen Gremien ist also die parlamentarische Mehrheit bestrebt, „ihre" Regierung herauszupauken, die jeweilige Minderheit bestrebt, ihr gerade am Zeug zu flicken. Mit anderen hat der Verfasser die dezidierte Ansicht vertreten, daß diese Form von Untersuchungsverfahren unter den Gesichtspunkten einer effektiveren Kontrolle der Exekutive durch die Legislative reformbedürftig ist.

Als Gesamtfazit dieser politikwissenschaftlichen Anmerkungen zu einem wichtigen Thema kann festgehalten werden, daß aufgrund der eigenen theoretischen und praktischen Erfahrungen mit allem Nachdruck Hildegard Hamm-Brücher „und Genossen" (so bekanntlich die traditionelle Antragsformel auch deutscher Parlamente) aus allen Fraktionen zugestimmt werden muß, die eine Krise des bundesdeutschen Parlamentarismus konstatieren. Weder in der Bundesrepublik Deutschland noch in Großbritannien haben wir es dabei allerdings mit einer „Krise zum Tode" zu tun. Dennoch müssen die sichtbaren und latenten Krankheitssymptome, von denen einige hier angedeutet wurden, von allen sich der Idee der westlichen Demokratie verpflichtet Fühlenden ernstgenommen werden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Schon als „klassisch“ anzusehen ist in diesem Zusammenhang G. Leibholz, Strukturprobleme der modernen Demokratie, München 19673.

  2. Siehe Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages in der Fassung vom Juni 1980, § 105, und Beispiele bei C. -C. Schweitzer, Der Abgeordnete im parlamentarischen Regierungssystem der Bundesrepublik, Opladen 1979, S. 82 ff.

  3. Ebd. S. 91 ff und S. 257 f., vgl. Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages (Anm. 2), § 27.

  4. Siehe ebd. §§ 30, 31 und 32 zu den Möglichkeiten persönlicher Erklärungen, abgesehen von Erklärungen zur Geschäftsordnung.

  5. Siehe Stenographische Berichte des Deutschen Bundestages, 10. Legislaturperiode, Debatte vom 7. Februar 1985 zu Hupka; zu den anderen Beispielen siehe C. -C. Schweitzer (Anm. 2), S. 101 und Anmerkung 123; vgl. auch W. Härth, Die Rede-und Abstimmungsfreiheit der Parlamentsabgeordneten in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1983.

  6. Siehe „Aus Politik und Zeitgeschichte", ’Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 6/85, S. 14.

  7. Ebd. S. 41; vgl. E. Schütt-Wetschky, Grundtypen parlamentarischer Demokratie, Freiburg-München 1984, wo nicht sonderlich originell zwei schon immer identifizierbare „Grundtypen" neu benannt werden: der „klassisch-altliberale" und der „Gruppentyp".

  8. „Aus Politik und Zeitgeschichte" (Anm. 6), S. 39; die Literatur zur Problematik des imperativen Mandates ist inzwischen unübersehbar geworden, vgl. Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages (Hrsg.), Das Abgeordnetenmandat in der parteienstaatlichen Demokratie, Nr. 33, Bonn 1973, oder Chr. Müller, Das imperative und das freie Mandat, Diss., Bonn 1966.

  9. Zu wichtigen Abstimmungen innerhalb der SPD-Fraktion einer Legislaturperiode siehe C. -C. Schweitzer (Anm. 2), S. 58 und S. 65.

  10. Ebd., S. 53 ff. E. Schütt-Wetschky (Anm. 7), beschränkt sich auf die Erwähnung des Tatbestandes als solchen, vgl. S. 82, 180, 227 ff., 241 ff.

  11. Vgl. hierzu beispielhaft D. Lattmann, Die Einsamkeit des Politikers, München 1977, sowie die Schilderung der Abweichler bei der Anti-Terrorgesetzgebung des Jahres 1977/78 bei E. Schütt-Wetschky (Anm. 7), S. 217 f.

  12. Siehe Stenographischen Bericht eines Kolloquiums der Deutschen Vereinigung für Parlamentsfragen im Bonner Bundeshaus, November 1979.

  13. Siehe Zeitschrift für Parlamentsfragen, (1983) 1. Seit 1949 wurden zwei erfolglose Mißtrauensanträge im Parlament eingebracht, 1982 hatte erstmals einer gegen den damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt Erfolg. Bislang gab es drei Vertrauensanträge, den ersten durch Willy Brandt im Jahre 1972, um Neuwahlen möglich zu machen, ebenso wie im Dezember 1982 durch Helmut Kohl. Ein einziges Mal wurde eine Vertrauensfrage gestellt und gewonnen, und zwar durch Helmut Schmidt 1982.

  14. Immer wieder finden wir die schon lange nicht mehr zutreffende Einteilung zwischen einem angeblichen „Redeparlament" (Großbritannien) und einem angeblichen „Arbeitsparlament" (Bundesrepublik Deutschland). Spätestens seit der Einführung ständiger Ausschüsse nach dem Vorbild der USA und der Bundesrepublik Deutschland in Großbritannien im Jahr 1980 (davor gab es nur Ad-hoc-Ausschüsse für jeweilige Gesetzgebungsvorhaben) ist eine solche Unterscheidung nicht mehr aufrechtzuerhalten, wenngleich auch heute noch die Zahl der Debattentage pro Woche in Großbritannien in der Tat um ein vielfaches höher ist als im Bonner Bundestag.

  15. Siehe die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes vom 5. November 1975, Band 40.

  16. Vgl. R. F. Di Clerico, Few are chosen — problems in presidential selection, New York 1984, oder J. W. Ceaser, Reforming the reforms, — a critical analysis of the presidental selection process, Cambridge (Mass.) 1981.

  17. Siehe Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages (Anm. 2), Anlage 1.

  18. In Großbritannien wird formal ein Treueeid gegenüber der Krone „nach dem Gesetz" geleistet, vgl. Manual of Procedure, House of Commons, § 11. Noch heute gilt das Eidesgesetz in der Fassung von 1909. In der britischen Parlamentsgeschichte wurden Mitglieder aufgrund einer Abstimmung im Unterhaus ausgeschlossen wegen „offener Rebellion", Fälschungen, Meineiden, Betrügereien, Veruntreuung öffentlicher Gelder, Korruption in der Führung ihrer Pflichten als Abgeordnete, wegen einem Verhalten, das nicht dem Charakter eines Gentleman entspricht, oder aber auch wegen Verunglimpfung des Parlamentes selber. Einzelheiten bei E. May, Treatise on the Law, Privileges, Proceedings and Usage of Parliament, London 198320, S. 139 f. Möglich ist ein Ausschluß auch in den USA nach der Verfassung, Artikel 1, 2, mit einer Zweidrittelmehrheit des jeweiligen Hauses.

  19. Die Fraktion DIE GRÜNEN sollte hier nicht — durch welche Berechnungen auch immer — ausgeschlossen werden.

  20. In beiden Häusern des US-Kongresses gab es schon seit längerem Ausschüsse für sogenannte „Standards of Official Conduct". Der Senat benannte seinen Ausschuß 1978 in ein Select Committee on Ethics um, vgl. einführende Resolution des Senats und: Rule XVIII of the HoR. 98th Congress zusammen mit Rules of Procedure, Committee on Standards of Official Conduct, HoR, 98th Congress, 27. Januar 1983. Zur Literatur in diesem Zusammenhang z. B. R. Voss, Ethik und Politik, Köln 1980.

  21. Siehe „Aus Politik und Zeitgeschichte" (Anm. 6), S. 4.

  22. Siehe Beispiele bei C. -C. Schweitzer (Anm. 2).

  23. Siehe „Aus Politik und Zeitgeschichte" (Anm. 6) und die in der Ausgabe Nr. 6 vom 9. Februar 1985, S. 15, in „Das Parlament“ veröffentlichte Umfrage unter Bundestagsabgeordneten zum Themenkomplex. Zur Statistik betreffend die Einbringung von Gesetzen etc. siehe das Standardwerk: P. Schindler (Redaktion), 30 Jahre Deutscher Bundestag — Dokumentation, Statistik, Daten, Bonn 1979, mit Nachtrag. Auch in der politikwissenschaftlichen Literatur werden solche Forderungen der Abgeordneten immer wieder ohne kritisches Hinterfragen übernommen.

  24. Erste Durchbrüche zu einer forschungsoffeneren Politik von Exekutive und Legislative in der Bundesrepublik Deutschland wurden erst kürzlich mit der Veröffentlichung der Kabinettsprotokolle der 1. Regierung Adenauer (1949— 1953) und der Protokolle des Vermittlungsausschusses von Bundestag und Bundesrat erzielt. Eine Fallstudie über den Gang eines Gesetzgebungsverfahrens bei C. -C. Schweitzer (Anm. 2), S. 140 ff., im Zusammenhang mit dem Hochschulrahmengesetz in der 7. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages.

  25. Zu Statistiken die beiden Formen des Vetos des Bundestaates im Gesetzgebungsverfahren betreffend siehe P. Schindler (Anm. 23), S. 275 ff.

  26. Vgl. Abschlußbericht der Enqute-Kommission zur Verfassungsreform, Drucksache 7/5924, und die Ausgabe von „Das Parlament" (Anm. 23) zu entsprechenden Forderungen heute.

  27. Fallstudien zur Arbeit von geheimtagenden Ausschüssen: C. -C. Schweitzer, Bremer Bundeswehrkrawalle .... Baden-Baden 1981, und ders.. Der Auswärtige Ausschuß des Deutschen Bundestages im außenpolitischen Entscheidungssystem, in: „Aus Politik und Zeitgeschichte", Beilage zur Wochen-zeitung „Das Parlament", B 19/80 vom 10. Mai 1980.

  28. Siehe „Das Parlament" (Anm. 23).

  29. Die großen Parteien (CDU/CSU und SPD) beauftragen in der Regel ihre Listenabgeordneten, die in Direktwahlkreisen unterlagen, mit der Wahrnehmung von Betreuungsaufgaben in diesen Wahlkreisen, so daß man de facto von einer „Doppelbetreuung" in jedem Wahlkreis ausgehen kann.

  30. Zur Problematik und Reform von Untersuchungsausschüssen siehe Reformvorschläge der Enquäte-Kommission für Verfassungsreform (Anm. 26) sowie eine Literaturübersicht des Wis-

  31. Von den Vorschlägen, die die Enqute-Kommission für Verfassungsreform Ende 1976 insgesamt vorlegte, wurden bislang eigentlich nur zwei vom Bundestag umgesetzt, und zwar die Reform der Art. 45 und 39 GG. Allerdings kann man durchaus

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Carl-Christoph Schweitzer, geb. 1924, Dr. phil., o. Professor für Politikwissenschaft, Universität Bonn, Direktor des dortigen Seminars für Politikwissenschaft, Honorarprofessor an der Universität Köln; Studium der Geschichte und Staatsphilosophie an den Universitäten Freiburg i. Br. und Oxford; Gastprofessor 1967/68 an der Duke Universität, USA, 1977 Universität Oxford, 1982 Universität Toronto; 1963— 1969 Lehrstuhlinhaber in Berlin, seit 1969 in Bonn; 1972— 1976 und 1980 Mitglied des Deutschen Bundestages. Veröffentlichungen u. a.: Amerikas chinesisches Dilemma, Opladen 1969; Der Abgeordnete im parlamentarischen System der Bundesrepublik Deutschland, UTB 814, Opladen 1979; Weltmacht USA — Kontinuität und Wandel ihrer Außenpolitik nach 1945, München 1983; (zus. mit E. O. Czempiel) Weltpolitik der USA nach 1945, Opladen 1984.