In der Bundesrepublik Deutschland hat man den jüngsten Führungswechsel im Kreml mit neugierig-erwartungsvoller Gespanntheit verfolgt, denn die Sowjetunion kann niemanden gleichgültig lassen, der die Verschärfung der internationalen Lage und insbesondere das Wettrüsten mit Sorge betrachtet. Sie ist nicht nur eine Supermacht, die militärisch und politisch den Osten Europas kontrolliert, sie bleibt auch für die westliche Staatenwelt so lange ein Angstgegner, als sie nicht glaubhaft machen kann, daß sie keine Ambitionen über ihre wohlverstandenen nationalen Interessen hinaus hat. Die großen Probleme, vor denen die Sowjetunion steht, sind unter Breschnew, Andropow und Tschernenko nicht gelöst worden. Im Westen wie im Osten scheint man zu glauben, daß allein eine starke Persönlichkeit imstande sei, die UdSSR aus ihrer gegenwärtigen Stagnation herauszuführen.
I. Der Parteichef und die kollektive Führung
Einige Kommentatoren trauen dem am 11. März 1985 zum Generalsekretär gewählten Michail S. Gorbatschow die Kraft und die Fähigkeit zu, nicht nur die Ost-West-Spannungen zu verringern, sondern auch die Sowjetunion von Grund auf zu reformieren.
Welche Macht aber hat der erste Mann an der Spitze des sowjetischen Herrschaftssystems? Wladimir I. Lenin wie Josef W. Stalin haben ganz ohne Frage das Land prägen können. Nikita S. Chruschtschow, dessen Spielraum schon stark eingeschränkt war, vermochte immerhin noch eine Reihe von Reformen durchzusetzen. Seit seinem Sturz im Oktober 1964 gab es die Vereinbarung, daß die Ämter des Parteichefs und des Ministerpräsidenten nicht mehr von einer Person wahrgenommen werden sollten. Dem Ehrgeiz der Nr. sollten damit deutliche Grenzen gesetzt werden.
Breschnew blieb bis zuletzt in eine kollektive Führung eingepfercht, konnte allerdings noch 1977 Staatspräsident werden. Offensichtlich vermochte aber seit der Zeit, als Breschnew erkrankte, die oberste Parteibürokratie mehr und mehr Kompetenzen des Generalsekretärs an sich zu ziehen. Vor allem damit ist der kometenhafte Aufstieg Tschernenkos, der lange Zeit Kanzleichef des Politbüros war, zu erklären.
Gorbatschow ist erst 54 Jahre alt und dynamisch. Es könnte ihm durchaus gelingen, seine Macht auszubauen. Da er aber der Jüngste im Politbüro ist, wird es für ihn unter psychologischen Gesichtspunkten zunächst nicht leicht sein, seinen Willen im obersten Parteigremium durchzusetzen. Fünf der dreizehn Politbüromitglieder sind über 70 Jahre: Nikolaj Tichonow (79), Andrej Gromyko (75), Dinmuchamed Kunajew (73), Michail Solomenzew (71) und Viktor Grischin (70). Waren die meisten dieser Gruppe Parteigänger Tschernenkos, so darf Gromyko allerdings als Gönner und Förderer Gorbatschows gelten. Er hat in seiner Rede vor dem ZK-Plenum am 11. März 1985, auf dem der neue Generalsekretär nominiert wurde, Gorbatschow in einer Weise über den grünen Klee gelobt, die für sowjetische Verhältnisse ungewöhnlich ist 1). Offensichtlich wollte Gromyko mit seiner Eloge alle Einwände gegen Gorbatschow zerstreuen. Weder Chruschtschow noch Breschnew sind in ihren besten Zeiten von einem Spitzenfunktionär auf diese Weise gepriesen worden.
Wahrscheinlich stehen auch nicht alle der „Jüngeren" auf der Seite Gorbatschows. So könnte sich Grigorij W. Romanow (62) als zweiter ZK-Sekretär, dem nach bisheriger Tradition die Zuständigkeit für Ideologie und Kader zufallen müßte, zu einem gefährlichen Widersacher entwickeln. Auch der Ukrainer Wladimir Schtscherbizkij (67) dürfte früher jedenfalls kein Anhänger Gorbatschows gewesen sein. Seit den Tagen Lenins war es in der KPdSU üblich, den Einfluß starker Persönlichkeiten durch kräftige Gegengewichte auszugleichen. Zweimal ist die Partei allerdings in der Vergangenheit nicht auf der Hut gewesen: Im Falle Stalins und Chruschtschows. Diese bitteren Erfahrungen wird sie nicht vergessen haben. Ganz abgesehen davon liegt es im Interesse der einzelnen Politbüromitglieder, den Generalsekretär nicht zu stark werden zu lassen, weil dies nur zu ihren eigenen Lasten geschehen kann.
Wenn sich Gorbatschow nicht damit begnügen will, nur ein Verwalter der Macht zu werden, wie es Breschnew war, dann muß er versuchen, sich aus den Fesseln der kollektiven Führung herauszuwinden. Vieles wird folglich davon abhängen, ob er die freiwerdenden Posten in der Partei und in den übrigen Apparaten mit Leuten seines Vertrauens besetzen kann. Nach monatelangem personalpolitischen Stillhalten sind auf dem ZK-Plenum vom 23. April 1985 gleich drei neue Politbüro-mitglieder ernannt worden. Nikolai Ryschkow und Jegor Ligatschow scheinen auf der Gorbatschow-Linie zu liegen. Tschebrikow war ein Vertrauter Breschnews. Gorbatschow könnte auch dann über seine Kollegen hinauswachsen, wenn sich die Führung einer Krise gegenübersieht. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt läßt sich natürlich nicht sinnvoll darüber spekulieren, ob der neue Generalsekretär Fortune haben wird oder nicht. Sicher ist im Augenblick nur, daß er ein schweres Erbe angetreten hat.
II. Apparate und Bürokratien
Das sowjetische Herrschaftssystem ist ein kaum noch überschaubares Gebilde. Seine tragenden Säulen sind die Apparate der Partei, der Regierung, des Militärs, des Staatssicherheitsdienstes (KGB) und des Außenministeriums. Die höchste Instanz ist eindeutig der Parteiapparat. Alle Generalsekretäre entstammen seiner Chefetage, dem ZK-Sekretariat. Die Partei muß nach ihrem Selbstverständnis in allen Fragen das letzte Wort haben. Die zweitmächtigste Machtsäule ist der Regierungsapparat. Der Ministerpräsident war immer im Politbüro vertreten. Protokollarisch steht ihm, wie dies aus der Sitzordnung im Obersten Sowjet oder aus der Reihenfolge der Spitzenfunktionäre auf dem Lenin-Mausoleum hervorgeht, der zweite Platz nächst dem Generalsekretär zu. Ministerpräsident Tichonow ist Herr eines Millionenheeres von Verwaltungsangestellten. 1973 rückten der Verteidigungsminister, der Außenminister und der KGB-Chef ins Politbüro auf. Die Spitzenvertreter dieser drei Machtaggregate haben in den letzten drei Jahren eine ungewöhnlich große Rolle gespielt, wie nicht nur die Nachfolgeregelungen deutlich gezeigt haben. Andropow, Dmitrij Ustinow und Gromyko haben die Politik der Sowjetunion maßgebend formuliert. Heute ist Gromyko der einzige überlebende dieses Triumvirats. Viktor Tschebrikow, der neue KGB-Chef, hat inzwischen Sitz und Stimme im Politbüro. Sergej Sokolow, der Nachfolger Ustinows, hat es erst zum Politbürokandidaten gebracht. Er ist 73 Jahre alt und ihm fehlt die Autorität seines Vorgängers.
Es spricht vieles dafür, daß Andropow, Ustinow und Gromyko im Parteiapparat, dem Allerheiligsten, starke Fäulniserscheinungen erkannt hatten und für eine drastische Säuberung eingetreten sind. Die Apparatschiki standen plötzlich also unter Beschuß von Seiten der Vertreter der Parallelbürokratien, was den Corpsgeist der Angegriffenen, die ihre bislang unangefochtenen Positionen und Privilegien sicher nicht kampflos aufgeben wollten und wollen, verstärkt haben muß. Wenn Gorbatschow wie Andropow den Parteiapparat auskämmen will, hat er also zwangsläufig viele Funktionäre gegen sich.
Mit 19 Millionen Mitgliedern (Nordrhein-Westfalen hat nicht ganz so viele Einwohner) ist die KPdSU keine Elite-, sondern eine Massenpartei. Sie regiert seit fast 68 Jahren ohne Unterbrechung. Aus den Berufsrevolutionären von ehedem sind inzwischen wohlbestallte Berufsbeamte geworden; viele sehen in der KPdSU vor allem den Karrierelift. Dementsprechend ist das Ansehen der Partei in der Bevölkerung gering.
Im zentralen wie im regionalen Parteiapparat arbeiten schätzungsweise eine halbe Million hauptamtlicher Funktionäre die nach jüngsten Klagen zu urteilen den Kontakt zu den vielgerühmten Massen vielfach verloren haben. Tschernenko hatte seinerzeit offen getadelt, daß die Funktionäre zu wenig in die Niederungen der Realitäten hinabstiegen und daß Parteiversammlungen perfekt geplante Galasitzungen zu Ehren der lokalen Partei-größen seien.
Hatte Chruschtschow noch alle Funktionäre, die seinen Vorstellungen nicht entsprachen, gnadenlos „in die Wüste geschickt" und damit große Unsicherheit bei den Apparatschiki ausgelöst, so wurde demgegenüber unter Breschnew die Devise „Vertrauen zu den Kadern" ausgegeben, womit die Funktionäre praktisch ihre Unkündbarkeit erreichten. Die Folgen einer solchen Personalpolitik wurden allerdings am Ende der Breschnew-Ära deutlich erkennbar: Überalterung der Führungskräfte, nachlassendes Verantwortungsgefühl, Günstlingswirtschaft, Korruption und Unfähigkeit. Andropow hat in den wenigen Monaten als Generalsekretär den Parteiapparat aus seiner Selbstgerechtigkeit aufgescheucht. Funktionäre, die seiner Meinung nach korrupt oder nicht effizient waren, wurden abgelöst. Gorbatschow setzt diese Linie fort.
Schlimmer als im Parteiapparat dürften die Mißstände in der Staats-, vor allem aber in der Wirtschaftsbürokratie sein, die zahlenmäßig erheblich stärker ist. Nachdem Andropow Generalsekretär geworden war, sah sich vor allem die Regierung massiven Attacken ausgesetzt. Unter Andropow wurden zehn von 64 Ministern und neun von 22 Staatskomiteevorsitzenden entlassen, die meisten, weil man sie für unfähig oder sogar für korrupt hielt. Damit sollte allen Vertretern der Staats-und Wirtschaftsverwaltung bedeutet werden, daß in Zukunft niemand mehr seines Sessels sicher sein durfte, der nicht seinen Verpflichtungen nachkam. Kurzfristig ist eine solche „Säuberung" der Regierung sicher nicht ohne Wirkung; Millionen von Bürokraten aber sind über Jahre hinweg nicht so leicht zu kontrollieren. Auf diese bezogen konstatierte 1984 ein vielbeachtetes Diskussionspapier einer Nowosibirsker Soziologin Partikularinteressen der Bürokratien auf mittlerer und höherer Ebene als Bremse für jegliche Veränderung in den Abläufen. In makrosoziologischer Betrachtung erklärt sie diese als Ergebnis eines überzentralisierten Systems und nicht als Fehlverhalten mangelhaft motivierter Funktionsträger
Die notorische Fixierung westlicher Analysen auf die Person des Generalsekretärs der KPdSU verstellt den Blick auf die strukturellen Konstanten in den Rahmenbedingungen sowjetischer Innen-und Wirtschaftspolitik. Die schieren Dimensionen des größten Flächenstaates der Erde (22, Millionen km 2 mit einer Ost-West-Ausdehnung von rund 10 000 Kilometern und einer Bevölkerung von 276 Millionen Menschen), integriert und kontrolliert von einem über Jahrzehnte gewachsenen zentralisierten System bürokratischer Steuerung, erschweren jeden Vergleich mit anderen sozialistischen Staaten, ganz zu schweigen von einem Vergleich mit westlichen Industriestaaten.
Zweifellos reduzieren die einem solchen System und den realwirtschaftlichen Dimensionen eigenen Trägheitsmomente den Wirkungsgrad jeglicher politischen Initiative von Anbeginn an auf Bruchteile der theoretisch entwickelten Konzepte. Die Vorstellung, die politische Zustimmung eines Generalsekretärs, ja auch eines ZK-Beschlusses oder eines Plandokuments für die wirtschaftliche Entwicklung habe eine höhere Chance zur Durchsetzung tiefgreifender Strukturveränderungen am Sozialprodukt oder gar einschneidender Korrekturen am etablierten Wirtschaftssystem als in den pluralistisch verfaßten Staaten des Westens, wird durch die Entwicklung der vergangenen 30 Jahre widerlegt.
Wichtiger Faktor hierbei ist das Phänomen einer mit Parkinsonscher Gesetzmäßigkeit wachsenden Bürokratie — logische Konsequenz der Dimension des Landes und eines historisch tief verwurzelten Mißtrauens sowjetischer Politik gegenüber irgendwelchen Abstrichen an der zentralen Kontrolle über gesellschaftliche Prozesse im Lande. Das Wirtschaftsleben wird im Zuge der Planaufstellung, Plandurchführung und Rechenschaftslegung durch eine Papierlawine zweifelhafter Relevanz gebremst. So beziffert das Akademiemitglied Alexej M. Rumjanzew das Volumen der jährlich umlaufenden Dokumente im Bereich der Wirtschaft auf 800 Milliarden, von denen er rund 90 Prozent als „nutzlos" bezeichnet 4). Beispielsweise sind für die Produktion eines einfachen Bügeleisens 60 Unterschriften erforderlich; der Umfang der gespeicherten Daten zu wirtschaftlichen Vorgängen betrug 1980 mehr als 1013 Informationseinheiten und steigt bei wachsender Komplexität der Wirtschaft zwangsläufig weiter. Das Problem sowjetischer Wirtschaftsplanung im traditionellen System zentraler Leitung wurde von dem sowjetischen Kybernetiker Viktor M. Gluschkow mit der Feststellung beschrieben, bei arithmetischem Wachstum der Produktion steige der Rechenaufwand der Planung im geometrischen Maßstab.
Der Einsatz elektronischer Datenverarbeitung stützt bei Fortbestehen der traditionellen vertikalen Organisationsstrukturen eher das Streben nach Vollständigkeit der statistischen Erhebung und hat bislang nur zu erheblich erhöhtem Papieraufwand und Personal-einsatz geführt. Wichtigster Einwand gegen die vermutete grundsätzliche Lösbarkeit des Dilemmas von „diseconomies of scale" ist die unausweichliche Verzerrung der verarbeiteten Informationen. Angesichts obsoleter Preise und der Praxis geschönter Berichterstattung durch Wirtschaftseinheiten auf der unteren und mittleren Ebene, die im Rahmen eines bestehenden Systems geplanter Erfolgs-indikatoren an einer Minimierung des Outputs bei gleichzeitiger Maximierung des In-puts interessiert geblieben sind, dringen bloße Rationalisierungsmaßnahmen nicht zum Kern der Probleme vor. Hieran hat sich nichts geändert; angesichts der langfristig eingespielten Gewohnheiten kann sich auch wehig ändern.
III. Bröckelnde Wirtschaftsbasis
Im Bereich der Wirtschaftspolitik ist die Ausgangslage für Gorbatschow alles andere als beruhigend. Verglichen mit anderen Bereichen der Innenpolitik ist die Dringlichkeit von Korrekturen in der Wirtschaftspolitik und der Reorganisation des Wirtschaftssystems ohne Zweifel am größten. In einer seiner jüngsten Reden sagte Gorbatschow: „Es darf keine Zeit verloren werden. Von der Lösung dieser Frage (des unzulänglichen Wachstumstempos) hängen die sozioökonomische Entwicklung des Landes, die Festigung seiner Verteidigungsfähigkeit und die Verbesserung des Lebens der sowjetischen Menschen ab.“
Einige Schlüsseldaten zur Entwicklung der sowjetischen Wirtschaft von 1966 bis 1984 mögen das Problem veranschaulichen Das Wachstum des verwendeten Sozialprodukts der UdSSR (in sowjetischer Definition das Materielle Netto-Produkt) verringerte sich von 7, 1 Prozent im Durchschnitt der Jahre 1966 bis 1970 auf 2, 6 Prozent im Jahr 1984. In den entsprechenden Zeiträumen halbierte sich das Wachstum der industriellen Brutto-produktion auf 4, 2 Prozent (1984), der Zuwachs der Investitionen sank von 7, 4 Prozent (1966 bis 1970) auf bloße 2 Prozent (1984). Starken Schwankungen war das Wachstum der landwirtschaftlichen Bruttoproduktion unterworfen; die durchschnittliche Wachstums-quote sank von immerhin 3, 9 Prozent in den Jahren 1966 bis 1970 auf 1, 7 Prozent (1976 bis 1980). Es folgte ein Rückgang um 2 Prozent im Jahr 1981. Nach leichter Erholung in den beiden folgenden Jahren stagnierte die Produktion 1984 auf dem Stand des Jahres 1983. Für den internationalen Vergleich wie auch für die Selbsteinschätzung sowjetischer Wirtschaftspolitik ist ein Vergleich der absoluten Größen des Bruttosozialprodukts (westlicher Definition) pro Kopf der Bevölkerung in der UdSSR und in den USA aufschlußreich. Diese statistische Meßgröße ergab für die UdSSR 1975 einen Stand von 49, 3 Prozent des Vergleichsvolumens für die USA. Seither hat sich der Abstand noch etwas vergrößert (das Pro-Kopf-Sozialprodukt der UdSSR betrug 1983 nur mehr rund 47 Prozent des amerikanischen). Auf ungleich niedrigerem absoluten Niveau signalisiert der Rückgang der Wachstumsraten des Sozialprodukts somit ein Einschwenken der sowjetischen Wirtschaftsentwicklung auf den frustrierenden Stagnationstrend westeuropäischer Volkswirtschaften zu Beginn der achtziger Jahre. Die Ursachen sind freilich andere. Neben kurzfristig wirksamen Faktoren (klimabedingte Ernteausfälle) machen sich langfristige Engpässe bei der Beanspruchung natürlicher und menschlicher Ressourcen bemerkbar, die sich korrigierenden Maßnahmen der Wirtschaftspolitik entziehen. So wachsen die Kosten der Erschließung von Energieträgern und Rohstoffen sowie ihres Transports über immer längere Entfernungen; der Zuwachs des Arbeitskräftepotentials bei unzulänglicher regionaler Mobilität dürfte bis 1990 0, 4 Prozent nicht übersteigen. Dabei können auch die unter Andropow eingeleiteten und nunmehr fortgesetzten Maßnahmen zur Disziplinierung des Faktors Arbeit und der verstärkte Druck auf die Betriebe zum Abbau innerbetrieblicher Arbeitskräfte-Reserven hier keine dauerhafte Entlastung bringen. Hemmend wirken sich auch die langjährige Vernachlässigung zentraler Bereiche der Infrastruktur (insbesondere im Transportsektor) und die generelle „Überdehnung" der Kapitaldecke durch forcierte Investitionen in neue Anlagen aus, die zu Lasten der Erneuerung von Ausrüstungen bestehender Betriebe ging. Mit diesen wenig flexiblen realwirtschaftlichen Begrenzungen sind zugleich die Entwicklungsmöglichkeiten der sowjetischen Wirtschaft bis zum Jahr 1990 umrissen: Nach Einschätzung der kompetentesten Analytiker des Westens liegt der Spielraum für das Wachstum der sowjetischen Wirtschaft zwischen 2 und maximal 3 Prozent jährlich
Angesichts der rückläufigen Verfügbarkeit extensiver Wachstumsfaktoren kommt dem technisch-organisatorischen Fortschritt — d. h.den realisierten wirtschaftlichen Innovationen — entscheidende Bedeutung bei der Sicherung eines befriedigenden Wirtschaftswachstums und des damit definierten verteilungspolitischen Spielraums zu Allerdings sind die diesem Faktor in den Jahren 1976 bis 1983 zurechenbaren durchschnittlich 0, 5 Prozent Wachstum des Bruttosozialprodukts im internationalen Vergleich zu wenig für einen optimistischen Ausblick in die nähere Zukunft. Entsprechend gilt denn auch diesem Problem die Hauptaufmerksamkeit in den angekündigten wirtschafts-und ordnungspolitischen Initiativen. So formulierte Gorbatschow auf dem außerordentlichen Plenum des Zentralkomitees der KPdSU am 11. März 1985, daß „die vordersten Positionen in Wissenschaft und Technik zu erreichen und in der Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit das Weltniveau zu erreichen" eine schwer zu bewältigende Aufgabe bleibe. Nach wie vor dämpfen die Erfolgsparameter für den März 1985, daß „die vordersten Positionen in Wissenschaft und Technik zu erreichen und in der Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit das Weltniveau zu erreichen" 9) eine schwer zu bewältigende Aufgabe bleibe. Nach wie vor dämpfen die Erfolgsparameter für den sowjetischen Manager die Bereitschaft zur Übernahme jener Risiken, die unvermeidlich mit Produkt-und Prozeßinnovationen verbunden sind. Unter dem Gesichtspunkt der erklärten Aufholstrategie ist andererseits die dramatische Beschleunigung im Tempo des technischen Fortschritts der führenden Industriestaaten des Westens in den letzten Jahren entmutigend.
Die Chancen der UdSSR, eine verschärfte Gangart im Rüstungswettlauf mit den USA durchzuhalten, hängen nur bedingt von der Fähigkeit der Politiker ab, das Wachstums-tempo der Volkswirtschaft zu steigern. In Betracht kommen hierfür wirtschaftspolitische Maßnahmen (Umstrukturierung der Investitionen, Lohndifferenzierung bei gleichzeitiger Verbesserung des Konsumgüterangebots) sowie ordnungspolitische Korrekturen am Wirtschaftssystem (Dezentralisierung von Entscheidungsbefugnissen, ohne freilich so weit in Richtung marktgesteuerter Mechanismen zu gehen wie Ungarn). Die Proportionen in der Verwendung des Sozialprodukts für Konsum (1982: 54 Prozent), Investitionen (33 Prozent) und Rüstung (13 Prozent) stehen hingegen nicht ernsthaft zur Disposition, da die innenpolitischen Risiken intensivierter Verteilungskämpfe zu groß wären. Innerhalb des gegebenen quantitativen Rahmens (definiert in Rubel und Prozent) 10) bleibt indes die Fähigkeit zur deutlichen Verbesserung der qualitativen Aspekte entscheidend. Dazu zählen: das technologische Niveau von Waffensystemen und Ausrüstungen, die Qualität der Ausbildung sowie die Flexibilität des militärischen Systems und der dieses tragenden zivilen Infrastruktur. Die Basis der sowjetischen Fähigkeit zur Großmacht hängt damit unmittelbar von der Durchsetzbarkeit von Reformen ab, die an die Substanz des etablierten Systems rühren, da sie einen Abbau direkter bürokratischer Kontrollen durch hochzentralisierte Apparate voraussetzen 11).
IV. Ein neuer Mensch oder der alte Adam?
Die Gründungsväter der Oktoberrevolution hatten erwartet, daß die arbeitende Bevölkerung, wenn sie erst einmal vom Joch des Kapitalismus befreit sei, das Werk des Sozialismus in großer Selbstlosigkeit vollenden würde. Der Elan, der damals viele noch beseelt hatte, ist jedoch inzwischen längst einer realistischen Einschätzung oder sogar einer Skepsis gewichen. Zum Teil ist die Bevölkerung sogar enttäuscht, da ihre Wünsche nach einer rascheren Erhöhung des Lebensstandards nicht erfüllt worden sind. Noch immer stehen dem Sowjetbürger nur neun Quadratmeter Wohnfläche zur Verfügung, eine Hausfrau in Moskau benötigt etwa zwei Stunden täglich zum Einkäufen Die Parteiführung wiederum will nicht verstehen, warum die arbeitende Bevölkerung so sehr gegen die Arbeitsdisziplin verstößt. Fast drohend erinnert man an ein „altes Ideal der sozialistischen Gerechtigkeit" (in Wirklichkeit ein Bibelwort): „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen." Mit Appellen allein aber wird man die Sowjetbürger kaum zu Höchstleistungen anspornen können.
Als die sowjetischen Dissidenten von sich reden machten, glaubten einige westliche Beobachter, daß bald aus dem Funken die Flamme schlagen werde. In Wirklichkeit aber blieben die Systemkritiker Einzelgänger. Eine Protestbewegung mit einer Massenbasis wie etwa in Polen erscheint im Augenblick in der Sowjetunion undenkbar; das Gros der Bevölkerung, vor allem die Russen, ist systemkonform. Man identifiziert sich, wenn schon nicht mit der Partei, so doch mit dem Staat. Vor allem der Sieg über das nationalsozialistische Deutschland hatte dem Land einen enormen patriotischen Auftrieb gegeben, der bis heute anhält. Während nach dem Zweiten Weltkrieg alle Kolonialreiche zerbrachen, konnte die Sowjetunion ein Imperium aufbauen, und es sind sicher auch nicht nur die Russen, die den Aufstieg der UdSSR zur Supermacht mit Genugtuung verfolgt haben. Offensichtlich hält die überwiegende Mehrheit der Sowjet-bürger Moskau ganz selbstverständlich für das einzig legitime Zentrum des sozialistischen Lagers und des Weltkommunismus.
Dagegen war es nur eine Handvoll von Regimekritikern, die sich vom Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten in die CSSR distanzierte. ____ Die Millionen, die der sowjetsozialistischen Ordnung ihre Karriere verdanken, haben auch wenig Grund, mit ihrem Staat unzufrieden zu sein. Intelligenten und ehrgeizigen Leuten haben sich Karrieren eröffnet, die ihren Eltern noch verschlossen waren. Ebenfalls hat der nach dem Zweiten Weltkrieg deutlich gestiegene Lebensstandard natürlich zur Konsolidierung der sowjetischen Herrschaft beigetragen. Es ist eine Erfahrungstatsache, daß man durch Wohlverhalten am ehesten in den Genuß besonderer Vergünstigungen gelangt. Für die Intelligenz ist das Maß der Unfreiheit sicher schwerer zu ertragen als für den Durchschnittsbürger. Im Vergleich zu der Zeit vor 1917 ist die sowjetische Intelligenz aber erstaunlich zurückhaltend. Sie versteht sich nicht mehr als das schlechte Gewissen der staatlichen Macht, sondern als deren Träger. Schließlich genießt sie große Privilegien und ist, wenn überhaupt, nur hinter verschlossenen Türen zu wirklicher Kritik am politischen System bereit.
Viele Anzeichen deuten allerdings darauf hin, daß in den letzten Jahren das Stimmungsbarometer in der Sowjetunion gefallen sein muß. Dies ist nicht zuletzt auf die unbefriedigende Situation des Warenangebots zurückzuführen. Inzwischen beurteilt die Bevölkerung die Zukunft ihres Landes pessimistischer Die Vision einer von Grund auf erneuerten Welt ist längst verblaßt, und der Glaube an die von der Partei verordneten Werte hat sehr stark an Boden verloren. Der Niedergang der Moral äußert sich in Form von Korruption auf allen Ebenen der Gesellschaft, Wirtschaftskriminalität und verschiedenen Verweigerungshaltungen (Alkoholismus, Drogensucht, Aussteigertum). Allenthalben wird eine Flucht in die Kunst, in die Religion oder ins Privatleben registriert.
Der Nonkonformismus ist in den nichtrussischen Nationalitäten der UdSSR stärker ausgeprägt als in der RSFSR, dem Siedlungsgebiet der Russen. Für Moskau sind die Tendenzen einiger Nationalitäten und Religionsgemeinschaften, sich mehr Luft zu verschaffen, viel ernster als die als Polemiken perzipierten Äußerungen der Dissidenten, denn die baltischen und kaukasischen Völker sowie ein Teil der Ukrainer haben sich den Russifizierungstendenzen nachdrücklich widersetzt. Auf alle Überfremdungsversuche reagiert man mit einem prononcierten Nationalgefühl. Der Anteil der Russen an der Gesamtbevölkerung, gegenwärtig 52 Prozent, wird zu Beginn des neuen Jahrhunderts auf 46 Prozent zurückgehen. Gleichzeitig wird der Anteil der mittelasiatischen Völker von heute 14 Prozent auf 21 Prozent steigen. Sollten diese Berechnungen stimmen, dann würde in Jahren die Jugend der zentralasiatischen Unionsrepubliken 40 Prozent der sowjetischen Jugend ausmachen — kein einfaches Problem für die sowjetischen Streitkräfte und die Arbeitskräftepolitik. Allerdings ist die Annahme, die Sowjetunion werde am Nationalitätenproblem zugrunde gehen, wohl nur Wunschdenken mancher Beobachter.
V. Ideologischer Stillstand
Zwar hält die sowjetische Propaganda unverändert an den alten Leitbildern des Marxismus-Leninismus fest, hinter den stehengelassenen Fassaden der Ideologie jedoch hat sich in der Bevölkerung eine Bewußtseinsveränderung vollzogen. Andrej Sacharow hat darauf bezogen schon vor Jahren vom Absterben des Marxismus-Leninismus gesprochen 15) — eine ironische Umkehrung des Leninschen Postulats vom Absterben des Staates. Nichtsdestoweniger sind die Grundwerte der marxistischen Ideologie präsent, teils weil sie der Bevölkerung nach jahrzehntelanger Indoktrination in Fleisch und Blut übergegangen sind, teils weil sie inzwischen mit dem Sowjetpatriotismus zu einer unlösbaren Einheit verschmolzen sind.
Wenn freilich die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Erstarrung der Sowjetunion einer neuen Dynamik weichen sollte, müßte die sowjetische Ideologie auf mittlere Sicht entrümpelt werden. In der jüngsten Vergangenheit hat es Versuche gegeben, wenigstens auf zwei Gebieten neue Fragen zuzulassen. Einige Ideologen erkannten an, daß es auch im Sozialismus antagonistische Widersprüche geben könnte, also Konflikte wie zum Beispiel in Ungarn 1956, in der ÖSSR 1968 und in Polen 1980/81. Sicher war dies keine sensationelle Erkenntnis, sie stellte aber immerhin eine Annäherung an die Wahrheit und für Dogmatiker alter Prägung eine Häresie dar. Die Verfechter der Theorie von den antagonistischen Widersprüchen, als deren Schutzpatron Tschernenko angesehen werden konnte, mußten allerdings 1984 kapitulieren
Eine Weile konnte man auch den Eindruck gewinnen, als sei man in der Sowjetunion sogar bereit, die Frage nach dem Sinn des Lebens mit größerem Freimut diskutieren zu lassen doch würgten auch hier die Dogmatiker eine Neubesinnung sehr rasch ab. Generell wurde statuiert, daß der Kernbestand der „reinen Lehre" nicht revidiert werden könne. So erklärte Tschernenko diesbezüglich auf dem ZK-Plenum im Juni 1983: „Doch es gibt Wahrheiten, die keiner Veränderung unterliegen, Probleme, die seit langem und eindeutig gelöst wurden." Im Rahmen einer derart restriktiven Auslegung des Marxismus-Leninismus bleibt es beim Recycling der sattsam bekannten Dogmen. Auch als Gorbatschow 1984 die Zuständigkeit auf dem ideologischen Sektor erhalten hatte, war nichts von einer größeren Flexibilität zu spüren, allerdings könnte er weniger Wert auf ideologische Finessen legen und sich stärker für konkrete Resultate in Wirtschaft und Gesellschaft interessieren.
VI. Der Weltkommunismus
Die Politiker in Moskau glaubten und glauben, im Marxismus-Leninismus ein einzigartiges Instrument zu besitzen, das ihnen Röntgenbilder vom inneren Zustand der Staaten in der ganzen Welt liefern werde. Vom Standpunkt ungebundener Beobachter waren ihre Diagnosen allerdings ganz und gar nicht überzeugend. Obwohl sie Deutschland, England, Frankreich, Italien und die USA aus eigener Anschauung kannten, hatten Lenin und seine Mitstreiter ziemlich unrealistische Vorstellungen von „den Arbeitern" im Westen. Ihre ungeduldige Hoffnung auf eine proletarische Revolution in den Industrieländern blieb eine Fata Morgana. Statt dem Ruf des Marxismus zu folgen, leisteten die deutschen Arbeiter 1941 überwiegend dem Befehl Hitlers Gehorsam, der den Sowjetstaat vernichten wollte. Aus sowjetischer Sicht aber hatten sich freilich Lenins Lehren gerade in den kritischsten Momenten bewährt. Hatte nicht 1945 die Kommunistische Partei, gestützt auf den Marxismus-Leninismus, den Sieg über das nationalsozialistische Deutschland davongetragen? Regieren nicht inzwischen in 15 Ländern die Kommunisten? Sind nicht andere Staaten wie Afghanistan, Kambodscha, Angola und vielleicht sogar Nicaragua auf dem besten Wege, sozialistische Staaten im Sinne Moskaus zu werden? Gibt es nicht inzwischen 94 kommunistische Parteien mit 80 Millionen Mitgliedern? Diese Bilanz steckt voller Beschönigungen, wenn nicht Unwahrheiten. Was als Triumph des Sozialismus gefeiert wird, war oft in Wirklichkeit nur das Ergebnis einer brutalen Machtpolitik. Den Polen, Ostdeutschen, Rumänen, Bulgaren, Ungarn und Nordkoreanern ist das kommunistische System aufoktroyiert worden. Aus eigener Kraft siegten die Kommunisten allerdings in Jugoslawien, China und Vietnam. In Kuba bekannten sich die Revolutionäre erst nach ihrem Sieg zum Marxismus-Leninismus. Die sozialistischen Länder aber, die nicht unmittelbar von der Sowjetunion kontrolliert werden konnten, entzogen sich meistens dem ideologischen und politischen Unfehlbarkeitsanspruch: Jugoslawien, Albanien, China und Nordkorea. Viele der nichtregierenden kommunistischen Parteien, die die sowjetischen Propagandisten für ihre Zwecke bemühen, sind zumindest numerisch bedeutungslos: die Parteien Amerikas (Kuba ausgenommen), Afrikas und des Nahen Ostens. Eine Reihe kommunistischer Parteien, darunter die mitgliedstarke KP Italiens, hat sich von Moskau getrennt und steht auf eigenen Füßen. Selbst die KP Frankreichs, die bei weitem nicht so widerborstig wie ihre italienische Schwesterpartei war, hatte wiederholt Probleme mit der KPdSU.
Der Marxismus-Leninismus, wie ihn die sowjetischen Gralshüter vertreten, hat in der Welt erheblich an Attraktivität eingebüßt. Seinerzeit wurden die Schriften von Lenin, Trotzkij und Bucharin, ja selbst die von Stalin von Tausenden gelesen. Heute nimmt man die Broschüren von Boris Ponomarjow nicht einmal mehr zur Kenntnis. Die sowjetische Propaganda macht es sich zu einfach, wenn sie „beispiellose" Kampagnen des Imperialismus für das nachlassende Echo ihrer Ideologie verantwortlich macht.
Die Ausweitung des sozialistischen Lagers hat auch nicht zu einem automatischen Machtzuwachs Moskaus geführt; der Abfall Pekings illustriert das deutlich. Nicht einmal im engsten Bezirk dieses Lagers, in der Sozialistischen Staatengemeinschaft, kann sich die UdSSR allzu sicher fühlen. Kuba und Vietnam sind wirtschaftliche Zuschußgeschäfte, Polen eine Belastung, Rumänien ein langjähriges Problem. Obwohl sich in den jüngsten Jahren ausschließlich Länder der Dritten Welt dem sowjetischen Imperium anschlossen wie Kuba, Vietnam sowie Laos, und andere Staaten wie Äthiopien und Angola sich an Moskau orientieren, hat der Kreml den weltrevolutionären Prozeß nicht aufgegeben. Das Gesetz, unter dem die russischen Kommunisten 1917 angetreten sind, läßt es offensichtlich nicht zu, daß die UdSSR sich als saturierte Großmacht begreift. Selbst wenn sich Kräfte in der Sowjetunion durchsetzten, die inzwischen die Folgekosten des proletarischen Internationalismus scheuen, könnten sie den weltrevolutionären Prozeß, der sich verselbständigt, nicht mehr stoppen.
Alles wird davon abhängen, wieviel sich Moskau die „Sympathien" für die Revolutionäre kosten lassen kann. Einige „progressive" Regime wie etwa Mocambique haben in jüngster Zeit zu spüren bekommen, daß die sowjetischen Geldquellen nicht sehr stark sprudeln.
VII. Osteuropa — eine Krisenzone
Die UdSSR betrachtet Bulgarien, die SSR, die DDR, Polen, Rumänien und Ungarn als unverzichtbare Bastionen an ihrer Westgrenze. Diese Staaten gehören dem Warschauer Pakt an und müssen mit einem militärischen Eingreifen rechnen, wenn sie sich zu weit von den in Moskau festgesetzten Normen innen-und außenpolitischen Wohlverhaltens entfernen. Von Anfang an waren Moskaus Beziehungen zu seinen osteuropäischen Zwangs-verbündeten mit schweren Hypotheken belastet. Die Mehrheit der Osteuropäer erkennt allem Anschein nach die Sowjetunion nicht als eine politisch wie wirtschaftlich effiziente oder kulturell höherstehende Macht an. Polen, Ostdeutsche, Tschechen, Slowaken, Rumänen, Ungarn und auch die Bulgaren haben traditionell stärkere Bindungen an den Westen als die Sowjetunion. Wie schwer sich der Sowjetsozialismus in Osteuropa einbürgern läßt, hat man erst vor geraumer Zeit in Polen erleben können, wo binnen Wochen eine unabhängige Gewerkschaftsbewegung mit zehn Millionen Mitgliedern entstand. Auf natürliche Weise ist die UdSSR in den Ländern des Warschauer Pakts ganz offenkundig nicht hegemoniefähig. Ihre Vormachtstellung basiert im wesentlichen auf ihrer militärischen Stärke.
Stagnation und Führungsschwäche, die sich seit den letzten Breschnew-Jahren immer deutlicher in Moskau bemerkbar machten, haben den Osteuropäern vor allem in der Wirtschaftspolitik größere Spielräume beschert. Verglichen mit dem Immobilismus der Sowjetunion bieten heute die Staaten Osteuropas ein Bild relativer Vielfalt. Rumänien verfolgt schon des längeren außenpolitisch, Ungarn wirtschaftlich einen eigenen Kurs.
Das krisengeschüttelte Polen erfuhr in der Stunde der Not aus Moskau Kritik, erhielt aber weder ausreichende Finanzhilfe noch ein erfolgversprechendes Rezept, um der Wirtschaftsmisere Herr zu werden. Wojciech Jaruzelski sucht dementsprechend eine nationale Lösung. Trotz Knebelung der „Solidarno" erlaubt sein Regime den Polen eine Meinungsvielfalt, wie sie in keinem anderen Land Osteuropas herrscht.
Als die Sowjetunion nach dem Abbruch der Gespräche in Genf eine Politik der Verweigerung und Selbstisolierung betrieb, nahmen es einige osteuropäische Staaten auf sich, den Dialog mit den Westeuropäern weiterzuführen. Der ungarische ZK-Sekretär Mätyäs Szürös wies angesichts der Sprachlosigkeit der Supermächte expressis verbis den kleinen und mittleren Staaten die Aufgabe zu, ein günstiges Verhandlungsklima zwischen Moskau und Washington vorzubereiten Erich Honecker und Todor Schiwkoff hatten sich Ende 1984 für einen Besuch in der Bundesrepublik angesagt und stellten erst auf Druck Moskaus diese Reisen zurück. Janos Kadar freilich reiste unbeirrt nach Paris.
Gorbatschow hat es im Warschauer Pakt mit Parteiführern zu tun, die deutlich selbstbewußter auftreten als noch zu Breschnews Zeiten. Wenn er die Entfremdung zu den osteuropäischen Verbündeten nicht größer werden lassen will, muß er ihnen mehr Leine lassen. Dies aber liefe letzten Endes auf einen gewissen politischen Spielraum, einen begrenzten Pluralismus hinaus.
Solange andererseits die osteuropäischen Länder nicht den Weg gehen können, den sie selbst gewählt haben, ist und bleibt Osteuropa mit seinen mehr als 100 Millionen Einwohnern eine von politischen Erdbeben gefährdete Zone.
VIII. Schwierige sozialistische Staaten
Außer den sechs osteuropäischen Ländern gehört noch die Mongolische Volksrepublik zum Kernbestand des sowjetischen Hegemonialverbunds. Kuba und Vietnam, die Mitglieder des RGW sind, sowie Laos zählen zwar ebenfalls zur „Sozialistischen Staatengemeinschaft", könnten aber, falls sie einen abweichenden Kurs verfolgen wollten, wegen der räumlichen Entfernungen nicht so leicht zum Einlenken gezwungen werden. Sie sind gegenwärtig wirtschaftlich wie waffentechnisch sehr stark auf die Unterstützung der Sowjetunion angewiesen. Vier weitere sozialistische Staaten, nämlich Albanien, China, Jugoslawien und Nordkorea, erkennen Moskau politisch und ideologisch nicht mehr als Zentrum an. Am schärfsten sind die chinesischen Kommunisten in den sechziger Jahren mit der UdSSR ins Gericht gegangen. Sie hatten 1966 die Beziehungen zur KPdSU abgebrochen und der Sowjetunion den Charakter eines sozialistischen Staates abgesprochen. Seit dem Sturz Chruschtschows sind von Moskau fast verzweifelte Anstrengungen unternommen worden, die Kontakte zu Peking zu verbessern. China verlangte allerdings als Voraussetzung für eine Normalisierung bis vor kurzem einen hohen Preis: die Reduzierung der sowjetischen Truppenstärke an seiner Nordgrenze, Abzug der sowjetischen Truppen aus der Mongolei und Afghanistan und schließlich Distanzierung von Vietnams Expansionsdrang. Spätestens seit dem Amtsantritt Andropows hat man in Moskau den Zeitpunkt für günstig gehalten, eine Teileinigung mit den chinesischen Kommunisten anzustreben. Nachdem Gorbatschow zum Generalsekretär gewählt worden war, zeigte er in seiner Antrittsrede vor dem ZK eine so deutliche Bereitschaft, mit Peking in Verhandlungen einzutreten, daß die chinesische Seite nicht nur den neuen sowjetischen Parteichef als „Genosse" titulierte, sondern die Sowjetunion wieder in den Rang eines sozialistischen Staates erhob Die Wiederaufnahme von Beziehungen zwischen der KPdSU und der KP Chinas sind damit in den Bereich der Möglichkeiten gelangt.
Noch ist nicht zu erkennen, ob Peking seine alten Forderungen (sowjetischer Abzug aus Afghanistan sowie der Mongolei, Truppenverdünnung an der gemeinsamen Grenze sowie Absage an den militärischen Ehrgeiz Vietnams) auf dem Altar sowjetisch-chinesischer Annäherung teilweise zu opfern gedenkt. Daß die Sowjets sich aus Afghanistan zurückziehen und ihre dortigen Verbündeten dem sicheren Untergang überlassen, läßt sich kaum vorstellen. Es ist auch nicht zu erkennen, daß sie die Vietnamesen zur nationalen Selbstbeschränkung auffordern wollen oder können.
Selbst wenn es zu einer Annäherung zwischen Moskau und Peking kommt, sind die vielen offenen Fragen der beiden Kontrahenten nicht gelöst. Eine neue Allianz der Volksrepublik China mit der Sowjetunion wie zur Zeit Stalins dürfte sich nach allen bitteren Erfahrungen Pekings allerdings verbieten.
Es ist nicht ausgeschlossen, daß man in Moskau früher oder später die Idee des Weltkommunismus dadurch wiederbeleben könnte, daß man das Gemeinsame der verschiedenen Parteien unter Ausklammerung des Trennenden hervorhebt. 1984 erklärte Gorbatschow in Rom, die Kritik Enrico Berlinguers sei nicht umsonst gewesen. Es ist allerdings noch ein weiter Weg, bis Moskau den internationalen Kommunismus gewissermaßen durch eine ökumenische Bewegung ersetzen könnte. Bemühungen um ein Weltkonzil sind bislang nicht erfolgreich gewesen
IX. Die Beziehungen zum Westen
Als die Vereinigten Staaten 1975 Vietnam aufgaben und unter dem Schock des militärischen Mißerfolgs ihr Engagement in der Dritten Welt verringerten, scheint man in Moskau geglaubt zu haben, der „Imperialismus" sei generell auf dem Rückzug. Noch auf dem XXV. Parteikongreß der KPdSU (1976) äußerte sich Breschnew in kaum verhohlener Siegeszuversicht: „Buchstäblich vor unseren Augen ändert sich die Welt, und sie ändert sich zum Besseren." Nicht nur Südvietnam, sondern auch Laos und Kambodscha wurden in den kommunistischen Machtbereich einbezogen, die Sowjetunion vermochte ihren Fuß in die Türen von Südjemen, Äthiopien, Angola und Mocambique zu setzen.
Die Entspannungspolitik in Europa, die 1975 in der Schlußakte von KSZE ihren Ausdruck fand, konnte von einer verstärkten sowjetischen Aufrüstung begleitet werden, ohne daß dies im Westen zunächst große Aufmerksamkeit auf sich gezogen hätte. Erst als die Sowjetunion 1979 in Afghanistan einmarschierte, wuchs in Washington die Entschlossenheit, der sowjetischen Herausforderung massiv entgegenzutreten.
Ende 1979 wurde die sowjetische Führung, die unbeeindruckt von Warnungen westlicher Politiker seit 1977 SS-20 Mittelstreckenraketen aufgestellt hat, durch den Doppelbeschluß der NATO spürbar irritiert. Noch gereizter reagierte sie, als die westeuropäischen Staaten trotz einer intensiven Einschüchterungskampagne nicht von der Aufstellung der Pershing II-Raketen und Cruise Missiles abgeschreckt werden konnten. So war es eine Geste frustrierter Hilflosigkeit, als Moskau die Genfer Verhandlungen verließ. Die sich anschließende Phase der Selbstisolierung ist sicherlich auch im Zusammenhang mit Unsicherheiten in der Führung der Partei zu sehen. Sie bot gleichzeitig aber Gelegenheit zu einer Zwischenbilanz der gesamten Außen-und Sicherheitspolitik. Selbstgefällige und auftrumpfende Töne, wie sie noch am Ende der Ära Breschnew die sowjetische Propaganda durchzogen („Verschiebung der Kräfte-verhältnisse zugunsten der Sache des Sozialismus"), traten zurück; in den sowjetischen Analysen mehrten sich Formulierungen, die auf die Folgekosten einer weiteren Ausdehnung des Engagements in der Dritten Welt hinweisen.
Erst die Ankündigung des amerikanischen Programms zur Entwicklung eines Systems weltraumgestützter Abwehrwaffen (SDI) bot eine Gelegenheit zur Wiederaufnahme des Dialogs mit den USA, der dann mit dem Besuch Außenminister Gromykos im Weißen Haus im September 1984 begann. Bemerkungen sowjetischer Politiker lassen erkennen, daß sich Moskau fürs erste von diesem amerikanischen Programm selbst nicht ernsthaft gefährdet sieht. Die Führung der UdSSR mußte jedoch erkennen, daß sie in den USA einen Rivalen gefunden hat, der die Geschäftsgrundlage der bilateralen Beziehungen in den siebziger Jahren — das Prinzip der Gleichheit und der gleichen Sicherheit — nicht länger akzeptiert und, gestützt auf ein ungeheures ökonomisch-technologisches Potential, Überlegenheit anstrebt. Um so schwerer wiegt die Erkenntnis eigener Schwächen im Bereich technologischer Innovationen und wirtschaftlicher Belastbarkeit.
In dieser Situation kommt Westeuropa, das auf den sowjetischen Einschüchterungsversuch mit engerer sicherheitspolitischer Anlehnung an die USA reagiert, gleichzeitig aber auf der Fortsetzung des politischen Dialogs und der ökonomischen Kooperation mit der UdSSR bestanden hatte, gesteigerte Bedeutung zu. Im Vordergrund stehen die Wirtschaftsbeziehungen angesichts einer mittelfristig nicht reversiblen Abhängigkeit der Sowjetunion von Importen westlicher (keineswegs nur militärisch relevanter) Technologie, während sich gleichzeitig ihre Exportchancen bei schrumpfender Nachfrage und sinkenden Preisen für Energieträger verringern. Der Appell an die Staaten Westeuropas zum behutsamen Umgang mit dem „gemeinsam bewohnten Haus Europa" ist logische Konsequenz einer Situation, in der der Hauptrivale weit weniger kooperationsbereit ist. Wieweit freilich eine solche „Außenpolitik der zweiten Wahl"
eine Abkoppelung Westeuropas von den USA fördern kann, hängt weniger von den Sirenen-klängen sowjetischer Propagandisten ab als von der Standfestigkeit westeuropäischer Politik beim Ausbau eines eigenen Standorts.
X. Der verbleibende Spielraum
Selbst wenn man eine rasche Konsolidierung der innenpolitischen Machtbasis des neuen Generalsekretärs in der sowjetischen Führung unterstellte, bliebe der Spielraum für neue Initiativen oder gar Durchbrüche gering. Die zweite Hälfte der achtziger Jahre muß für die Sicherung des in der sowjetischen Wirtschaft und Gesellschaft Erreichten genutzt werden. Die Quellen früherer Dynamik im Inneren sind erschöpft, ohne daß damit freilich ein Zusammenbruch des Sowjetstaates zu erwarten wäre. Das Eigengewicht des Produktionspotentials dieses Staates und die Reserven eines jederzeit verstärkt mobilisierbaren Patriotismus dürfen keinesfalls unterschätzt werden.
In der Außenpolitik deutet alles auf Sicherung des Imperiums, vor allem in Osteuropa hin, bestenfalls auf ein fortgesetztes behutsames Wahrnehmen sich bietender Gelegenheiten. Eine gesteigerte Bereitschaft zum militärischen Konflikt mit den USA ist auszuschließen. Kosten/Nutzen-Überlegungen dürften bei Aktivitäten in der Dritten Welt eine wachsende Rolle spielen und wohl auch mit zunehmender Kompetenz der Führung berücksichtigt werden. Erst nach einer Atempause kann wohl wieder mit einer sowjetischen Außenpolitik gerechnet werden, die die Herausforderung der Führungsmacht des Westens annimmt.