I. Einleitung
Erstmals seit Anfang der fünfziger Jahre ist es einer neuen Partei gelungen, die Hürde der Fünf-Prozent-Klausel zu überspringen und als „grüne" Oppositionsfraktion in den Bundestag einzuziehen. Viele Vertreter der traditionellen Bonner Parteien sehen darin auch eine Folge eigener Versäumnisse; sie gestehen ein, daß der in Bürgerinitiativen und neuen sozialen Bewegungen sich artikulierende Bewußtseins-und Wertwandel sowie die zugrundeliegenden strukturellen Probleme von den Bonner Parteien nicht ernst genug genommen wurden
In der vorausgegangenen 9. Wahlperiode hatte sich eine parlamentarische Entwicklung zugespitzt, deren Fortsetzung zu einer einschneidenden Glaubwürdigkeitskrise der parlamentarischen Demokratie hätte führen können. Grundlegende Kritik und Alternativen der außerparlamentarischen Ökologie-und Friedensbewegung an vertrauten Zielvorstellungen und Handlungsmustern der Politik wurden beispielsweise auf Kirchentagen diskutiert, hatten teilweise auch Eingang in die innerparteiliche Diskussion der Bonner Regierungsparteien gefunden, blieben aber aus den Debatten des Deutschen Bundestages weitgehend ausgegrenzt. Die parlamentarische Opposition zeigte sich von dieser Diskussion wenig berührt, und die kleine Gruppe von SPD-Abgeordneten, die diese friedenspolitischen und ökologischen Alternativen zur Regierungspolitik zur Sprache bringen wollte, fühlte sich von ihrer Fraktionsführung unter Druck gesetzt. Diese Abgeordneten hatten Mühe, als Debattenredner eingeteilt zu werden oder Redezeiten außerhalb des Fraktionskontingents zu erhalten
In der SPD-Fraktion haben sich im Herbst 1983 während der fraktionsinternen Debatte um die Haltung von Partei und Fraktion zur „Nachrüstung" die Mehrheitsverhältnisse gewandelt
Das Klima in den Fraktionssitzungen hatte sich unter der integrationsfähigen wie toleranten Fraktionsführung des neuen Vorsitzenden gewandelt. Von einer „neuen politischen Kultur" im Umgang miteinander ist seither etwas zu spüren. Gerade jene Abgeordneten, die als „Abweichler" den Druck von Fraktionsführung und Kanzler zu spüren be-kommen hatten, plädierten nun versöhnlich für tolerantes Verhalten gegenüber der neuen Minderheit
Schließlich sind auch die Erfahrungen jener ehemaligen Minister und Parlamentarischen Staatssekretäre erwähnenswert, die, soweit sie nicht in die Fraktionsführung einrücken bzw. sich als Arbeitskreisvorsitzende mit einem Stab von Mitarbeitern umgeben konnten, sich der beschränkten Einflußmöglichkeiten des „einfachen" Abgeordneten besonders bewußt wurden. Zu ihnen gehört auch Frau Hamm-Brücher, mit deren Namen die Anfang 1984 entstandene „Überfraktionelle Initiative Parlamentsreform" verbunden ist. 110 Abgeordnete aus allen Fraktionen hatten „Überlegungen und Vorschläge zur Parlamentsreform" unterzeichnet und dem Bundestagspräsidenten zugeleitet
Inzwischen kam eine fast sechsstündige Selbstverständnis-Debatte des Bundestages (mit 45 Diskussionsbeiträgen) zustande, die sich entgegen manchen Erwartungen durchaus nicht als bloßer . Aufstand der Hinterbänkler" darstellte
II. Oppositionsverständnis und öffentliche Kontrolle
Der . klassische'Dualismus von Parlament und Regierung wurde in der Realität der parlamentarischen Demokratie in der Bundesrepublik durch eine andersgeartete und komplexere Funktionstrennung abgelöst, die nun angesichts zweier Oppositionsparteien in ein neues Stadium der Bewährung getreten ist. Entsprechend hatte sich seit der „Kleinen Parlamentsreform" (1969/70) nun auch bei Abgeordneten zunehmend die am stilisierten Vorbild des britischen Parlamentarismus orientierte Vorstellung durchgesetzt, daß im Parlamentarischen Regierungssystem insbesondere der Opposition die Aufgabe zufällt, die Regierung und die mit ihr verbundenen und sie unterstützenden Mehrheitsfraktionen öffentlich zu kontrollieren, sie zu kritisieren und Alternativen zur Politik der regierenden Mehrheit zu formulieren. (Die Mehrheitsfraktionen kontrollieren vor allem intern
Auch bei der Wahrnehmung der Kontrollund Gesetzgebungsfunktion hängt der Erfolg der Opposition entscheidend davon ab, wie die Vermittlung in der Öffentlichkeit gelingt.
In den Bundestagsausschüssen stimmen ja nach einer im allgemeinen kollegial geführten Diskussion bei Themen von einigem politischem Gewicht die Abgeordneten der Regierungsfraktionen fast durchweg so ab, wie dies zuvor in der Fraktion bzw. in den zuständigen Arbeitsgruppen und Arbeitskreisen (nach Beratung und unter Einfluß von Regierungsvertretern) intern entschieden worden ist; dabei spielen auch die Vorentscheidungen im kleinen Kreis der Koalitionsgespräche eine kaum zu überschätzende Rolle. Von Seiten der Oppositionsfraktionen kann eine von der parlamentarischen Mehrheit unterstützte Regierungspolitik nur dann wesentlich beeinflußt werden, wenn es ihr gelingt, eine entsprechende Resonanz in den Massenmedien und den Fachöffentlichkeiten zu bewirken und einen Druck der öffentlichen Meinung auszulösen (wobei für SPD und GRÜNE die Unterstützung durch Gewerkschaften bzw. Bürgerinitiativen bedeutsam ist); zudem spielt das antizipatorische Einarbeiten oppositioneller Entwürfe eine Rolle. Mit ihrem weitgehenden Anspruch auf Öffentlichkeit aller parlamentarischen Gremien hat die neue Fraktion der GRÜNEN insofern eine wichtige Einstellung für ihre Rolle als Oppositionspartei mitgebracht
Der „Rollentausch" von CDU/CSU und SPD und vor allem die Konkurrenz der beiden Oppositionsfraktionen im 10. Deutschen Bundestag haben zu einer erheblich stärkeren Inanspruchnahme der öffentlichkeitswirksamen Kontrollinstrumente geführt So wurde wiederholt die Entlassung von Bundesministern oder die Herbeirufung von Regierungsmitgliedern ins Bundestagsplenum beantragt.
Bereits zur Halbzeit der Wahlperiode sind etwa ebensoviele Große Anfragen eingebracht worden, wie in der 8. und 9. Wahlperiode zusammen (bis Ende 1984: DIE GRÜNEN 40, SPD 19, CDU/CSU und FDP: 11
Erst seit dem Regierungswechsel 1982 hat die vielleicht wichtigste Verbesserung der neuen Geschäftsordnung von 1980 Früchte getragen: Nun haben auch Minderheitengruppen in Frakionsstärke die Möglichkeit, unabhängig von der Fragestunde eine Aktuelle Stunde durchzusetzen (GOBT, Ani. 5, I, S. 27). Im Unterschied zur CDU/CSU-Opposition haben die derzeitigen Oppositionsfraktionen von dieser kommunikationsfreundlichen und aktuellen Möglichkeit zur Herausforderung der Regierung (5-Minuten-Beiträge) gerne und häufig Gebrauch gemacht, in der Anfangsphase vor allem die GRÜNEN. (Von den 40 Aktuellen Stunden bis Ende 1984 hatten die GRÜNEN 17 und die SPD
Die Oppositionsfraktionen haben bis Ende 1984 67 Gesetzentwürfe eingebracht (SPD: 35; GRÜNE: 32). Daß keiner dieser Entwürfe verabschiedet wurde, überrascht nicht. Ihre Ausarbeitung ist für die Oppositionsfraktionen gleichwohl insofern von Bedeutung, als es darum geht, alternative Politikentwürfe öffentlich zur Diskussion zu stellen. Der lange Weg eines Gesetzentwurfs über die parlamentarischen Hürden gibt immer wieder Gelegenheit, erneut die Diskussion in der (Fach) -Öffentlichkeit anzuregen. Auch die GRÜNEN im Bundestag sehen dies offenbar ähnlich: „Unsere .. konstruktive Arbeit im Sinne von . machbar jetzt'— auch wenn sie fern jeder Durchsetzungschance ist (und das geht selbst der SPD so) — hat ihren Sinn darin, daß die betroffenen Verbände, Initiativen, sozialen oder wirtschaftlichen Gruppen sehen, daß es denkbare Ansätze zum Handeln, Anknüpfungspunkte für den . Umbau der Gesellschaft'gäbe, wenn der politische Wille und die entsprechenden Machtverhältnisse da wären." 17)
Die neue Fraktion der GRÜNEN hat im Prozeß der Parlamentarisierung Erfahrungen gemacht, die auch den anderen Fraktionen wohlbekannt sind: Sie beklagen fast einhellig, daß die konzeptionelle Abstimmung der zahlreichen Einzelaktivitäten noch nicht hinreichend gelungen ist. Dies hat wesentlich damit zu tun, daß die GRÜNEN in mehreren Politikfeldern erst jetzt (und nach dem Mißerfolg bei den Landtagswahlen 1985 unter erschwerten Bedingungen) in einen Prozeß der programmatischen Klärung und Konkretisierung mit unbestimmtem Ausgang eingetreten sind und damit einen programmatischen Wettstreit mit der SPD aufnehmen, der, sofern er von beiden Seiten öffentlich geführt wird, von großer Bedeutung für die politische Kultur in der Bundesrepublik sein kann
III. Informationsdefizite und parlamentarisches Selbstverständnis
Wirksame öffentliche Kontrolle setzt voraus, daß auch die Oppositionsparteien Zugang zu allen der Regierung und den bevorzugt informierten Regierungsfraktionen zur Verfügung stehenden Daten besitzen und über hinreichende Mittel verfügen, um sich von unabhängigen oder ihr nahestehenden Institutionen „alternative" Informationen und Gutachten zu verschaffen; ferner, daß sie über entsprechende . Analyse-Kapazitäten" verfügen. Sodann hängt eine stärkere Eigenverantwortung der Abgeordneten und damit auch eine Verbesserung der Kommunikationsfähigkeit des Bundestages davon ab, ob eine angemessene personelle und sächliche Ausstattung den einzelnen Abgeordneten in die Lage versetzt, über sein Spezialgebiet hinaus Impulse aufzunehmen und in den fraktionsinternen und öffentlichen Diskussionsprozeß einzubringen. Beide Aspekte spielen in der gegenwärtigen Parlamentsreform-Diskussion eine wichtige Rolle.
Die deutliche Überlegenheit der Ministerial-Verwaltung gegenüber dem Parlament ist auch in der „Selbstverständnis-Debatte" von Abgeordneten verschiedener Fraktionen immer wieder hervorgehoben worden
Eine Fülle von Informationen geht in die inzwischen zahlreichen Berichte der Bundesregierung ein, die häufig auch vom Bundestag angefordert werden und Anlaß für Debatten sein können
Da die Ministerien zunehmend die neuen Informations-und Kommunikationsmedien nutzen und ihre Datenbanken ausbauen, sehen sich vor allem Oppositionsführungen, aber auch Abgeordnete aus allen Fraktionen vor die Herausforderung gestellt, eine weitere Informations-und Kompetenzverschiebung zugunsten der Ministerialverwaltungen zu verhindern. Darauf hat die „Interparlamentarische Arbeitsgemeinschaft" schon vor Jahren hingewiesen und ein generelles Zugriffsrecht des Bundestages auf Datenbanken der Exekutive empfohlen, das durch Ergänzung des Grundgesetzes und weitere zusätzliche Regelungen abgesichert werden soll. Sicherzustellen sei auch, daß die Regierung dem Parla-ment spätestens zum Zeitpunkt der Einbringung des Gesetzes alle Daten und Programme einschließlich der durchdachten Alternativen zur Verfügung stellen müssen
In der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zugunsten des Antrags der Bundestagsfraktionen der SPD und der GRÜNEN auf vollständige Herausgabe der einstimmig vom Flick-Untersuchungsausschuß angeforderten Akten wird die Bedeutung wirksamer parlamentarischer Kontrolle unterstrichen. Betont wird, daß das Parlament „ohne eine Beteiligung am geheimen Wissen der Regierung weder das Gesetzgebungsrecht noch das Haushaltsrecht noch das parlamentarische Kontrollrecht gegenüber der Regierung auszuüben vermöchte"
Allerdings dürfte eine Stärkung der Informations-und Kontrollbefugnisse in gebotenem Umfang nur durch entsprechende Verfassungsänderungen erreichbar sein. Dies gilt insbesondere für die im Kontext der Parlamentsreform-Diskussion geforderte Verankerung von Informationspflichten der Bundesregierung gegenüber dem einzelnen Abgeordneten und ein allgemeines Akteneinsichtsrecht für alle Abgeordneten bei Behörden. Eine Ergänzung des Grundgesetzes hatte auch die Enquete-Kommission Verfassungsreform für notwendig gehalten, um den Enquete-Kommissionen ein umfassendes Informationsrecht einzuräumen
Beklagt wird, daß die Arbeit des Bundestages bzw.der Ausschüsse allzusehr durch die Regierungsvorlagen bestimmt wird. Von besonderer Bedeutung ist hier die Frage, wie das Parlament insgesamt, vor allem aber die Oppositionsfraktionen, besser in die Lage versetzt werden können, aufgrund eigenständig überprüfter Informationen begründete und durchdachte Alternativen zu entwickeln und welche aktiv-kreative Rolle die einzelnen Abgeordneten dabei spielen können. Aber auch für die Regierungsfraktionen, ja, für die von Verwaltungsvorlagen abhängigen Regierungsmitglieder selbst ist es von Interesse, Alternativen auf der Grundlage von Informationen „durchzuspielen", die nicht aus dem Regierungsbereich stammen. Da schon die Auswahl der Informationen aufgrund politischer Vorentscheidungen und 'verwaltungsinterner Nutzungsinteressen erfolgt, hat sich bereits die Interparlamentarische Gesellschaft für ein gesetzlich geregeltes Zugriffsrecht des Parlaments auf Datenbestände außerhalb des Regierungsbereichs und zudem für ein eigenes Informationssystem des Parlaments ausgesprochen. Dabei wird allerdings unzutreffend vorausgesetzt, daß das Interesse an der Entwicklung alternativer Politik-Konzeptionen und Programme bei Regierungs-und Oppositionsfraktionen etwa gleich gelagert sei. Die Frage nach den Auswahlkriterien stellt sich natürlich auch dann, wenn Informationssysteme bei der Bundestagsverwaltung stärker ausgebaut werden sollen, die sich als „neutrale Einrichtung" versteht. (Anzumerken ist, daß jedenfalls die großen Oppositionsfraktionen sich jeweils auf die Zusammenarbeit mit den von der entsprechenden Partei gestellten Landesregierungen stützen können.)
In diesem Zusammenhang spielen auch Bemühungen eine wichtige Rolle, den Bundes-rechnungshof stärker an das Parlament heranzuführen
Die seit der „Kleinen Parlamentsreform" immer wieder gestellte Frage nach der angemessenen Ausstattung des Parlaments wird angesichts der raschen Entwicklung der Informations-und Kommunikationsmedien in allen gesellschaftlichen Bereichen neu gestellt; dabei wird je nach eigenem Rollenverständnis und Status bevorzugt an die Fraktionen und deren Arbeitskreise und -gruppen, die Wissenschaftlichen Dienste und die Bundestags-Ausschüsse (Fachdienste, Ausschuß-Sekretariate),nicht zuletzt auch an die Büros der Abgeordneten gedacht
Die Mitarbeiter der Abgeordneten in Bonn sind überwiegend mit qualifizierter Sachbearbeiter-Tätigkeit ausgelastet; wissenschaftliche Zuarbeit ist nur sehr begrenzt möglich. Ohne erhöhte Analyse-Kapazität würde sich diese Situation für die einzelnen Abgeordneten auch mit dem unmittelbaren Zugang zu Terminals kaum verbessern, da eine sachgemäße Nutzung von Datenbanken bei komplexeren Fragen Spezialkenntnisse erfordert
Für eine „alternative" und längerfristig angelegte konzeptionelle Arbeit der Fraktionen — etwa in Fragen der Technologiefolgenabschätzung und -bewertung
Die Verbesserung der Kontrollfähigkeit wie auch das Gelingen weitergehender Parlamentsreformen insgesamt sind jedoch nur dann zu erwarten, wenn auch bei den Fraktionsführungen der Regierungsparteien das gemeinsame Interesse an einer glaubwürdigen parlamentarischen Demokratie stärker gewichtet wird als der augenblickliche Vorteil privilegierter Machtteilhabe.
IV. Beteiligungschancen einzelner Abgeordneter und parlamentarische Kommunikationsfähigkeit
Auch die Mehrheitsfraktionen kontrollieren die Regierung; aber im Interesse der „Geschlossenheit" nach außen soll dies möglichst nicht-öffentlich geschehen. Kritik geübt wird etwa in Arbeitsgruppensitzungen oder im kleinen Kreis von Koalitionsgesprächen. Mit Rücksicht auf den großen Teilnehmerkreis wird auf Fraktionssitzungen i. d. R. zurückhaltender argumentiert, da kritische Stimmen von hier aus leichter an die Öffentlichkeit dringen. Die Kontrollchancen der Abgeordneten sind je nach der Position im Gefüge der Fraktionshierarchie sehr unterschiedlich gerade in den „Regierungsfraktionen". Unmut wird immer wieder darüber zum Ausdruck gebracht, daß die Fraktionsführung die Abgeordneten zur Geschlossenheit und zum Verzicht auf die öffentliche Austragung von Kontroversen mahnt, während sich Spitzenpolitiker der Koalition mit kontroversen Stellungnahmen öffentlich profilieren
Die überfraktionelle Abgeordneten-Initiative hat eine wesentliche Ursache für den mangelnden Erfolg bisheriger Reformansätze herausgestellt: Vermieden wurden auch in der Geschäftsordnungsreform von 1980 all jene Reformvorschläge, von denen eine Beeinträchtigung der „Geschlossenheit" der Fraktionen sowie mehr Transparenz der innerfraktionellen Arbeit und der Ausschußarbeit erwartet wurde. In der Tat hat sich gezeigt, „daß die zur verbesserten Wahrnehmung der Kommunikationsfunktion des Bundestages wohl wirksamsten Regelungen gerade jene wären, die geeignet sein könnten, den engen Spielraum der „nicht-privilegierten" Abgeordneten gegenüber der Fraktionsregie zu erweitern"
Von der Vereinbarung kürzerer Redezeiten im Zusammenhang mit dieser Geschäftsreform hatte man auch eine „Belebung" der Debatten erhofft. Warum haben sich die Erwartungen nicht erfüllt? In Kurzdebatten ist der Sprecher der Fraktion gehalten, den Fraktionsstandpunkt in konzentrierter Form darzustellen. In größeren Debatten sollten die Fraktionen ihre Redezeit so aufteilen, daß nur einem Redner bis zu 45 Minuten zur Verfügung stehen und alle anderen nicht länger als 15 Minuten sprechen können. Beeinträchtigt wurde ein möglicher Erfolg dieser Regelung dadurch, daß bei wichtigen Debatten Regierungs-und Bundesratsmitglieder von ihrem jederzeitigen Rederecht (Art. 43 Abs. 2) übermäßig Gebrauch machten. So kamen die meisten Abgeordneten erst nach dem Ende der Direktübertragung bzw. nach Redaktionsschluß der Zeitungen oder gar nicht mehr zu Wort
Mehr Spontaneität und eine Bereicherung des argumentativen Spektrums könnte vor allem durch die Realisierung jener Vorschläge der Abgeordneten-Initiative erreicht werden, die mit der Verbesserung der Redechancen auch den Partizipationsspielraum der einzelnen Abgeordneten (gegenüber dem Fraktionsreglement) erweitern wollen. Es wurde vorgeschlagen, mindestens 30% der Redezeit bei größeren Debatten für offene, von der Fraktion nicht verplante Debattenbeiträge freizuhalten; dabei soll es möglich sein, mit Kurzbeiträgen vor anderen Rednern zu Wort zu kommen 41).
Die Verbesserung der kommunikativen Kompetenz des Bundestages setzt voraus, daß auch Minderheitenmeinungen in der fraktionsinternen Diskussion, aber auch im Plenum und gegebenenfalls in öffentlichen Ausschüssen nicht nur ausnahmsweise und unter stark erschwerten formalen und psychologischen Bedingungen artikuliert werden können 42). Darum geht es offenbar auch der Abgeordneten-Initiative bei ihren Vorschlägen, wobei die fraktionsinterne Struktur nur indirekt angesprochen ist 43). Im Interesse der Funktionsfähigkeit des parlamentarischen Regierungssystems ist es in der Tat geboten, für die Freiheit der Rede und der Abstimmung in der parlamentarischen Praxis unterschiedliche Maßstäbe anzulegen. Gewiß sollten im Gegensatz zur bisherigen Praxis auch gelegentliche Abstimmungsniederlagen — etwa wenn es um auch unter Experten umstrittene Folgewirkungen von Zukunftstechnologien geht — nicht schon als Gefährdung der Regierungsfähigkeit angesehen werden. Grundsätzlich ist freilich ein legitimes Interesse der Regierung und der sie stützenden Fraktionen anzuerkennen, sich auf Entscheidungen verlassen zu können, für die in den Regierungsfraktionen Mehrheiten zustande gekommen sind. Erleichtert werden soll aber die Möglichkeit, auch abweichende Gründe und Positionen vorzutragen. Dies ist im Interesse einer demokratischen Legitimation vor allem dann bedeutsam, wenn bestimmte Positionen von keiner anderen Fraktion, sehr wohl aber außerhalb des Parlaments in relevantem Umfang artikuliert werden.
Die Forderung der Abgeordneten-Initiative, Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG in der parlamentarischen Praxis stärker zur Geltung zu bringen, ist Mißverständnissen ausgesetzt: Es kann hier nicht in erster Linie um die Einlösung individueller Selbstverwirklichungs-Ansprüche gehen, sondern um die Verbesserung demokratischer Rückkoppelung. Will man den Satz, daß „alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht" auch unter Bedingungen des parteien-staatlichen und durch Verbandseinfluß geprägten Parlamentarismus ernst nehmen, und sieht man gerade in der Volksrepräsentation ein unverzichtbares Verfahren zur annäherungsweisen Einlösung dieses demokratischen Partizipationsanspruchs, so ergibt sich für die Einschätzung des „freien Mandats" im Kontext mit Art. 21 Abs. 1 GG und der grundgesetzlich garantierten Kommunikationsfreiheit folgendes
V. Parlamentarische Kompetenz und demokratische Legitimation
Ein Verzicht auf Fernsehübertragungen von Plenarsitzungen nach dem Beispiel Großbritanniens wurde (ungeachtet manch ungünstiger Auswirkungen auf das Debattenklima) in der Ad-hoc-Kommission Parlamentsreform nicht in Betracht gezogen. Schließlich ist der Bundestag bei der Wahrnehmung seiner de-mokratisch legitimierenden Kommunikations-und Kontrollfunktion auf die Vermittlungsleistung der Massenmedien angewiesen. Eine Einschränkung der Fernsehübertragungen, wie dies der gegenwärtigen Tendenz der Fernsehanstalten entspricht, ist schon deshalb nicht begrüßenswert, weil sie der Hierarchisierung der Partizipationsstruktur des Bundestages förderlich ist (1983 wurden noch ca. 30% der gesamten Debattenzeit übertragen, 1984 waren es nur mehr knapp 20%; das Pressezentrum des Bundestages beklagt diese Entwicklung)
Die Ad-hoc-Kommission Parlamentsreform hat die Anregung der Abgeordneten-Initiative aufgegriffen und die probeweise Einführung einer Kabinettsberichtserstattung vorgeschlagen, die (nach Vereinbarung auf Vorschlag der Bundesregierung oder des Bundestages) bei wichtigen und aktuellen Sachkomplexen im Anschluß an Kabinettsitzungen in Sitzungswochen erfolgen soll. Nach einem Bericht der Regierung schließen sich Fragen der Abgeordneten und Antworten des Berichterstatters der Regierung von jeweils höchstens zehn Minuten Länge an. Nach Ablauf von 40 Minuten sollen die Fraktionen die Möglichkeit (!) haben, eine Stellungnahme von jeweils fünf Minuten abzugeben. Darauf legt die SPD-Opposition größten Wert, während die Parlamentarischen Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion dies, offenbar im Interesse einer dominanten Selbstdar-
Stellung der Regierung, bisher ablehnten und damit die Erprobung verzögerten. Weiterführend ist der Vorschlag, die Regierung auch aufgrund des Antrags einer Fraktion zur Berichterstattung zu veranlassen
Die Chance des Bundestages, als zentrale demokratisch legitimierte Entscheidungsinstanz ernst genommen zu werden, hängt wesentlich davon ab, ob er aktuelle und die längerfristige politische Entwicklung bestimmende Themen (Zukunftstechnologien) rechtzeitig und kompetent zu behandeln und zu diskutieren in der Lage ist. Hier liegt die Bedeutung der Aktuellen Stunden, der Enquete-Kommissionen
Als Signal einer sich wandelnden parlamentarisch-politischen Kultur könnte die zunehmende Bereitschaft zur regulären oder jedenfalls häufigeren Öffentlichkeit der Ausschüsse gewertet werden
Nach ersten Empfehlungen der Ad-hoc-Kommission Parlamentsreform sollen die Ausschüsse (von den geschlossenen Ausschüssen abgesehen) von der Möglichkeit der Geschäftsordnung in § 69 Abs. 1 Satz 2 häufiger Gebrauch machen und die Öffentlichkeit zulassen — auch in gemeinsamen Sitzungen mehrerer Ausschüsse. Die Kommission schließt mit ihren Empfehlungen an den Bericht der Enquete-Kommission Verfassungsreform zur Neugestaltung der Gesetzesberatung an, der eine erweiterte öffentliche Ausschußberatung empfiehlt
Die Kommission hatte mit Recht eine Alternative von-Rede-oder Arbeitsparlament abgelehnt. Sie suchte nach Lösungen, wie angesichts der oft detaillierten und hochspezialisierten Gesetzgebungsarbeit der Bundestag dennoch in die Lage versetzt werden könnte, sich vertieft mit grundsätzlichen und politisch bedeutsamen Fragen zu befassen. Die Enquete-Kommission wie nun auch die Ad-hoc-Kommission Parlamentsreform gehen von der Erfahrung aus, daß in häufig mit thematisch sehr unterschiedlichen Tagesordnungspunkten überladenen Debatten der oft beklagte „Schichtwechsel der Spezialisten“ stattfindet
Nach den Vorschlägen der Ad-hoc-Kommission (die sich nicht nur auf die Gesetzesberatung beziehen) kommen öffentliche Sitzungen vor allem für die Schlußberatung von Vorlagen in Betracht. Bei geeigneten Themen soll, den Konsens der Fraktionen vorausgesetzt, im Plenum in zweiter und dritter Beratung ohne Aussprache abgestimmt werden kön-nen. Die Bedeutung des von der Enquete-Kommission wie auch in abgewandelter Form von der Ad-hoc-Kommission vorgeschlagenen Verfahrens würde insbesondere darin liegen, jene in ein oder zwei Debattenrunden vorgetragenen speziellen Darlegungen von Fraktionsspezialisten aus dem Plenum herauszuverlagern und dabei der interessierten (Fach) -Offentlichkeit eine intensivere Befassung mit dem Thema zu ermöglichen, als dies die komprimierten Kurzdebatten im Plenum zulassen. Vor allem kommt es darauf an, Raum für vertiefte Debatten zu wichtigen Themen (z. B. durch verbundene Debatten anläßlich mehrerer thematisch verwandter Vorlagen) und zu politischen Richtungsentscheidungen zu schaffen und damit auch die Kommunikationsfähigkeit zu verbessern. (Nicht zu unterschätzen ist dabei die Bedeutung gemeinsamer öffentlicher Sitzungen der beteiligten Ausschüsse, weil so die Beachtung von Problemzusammenhängen besser gesichert werden kann; in Fraktionssitzungen fehlt hierfür oft die Zeit; überdies hat die CDU/CSU-Fraktion auf die mehrere Arbeitsgruppen übergreifenden Arbeitskreise verzichtet
Beachtung verdient der Vorschlag der „Initiative Parlamentsreform", bei öffentlichen An-58) hörungen der Ausschüsse nicht nur wissenschaftliche Sachverständige und Verbandsexperten zu hören, sondern auch solche Bürger und Gruppen zu beteiligen, die einschlägige Erfahrungen gesammelt bzw. spezielle Sachkenntnisse erworben haben
Für den Erfolg der vorstehend skizzierten Reform entscheidend ist jedoch nicht die Plausibilität der einzelnen Vorschläge allein, sondern die durchdachte Kombination und Abstimmung verschiedener Verfahrensänderungen und damit einhergehend entsprechende Verhaltensänderungen von Abgeordneten. Die (oft auch überzogene) öffentliche Kritik am Typus des abgeschliffenen, angepaßten, die politische Dauer-Karriere anstrebenden Politikers könnte hier stimulierend wirken