I. Vorbemerkung
Kaum ein Tag vergeht in diesen Wochen, an dem nicht etwas zu lesen, zu hören oder zu sehen ist über den 8. Mai 1945: 40 Jahre Kriegsende, bedingungslose Kapitulation, Zusammenbruch, „Stunde Null“, „Befreiung vom Faschismus". Je nach politischem Standort erscheint das Jahr 1945 als Jahr der Erinnerung und des Gedenkens, der 8. Mai als Chance für einen demokratischen Neubeginn in Deutschland, aber auch als der Anfang vom Ende der Einheit des Landes. Vier Jahre später gab es zwei deutsche Staaten; fast auf den Tag genau zehn Jahre nach der Kapitulation endete im Mai 1955 für den westdeutschen Staat das Besatzungsregime, wurde die Bundesrepublik Deutschland souverän und Mitglied der NATO.
Der Preis für diese von Bundeskanzler Konrad Adenauer forcierte Entscheidung war die Festschreibung der Teilung. Ob dieser Preis nicht zu hoch war, ob es damals nicht doch 'einen anderen Weg der deutschen Geschichte gab, den zu gehen — oder zumindest doch zu prüfen! — es sich im Sinne der Einheit Deutschlands wohl gelohnt hätte, dies war das Thema erbitterter Kontroversen in den Anfangsjahren der Republik. Die erstaunlich erfolgreiche Geschichte der Bundesrepublik in den folgenden Jahren hat diese Kontroverse nur überdeckt, nicht beendet; die Argumente der Kritiker Adenauers haben bis heute nichts von ihrer Gültigkeit verloren.
Eine neue Generation beginnt, die alten Fragen und Kontroversen neu zu diskutieren.
Und je mehr Akten aus den fünfziger Jahren zur Verfügung stehen, um so solider wird die Grundlage, auf der diese Debatte geführt werden kann. Ob die Antworten anders ausfallen werden, bleibt abzuwarten.
Ausgangspunkt der Kontroverse war und ist jene berühmte „Stalin-Note“ vom 10. März 1952, in der die sowjetische Regierung die Wiedervereinigung eines blockfreien, bewaffneten Deutschland anbot. Adenauer wischte dieses Angebot ohne Prüfung vom Tisch, denn ein solches Deutschland hatte keinen Platz in seinem Denken; Neutralisierung hieß für ihn Sowjetisierung. Für ihn hatte die Westintegration der Bundesrepublik absolute Priorität. Souveränität und Wiederbewaffnung waren dabei zwei Seiten ein und derselben Medaille. In diesem Sinne forcierte er die politische, wirtschaftliche und ab Herbst 1950 auch militärische Bindung der Bundesrepublik an den Westen. Damit wollte er gleichzeitig die Stärkung Westeuropas und des Westens insgesamt, um dann möglicherweise später — gemeinsam und gleichberechtigt mit den Westmächten — aus einer Position der Stärke heraus mit der Sowjetunion die Wiedervereinigung auszuhandeln.
Die Wiederbewaffnung war dabei zunächst das schwierigste Problem. Die Lösung, nämlich die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG), d. h. eine europäische Armee, mit Soldaten in europäischer Uniform, mit supranationalen Institutionen, die zu einer Europäischen Politischen Gemeinschaft ausgebaut werden sollten, war eine französische Idee, im Herbst 1950 geboren, in erster Linie gedacht als Mittel, die westdeutsche Wieder-bewaffnung zu kontrollieren und deutsche Soldaten in deutschen Uniformen zu verhindern. Als die Westverträge unterschriftsreif waren, kam das Angebot Stalins. Die sich daran anschließende „Notenschlacht" endete mit einem Sieg der Westmächte, der ohne die aktive Unterstützung durch Adenauer in dieser Form wohl schwerlich möglich gewesen wäre. Die Weigerung Adenauers aber, das sowjetische Angebot auf seine Ernsthaftigkeit zu prüfen, war gleichbedeutend mit dem „Verlust der gesamtdeutschen Unschuld", wie dies der Politologe Waldemar Besson genannt hat -Von nun an stand Adenauer unter Erfolgs-zwang; eine erfolgreiche Westpolitik mußte diese Entscheidung legitimieren. Mit dem Schicksal der Westverträge verknüpfte er jetzt weitgehend auch das Schicksal seiner Deutschland-und Europapolitik. Dabei ließ er sich durch nichts beirren. Als 1953 nach dem Tode Stalins Sir Winston Churchill bereit war, auf einer „einsamen Pilgerfahrt" in Moskau über ein vereintes, neutralisiertes Deutschland zu verhandeln, „falls dies die Deutschen wünschen", wurde Adenauer nicht zum Partner, sondern zum erbitterten Gegenspieler des britischen Premierministers. Dies alles gilt es zu bedenken, wenn im folgenden über das Scheitern der EVG und die Ersatzlösung, nämlich den Beitritt der Bundesrepublik zur NATO, gesprochen wird.
II. „ 30. August 1954 — Schwarzer Tag für Europa" 1a)
Am 30. August 1954 notierte Heinrich Krone, damals Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, in sein Tagebuch: „Die französische Nationalversammlung lehnt die Europäische Verteidigungsgemeinschaft ab. Der Deutsche Bundestag hatte den Vertrag am 19. März 1953 mit großer Mehrheit angenommen. Hier geht mehr vor sich, als daß nur ein Vertrag abgelehnt wird. Hier wird eine große Idee verworfen. Ein Anschlag gegen Europa. Ein schwarzer Tag. Müssen die Europäer die Fahne einziehen? Ein Schlag für den Kanzler. Ihm war die Europäische Verteidigungsgemeinschaft die Grundlage eines neuen Europa, die Abkehr von jeglichem Nationalismus, der Aufbau einer übernationalen europäischen Welt."
Wenige Stunden zuvor hatte sich die französische Nationalversammlung mit 319 gegen 264 Stimmen für den Antrag des Abgeordneten Aumeran ausgesprochen, der eine sofortige Absetzung der Debatte über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) gefordert hatte.
Damit war die EVG endgültig gescheitert und zugleich auch der erste Anlauf für einen westeuropäischen Bundesstaat zunichte gemacht worden. In Bonn standen die Vorkämpfer der EVG vor einem Scherbenhaufen. Der Schuldige war in der ersten Erregung schnell gefunden: der französische Ministerpräsident Pierre Mendös-France, für Konrad Adenauer ein „Spieler ohne feste Konzeptionen für Heinrich Krone „ein Liberaler", der „bewußt die Periode christlicher Europa-Politik (liquidiert)"
Das Votum der französischen Nationalversammlung war eine epochale Entscheidung; der 30. August gilt denn auch zu Recht als ein historisches Datum. Mit diesem Tage ging allerdings nicht nur ein bestimmter Abschnitt der Nachkriegsgeschichte zu Ende, er machte zugleich auch den Weg frei für neue Überlegungen, die wenige Monate später, am 9. Mai 1955, mit dem Beitritt der Bundesrepublik zur NATO ihr Ende fanden.
Steht somit die Bedeutung jener Ereignisse außer Frage, so ist es um so bedauerlicher, daß aufgrund fehlender Quellen die Entscheidungsprozesse vor jenem 30. August bisher nur unzureichend nachvollzogen werden konnten Mit der Veröffentlichung eines Teils der amerikanischen Akten im Jahre 1983 und der Freigabe der britischen Akten in diesem Jahr hat sich die Quellenlage aber inzwischen erheblich verbessert. Im folgenden wird daher der Versuch unternommen, einige Aspekte jener dramatischen Wochen und Tage näher zu beleuchten.
III. Churchill in Washington (25. — 29. 6. 1954): Kein Junktim mehr zwischen EVG-und Deutschlandvertrag
Am 26. Mai 1952 hatten die Außenminister der drei Westmächte, Dean Acheson, Anthony Eden und Robert Schuman sowie Konrad Adenauer in Bonn den „Vertrag über die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Drei Mächten" für den Adenauer sogleich die einprägsame Bezeichnung „Deutschlandvertrag" fand, unterzeichnet; er sollte das Besatzungsregime — bis auf wenige Vorbehalte — beenden. Am nächsten Tag wurde in Paris der Vertrag über die EVG unterzeichnet, mit dem der westdeutsche Wehrbeitrag im Rahmen der europäischen Armee sichergestellt werden sollte. Zwischen beiden Verträgen bestand ein Junktim, d. h., sie konnten nur gemeinsam in Kraft treten. Adenauers Hoffnung auf eine schnelle Ratifizierung erfüllte sich in der Folgezeit aber nicht. Zwar gelang es nach vielen Mühen endlich im Frühjahr 1953, die Verträge durch das Bonner Parlament verabschieden zu lassen, aber in Paris wagte es keine Regierung, der Nationalversammlung die Verträge zur Ratifizierung vorzulegen. Dies war die Situation, als am 18. Juni 1954 Pierre Mends-France neuer französischer Ministerpräsident wurde. Mehr als zwei Jahre nach der Unterzeichnung der Verträge, in denen Paris immer wieder „Nachbesserungen" gefordert und durchgedrückt hatte, war die Geduld der Amerikaner und Briten zu Ende; sie wollten die Sache jetzt zu Ende bringen.
Die EVG war eines der herausragenden Themen bei dem Besuch des britischen Premierministers Winston Churchill und seines Außenministers Anthony Eden vom 25. bis 29. Juni in Washington. Am 27. Juni stand dieses Thema zum erstenmal auf der Tagesordnung. Der amerikanische Außenminister John Foster Dulles wies auf die wachsende Ungeduld des Pentagon hin; das State Department habe den eigenen Militärs die Zusage gegeben, daß die Angelegenheit nach Abschluß der Berliner Außenminister-Konferenz (25. 1. — 18. 2. 1954) entschieden werde, dies habe man jetzt für das Ende der Indochina-Konferenz zugesagt. Wenn jetzt nichts geschehe, bestehe die Gefahr, daß sich jene Militärs durchsetzen würden, die für eine Rand
Verteidigung („peripheral defense") Europas plädierten, d. h. für einen Rückzug der Amerikaner aus Mitteleuropa und die Verteidigung Europas von den europäischen Randgebieten aus. Dwight D. Eisenhower intervenierte: Wenn die Franzosen die EVG weiter verzögerten, müßten sie mit der Alternative einer NATO-Mitgliedschaft Deutschlands konfrontiert werden, so oder so müßten sie sich entscheiden. Es war Anthony Eden, der darauf hinwies, daß bei einer Ablehnung der EVG die Franzosen bei einer NATO-Lösung die gleichen Schwierigkeiten machen würden. Es sei aber eine Illusion, und die Franzosen hätten offensichtlich diese Illusion, zu glauben, die Deutschen würden bei einem Beitritt zur NATO die gleichen Beschränkungen akzeptieren wie im EVG-Vertrag.
Damit war man wieder am Ausgangspunkt angelangt. Eisenhower, unterstützt von Unterstaatssekrätär General Bedell Smith, zeigte sich tief besorgt über eine deutsche Nationalarmee und einen deutschen Generalstab und lehnte die NATO-Lösung ab; für ihn gebe es „keine befriedigende Alternative zur EVG"; den Franzosen müsse man ihre Illusionen nehmen; wenn sie nicht bald eine Entscheidung zwischen NATO und EVG treffen würden, dann seien sie für ihn sowieso nur noch ein „hoffnungsloser, hilfloser Haufen Protoplasma". Churchill hakte nach und betonte, wenn nicht bald eine Entscheidung in Paris falle, müßten jene Länder, die die eigentlichen Eckpfeiler der westlichen Allianz seien, nämlich die USA, Großbritannien und Deutschland, eben ohne die Franzosen handeln. Für Eisenhower war klar, daß man es sich nicht leisten konnte, Deutschland zu verlieren, selbst wenn man Frankreich verliere. Würde die französische Nationalversammlung in der laufenden Sitzungsperiode keine Entscheidung treffen, so Eden, dann seien die Sowjets in der Lage, „die Deutschen auf ihre Seite zu ziehen". Man müsse in der Lage sein, notfalls schnell zu handeln, so Dulles, und für diesen Fall müsse geprüft werden, ob man nicht das Junktim EVG-Deutschlandvertrag auflösen und zumindest den Deutschlandvertrag in Kraft setzen könne, allerdings mit der Beschränkung, daß Deutschland nicht einseitig aufrüsten könne. Eden stimmte zu, und Eisenhower beendete dann die Diskussion mit dem Hinweis, man müsse den Franzosen aller Deutlichkeit klarmachen, was man vorhabe, allerdings ohne ihnen offen zu dromit
IV. Britisch-amerikanische Verhandlungen in London (5. — 12. 7. 1954): Notfalls ohne Frankreich?
Als Ergebnis der Washingtoner Besprechung wurde eine britisch-amerikanische Expertengruppe eingesetzt, die vom 5. bis 12. Juli in London ein Programm für den in Washington angedeuteten Fall ausarbeitete: Der Bundesrepublik sollte dann die Souveränität zugestanden werden, mit Einschränkungen auf militärischem Gebiet, ein Punkt, zu dem die Briten einen detaillierten Vorschlag vorlegten Churchill hatte in Washington allerdings nicht Eisenhowers Zustimmung bekommen, den Auftrag dieser Expertengruppe zu erweitern, um Alternativen zur EVG auszuarbeiten; es sollte auf keinen Fall der Eindruck erweckt werden, daß man die EVG schon abgeschrieben habe.
Aber auch ohne Alternative ließ das am 12. Juli vorgelegte Ergebnis Schlimmes befürchten, falls Frankreich sich dem angloamerikanischen Vorgehen widersetzen würde. Man wollte dann dieses Programm so weit wie möglich ohne Frankreich verwirklichen, wobei man sich über die Gefahr im klaren war: Das Verhältnis zu Frankreich würde aufs schwerste belastet, Frankreich könnte in den
Neutralismus getrieben werden und sich möglicherweise Rußland zuwenden, Deutsche und Franzosen würden sich wieder als Feinde gegenüberstehen Frank Roberts, stellvertretender Unterstaatssekretär und Leiter der Deutschlandabteilung im Foreign Office, drückte die Besorgnisse wie folgt aus: „Eine Lösung ohne die Franzosen bedeutet eine entsetzliche Gefahr, die praktischen Schwierigkeiten sind außerordentlich groß." Aus Paris warnte der britische Botschafter Gladwynn Jebb, es müsse alles nur mögliche versucht werden, den Franzosen bei der Ratifizierung des EVG-Vertrages zu helfen oder, wenn dies nicht gelinge, sie zur Mitarbeit bei der Wiederherstellung der westdeutschen Souveränität zu gewinnen: „Bevor wir tatsächlich die Entente Cordiale aufkündigen und neue Bündnispartner suchen, sollten wir beim Scheitern der EVG auch irgendeine andere europäische Lösung in Erwägung ziehen." . Am Vormittag des 12. Juli wurden Jebb und sein amerikanischer Kollege, Botschafter C. Douglas Dillon, von Eden bzw. Dulles angewiesen, noch am selben Tage gemeinsam die französische Regierung mündlich vom Ergebnis der Londoner Beratungen zu unterrichten, ohne allerdings den anvisierten anglo-amerikanischen Alleingang zu erwähnen Um 18. 00 Uhr wurden die beiden Botschafter im Quai d'Orsay von Staatssekretär Guerin de Beaumont empfangen. Jebb las langsam auf Englisch eine Erklärung auf der Grundlage der aus London erhaltenen Instruktionen vor. Guerin de Beaumont, der die englische Sprache perfekt beherrschte, machte sich Notizen, stellte aber, wie Jebb unmittelbar nach der Unterredung nach London berichtete, keine unangenehmen Fragen; er betonte lediglich, daß jede Art von Druck auf die französische Regierung den Befürwortern der EVG, „oder etwas Ähnlichem", zu denen auch er gehöre, nicht helfe, worauf beide Botschafter sich beeilten, darauf hinzuweisen, daß die Beratungen in London „rein hypothetisch" gewesen seien. Darüber wieder schien Guerin de Beaumont erfreut zu sein und dankte den Botschaftern, daß sie die französische Regierung ins Vertrauen gezogen hätten, was Dillon beim Weggehen zu der Äußerung gegenüber Jebb veranlaßte, Guerin de Beaumont sei offensichtlich in Angelegenheiten internationaler Politik noch ziemlich unerfahren
Offensichtlich hatte Guerin de Beaumont überhaupt nicht begriffen, was sich in London und Washington tat; Jebb bezeichnete seine Reaktion denn auch schlicht als „strangely idiotic" Das Erwachen kam am nächsten Tag. Mends-France sprach von einer gesteuerten Kampagne gegen Paris. Der erste Vertreter des französischen Botschafters in London, Etienne de Crouy Chanel, sprach bei Frank Roberts vor; er war aufs äußerste bestürzt über das, was im Quai d Orsay vorgefallen war; de Beaumont habe lediglich eine Vier-Zeilen-Aufzeichnung machen können, sei das die richtige Art, Verbündete zu behan-dein? Im Quai d'Orsay wisse man nicht mehr, was vor sich gehe und fühle sich immer mehr unter Druck gesetzt, und dies zu einem Zeitpunkt, wo die französische Regierung vollkommen von der Indochina-Frage in Anspruch genommen werde. Darauf bemerkte Roberts, die westdeutsche Regierung befinde sich ohne eigenes Verschulden in einer schwierigen Lage, und es sei mit Sicherheit besser, einer demokratischen Regierung in Bonn zu helfen, als ihren Sturz und eine sehr viel schlimmere Nachfolgeregierung zu riskieren. In einer Aufzeichnung resümierte er: „Ich befürchte, einige Beamte im Quai d'Orsay reagieren überempfindlich, weil sie nicht ganz im Bilde sind" was Jebb zu der Frage veranlaßte, was wohl geschehen würde, wenn die Anglo-Amerikaner „plump for German rearmament over the dead bodies of the French", und die Bonner Regierung dann im Parlament keine Mehrheit bekomme. Er weigerte sich, über diese „Schreckensvorstellung" weiter nachzudenken und kam zu dem Schluß: Dies alles zeige, wie absolut notwendig es sei, die EVG „oder etwas sehr Ähnliches" durchzubringen
V. Was will Mendes-France?
Als am 21. Juli in Genf die Indochina-Konferenz zu Ende ging, stand das Thema EVG definitiv zur Entscheidung an; da weitere Verzögerung aus britischer und amerikanischer Sicht nicht mehr vertretbar war, wollte man nicht Gefahr laufen, die Bundesrepublik als potentiellen Bündnispartner zu verlieren. Mendös-France hatte zudem bei seinem Regierungsantritt erklärt, er wolle eine Entscheidung noch vor Beginn der Parlamentsferien herbeiführen. Ob er überhaupt geglaubt hat, eine Mehrheit für diesen Vertrag in der Nationalversammlung zu bekommen, muß bezweifelt werden. Vieles deutet darauf hin, daß er von vornherein eine Ablehnung in sein Kalkül miteinbezog, um es dem Parlament um so schwerer, wenn nicht gar unmöglich zu machen, dann auch noch die Ersatzlösung abzulehnen, wie auch immer sie aussehen mochte.
Zweifellos war Mends-France nicht jener Spieler, wie ihn seine Gegner — und auch Adenauer — sahen, der mit kühnen Einsätzen versuchte, große Gewinne zu erzielen, jedoch dabei auch riskierte, alles zu verspielen. Er liquidierte auch nicht bewußt die Periode christlicher Europapolitik: Im Gegenteil: Er war der einzige Realist, der frühzeitig erkannte, daß die EVG ein totgeborenes Kind war und der mit bewundernswertem Geschick und taktischer Raffinesse — frühzeitig unterstützt von den Briten — den Weg für den Beitritt der Bundesrepublik zur NATO und damit für die Westbindung der Bundesrepublik vorbereitete. Dabei ließ er bis zum Schluß Gegner wie Partner im dunkeln über seine wahren Absichten.
Daß insbesondere die Amerikaner — aber auch Adenauer — in diesem Spiel keine besonders glückliche Figur machten, indem sie versuchten, Mends-France massiv unter Druck zu setzen und buchstäblich bis zur letzten Minute an der EVG festhielten, zeigt aber auch, daß sie die innenpolitische Situation in Frankreich und auch das taktische Spiel von Mends-France überhaupt nicht verstanden. Dabei kann man Mends-France nicht verübeln, daß er das Spiel auf seine Weise spielte und eine Entscheidung zunächst solange wie möglich hinauszuzögern versuchte. Einen ersten Versuch machte er am 12. August. Den Vertretern der USA und Großbritanniens teilte er mit, wie er sich das weitere Vorgehen vorstellte: keine endgültige Entscheidung der Nationalversammlung, sondern nur eine erste Lesung und danach eine erneute Konferenz mit der Sowjetunion über Deutschland Eine entsprechende Ankündigung wollte er in der Nationalversammlung machen. Bevor die sowjetische Position nicht völlig klar sei, könne man an eine Ratifizierung der Verträge überhaupt nicht denken
„Es sieht so aus", so berichtete anschließend der britische Geschäftsträger nach London, „als ob Mendes-France jetzt mit der Ratifizierung drohen will, um auf diese Weise zu einer Vereinbarung über ein vereintes, entmilitarisiertes Deutschland zu kommen ... Dieser Weg ist gefährlich, und es ist daher wichtig herauszufinden, was er wirklich will. Möglicherweise ist er sich nicht im klaren darüber, wie sehr die britische und amerikanische Regierung jeden Vorschlag zur Neutralisierung Deutschlands ablehnen." Es sei wünschenswert, ihm dies klarzumachen
Es war Außenminister Dulles, der in ungewöhnlich scharfer Form die Klarstellung durch Botschafter Dillon besorgen ließ. Dulles war über den Plan von Mends-France „zutiefst schockiert und entmutigt". Diese Verzögerungstaktik sei „ein weiterer Beweis für die Un Zuverlässigkeit" der Franzosen. Bleibe er bei seinem Plan, dann seien die USA davon überzeugt, „daß Frankreich kein verläßlicher Partner mehr ist, der Entscheidungen treffen kann“. Die Implikationen dieses Planes seien gleichermaßen gravierend, sie würden das Fundament der französisch-amerikanischen Beziehungen und die Zukunft des NATO-Bündnisses aushöhlen. Der amerikanische Außenminister fuhr schwerstes Geschütz auf.
Ihm stellte sich die französische Position jetzt so dar: „Frankreich ist bereit, die EVG aufzugeben, falls die Sowjets einer Wiedervereinigung Deutschlands auf der Grundlage freier Wahlen zustimmen. Das kann nur bedeuten, daß Frankreich bereit ist, der Neutralisierung eines vereinten Deutschland zuzustimmen.
Ein neutralisiertes Deutschland bedeutet das völlige Aus für die NATO. Die Militärexperten sind sich darin einig, daß eine wirkungsvolle Verteidigung in einem Europa ohne Deutschland nicht möglich ist." Es sei die feste Überzeugung der USA, daß der Versuch, ein vereintes Deutschland zu neutralisieren, illusorisch sei und die Stabilität und Sicherheit Europas aufs schwerste gefährde: Diese These sei bisher die Grundlage der westlichen Politik gewesen. Mendes-France werde mit seiner Politik diese Grundlage und die westliche Solidarität zerstören und den Sowjets eine Gelegenheit verschaffen, auf die sie seit Jahren warteten. Darüber hinaus werde dies wahrscheinlich auch das Ende Adenauers bedeuten
Am 13. August ging Botschafter Dillon mit dem französischen Ministerpräsidenten Punkt für Punkt dieses Telegramm durch. Anschließend erläuterte Mendes-France noch einmal seinen Standpunkt: Er verfolge keine Verzögerungstaktik, er habe das Schicksal seiner Regierung mit dem der EVG verknüpft, so wie die Situation jetzt aussehe, würden die Verträge abgelehnt, eine Ablehnung aber werde zu einer unerträglichen Belastung für die westliche Allianz führen; er suche eine Mehrheit, und dafür sei es absolut entscheidend, die Russen zu zwingen, ihre Karten auf den Tisch zu legen, nur so könne die Ratifizierung gesichert werden. Er sei gegen eine Neutralisierung Deutschlands, sei immer dagegen gewesen, und erwarte im übrigen keine russischen Konzessionen Auch in London war man beunruhigt Man hatte zwar Verständnis für die Schwierigkeiten von Mends-France, vermißte aber bei ihm die notwendige Einsicht in die Probleme Adenauers. Es durfte keine weitere Verzögerung eintreten, vielmehr mußte eine Entscheidung getroffen werden, „falls uns die Situation in Deutschland nicht in gefährlicher Weise aus den Händen gleiten soll". Der britische Geschäftsträger in Paris, Reilly, wurde aufgefordert, Mends-France mit Nachdruck klarzumachen, „daß jetzt die gesamte Adenauersehe Politik der Westbindung eines demokratischen Deutschland auf dem Spiel steht". Eine weitere Verzögerung würde von den Russen und allen Neutralisten dazu benutzt, nicht nur die Ratifizierung des EVG-Vertrages zu verhindern, sondern auch jede praktikable Alternative, mit der die Deutschen an den Westen gebunden werden könnten. Einen solchen gefährlichen Kurs werde die britische Regierung nicht mitmachen. Es sei ein schwerer Fehler, die beiden Probleme EVG und Beantwortung der sowjetischen Note öffentlich miteinander zu verbinden, was Mends-France in seiner Rede vor der Nationalversammlung offensichtlich beabsichtige. Wenn er jetzt glaube, die Wiedervereinigung Deutschlands um den Preis der Aufgabe von EVG und deutscher Westintegration zu bekommen, dann sei im übrigen keinesfalls sicher, ob die Deutschen eine Neutralisierung unter Vier-Mächte-Kontrolle akzeptieren würden. Ein Versuch, den Deutschen eine solche Lösung aufzuzwingen, würde wahrscheinlich zum Sturz Adenauers und zu einem deutsch-sowjetischen Arrangement führen
Am späten Abend des 13. August trug Reilly Mendös-France die „sehr schweren Bedenken" der britischen Regierung, insbesondere im Hinblick auf die erwarteten gefährlichen Konsequenzen in der Bundesrepublik, vor.
Mends-France kam aus einer fünfstündigen Kabinettssitzung, in der die Information über die amerikanische Reaktion sowohl von Gegnern als auch Befürwortern der EVG „sehr negativ" aufgenommen worden war. Er selbst zeigte sich tief enttäuscht von Amerikanern und Briten und betonte, ihn überrasche die britische Antwort; sie berücksichtige nicht die schwerwiegenden Konsequenzen für den Fall des Scheiterns der EVG in der Nationalversammlung, dies könne nämlich sehr gut zum Bruch zwischen Frankreich und seinen westlichen Verbündeten führen, das aber wolle er um jeden Preis verhindern. Reilly wies noch einmal auf die gefährliche Situation in der Bundesrepublik hin, aber es gelang ihm nicht, eine klare Antwort von Mendes-France zu erhalten, was das Ziel der französischen Regierung sei
Dies versuchte Kirkpatrick am nächsten Tag vom französischen Botschafter in London, Ren Massigli, zu erfahren. Dessen Versuch, die Briten als „Opfer eines Mißverständnisses" darzustellen, mißlang gründlich. Es gebe absolut kein Mißverständnis, Mendös-France’s Ziel sei es zu verzögern, indem er die erste Lesung in der Nationalversammlung für „nicht bindend" erklären wolle. Genau dagegen richte sich der Widerstand in London. Auf die Frage Massiglis, was geschehen werde, wenn Mendös-France seine Haltung nicht ändere, gab Kirkpatrick eine unmißverständliche Antwort: „Wir werden solche Schritte unternehmen, die Deutschland ohne weitere Verzögerung in die Gemeinschaft des Westens bringen. Wir werden natürlich versuchen, dies gemeinsam mit Frankreich zu tun. Aber wir können nicht tatenlos mitansehen, wie Deutschland ins russische Lager abdriftet, und dies einzig und allein aufgrund französischen Unvermögens.“
VI. Die Position Londons und Churchills Initiative
Die Reaktion in London macht deutlich, worum es den Briten beim EVG-Vertrag ging: nicht so sehr um die supranationalen Elemen-te, um „Europaarmee", die „Einheit Europas", sondern in erster Linie um die Westbindung der Bundesrepublik und deren kontrollierte Wiederbewaffnung. Im Mittelpunkt aller Überlegungen hatte von Anfang an die „russische Gefahr" gestanden. Mit EVG-und Deutschlandvertrag, so schon ein Jahr zuvor der amtierende britische Außenminister Lord Salisbury gegenüber Churchill, habe man „alles nur Menschenmögliche getan, um ein deutsch-russisches Zusammengehen zu verhindern", das sei „der eigentliche Sinn der Verträge" Wenn das Ziel mit dem EVG-Vertrag nicht zu erreichen war, wenn der Vertrag in Paris scheitern würde — und dies wurde in den nächsten Tagen in London Gewißheit —, dann mußte frühzeitig eine Lösung gesucht werden, um dieses Ziel auf andere Weise zu erreichen. Mendös-France konnte alles tun, nur nicht mit seiner Politik den Weg für eine Alternative blockieren, die die Briten genau vierzehn Tage später bis ins Detail ausgearbeitet hatten. Diese Alternative lautete: NATO-Mitgliedschaft der Bundesrepublik bei kontrollierter Wiederbewaffnung. Während man sich in London mit dem Problem pragmatisch befaßte, intern schon Monate zuvor über die NATO-Lösung nachgedacht hatte, weigerte sich Adenauer, überhaupt an Alternativen zu denken. „Das Beharren bei der EVG", so erklärte er am 2. Juli in einem Rundfunkinterview, „ist nichts anderes als das Vertrauen in den Sieg der Vernunft... Alle sogenannten Ersatzlösungen (unterscheiden) sich von der richtigen EVG etwa so wie Ersatzkaffee von richtigem Bohnenkaffee", und das Wort Ersatz habe aus den Kriegszeiten den Beigeschmack des Minderwertigen Dies war auch die Haltung der USA. Dort starrte man genauso gebannt wie Adenauer auf die EVG und stand am Abend des August vor demselben Scherbenhaufen. Die Katastrophe wäre perfekt gewesen, hätten die Briten nicht frühzeitig eine Auffangposition aufgebaut. Churchill wies Dulles bereits am 14. August mit Nachdruck auf die NATO-Lösung hin, „which I am sure can be arranged" 30). Da Dulles nicht in Washington war, wurde diese Botschaft Unterstaatssekretär Bedell Smith überreicht, der einen äußerst niedergeschlagenen und ratlosen Eindruck machte. Seiner Meinung nach schien die EVG wohl verloren; entweder werde sie von der französischen Nationalversammlung abgelehnt oder, wenn Verhandlungen mit den Sowjets beginnen würden, auf unbestimmte Zeit vertagt. Es bleibe dann die NATO-Lösung, aber, so betonte er gegenüber dem britischen Botschaftsrat Watson, „je näher diese Lösung rückt, um so weniger kann ich mich mit ihr anfreunden". Das beherrschende Ziel der amerikanischen Europapolitik sei es, Deutschland fest im Westen zu verankern. Er frage sich aber, ob die NATO ein ausreichend starker Anker sei. Dann aber brach das ganze Mißtrauen gegenüber den Deutschen aus Bedell Smith hervor: Sie seien so „efficient" und neigten sehr dazu, ihre Urteilskraft und ihr Verantwortungsgefühl „in the name of Dienst"
über Bord zu werfen; wenn sie erst einmal die Mittel dazu hätten, ihr Land mit Gewalt wiederzuvereinigen, wie könnte man sie daran hindern? Das klügste Wort über die Deutschen habe Churchill gesagt: Entweder sie lägen vor einem auf den Füßen oder man habe sie an der Gurgel. Glaube Mends-France wirklich, ein neutralisiertes Deutschland werde funktionieren? Das sei das Hauptziel der Russen. Die Deutschen würden ihre eigenen Schlüsse ziehen. Wenn es im Westen keine Zukunft mehr gebe, würden sie sich Rußland annähern; das aber gelte es zu verhindern. Selbst wenn Deutschland erfolgreich neutralisiert werde, dann liege nichts mehr zwischen Großbritannien und Rußland, und die USA müßten sich auf Randpositionen („peripheral positions") in Großbritannien, Spanien und Nordafrika zurückziehen.
Bedell war „genauso verzweifelt über die Schwäche Frankreichs wie über die Stärke Deutschlands". Frankreich schien seiner Meinung nach nicht mehr an der Seite der Anglo-Amerikaner zu stehen; fast jeder Weg, den man einschlage, „birgt schwere Gefahren in sich". Watson hatte diese Argumente zwar schon vorher gehört, war aber jetzt, wie er in seinem Bericht hervorhob, stark berührt von der tiefen Resignation seines Gesprächspartners, die er nicht nur auf dessen schlechten Gesundheitszustand zurückführte Churchill wurde dieser Bericht am 18. August vorgelegt; seine Bemerkung macht deutlich, worum es in den nächsten Tagen ging: „there is no alternative but a revised NATO, peripheral'is ruin for Europe" Am nächsten Tag erhielt er eine persönliche Botschaft von Dulles, der erfreut darüber war, daß beide im Hinblick auf Mends-France die gleiche Linie verfolgten. Er war mit Churchill der Meinung, daß die Sache zu Ende gebracht werden müsse, hoffte aber weiter darauf, „daß das Ende EVG heißt"
Churchill hatte diese Hoffnung. zu diesem Zeitpunkt bereits aufgegeben. Angesichts der offensichtlichen Ratlosigkeit in Washington und der Halsstarrigkeit und Unvernunft in Paris sah er jetzt seine Stunde gekommen. Noch am 19. August telegraphierte er an Dulles, falls aufgrund des Unvermögens der französischen Kammer die EVG scheitere, „we surely ought to create some variant of NATO"; er lasse die Sache im Moment prüfen und „may have some ideas to put before you and the President"; es müsse möglich sein, auch bei einer NATO-Lösung gewisse Sicherheiten einzubauen Am selben Tag diktierte er ein Memorandum für Staatssekretär Kirkpatrick und Verteidigungsminister Lord Alexander — nur diese beiden erhielten je ein Exemplar —, in dem er klarmachte, worum es ging: „Wir müssen einen guten Plan ausarbeiten, um Deutschland in die NATO einzugliedern; er muß schon bald fertig sein, die Sache ist dringend." Sollte Frankreich versuchen, den Beitritt durch ein Veto zu verhindern, dann müsse eine neue NATO geschaffen werden, „notfalls ohne Frankreich .... Der Plan für die neue NATO müsse so aussehen, daß man ihn den Amerikanern vorlegen könne: „Sie hätten schon vor einem Jahr einsehen müssen, daß die EVG eine hoffnungslose Sache gewesen ist."
Entscheidend war auch für Churchill die Frage einer Rüstungskontrolle für die Bundesrepublik bei deren NATO-Beitritt. Wie konnte man dieses Problem lösen? Durch bilaterale, 15 bis 20 Jahre laufende Verträge Großbritanniens und der USA mit der Bundesrepublik, oder noch besser durch einen trilateralen Vertrag? Die Bundesrepublik würde sicherlich absolute Gleichberechtigung fordern, was Churchill aber nicht für notwendig hielt; allerdings sollten die Deutschen auch nicht schlechter, sondern eher etwas besser behandelt werden als in der EVG vorgesehen. Eine unmittelbare Gefahr sah Churchill darin, daß sich die USA als Ergebnis einer „agonized reappraisal" der Lage durch Dulles zur „Randverteidigung" Europas entschließen würden. Das würde seiner Meinung zu einer völligen Zerstörung aller gemeinsamen europäischen Einrichtungen führen und „die USA werden ihre Truppen aus Deutschland zurückziehen, sich mit Spanien zufriedengeben und von uns erwarten, daß wir ihnen die Luftwaffenbasis in Norfolk zur Verfügung stellen, womit wir zur Zielscheibe im nächsten Krieg werden. Wenn wir das aber nicht wollen und sie bitten zu gehen, könnten sie antworten, dann sollten wir uns eben selbst verteidigen. Unglücklicherweise haben wir nichts, womit wir das tun können".
Churchill sah noch eine andere, „even more horrible and deadly alternative", nämlich was der linke Labour-Politiker Aneurin Bevan den Amerikanern empfohlen hatte: „go it alone". Die USA seien stark genug, genau dies zu tun, mit der Konsequenz, daß man ihre Politik nicht mehr beeinflussen könne, keinen Schutz mehr habe und in den kommenden gefährlichen Jahren auch keine Möglichkeit zur eigenen Verteidigung habe. Gegenüber Frankreich fand Churchill wenig freundliche Worte: „Das Unvermögen und die Intrigen der französischen Kammer können die EVG zerstören und den Untergang Frankreichs bringen und durch die Angst vor Rußland zur Unterjochung Westeuropas führen. Nur eine neue NATO unter Einschluß Deutschlands — mit bestimmten Rüstungsbeschränkungen — kann unsere Freiheit und den Frieden der Welt sichern."
VII. Die Brüsseler Konferenz (19. — 22. 8. 1954)
Am 14. August übermittelte Mends-France den übrigen EVG-Partnern für die in Brüssel vorgesehene Konferenz der Außenminister ein „Zusatzprotokoll" zum EVG-Vertrag, in dem zahlreiche Änderungsvorschläge gemacht wurden. Die wichtigsten lauteten:
1. In den ersten acht Jahren sollten nur ein-stimmige Beschlüsse möglich sein; dies war gleichbedeutend mit einem französischen Vetorecht; in diesen ersten acht Jahren wären somit auch keine supranationalen Institutionen errichtet worden.
2. Nur die deutschen und die in Deutschland stationierten Streitkräfte sollten integriert werden.
3. Jeder Staat sollte das Recht haben, aus der EVG auszutreten, falls ein wiedervereinigtes Deutschland ausscheiden würde Insgesamt waren es, wie das Auswärtige Amt in einer ersten Analyse feststellte, 65 Vorschläge; 47 erforderten eine Vertragsänderung, davon wiederum 21 ein neues Ratifizierungsverfahren — mit Zwei-Drittel-Mehrheiten in den Ländern, die bereits ratifiziert hatten. Adenauer war entsetzt: „Die Vorschläge sind schlimmer als alles, was ich erwartet habe", hieß es in einem persönlichen Schreiben an Churchill, das der Bankier und enge Vertraute Adenauers, Robert Pferdmenges, in London Kirkpatrick übergab. Er glaube nicht, so Adenauer weiter, dafür auch nur eine einfache Mehrheit im Bundestag zustande zu bringen; er habe es für gut gehalten, Churchills Aufmerksamkeit auf die außerordentlich kritische Situation zu lenken, die jetzt entstehe. Pferdmenges ergänzte gegenüber Kirkpatrick, der Kanzler sei aus mehreren Gründen tief beunruhigt: 1. Habe er gehört, daß sich unter den Mitarbeitern von Mends-France fellow-traveller befänden und daß man in Frankreich dazu neige, die EVG für ein Abkommen mit Ruß-land, d. h. die Neutralisierung Deutschlands, zu opfern;
2. verschlechtere sich seine Position in der Bundesrepublik; ihm werde vorgeworfen, ständig Zugeständnisse zu machen, ohne entsprechende Gegenleistungen zu erhalten; dies sei Wasser auf die Mühlen der Nationalisten; 3. die französischen Vorschläge erschienen nicht akzeptabel; sie würden nicht nur den europäischen Charakter des EVG-Vertrages vollkommen zerstören, sondern der Bundesrepublik auch neue, schwerwiegende Diskriminierungen auferlegen;
4. er wisse nicht genau, was geschehen würde, wenn, „was er erwartet, das gesamte EVG-Pro-jekt in den nächsten Tagen zusammenbricht"
Churchill spendete Trost. Am 19. August ließ er Adenauer wissen: „Ich denke viel an Sie und Ihre Schwierigkeiten. Ich bin der Über-zeugung, daß schließlich alles in dieser oder jener Form auf den rechten Weg kommen wird und daß ihre Staatskunst nicht um ihre Früchte gebracht wird." Die „sehr tiefgreifenden" Änderungsvorschläge der Franzosen würden auch nach Meinung des Foreign Office dazu führen, daß eine solche EVG wahrscheinlich „von Beginn an gelähmt ist".
Man versuchte dennoch, für Brüssel zu retten, was zu retten war. Mends-France durfte nicht mit völlig leeren Händen von dort zurückkehren. Auch wenn die französische Regierung „den Mund ziemlich voll genommen hat", so Gladwynn Jebb, Mends-France bleibe „our best bet"; das amerikanische Mißtrauen sei völlig unbegründet, wenn er den EVG-Vertrag nicht durchbringe, wer sonst? Für alle Beteiligten würden die französischen Wünsche schwere Probleme aufwerfen; aber dabei dürfe nicht übersehen werden, daß es dringend notwendig sei, eine schnelle Lösung für die Westbindung der Bundesrepublik zu finden. Jede Alternative brauche Zeit, und das Ergebnis sei nicht sicher. Die Botschafter bei den EVG-Regierungen wurden angewiesen, gerade auf diesen Punkt hinzuweisen; man solle Frankreich in Brüssel so weit wie möglich entgegenkommen und nicht von vornherein alles ablehnen und „rock the boat"
Unmittelbar vor der Abfahrt nach Brüssel sprach der Vertreter der britischen Kommission, Allen, in diesem Sinne bei Adenauer vor. Er traf einen Kanzler, der „completely pessimistic" war und für den die entscheidende Frage lautete: „Will das französische Parlament die EVG oder nicht?" Er war voller Mißtrauen gegenüber Mendes-France, dessen Ziel es sei, die EVG scheitern zu lassen; von dem Brüsseler Treffen erhoffte er sich daher nicht viel. Die Frage, was nach dem Scheitern der EVG kommen werde, stellte Adenauer allerdings nicht -
über den Verlauf der Brüsseler Konferenz berichtet Adenauer ausführlich in seinen Erinnerungen Die Akten bestätigen den insgesamt deprimierenden Eindruck, den die Beratungen bei den Partnern Frankreichs hinterließen. Mends-France sprach sogar von einer „feindlichen Atmosphäre", die ihn in Brüssel umgeben habe Für die amerikanischen Diplomaten in Paris waren die französischen Änderungswünsche von Anfang an „confused, chauvinistic and destructive" „unacceptable beyond our worst expectation", und so „antiEVG" wie nur möglich Dulles warnte Mendös-France am 21. August, wenn die Brüsseler Konferenz ohne Ergebnis zu Ende gehe, „dann werden wir uns einer schweren Krise gegenübersehen", und drohte mit einer Konferenz ohne Frankreichs Beteiligung Churchill bat er schon fast verzweifelt: „Solange es überhaupt noch eine Chance gibt, müssen wir ausschließlich an der EVG festhalten ... Wir müssen in dieser Sache zusammenhalten."
Dies war alles andere als praktische Politik. Die USA konnten zweifelsohne den Druck auf Mends-France verstärken; damit erreichte man aber noch lange nicht eine Mehrheit in der Nationalversammlung, höchstens den Sturz der französischen Regierung. Wem aber war damit gedient, wer würde nach Mendös-France kommen? Diese entscheidende Frage stellte niemand in Washington.
VIII. Mendes-France bei Churchill (23. 8. 1954)
Mendös-France war zweifelsohne ein „besserer“ Europäer als manch einer, der damals lauthals vom „vereinten Europa" sprach, aber dabei die politischen Realitäten in Frankreich schlicht übersah. Wenn Adenauer sich fragte, „worauf Mends-France eigentlich abzielte. Ich konnte mir nicht denken, daß er seine Vorschläge ernst meinte. Man mußte den Eindruck gewinnen, daß Mends-France die EVG scheitern lassen wollte" so ist dies zwar richtig, aber dennoch nur die halbe Wahrheit. Mendös-France wollte die EVG zwar scheitern lassen, aber mit dem Durchschlagen des gordischen Knotens EVG gleichzeitig den Weg freimachen für eine andere Lösung. Dies ist damals von seinen Gegnern nicht gesehen worden, und er selbst hat — aus guten Gründen — alles getan, um seine Partner im unklaren zu lassen. Die Vermutung, daß seine Änderungsvorschläge nicht ernst gemeint waren, wird durch die britischen Akten bestätigt. Während in Brüssel noch erbittert gestritten wurde, sprach nämlich bereits am Vormittag des 21. August Botschafter Massigli bei Kirk-patrick im Foreign Office vor und teilte ihm mit, Mends-France gehe davon aus, daß die Konferenz am Abend zu Ende gehe und er am nächsten Tag zu Konsultationen nach London kommen wolle
Nach dem erfolglosen Abbruch der Brüsseler Konferenz schien Frankreich völlig isoliert, die Konfusion total. Dulles fiel nichts anderes ein, als erneut eine Konferenz der USA, Großbritanniens und der Beneluxstaaten vorzuschlagen, um Frankreich noch weiter in die Enge zu treiben, stieß damit aber auf den entschiedenen Widerstand seines britischen Kollegen Anthony Eden: „The Foreign Secretary is against any move now which excludes or isolates France", hieß es in einer Aufzeichnung Kirkpatricks für Churchill
Diese Reaktion war verständlich, hatte doch Verteidigungsminister Lord Alexander noch am 23. August, als Mendös-France auf dem Weg nach London war, Churchill und Eden ein Memorandum vorgelegt, in dem er zwar als „einzige befriedigende" Alternative zur EVG den NATO-Beitritt der Bundesrepublik vorgeschlagen, gleichzeitig aber mit Nachdruck davor gewarnt hatte, bei einem Veto Frankreichs „eine neue NATO ohne Frankreich" zu schaffen. Dies hätte „sehr ernste" Konsequenzen, denn „das Territorium Frankreichs ist absolut notwendig für die Verteidigung Europas“. Bei einem Alleingang werde Frankreich neutral bleiben und den NATO-Ländern die Benutzung seines Territoriums verweigern. Damit würden 1. die Nachschubhäfen an der Atlantik-und Kanalküste verlorengehen, die amerikanischen Verbindungslinien würden zerschnitten und die eigenen Pläne für den Nachschub im Kriegsfall zunichtegemacht. Die Nordseehäfen seien angesichts ihrer Verletzlichkeit gegen Atombomben und U-Boote kein ausreichender Ersatz, ganz unabhängig von den ungeheuren Kosten;
2. könnten die französischen Flugplätze nicht mehr benutzt werden, man brauche sie aber für Operationen im Mittelabschnitt;
3. müßten die militärischen Anlagen der NATO in Frankreich für viel Geld an anderer Stelle neu errichtet werden;
4. würden alle Häfen im Mittelmeer einschließlich jener an der nordafrikanischen Küste verlorengehen.
Aus all diesen Gründen, so Lord Alexander, „ist es äußerst wichtig, Frankreich dazu zu • bringen, dem Beitritt der Bundesrepublik oder einer Lösung zuzustimmen, die die kontrollierte Wiederbewaffnung Deutschlands ermöglicht, Frankreich selbst aber in der NATO bleibt“
Bei dem vierstündigen Gespräch mit Mends-France auf Churchills Landsitz Chartwell war denn auch die Frage „NATO ohne Frankreich", d. h. „die Politik des leeren Stuhls", nur eine von „vier Möglichkeiten, die der Westen in Europa hat", wie Churchill gleich zu Beginn der Unterredung betonte. Die übrigen drei Möglichkeiten waren die EVG, „bei weitem die beste", der NATO-Beitritt Deutschlands die zweitbeste, die „Randverteidigung" die schlechteste Lösung. Wie er Dulles zuvor versprochen hatte, drängten er und Eden zunächst den französischen Ministerpräsidenten, seinen ganzen Einfluß einzusetzen, um den EVG-Vertrag im Parlament durchzubringen, machte aber sogleich deutlich, was geschehe, wenn er scheitere: dann bleibe keine andere Wahl als eine Lösung im Rahmen der NATO. Die Antwort von Mends-France machte drei Dinge ganz klar und ließ erkennen, worum es ihm ging:
1. Der EVG-Vertrag würde scheitern; seine Meinung in dieser Frage war „very firm and definite";
2. war er davon überzeugt („very definite"), daß es Frankreich nach der EVG-Ablehnung „niemals wagen wird, eine Alternative abzulehnen, auch nicht den Beitritt Deutschlands zur NATO";
3. diese Alternative sollte innerhalb der nächsten zwei Monate realisiert werden.
Mit Nachdruck betonte er, er sei gegen eine Neutralisierung Deutschlands und für Europa und das westliche Bündnis. Allerdings ließ er sich auch jetzt noch nicht festlegen, welche Alternative er bevorzuge, ließ aber durchblikken, daß Frankreich etwas wolle, an dem auch Großbritannien beteiligt sei
IX. London bereitet den Weg aus der Krise vor
Der Eindruck, den Mendös-France gegenüber dem amerikanischen Botschafter Dillon in Paris am 25. August vermittelte, daß nämlich sein Gespräch mit Churchill den Weg für eine Alternative im Falle eines Scheiterns der EVG vorbereitet habe war zweifellos richtig, auch wenn öffentlich jeder Hinweis darauf vermieden wurde, um die Position der EVG-
Befürworter in Frankreich nicht zu schwächen Aber in Bonn und Washington weigerte man sich auch jetzt noch, die Fakten zur Kenntnis zu nehmen. Wie das Kaninchen auf die Schlange, so blickte man immer noch wie gebannt auf die EVG, die praktisch schon tot war. Als Staatssekretär Hallstein am 24. August von Allen über das Gespräch Churchill — Mendös-France unterrichtet wurde, endete die Unterredung mit der Feststellung Hall-steins, es sei „ein schwerer Fehler, jetzt eine mögliche Alternative konkret zu diskutie-ren" Zwei Tage später überreichte er dem amerikanischen Hohen Kommissar Conant „in a state of some agitation" einen Brief Adenauers an Dulles. Darin wies Adenauer auf ein Gerücht hin, wonach Paris beim Scheitern der EVG eine für Deutschland diskriminierende Ersatzlösung plane; er, Adenauer, lehne eine solche Lösung als „völlig unannehmbar für die Bundesregierung und alle im Bundestag vertretenen Parteien ab". Eine eigene Ersatzlösung bot er allerdings auch nicht an Am selben Tag schlugen die amerikanischen Vertreter in Paris, Bruce und Dillon, vor, den Druck auf Paris zu verstärken und eine Verschiebung der EVG-Debatte in der Nationalversammlung zu erreichen, die am 28. August, einem Sonnabend, beginnen sollte. Für Montag, den 30. August, sollten Präsident Eisenhower und Premierminister Churchill gemeinsam eine Konferenz der EVG-Außenminister und der Sonderbotschafter von Eisenhower und Churchill einberufen Bedell Smith war für dieses Vorgehen, denn die Regierung Mends-France werde wahrscheinlich stürzen; aber das sei nicht allzu schlimm, „wenn wir die EVG bekommen" Auch Eisenhower war dafür, allerdings „nur, wenn die Briten mitmachen"
Die Briten machten nicht mit! Als Bedell Smith dem britischen Vertreter in Washington die Reaktion Eisenhowers mitteilte, wurde ihm gleichzeitig ein Telegramm mit der ablehnenden Antwort Churchills und Edens überreicht. Sie hielten ein solches Vorgehen ohne eine ausgearbeitete Alternative für sinnlos, im übrigen wiesen sie auf die Gefahr hin „that Isolation argument may boomerang" Was Staatssekretär Henri Ulver, innerhalb der französischen Regierung für Budgetfragen zuständig, am 27. August den Vertretern der amerikanischen Botschaft mitteilte, daß nämlich der EVG-Vertrag „can , never, never, never pass — teil this to your government: never, never, never'“ hatte man in London schon längst zur Kenntnis genommen. Für Churchill und Eden war die EVG bereits gescheitert, und für diesen Fall mußten jetzt entsprechende Vorkehrungen getroffen werden.
Am 27. August legte Eden dem Kabinett ein Memorandum vor, in dem bereits der nächste Schritt vorbereitet wurde. In dieser Kabinetts-vorlage wurden verschiedene Alternativen durchgespielt, mit dem Ergebnis, daß „unterm Strich der NATO-Beitritt Deutschlands die beste Lösung ist", wobei es als besonders schwierig bezeichnet wurde, die beabsichtigten Rüstungskontrollen für die Bundesrepublik zu erreichen, ohne daß dies nach Diskriminierung aussah. Als eines der Hauptargumente gegen den NATO-Beitritt wurde die „ständige Versuchung" der „territorial nicht saturierten" Bundesrepublik („und wahrscheinlich auch eines zukünftigen vereinten Deutschland") genannt, „mit Gewalt ihre Ost-grenzen zu verändern und zu diesem Zweck die gesamte NATO in einen Krieg hineinzuzerren". Dieser Einwand sei „real"; man könne sich aber nicht vollkommen gegen diese Gefahr absichern. Entscheidend sei jetzt „schnelles Handeln, wenn wir Deutschland nicht verlieren wollen"
Das Kabinett gab grünes Licht für das weitere Vorgehen, wobei interessant ist, daß Harold Macmillan jenen Vorschlag machte,'der dann später auch so verwirklicht wurde. Um die NATO-Lösung für Frankreich und die Labour Party „schmackhafter" zu machen, wie er es formulierte, sollte der neuen NATO ein europäischer Anstrich gegeben werden. Sie sollte seiner Meinung nach so modifiziert werden, daß es zumindest so aussähe, als habe man etwas von der europäischen Idee übernommen. Sei es nicht möglich, so fragte er, daß Deutschland formell dem Brüsseler Pakt beitrete, der ja innerhalb der NATO weiter bestehe
Drei Tage später scheiterte die Europäische Verteidigungsgemeinschaft am Votum der französischen Nationalversammlung. Die EVG war eine französische Idee gewesen-, am selben Ort, wo sie vor fast vier Jahren geboren worden war, wurde sie jetzt auch zu Grabe getragen. Während sich jene Illusionisten, die bis zuletzt an ihr festgehalten hatten, noch von dem Schock über dieses „wichtigste und tragischste Ereignis in der Nachkriegsgeschichte Westeuropas" erholten, Gegner und Befürworter in Paris nach geschlagener Schlacht ihre Wunden leckten, behielten als einzige die Briten den Überblick. Im Foreign Office waren bereits jene Telegramme vorbereitet worden, die Eden dem Kabinett am Nachmittag des 1. September mit dem Kommentar vorlegte, „jetzt kommt es darauf an, schnell zu handeln, um eine weitere Verschlechterung der Lage zu verhindern und Vorschlägen von anderer Seite, die wir nicht für gut halten, zuvorzukommen."
Wie gut man die Sache im Griff hatte, zeigt allein schon die Tatsache, daß die Telegramme an Washington, Bonn und Paris, die bereits nach dem 27. August entworfen waren, jetzt von „Emergency" auf „Immediate" herabgestuft wurden. Das Kabinett billigte dann die nächsten Schritte: sofortige Konsultationen mit den Amerikanern, um deren Zustimmung für die NATO-Lösung zu erhalten, und Konsultationen mit Adenauer. Der Schock mußte genutzt werden; wenn alles gut ging, sollte in etwa zwei Wochen eine Acht-Mächte-Konferenz (EVG-Länder, USA, Großbritannien) nach London einberufen werden, um die Sache unter Dach und Fach zu bringen
X. Auf dem Weg in die NATO
Wie wir wissen, funktionierte das britische Krisenmanagement hervorragend. Was in vier Jahren nicht möglich war, geschah jetzt innerhalb von nur vier Monaten: neue Verträge wurden ausgehandelt und — am wichtigsten — von Frankreich ratifiziert. Es ist oft darauf hingewiesen worden, daß „die Schnelligkeit, mit der das Fiasko der Adenauer sehen Vertragspolitik durch neue Vereinbarungen überdeckt wurde, zu den erstaunlichsten Vorgängen der deutschen Nach-kriegsgeschichte (gehört)" Der Blick in die Akten zeigt jetzt, wie dies damals möglich war: durch ein Höchstmaß an Kompromißbereitschaft auf allen Seiten — ausgelöst durch den Schock des 30. August —, durch das Geschick der britischen Diplomatie und durch den Blick auf die Alternative, nämlich das Auseinanderbrechender westlichen Gemeinschaft, verbunden mit der Gefahr, daß Deutschland womöglich in die Neutralität und dann nach dem Osten abgleiten würde. Tatsächlich standen alle Beteiligten mit dem Rücken zur Wand. Adenauer war jetzt im Grunde jede Lösung recht, mit der diese Alternative verhindert wurde. Ähnlich sahen es die Briten; für sie hatte die Westbindung der Bundesrepublik absolute Priorität — auch um den Verlust Frankreichs! In der Kabinettsitzung am 1. September hatte Eden betont, wenn es hart auf hart komme, wenn Frankreich die NATO-Lösung ablehne, dann müsse sich Großbritannien seiner Meinung nach gegen Frankreich und für die Bundesrepublik entscheiden, um Deutschland nicht die Freiheit zu lassen, eine unabhängige Politik zu betreiben, die möglicherweise zu einem Arrangement mit der Sowjetunion führen werde
Ähnlich sah man die Dinge jetzt auch in Washington: „We cannot sit down in black despair and admit defeat", wie es Präsident Eisenhower am 3. September formulierte Nicht sicher war man sich darüber, ob bei der von den Briten noch für September vorgeschlagenen Konferenz genügend Zeit bleibe, um den Erfolg dieser Konferenz zu sichern. Die Amerikaner wollten auf keinen Fall eine Wiederholung der Brüsseler Konferenz erleben; Adenauer befürchtete unangenehme Auswirkungen auf die westdeutsche Öffentlichkeit, wenn der Bundesrepublik auf einer solchen Konferenz offiziell Rüstungsbeschränkungen auferlegt würden. Das war seiner Meinung nach nicht vereinbar mit der geforderten und von ihm erwarteten Souveränität und Gleichberechtigung ohne Diskriminierung. Etwas anderes war es, und diese Bereitschaft hatte er dem britischen Hohen Kommissar Hoyer-Millar bereits am 2. September signalisiert, wenn die Bundesregierung von sich aus solche Beschränkungen auf sich nehmen würde. Eden war es, der auf einer Rundreise vom 11. bis 15. September nach Brüssel, Bonn, Rom und Paris die letzten Hindernisse auf dem Weg der von ihm vorgeschlagenen Konferenz beseitigte. Die Lösung sollte jetzt so aussehen, wie vom Kabinett bereits beschlossen war, während die Anregung von Macmillan konkretisiert worden war: Um den NATO-Beitritt der Bundesrepublik den „Europäern" schmackhafter zu machen, sollten die Bundesrepublik Deutschland und Italien dem 1948 gegründeten Brüsseler Pakt beitreten, der zur Westeuropäischen Union (WEU) umgebildet werden sollte. Auch wenn es keine supranationalen Elemente mehr gab, blieb scheinbar wenigstens etwas vom europäischen Integrationsgedanken erhalten. Im Rahmen der WEU würden dann die Rüstungsbeschränkungen für die Bundesrepublik möglich sein; damit würden die von Frankreich, aber auch von Großbritannien geforderten Bedingungen erfüllt. Mit Großbritannien als Mitglied der WEU war gleichzeitig eine Forderung Frankreichs erfüllt. Hinzu kam als weitere Sicherheit für Frankreich die Bereitschaft der Briten, eine bestimmte Anzahl ihrer Truppen auf Dauer in der Bundesrepublik zu stationieren. Aus deutscher Sicht traf die Beurteilung der Lage nichts so gut wie jenes Telegramm, das Adenauer am 13. September am Ende seiner Gespräche mit Eden an Churchill schickte.
Diese Gespräche hätten zu einer vollen Übereinstimmung der Auffassungen geführt: „Der so harmonische Ablauf der Besprechungen hat gezeigt, ein wie glücklicher Gedanke es von Ihnen, Sir Winston, war, die Initiative zu ergreifen und einen Ausweg aus den gegenwärtigen Schwierigkeiten zu weisen."
Als Außenminister Eden am 28. September die Neunmächtekonferenz (Großbritannien, USA, Kanada, Frankreich, Bundesrepublik Deutschland, Beneluxländer) im Lancaster House in London eröffnete, schlug er als erstes vor, eine Grundsatzerklärung auszuarbeiten, wonach die Westmächte bereit waren, das Besatzungsregime so bald wie möglich zu beenden. Im Hinblick auf die deutsche Öffentlichkeit lag Adenauer diese Grundsatzerklärung besonders am Herzen; jeder könne dann sehen, so betonte er im Anschluß an Eden, daß etwas Reales und nicht nur Worte bei dieser Konferenz herausgekommen sei. Adenauer nutzte dann die Gelegenheit, um auf die schwierige Situation in der Bundesrepublik hinzuweisen. Der Glaube an Europa sei zwar nicht verschwunden, aber doch schwer erschüttert; gleichzeitig nähmen die Bemühungen aus dem Osten zu, die westdeutsche Bevölkerung durch Appelle an den Nationalismus für den Neutralismus zu gewinnen, mit dem Argument, nur so sei die Wiedervereinigung zu erreichen. Ein neutralisiertes Deutschland aber, so Adenauer mit Nachdruck, werde sehr bald unter kommunistische Herrschaft geraten, wie man am Beispiel der Tschechoslowakei und der anderen Satellitenstaaten sehen könne. Die Bundesrepublik könne für den Westen nur gerettet werden und der Glaube an Europa in der Bundesrepublik nur erhalten bleiben, wenn der Vorschlag Edens akzeptiert werde. Solchermaßen von Adenauer eingestimmt, begann die Konferenz mit ihrer Arbeit
Die „Grundsatzerklärung" machte dann auch am wenigsten Schwierigkeiten; auch hier hatten die Experten gute Vorarbeiten geleistet. Am 1. Oktober geriet die Konferenz dann in eine schwere Krise. Es ging um das alles entscheidende Thema der Rüstungsbeschränkungen für die Bundesrepublik. Die französische Regierung hatte weitreichende Forderungen gestellt (Kontrolle der Truppenstärke, Produktion und Verteilung der Waffen für die auf dem Kontinent stationierten Truppen, keine Waffenproduktion in strategisch exponierten Gebieten, d. h. keine oder nur geringe Produktion in der Bundesrepublik), denen der entscheidende Satz des deutschen Memorandums vom 23. September entgegenstand, nämlich: „Diskriminierungen irgendwelcher Art dürfen nicht stattfinden."
Als Mends-France auf seinen Forderungen beharrte, machte Dulles den Vorschlag, über das Thema Rüstungsbeschränkungen erst nach zwei Jahren zu beschließen, erst dann werde das Thema aktuell, da zunächst einmal die neue deutsche Armee von den USA ausgerüstet werde. Dies lehnten die Außenmini-ster der Beneluxländer mit dem Hinweis ab, ihre Parlamente würden dem niemals zustimmen. Die Lage schien aussichtslos, als Eden in die Debatte eingriff. Nach dem Scheitern der EVG könne man entweder versuchen, in gegenseitigem Vertrauen Westeuropa neu zu errichten, „oder aber, falls wir das lieber wollen, alle möglichen Sicherheiten einbauen und damit beweisen, daß wir überhaupt kein Vertrauen zueinander haben. Dies aber wird für Europa ein Desaster und für den Kreml ein Triumph werden." Anschließend unterbrach er die Sitzung Leider fehlen in den britischen Akten die Protokolle der weiteren Verhandlungen.
Aus Adenauers „Erinnerungen" wissen wir, daß das Scheitern der Konferenz durch seine Erklärung verhindert wurde, die Bundesrepublik werde freiwillig auf die Produktion von ABC-Waffen, schweren Kriegsschiffen und U-Booten, ferngelenkten weittragenden Geschossen und strategischen Bombern verzichten
So endete das „für das Schicksal der westlichen Welt entscheidende Zusammentreffen" mit einem Erfolg. Adenauer sah den „Haupterfolg" darin, wie er in einem Dankschreiben an Eden nach seiner Rückkehr aus London formulierte, „daß die Einheit der westlichen Welt, die in den letzten Wochen in so schwerer Weise gefährdet war, nunmehr in vollem Umfang wiederhergestellt ist und daß wir auf ihr die Grundlagen für eine wirksame Verteidigung gelegt haben. Vieles bleibt noch zu tun, wenn aber der Geist der gegenseitigen Verständigung und loyalen Zusammenarbeit, wie er dank Ihres großen Einflusses auf dieser Konferenz deutlich die Arbeiten beherrschte, sich behauptet, dann bin ich sicher, daß der endgültige Erfolg unserer Bemühungen nicht ausbleiben wird."
Eine weitere Konferenz in Paris (19. — 23. Oktober 1954) führte dann am 23. Oktober mit der Unterzeichnung der „Pariser Verträge" zu diesem Erfolg. Die französische Zustimmung wurde dabei zusätzlich erkauft durch ein „Abkommen über das Statut der Saar", das — vorbehaltlich einer Abstimmung der saarländischen Bevölkerung — die Europäisierung der Saar mit starken wirtschaftlichen Bindungen an Frankreich vorsah.
Nach der Unterzeichnung der Verträge begann das Ringen um ihre Ratifizierung. Was Mendös-France schon im Chartwell angedeutet hatte, gelang ihm nun: Am 30. Dezember brachte er die Verträge durch die Nationalversammlung. Der Bundestag stimmte am 27. Februar 1955 in dritter Lesung für die Verträge. Am 5. Mai 1955 wurde die Bundesrepublik Deutschland bedingt souverän, vier Tage später, auf den Tag genau zehn Jahre nach der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands, trat sie als 15. Mitglied der NATO bei. Die SPD hatte am 27. Februar geschlossen gegen die Verträge gestimmt; für sie war diese Politik gleichbedeutend mit dem Ende jeder Wiedervereinigungspolitik, da sich ihrer Meinung nach militärische Westintegration und Wiedervereinigung gegenseitig ausschlossen. Adenauer sah das anders. Zwei Tage nach dem Beitritt der Bundesrepublik zur NATO äußerte er in Paris die Überzeugung: „Wir sitzen nun im stärksten Bündnis der Geschichte. Es wird uns die Wiedervereinigung bringen." Wenn er wirklich daran geglaubt hat, so sollte er sich irren.