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8. Mai 1945: Die Katastrophe als Chance zum Neubeginn Der demokratische Rechtsstaat als Reaktion auf den nationalsozialistischen Unrechtsstaat | APuZ 16/1985 | bpb.de

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APuZ 16/1985 Artikel 1 8. Mai 1945: Die Katastrophe als Chance zum Neubeginn Der demokratische Rechtsstaat als Reaktion auf den nationalsozialistischen Unrechtsstaat Verfassungstreue, Staatstreue, Regierungstreue Zur Kontinuität und Diskontinuität der beamtenrechtlichen Treuepflicht vor und nach 1933 Das Konzept der streitbaren Demokratie im internationalen Vergleich

8. Mai 1945: Die Katastrophe als Chance zum Neubeginn Der demokratische Rechtsstaat als Reaktion auf den nationalsozialistischen Unrechtsstaat

Rudolf Wassermann

/ 38 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Nach einem Wort von Theodor Heuss war der 8. Mai 1945 für „jeden von uns" die tragischste und fragwürdigste Paradoxie der Geschichte, „weil wir erlöst und vernichtet in einem gewesen sind". Der Beitrag knüpft an diese Aussage an, indem er untersucht, inwiefern die damalige Katastrophe als Chance genutzt wurde, um in Reaktion auf das nationalsozialistische Terrorregime einen Rechtsstaat aufzubauen, der in der bisherigen deutschen Geschichte seinesgleichen nicht findet. Der Ansatz des Grundgesetzes hat sich bewährt. Gefährdungen sind jedoch gerade in den letzten Jahren sichtbar geworden durch perfektionistische Übertreibung und mangelnden Erneuerungswillen auf der einen, durch eine Erosion des Rechtsbewußtseins, wie sie sich in selektivem Rechtsgehorsam in dem schwindenden Respekt vor dem Sinngehalt der Verfassung bemerkbar macht, auf der anderen Seite. Verkannt wird, daß es in einem Staat nur soviel Recht geben kann, wie es rechtlich denkende Menschen gibt, die den Zusammenhang von Freiheit und Recht in ihr Bewußtsein aufgenommen haben. Damit die innere Substanz des Rechts-und Verfassungsstaates keinen Schaden erleidet, muß sich das politische Händeln bewußter an die Maximen von Verfassung und Recht halten.

I. Vernichtet und erlöst in einem

Daß der 8. Mai ein problematischer Gedenktag ist, ein sperriger, wie es in einer Artikel-serie der ZEIT treffend hieß: wer wüßte das nicht? Die Diskussion darüber, ob man zu diesem Tag Feiern veranstalten sollte, war so überflüssig wie ein Kropf. Denn es gibt nichts, was die geteilte Nation feiern könnte. Das historische Verdienst, das NS-Regime beseitigt zu haben, kommt den Alliierten zu und nicht den Deutschen. Diese hatten den schrecklichen Irrtum, sich dem Nazismus zu verschreiben, um Versailles rückgängig zu machen, teuer bezahlen müssen. Für die Menschen, die überlebt hatten, war das, was sie vor jetzt 40 Jahren erleiden mußten, eine Katastrophe. Die Städte lagen in Trümmern. Ausgebombt oder geflüchtet, fristete man sein Leben, ohne Aussicht, aus dem Elend herauszukommen. Für den, der es erlebt hat, widerstehen die Schreckensbilder jener Zeit auch dem hartnäckigsten Versuch, sie aus dem Bewußtsein zu verdrängen.

Um an einige Tatsachen zu erinnern In Köln besaßen Ende 1945 nur 12 v. H.der Kinder das altersmäßige Normalgewicht. Das Durchschnittsgewicht von männlichen Erwachsenen lag Mitte 1946 in der amerikanischen Besatzungszone bei ca. 51 Kilo. In Hamburg litten Ende 1946 über 100 000 Personen an Hungerödemen. Obdachlosigkeit war zur Massenerscheinung geworden. 1946 standen für 14 Millionen Haushaltungen nur acht Millionen Wohnungen zur Verfügung, viele von diesen beschädigt. In den Großstädten war mehr als die Hälfte des Wohnraumbestandes zerstört. Die Zahl der Vertriebenen betrug fast zehn Millionen. Zwei Millionen waren in Gefangenschaft, 1, 6 Millionen vermißt. Beim Roten Kreuz und ähnlichen Einrichtungen lagen fast zehn Millionen Suchanträge.

Nicht als Befreier, sondern als Eroberer waren die Alliierten gekommen, wie es in der Proklamation des Oberbefehlshabers Eisenhower hieß. Von dem, was sich abspielte, wo die Rote Armee das Land erobert hatte, gar nicht zu reden. Mit der Aufteilung Deutschlands in Besatzungszonen schufen die sich alsbald gegenseitig mißtrauenden Eroberer auch die Grundlage für die Teilung des Landes, das verurteilt war, Spielball der politischen Interessen der Siegermächte zu werden. Was gäbe es da zu feiern?

Und doch bestehen zureichende Gründe, das Datum nicht vorübergehen zu lassen, ohne eine Stunde der Besinnung einzulegen. Die geschichtliche Pflicht des Erinnerns ist von den Affekten unabhängig, die ein Ereignis auslöst. Was den 8. Mai 1945 und dessen 40. Wiederkehr betrifft, sind wir sogar aus zweifachem Grund zur Erinnerung verpflichtet, einmal wegen der Trauer um die Toten und um die verlorene staatliche Einheit des deutschen Volkes, zum anderen, weil wir uns zu fragen haben, ob die Katastrophe von damals nicht zu einem Wendepunkt unserer Geschichte geworden ist. Welche Chancen enthielt sie, und wie wurden diese genutzt?

Als der Erste Weltkrieg zu Ende gegangen war, kolportierte man ein Wort Walther Rathenaus, wonach die Weltgeschichte an dem Tage ihren Sinn verloren hätte, an dem der Kaiser als Sieger an der Spitze seiner Paladine auf weißen Rossen durch das Brandenburger Tor eingezogen wäre Um wie vieles mehr hätte man das von Hitler und seinen Schergen sagen können! Theodor Heuss, der erste Präsident der Bundesrepublik, hatte recht, wenn er, um das Zwiespältige am Da-tum des 8. Mai zu kennzeichnen, auf das Paradoxon hinwies, daß das, was einerseits Vernichtung und Unglück war, auch Erlösung bedeutete: Erlösung von einem Regime, das im Diktat der Menschenverachtung von Jahr zu Jahr sein wahres Gesicht deutlicher enthüllt hatte. Wir waren in einem vernichtet und erlöst. Die nationale Katastrophe konnte, weil sie das deutsche Volk von einem furchtbaren, die Menschen versklavenden und entwürdigenden Regime befreit hatte, zur Stunde der Wiedergeburt zentraler Werte unseres Daseins werden, der Menschlichkeit wie der Freiheit.

Natürlich setzte diese Entwicklung nicht sofort ein, nachdem Wilhelm Keitel die Kapitulation des Deutschen Reiches in Karlshorst unterzeichnet hatte wie Alfred Jodl in Reims zwei Tage zuvor. Das deutsche Volk wollte zunächst leben und nichts als leben. Als die Besatzungsmächte die Entwicklung politischen Lebens in Deutschland zuließen, waren immerhin die zur Stelle, die sich von Hitler nicht hatten korrumpieren lassen und die demokratischen und liberalen Ideen durch die Jahre der Barbarei gerettet hatten. Nicht zuletzt wurde auch das Vermächtnis des Widerstandes bei den Bemühungen wirksam, dem politischen Leben eine geistige Grundlage zu geben, und der neue demokratische Konsens, den diese politischen Eliten bildeten, die nicht bloß Zuschauer ihres Schicksals sein wollten, besaß die Kraft, sich in den westlichen Zonen auch institutionell zu verwirklichen. Genau vier Jahre nach dem Tag der Kapitulation, am 8. Mai 1949, schloß der Parlamentarische Rat im Museum König seine Beratungen mit der Annahme des Grundgesetzes ab. In die Wirklichkeit der Geschichte gestellt, wollte dieses kein perfekter Staatsbau sein. Es vermochte aber wenigstens einem Teil des Deutschen Volkes ein politisches Leben in Freiheit zu geben.

Heute kann man sagen, daß das Experiment gelang. Der Staat der Bundesrepublik wurde etwas Neues nicht nur gegenüber dem untergegangenen NS-Regime, sondern auch gegenüber der Weimarer Republik. Zum ersten Mal entstand auf deutschem Boden eine Staatsordnung mit einer im westlichen Sinne bürgerlichen Lebensform. Waren die Jahre der Weimarer Republik — mit Richard Löwenthal zu sprechen — eine Zeit formloser Gärung gewesen, so entwickelte sich auf dem Hintergrund des tiefen Umbruchs, den NS-Regime, Krieg und Zusammenbruch darstellten, aber auch auf der Grundlage einer durch eben diese Ereignisse aufgelockerten Sozialstruktur eine neue Staatlichkeit. Daß diese weit entfernt ist von dem, was vorher in Deutschland gewesen war, muß selbst der anerkennen, der weiß, daß es in der Geschichte nie eine „Stunde Null" gibt und daß Traditionen in der politischen Kultur eines Volkes auch dann fortwirken, wenn man sie begraben wähnt.

II. Aus dem Maßlosen ins Maßvolle: Recht als Maß der Macht

Will man den Geist kennzeichnen, in dem die neue Staatlichkeit für die drei westlichen Besatzungszonen geboren wurde, so bietet sich die Formel an: Aus dem Maßlosen in das Maßvolle. Zweifach entfaltete sich dabei die politisch-sittliche Haltung, die das Volk einigen sollte:

1. in dem Bestreben, nicht wieder — wie in der Weimarer Verfassung — Demokratie als politische Form des Wertrelativismus zu begreifen, sondern als eine an bestimmte Grundwerte gebundene wertorientierte politische Ordnung; und 2. in dem Auf-und Ausbau eines Rechtsstaates, wie ihn die deutsche Geschichte und — das darf man hinzufügen — auch die anderer Nationen ihn bislang nicht gekannt hatten.

An der Spitze der Aussagen des Grundgesetzes zur Wertgebundenheit des politischen Systems steht das Bekenntnis zur Würde des Menschen Es handelte sich dabei um eine von allgemeiner Zustimmung getragene Reaktion auf den Sturz in die Barbarei während des Jahrzwölfts, in dem Hitler und die Nazis regierten. Die Machthaber des Regimes hatten bei jeder Gelegenheit von der Menschlichkeit abfällig als Humanitätsduselei gesprochen und sich angestrengt, die Deutschen zu Fanatismus, Härte und Herrenmenschtum zu erziehen. Grillparzers düstere Voraussage, wonach der Weg von der Humanität über die Nationalität zur Bestialität geht, war so weit Wirklichkeit geworden, daß man die moralischen Verheerungen, die das NS-Regime angerichtet hatte, als schlimmer als die Trümmer bezeichnen mußte, die es hinterließ.

Nach dem Zusammenbruch des Regimes war denn auch Lessings „Nathan" — also das Hohelied der Menschlichkeit — das erste Theaterstück gewesen, das im zerstörten Berlin aufgeführt wurde, und man war der Auffassung, daß wenn die Erneuerung Deutschlands nach den moralischen Verwüstungen der Hitlerzeit überhaupt gelingen würde, dieses neue Deutschland nur auf der Grundlage der Humanität würde aufgebaut werden können. Traumatisch war aber auch der Rückblick auf die Weimarer Republik. Da man in deren Permissivität einen der Gründe für ihr Scheitern sah, wollte man nicht wieder eine jeder beliebigen politischen Zielsetzung zur Verfügung stehende Formaldemokratie schaffen, sondern dem neuen Staat ein positives Ziel setzen, und dieses sollte in der Orientierung am Menschen, an der menschlichen Persönlichkeit, an der menschlichen Würde bestehen. Historisch betrachtet war das ein durchaus kühnes Unterfangen: Es lief auf nichts weniger als auf den Bruch der deutschen Rechtstradition hinaus, wie sie Bestandteil der deutschen politischen Kultur war. Denn die deutsche politische Kultur war dadurch gekennzeichnet, daß ihr der einzelne Mensch wenig bedeutete. Nicht in der Entfaltung seiner Persönlichkeit, wie der Humanismus es will, sondern im Dienst für ein Abstraktum — den Staat — sollte es Erfüllung finden. Demgegenüber ist der Ansatz des Grundgesetzes weder der Staat noch eine andere Obrigkeit, aber auch nicht der Gesetzgeber (wie es klassischem Demokratieverständnis entsprochen hätte), sondern der Bürger. Die in den Grundrechten dargestellten unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte setzen dem Staat eine unübersteigbare und unaufhebbare Grenze seiner Gewalt. Die Weimarer Republik kannte eine solche Bindung nicht. In ihr galten die Grundrechte, zugespitzt ausgedrückt, nur im Rahmen der Gesetze, während heute die Gesetze gelten, soweit sie den Grundrechten nicht widersprechen, über ihren Abwehrcharakter gegen staatliche Eingriffe hinaus schreiben diese Fundamental-normen allen staatlichen Gewalten zugleich vor, wie sie der Würde des Menschen zu dienen haben. Der parlamentarische Gesetzgeber, auf den die Weimarer Republik abstellte, wurde damit entthront. Er ist nicht mehr allmächtig, sondern selber um des Menschen willen einem höheren Menschenrecht unterworfen. Alle Obrigkeit — sofern dieser Ausdruck überhaupt noch brauchbar ist — wurde auf diese Weise von der herrschenden in eine dienende Funktion versetzt.

Dieser Gebundenheit entsprach die Absage an das, was man in der Weimarer Republik unter der Neutralität des Staates verstand, nämlich seine schon erwähnte Offenheit jeder beliebigen Zielsetzung gegenüber. Das Grundgesetz nimmt jeden Bürger und in besonderer Weise die politischen Kräfte der Gesellschaft in Pflicht. Es sollte in der Bundesrepublik keine Freiheit für die Feinde der Freiheit geben. Deshalb wurde statuiert, daß verfassungsfeindliche Parteien der Auflösung unterliegen, und Bürger, die ein Grundrecht zum Kampf gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung mißbrauchen, dieses Grundrecht verwirken. Die Bundesrepublik sollte also kein System sein, in dem die Verfassung jeweils das und nur das ist, was die Gesellschaft jeweils als Verfassungsinhalt feststellt, sondern eine Ordnung, in der Politik nur in der Bindung an den Werterahmen, den die Verfassung ein für allemal vorgeschrieben hat, gemacht werden dürfe.

Kein Gesetz, das Bundestag und Bundesrat beschließen, kein Akt der Verwaltung, kein Urteil eines Gerichts, so haben es die Verfas5 sungsväter in das Grundgesetz hineingeschrieben, darf sich in Widerspruch zu diesem Wertesystem setzen. Wo ein Widerspruch aufkommt, ist die Verfassung verletzt und das Bundesverfassungsgericht zur Korrektur berufen. Was in diesem kühnen Gedanken aufschimmerte, wurde ergänzt und vervollständigt durch die Etablierung eines Rechtsstaats, wie er in der Geschichte ohne Beispiel ist. Die Öffentlichkeit hat es sich angewöhnt, vornehmlich auf das Bundesverfassungsgericht zu schauen, wenn von der Bändigung der staatlichen Gewalt durch das Recht die Rede ist. Man muß aber darauf hinweisen, daß die Verfassungsgerichtsbarkeit nur eine institutioneile Spielart des richterlichen Prüfungsrechts gegenüber den Gesetzen ist und daß es ein nicht minder kühner Gedanke der Verfassungsväter war, den klassischen liberalen Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der vollziehenden Gewalt dadurch effizient zu machen, daß mit der Rechtswegklausel des Art. 19 GG ein lückenloser Rechtsschutz gegen Maßnahmen der staatlichen Gewalt gewährleistet wurde. Die damit verbundene Beendigung des Schwebezustandes der Verwaltungsgerichtsbarkeit zwischen Justiz und Verwaltung und die Etablierung einer ausgedehnten Verwaltungsgerichtsbarkeit sind die sichtbaren Merkmale der Verwirklichung dieser verfassungsstrukturellen Tendenz im Rechtssystem der Bundesrepublik. Auch in der sprachlichen Fassung des Art. 92 GG, wonach die recht-sprechende Gewalt den Richtern anvertraut ist, kommt diese Aufwertung zum Ausdruck; kein anderer den Staatsfunktionen gewidmeter Abschnitt des Grundgesetzes ist, wie Klaus Stern zutreffend hervorgehoben hat, mit einer so inhaltsschweren Aussage eingeleitet worden. Die Rechtsprechung sollte nicht mehr im Schatten von Legislative und Exekutive stehen, sondern beide Gewalten im System der freiheitsverbürgenden checks und balances kontrollieren. Auf diese Weise entstand eine Verfassungslage, in welcher der Richter in jedem Falle das letzte Wort hat und das Prinzip der Gewaltenteilung zu einer besonderen Art der justizförmigen Kontrolle überhöht wurde

III. Kein Anachronismus, sondern Antwort auf gesellschaftliche Herausforderung

Man hat oft versucht, die in dieser Weise getroffene Verfassungsentscheidung für das Recht als Maß der Macht herunterzuspielen, etwa — mit Werner Weber — darin einen „gefährlichen Anachronismus" zu sehen. Nichts ist indessen falscher als das. Man verkennt die historische Ausgangssituation wie die gesellschaftliche Dimension der grundgesetzlichen Entscheidung, wenn man glaubt, darin einen romantischen Rückfall in die Vorstellungswelt des 19. Jahrhunderts sehen zu können. Tatsächlich handelt es sich um den zukunftsorientierten Versuch, eine angemessene Antwort auf die Herausforderungen zu geben, die sich aus der aktuellen wie aus der prinzipiellen Situation ergaben.

In jenen Jahren gab es kein Wort, das so oft gebraucht wurde wie das Wort Recht. Rechtlosigkeit war die Signatur der Nazizeit gewesen, in der gleichsam die niederen Dämonen in realer, politisch und gesellschaftlich zu erklärender Gestalt Deutschland beherrscht hatten. Nach der Kapitulation setzte sich in nicht wenigem der Triumph der Macht über das Recht fort. Infolgedessen bestand ein elementares Bedürfnis, ein Hunger nach Gerechtigkeit. Gustav Radbruch schrieb damals „Demokratie ist ein preisenswertes Gut, Rechtsstaat aber ist wie das tägliche Brot, wie Wasser zum Trinken und wie Luft zum Atmen, und das Beste an der Demokratie gerade dieses, daß nur sie geeignet ist, den Rechtsstaat zu sichern". Und ein anderer bedeutender Rechtsdenker jener Tage, Adolf Arndt, sprach in bezug auf die Rechtsnot des Volkes unter Hitler davon, daß Rechtlosigkeit unbehauster mache als das Niederbrennen unserer Gebäude, hungriger als der Mangel an Brot, durstiger als ein Entbehren von Wasser

Ausgangspunkt war die Erkenntnis, daß sich die Staatstätigkeit in allen Industriestaaten in einem früher unvorstellbaren Maß ausgedehnt hatte. Staatsintervention, Bürokratisierung, Mechanisierung und die dadurch bewirkten Abhängigkeiten waren die erkennbaren Trends, denen man sich nicht willenlos fügen wollte. Je mehr die Macht der Apparate wuchs, um so notwendiger erschien es, die Freiheit des Bürgers mit den Mitteln des Rechts zu stärken. Jedes Gesetz ist aber zunächst nur ein Stück Papier. Um Recht zu gewährleisten, ein Gesetz effektiv zu machen, bedarf es des Rechtsschutzes, der Rechtspflege und damit des Richters.

Aus diesem Ansatz her erklärt sich die das herkömmliche deutsche Verfassungsdenken transzendierende Aktivierung des Rechtsstaatsprinzips. Um der Freiheit des Bürgers willen sollte die Macht von Legislative und Exekutive beschränkt werden. Die klassische Lösung der Gewaltenteilung erschien jedoch nicht mehr als zureichend, um den modernen Leviathan zu zähmen. Der altliberale, bürgerliche Rechtsstaat war ein „Gesetzesstaat" gewesen, der sich damit begnügt hatte, für das Handeln der als frei vorgestellten Individuen den Rahmen zu setzen. Auf dem realen Hintergrund der bürgerlichen Gesellschaft jener Zeit glaubte man damals Staat und Gesellschaft als getrennte Sphären definieren und zur Bändigung der Staatsmacht auf das Prinzip der Gesetzmäßigkeit vertrauen zu können. Seitdem sich der Staat im Interesse des menschenwürdigen Lebens aller, also aus Gründen sozialer Gerechtigkeit, genötigt sieht (manchmal auch nur genötigt glaubt), in die Sozialordnung einzugreifen, hat sich die Lage indessen grundlegend gewandelt. Das Gesetzmäßigkeitsprinzip allein bietet keinen ausreichenden Schutz vor staatlicher Allmacht mehr; es muß vielmehr Vorsorge getroffen werden, daß die ganze Macht des Staates von dem Gedanken des Rechts getragen wird. Aus diesem Grunde wurde der Staat des Grundgesetzes nicht bloß, wie es altliberaler Tradition entsprochen hätte, als „Gesetzgebungsstaat“, 10 sondern ebenso sehr auch als „Rechtsprechungsstaat“ konzipiert -Der rechtsprechenden Gewalt wurde die Rolle des Garanten oder Hüters des Rechtsstaates zugewiesen, der auch über die Gewaltenteilung selbst wacht.

Eine starke Portion Mißtrauen kam hinzu, die man angesichts der geschichtlichen Erfahrungen nicht ohne Grund der Demokratie entgegenbrachte. Schließlich war Hitler auf formal demokratischem Wege und unter Zustimmung jubelnder Menschenmassen an die Macht gekommen. Recht und Justiz erschienen gegenüber demokratischen Tendenzen als mäßigendes Element geeignet, Gegengewichte gegen die unberechenbare Volksherrschaft zu bilden

Freilich steht die Zeit nicht still, und dies schon gar nicht im politischen Prozeß. Es läßt sich, so angestrengt auch das Bemühen des pouvoir constituant sein mag, im Fluß geschichtlicher Entwicklungen und politischer Vorgänge nicht ein für allemal festlegen, wie Verfassungen zu interpretieren sind. Das Phänomen des stillen Verfassungswandels gibt es ebenso, wie eine gewisse Dehnbarkeit zu den Merkmalen aller Verfassungen gehört. Ein Verfassungstext besteht nicht aus toten Buchstaben, sondern aus lebendigen Worten, die auf jede neue Bedingung angewendet werden müssen. Was immer die Verfassungsväter in den Text hineingeschrieben haben, jede Verfassung ist im wesentlichen das, was man aus ihr macht.

Wo eine machtvolle Verfassungsgerichtsbarkeit existiert, sind es oft die Verfassungsrichter, die sagen, welchen Inhalt eine Verfassungsnorm hat. Das ist in der Bundesrepublik* nicht anders als in den Vereinigten Staaten, in denen das berühmte Bonmot geprägt wurde: „The Constitution is what the Supreme Court says it is" Insbesondere findet der Zeitgeist mannigfache Möglichkeiten, sich in der Verfassungsrechtsprechung auszudrücken. Einmal ist die Geschichte der Verfassungsgerichtsbarkeit geprägt von der Sensibilität, die Verfassungsrichter für politische Kräfteverhältnisse, für echte oder auch nur vermeintliche Strömungen der öffentlichen Meinung und für Veränderungen im gesellschaftlichen Bewußtsein haben. Die Arbeit eines Verfassungsgerichtshofs wird nicht so sehr durch die Pläne der Vergangenheit vorwärtsgetrieben als von den Hoffnungen der Zukunft. So kommt es, daß die Verfassung als etwas aus eigenem Recht Bestehendes über die ursprünglichen Hoffnungen oder Absichten hinauswächst.

Daneben wirkt sich die politische Praxis auf die Verfassung aus. Diese trachtet danach, die Bindungen wenn nicht zu sprengen, so doch zu umgehen, die ihr das Recht auferlegt; und es ist teils reizvoll, teils bedrückend, den Wegen nachzugehen, in denen sich diese Umbildung der Rechts-und Verfassungsordnung vollzieht.

Eine große Rolle spielt auch die ideologisch-begriffliche Auseinandersetzung um Verfassungspositionen und -schlüsselbegriffe. Der Kampf um die Wörter beeinflußt das Verfassungsleben wie das Verfassungsbewußtsein und kann im Verein mit der politischen Praxis eine Lage schaffen, der gegenüber die •Positionen der Verfassung Gefahr laufen, zunehmend als anachronistisch empfunden zu werden, als Bestandteil des „dignified part"

der Verfassung, ohne Entsprechung in der Realität.

IV. Das Fundament steht fest, aber die Besorgnisse mehren sich

Betrachtet man die Entwicklung des bundes-republikanischen Rechtsstaats unter diesen Gesichtspunkten, so ist festzustellen, daß das Fundament feststeht, auch wenn der Blick in die Zukunft nicht frei von Besorgnissen ist

Die Wertgebundenheit des politischen Systems gehört nach wie vor zu den Fundamentalsätzen der politischen Ordnung der Bundesrepublik. Das gilt besonders von dem Bekenntnis zur Würde des Menschen und von dem Sinn für persönliche Freiheit und individuelle Rechte. Daß der letztere enorm gewachsen ist, ist um so bemerkenswerter, als es sich um einen revolutionären Bruch mit der deutschen Tradition handelt, wie ihn noch in den sechziger Jahren, als Ralf Dahrendorf von den heiligen Schulen der Beharrung und andere von den verkrusteten, erstarrten Verhältnissen in der Bundesrepublik sprachen, wohl kaum einer für möglich gehalten hatte. Nie hatte Deutschland jenen elementaren Liberalismus erlebt, den andere Völker als prägendes Element erfahren und in ihr Selbstverständnis aufgenommen haben. Aus der Geschichte mißglückter Freiheitskämpfe war den Deutschen kaum mehr als die „Angst vor dem Atem der Freiheit" (Theodor Heuss) geblieben, und die Schärfung des Sinns für persönliche Freiheit war deshalb ein Anliegen großes der Nachkriegspädagogik. Heute nun braucht niemand mehr zur Zivilcourage zu ermutigen. Man kann vielmehr feststellen, daß es in Deutschland noch nie eine Gesellschaft gegeben hat, für die individuelle Freiheit und eigenes Handelsvermögen so wichtig gewesen sind wie für die gegenwärtige. Gesellschaftlicher Ausdruck dieser Freiheitsbewegung ist vor allem die Emanzipation der Frau, die sexuelle Selbstbestimmung eingeschlossen. Auf dem juristi-sehen Feld werden die Grundrechte weiter denn je interpretiert. So ist heute von einer Beeinträchtigung der Menschenwürde und Handlungsfreiheit schon in Fällen die Rede, die früher niemand auch nur entfernt damit verbunden hätte. Das vom Bundesverfassungsgericht geschaffene informationelle Selbstbestimmungsrecht und der Ruf nach einem Recht auf Privatheit sind, so gesehen, nur die Spitze eines Eisberges. Wenn es je eine „Gesellschaft der Freiheit" geben kann, so kommt die Gegenwart diesem Ideal recht nahe.

Intellektueller Redlichkeit entspricht es daher, nicht bloß die Defizite aufzuzählen, die uns hindern, den Idealzustand als erreicht anzusehen, sondern auch einzuräumen, in welch hohem Maß das Staatsziel „Freiheit in menschenwürdiger Existenz" verwirklicht werden konnte (und dies nicht nur in Zeiten des Wohlstands, sondern auch unter den Bedingungen hoher Arbeitslosigkeit und einer starken Immigration von Ausländern).

Freilich werden Zwang und Gewalt oft nur geächtet, soweit sie die eigene Person betreffen, weniger, wenn sie anderen auferlegt werden. Auch ist das gesteigerte Freiheitsbedürfnis oft nicht bereit, die mit der Liberalität verknüpfte Folge einer höheren Kriminalitätsbelastung auf sich zu nehmen. Nicht zu verkennen ist auch, daß der starken Betonung der individuellen Freiheit vielfach noch keine gesteigerte soziale Verantwortlichkeit korrespondiert. Die Chancen für Selbstverwirklichung werden vornehmlich im privaten Bereich und nicht in der Leistung für das allgemeine Beste gesucht, wobei der zumindest in der Jugend noch immer anzutreffende Mangel an geschichtlichem Bewußtsein die Identitätsfindung erschwert.

V. Zu weit getriebene Verrechtlichung

Ambivalenzen bei der Verwirklichung der Neuansätze nach 1945 machen sich aber nicht nur in der Inanspruchnahme der Grundrechte, sondern ganz allgemein im Rechtsleben bemerkbar. Der Ausbau des Rechtsstaats ist so weit getrieben — um nicht zu sagen: perfektioniert — worden, daß er sich selbst um seine Wirkung zu bringen droht. Die Inanspruchnahme der Verfassungsgerichtsbarkeit durch den einzelnen Bürger und engagierte Anwälte wie durch die im Parlament bei Abstimmungen unterlegenen Parteien bedeutet nicht nur für die Arbeitskraft des Gerichtes eine über das Zuträgliche hinausgehende Belastung, sondern setzt auch das politische System und besonders die Gesetzgebung ernsten Lähmungstendenzen aus. Sicher gleicht der Saal, in dem das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe verhandelt, nicht dem Tempel zu Delphi, und die Richterbank, an der die rot berobten Verfassungsinterpreten Platz nehmen, ist kein Dreifuß, von dem die Griechen die Orakel über das Schicksal ihres Volkes erwarteten. Daß dem Betrachter ein solcher Vergleich in den Sinn kommt, ist jedoch kein Zufall, sondern symptomatisch für die abhängige Rolle, in die sich das Parlament begeben hat. Ähnlich steht es um die Verwaltung in ihrem Verhältnis zur Verwaltungsgerichtsbarkeit.

Das hier auftauchende Problem geht weit über die Klagen hinaus, die die Hypertrophie der Rechtszüge in unserem-Justizsystem und die Verknappung der Ressource infolge ihrer häufigen Inanspruchnahme und umständlichen Arbeitsweise auslösen, so bedenklich diese Erscheinungen auch sind. Indem das Grundgesetz den politischen Prozeß der rechtlichen Kontrolle unterwarf, wollte es ohne Frage, daß das Bundesverfassungsgericht darin eine Rolle spielt, aber es sollte diese Rolle nicht allein spielen. Man ging davon aus, daß Legislative und Exekutive, Parlament und Verwaltung ihren eigenständigen, durch das Gewaltenteilungsprinzip gesicherten Bereich hätten. Infolgedessen beschäftigte man sich nicht mit der Frage, wie man diesen Organen helfen sollte, ihrer Aufgabe gerecht zu werden, sondern wurde gerade umgekehrt von der Sorge geleitet, daß diese machtvollen Gewalten ihre Befugnisse miß9 brauchen könnten. Ohne Frage bleibt diese Sorge unveränder aktuell. Inzwischen ist aber die Macht der Kontrolleure so groß geworden, daß unabweisbar die Frage auftaucht, wer die Kontrolleure kontrolliert, damit das Prinzip der „checks and balances" gewahrt bleibt.

Im Klartext heißt das, daß die Oberhoheit der rechtsprechenden Gewalt über die beiden anderen Gewalten in der Faktizität noch größer ist als in der Normativität. Viele der gesetzgeberischen Regelungen, mit denen der Bundestag seine Erfolgsbilanz schmückt, sind realiter kaum mehr als Nachvollzug und Festschreibung richterlicher Spruchpraxis. Das war sicher auch früher des öfteren so. Neu ist jedoch die Ängstlichkeit, mit der der Gesetzgeber auf die Rechtsprechung schaut. Es handelt sich hier nicht etwa um ein Thema, das allein das Bundesverfassungsgericht und die Gesetzgebung auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts betrifft. Auch und gerade im bürgerlichen Recht scheint sich der Gesetzgeber kaum noch die Fähigkeit zur Steuerung von Sozialprozessen zuzutrauen. Bezeichnend dafür ist der aus Anlaß der — ohnehin nur mit sehr begrenzten Zielsetzungen — geplanten Neuregelung des Schuldrechts geäußerte Zweifel, ob das Unternehmen überhaupt sinnvoll sei, „weil sich zumindest die höchstrichterliche Praxis niemals davon abhalten lassen wird, nach ihrer Ansicht offene Fragen so zu entscheiden, wie sie es bei fallbezogener Interessenwertung für richtig hält" -Die Kommentarliteratur spricht denn auch vom „grundlegenden Wandel im Selbstverständnis des Gesetzgebers" und ein die Lage überblickender Praktiker wie Horst Sendler urteilt über diesen lapidar: „Er ist nicht mehr souverän und fühlt sich auch nicht mehr souverän"

Für die Gegenwart wie für die Zukunft stellt sich daher die Frage, wie man die Effektivität der Arbeit in Regierung und Parlament steigern und deren Eigenständigkeit stärken kann. Das aber ist eine Frage, die zureichend nur beantwortet werden kann, wenn man die konkreten Schwächen des parlamentarischen Regierungssystems in der Bundesrepublik unter die Lupe nimmt. Denn diese Schwächen (und nicht der Drang nach hemmungsloser Machtentfaltung) sind es in erster Linie, die die rechtsprechende Gewalt über ihre Grenzen hinausgreifen lassen.

Hatten die Verfassungsväter in der Verrechtlichung der Beziehungen zwischen Bürger und Staat vor allem das Mittel zur Zähmung des Leviathan gesehen, so besteht heute Anlaß, darauf hinzuweisen,. daß eine zu weit getriebene Verrechtlichung ihre Schattenseiten hat.

Wenn es auch verfehlt wäre, mit Ernst Forsthoff eine „Rechtsentleerung" bei der Verwaltung als Ausfluß des perfekten Verwaltungsrechtsschutzes zu beklagen, so ist doch die Befürchtung negativer Auswirkungen auf die Verwaltungsverantwortung nicht von der Hand zu weisen. Anstelle von Kassandrarufen, die aus der Wertung, die Verwaltungsgerichte hätten den Beurteilungsspielraum der Verwaltungsbehörden nahezu zum Erlöschen gebracht, die Konsequenz der Rückkehr zu kontrollfreien Räumen ziehen, muß freilich die nüchterne Analyse treten, die von der Ambivalenz des Verhältnisses zwischen Verwaltungsgerichtsbarkeit und Verwaltungsverantwortung ausgeht: „Der Rechtsschutz steht in der Gefahr, die Verwaltung in der verantwortlichen Wahrnehmung ihrer Obliegenheiten zu hemmen und der Verwaltung Verantwortung abzunehmen in Bereichen, in denen sie die Verantwortung nur allein tragen kann und dem Gericht keine Letztverbindlichkeit der Entscheidung zukommt. Auf der anderen Seite kann die Rechtsfragen klärende und gesellschaftsbefriedende Rechtsprechung mit ihrer auch edukativen Funktion der Verwaltung die Verantwortung nicht unerheblich erleichtern. Der Effekt der Erleichterung der Verwaltungsverantwortung kann wiederum dazu führen, daß die Verwaltung die Verantwortung auf die Gerichte abwälzt."

Die Kritik kann daher nicht der Institution der Verwaltungsgerichtsbarkeit als einer solchen gelten, sondern nur der Handhabung der Kontrolle durch die Gerichte, die dazu führt, daß die Verwaltung aus der Verantwortung entflieht und die Verwaltungsgerichtsbarkeit dazu mißbraucht, Verantwortung abzuschieben, „um aufgrund ihrer rechtlich gebotenen Urteile Akte zu vollziehen, für die politische Instanzen sich scheuen, die Verantwortung zu übernehmen, obwohl sie rechtlich dazu verpflichtet sind" Insbesondere kommt es darauf an, das Kontrollinstrumentarium bereichsspezifisch zu gestalten.

Zu den sozialen Kosten der Verrechtlichung gehört auch die Erfahrung des Bürgers, daß der komplizierte Rechtsweg durch die Instanzen der Verwaltung und der Verwaltungsgerichtsbarkeit einen beträchtlichen, sich oft über Jahre erstreckenden Aufwand von seelischer Kraft, Zeit und Geld erfordert, aber im Ergebnis ihm nur Steine statt Brot gibt, weil die Gerichte bei aller Kontrolldichte Probleme materieller Gerechtigkeit nicht befriedigend lösen können. Als Ergänzung des rechtlichen Kontrollsystems bietet sich für solche Fälle die Einrichtung des Ombudsman an; weder Art. 19 Abs. 4 GG noch die Existenz einer funktionierenden Verwaltungsgerichtsbarkeit machen ein solches Hilfsorgan überflüssig Inwieweit die Bestrebungen zur Vereinheitlichung der Verwaltungsprozeßordnungen Erfolg haben, bleibt abzuwarten; es geht, richtig verstanden, nicht bloß um Entlastung und Beschleunigung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, sondern um deren größere Effizienz.

Juristen, für die der Umgang mit Rechtsschutzeinrichtungen eine tägliche Gewohnheit ist, unterschätzen oft das Ausmaß der Unannehmlichkeiten, Widerwärtigkeiten und Nachteile, kurz: der psychischen Belastung, die für den Bürger mit jedem gerichtlichen Verfahren verbunden ist. Insbesondere leidet der ungewandte Bürger, der sich keinen Anwalt leisten kann, darunter. Solche Belastungen sollten daher vermieden werden, wo immer das ohne Einbuße an effektivem Rechtsschutz möglich ist.

Darüber hinaus ist Kritik an der Gesetzesproduktion unerläßlich. Verfehlt wäre es allerdings, wenn man sich vor den Karren einer unreflektierten Kritik an der Gesetzesflut spannen lassen wollte. Der moderne Sozialstaat braucht nun einmal mehr Normen als sein altliberaler Vorgänger, der den Rahmen für gesellschaftliche Entwicklungen schaffen, aber diese nicht beeinflussen wollte. Ein bedenkliches, auf eine Fehlentwicklung hindeutendes Zeichen ist es aber, daß sich unter den Gesetzen, die die Gesetzgebungsmaschinerie verlassen, immer wieder überflüssige befinden, während solche Gesetze, die die Gesellschaft dringend benötigt, nicht zustande kommen, weil die politischen Prioritäten anders, nicht zuletzt in Richtung auf überflüssige Gesetze, gesetzt werden. Charles-Louis de Secondat, Baron de la Bröde et de Montesquieu hat eine wichtige Maxime der rechtsstaatlichen Gesetzgebung formuliert, als er schrieb: „Wenn es nicht nötig ist, ein Gesetz zu erlassen, ist es notwendig, es nicht zu erlassen." Wird diese Mahnung in die Bürokratensprache von heute übersetzt, so heißt das: Kein Gesetz ohne Regelungsbedarf. Daß der Bundestag leider immer wieder in die Versuchung gerät, gegen diese Maxime zu verstoßen, ist bekannt

Macht man sich klar, wie sehr die übertriebene Verrechtlichung Herrschaftswillen artikuliert, so ist es keine Übertreibung, die Gesamtheit dieser Tendenzen unter den Terminus Rechtsimperialismus zu fassen. Rechtsimperialismus, die Herrschaft des Rechts über die Menschen, widerspricht aber dem großen Ansatz des Grundgesetzes, wonach das Recht nicht den Menschen beherrschen, sondern ihm dienen soll.

VI. Erosion des Rechtsbewußtseins

Eine weitere Gefährdung des Rechtsstaats, der wir uns jetzt zuwenden wollen, ist noch größer und auch schmerzlicher als die bereits skizzierte. Es handelt sich um eine Erosion des Rechtsbewußtseins, die sich darin äußert, daß die Unverbrüchlichkeit und die Allgemeingeltung des Rechts in Frage gestellt werden, wobei die Berufung auf dem Recht überlegene Werte, um Rechtsverletzungen zu rechtfertigen, beabsichtigt oder unbeabsichtigt zur Delegitimierung des Rechtsstaats beiträgt. Bedenkt man, daß Unverbrüchlichkeit und Allgemeingeltung des Rechts nach dem Geschehen in der Nazizeit eine essentielle Reaktion auf das nationalsozialistische Terrorregiment gewesen sind, so dürfte evident sein, weshalb hier von einer deprimierenden Erfahrung gesprochen werden muß.

Als Normenkomplex ist das Recht ein Bewußtseinsinhalt. Realität erlangt dieser, wenn sich Menschen von ihm leiten lassen oder wenn er vom Rechtsapparat gegen Widerstreben durchgesetzt wird. Heute nun kann man jeden Tag die Beobachtung machen, daß das Recht dort, wo es um politische oder um vermeintlich politische Auseinandersetzungen geht, bewußt beiseite geschoben wird.

Die Beispiele, die eine solche Erosion des Rechtsbewußtseins indizieren, sind bekannt. Es genügt der Hinweis auf Instituts-und Hausbesetzungen, Kasernenbelagerungen und Straßenblockaden, Ausschreitungen beim Arbeitskampf, Betriebsbesetzungen (die der Deutsche Gewerkschaftsbund ablehnt), auch auf die Ankündigung eines süddeutschen Wirtschaftsministers vom Mai 1984, Fernfahrern, die Straßen blockierten, um bestimmte Forderungen durchzusetzen, Straffreiheit zu gewähren. Auch die Parteispendenaffären gehören in diesen Zusammenhang, und zwar in ihrem gesamten Umfang, von der Weitergabe von Ermittlungsvorgängen an Presseorgane über die sogenannten Vorverurteilungen bis zu dem Versuch, mittels einer Amnestie diese Fälle der Justiz zu entziehen, statt sie der von ihr vorzunehmenden Einzelfallfeststellung und -bewertung zu überlassen. Interessant ist hier sowohl die Motivation derjenigen, die das Recht verletzen, als auch die Unschlüssigkeit der staatlichen Reaktion, ob gegen die Rechtsverletzungen etwas unternommen werden soll oder nicht. Die Protestierenden schieben das Recht beiseite, weil sie bestimmte politische Ziele haben, und sie halten sich, siehe Rhetorik-Professor Walter Jens und Theologie-Professor Norbert Greinacher wenigstens teilweise für berechtigt, um dieser Ziele willen die rechtlichen Regelungen zu mißachten. Bei der Frage, ob gegen die Rechtsverletzung eingeschritten werden soll, scheint eine erhebliche Rolle zu spielen, wie man dem mit der jeweiligen Rechtsverletzung verfolgten Anliegen und den agierenden Personen gegenübersteht: ob positiv oder negativ, ob ablehnend oder mit Sympathie. Darüber hinaus wird die Entscheidung, ob eingeschritten werden soll oder nicht, offensichtlich von der Sorge beeinflußt, mit Machtmitteln nichts Effektives ausrichten, wohl aber zu einer Eskalation beitragen zu können. In jedem Fall wird also die politische Motivation und Zwecksetzung bei Rechtsverletzungen als Grund betrachtet, die Lage anders zu beurteilen als sonst bei Rechtsverletzungen, wofür der Fehlgebrauch des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nicht einmal das drastischste Beispiel ist. Legalität sieht sich konfrontiert mit in Anspruch genommener Legitimität. Unter Berufung auf die Demokratie wird die Bindung an das Recht in Frage gestellt, nicht generell, wohl aber partiell. Damit aber fallen zwei Begriffe auseinander, an deren Identität wir uns gewöhnt hatten. Im Rechtsstaat, so hatte man seit 1949 gelehrt, ist die Legalität auch die Legitimität. Jetzt wird diese Identität aufgekündigt. Sogenannte demokratische Legitimität wird gegen Legalität ausgespielt, ein vermeintlich höherer Wert gegen einen vermeintlich niedrigeren.

Sucht man nach einem Begriff, um diese Situation zu kennzeichnen, so stößt man auf den des selektiven Rechtsgehorsams Das Recht beansprucht für alle Menschen, die in einem Gemeinwesen leben, verbindlich zu sein. Diese Allgemeinverbindlichkeit aber wird ihm bestritten. Der Bürger wählt aus, wo er dem Recht gehorchen und wo er ihm nicht gehorchen will. Damit aber taucht das Bild von zwei Rechtsordnungen auf, die nebeneinander gelten: die eine für das bürgerliche Leben, die andere für das politische Verhalten. Politische Motivationen, gleich welcher Art, sollen ein Grund sein, das bürgerliche und das Strafrecht außer Kraft zu setzen. Daß ein selektiver Rechtsgehorsam aber die Rechts-treue, d. h.den Rechtsgehorsam, ganz allgemein schwächt, wird leichten Herzens gleichsam weggewischt. Wie kann man jedoch erwarten, daß der Bürger das Recht respektiert, wenn er sehen muß, daß diejenigen, die das Recht mißachten, keine Sanktion zu erwarten haben?

Die Warnung, mit dem Recht nicht leichtfertig umzugehen, kommt hier nun nicht aus der etatistischen Ecke. Es ist nicht zu bestreiten, daß der Rechtsstaat eine gewisse Dosis direkter Aktion und provokanter Illegalität verträgt. Unorthodoxe Methoden können, unter Umständen, die Etablierten aufrütteln, das gute Gewissen der Privilegierten beunruhigen. Der freiheitliche Rechtsstaat gründet sich jedoch auf die Achtung vor dem Recht, die Duldung von Illegalität erschüttert ihn. Zudem kann die Erinnerung an das Ende der Weimarer Republik nicht aus dem politischen Bewußtsein gestrichen werden. Unter Ausspielung einer höheren Legitimität, die der schlichten Legalität entgegengesetzt wurde, ist damals ein demokratischer Rechtsstaat aus den Angeln gehoben worden. Hinzu kommt, daß das Recht in der modernen Gesellschaft eine spezifische Bedeutung besitzt, die sich alle klarmachen sollten, die versucht sind, das Recht gering zu achten.

Wer offenen Auges durch die Welt geht, kann nicht übersehen, daß unsere Gesellschaft durch eine Pluralität der Einstellungen, Meinungen und Werte gekennzeichnet ist, die es in vielen Fällen schwer macht, einen Konsens über wichtige Probleme des sozialen Lebens herzustellen. Die inhaltliche Übereinstimmung schwindet. Nicht nur die politischen Auffassungen darüber, was dem Gemeinwohl nützt, treten sich häufig diametral gegenüber; oft steht, wenn es um die Abgrenzung zwischen Erlaubtem und Unerlaubtem geht, Moral gegen Moral. Man spricht von Permissivität. Alles ist erlaubt, nichts verboten.

In dieser Lage, in der Über-Ich und innerer Kompaß die Menschen weit weniger als früher zu steuern vermögen, gewinnt das Recht gesteigerte Bedeutung. Die Normen des Rechts werden zum Kitt, der die auseinander-strebenden Angehörigen des Gemeinwesens zusammenhält. Diese Aufgabe kann die Rechtsordnung freilich nur erfüllen, wenn sie Widerhall im Denken und Handeln der Bür-4 ger findet. Fehlt es an der Verankerung im gesellschaftlichen Bewußtsein, so entbehrt das Recht seiner Wirkungskraft; es besteht auf dem Papier fort und ist juristisch in Geltung, übt aber keinen bestimmenden Einfluß auf das Denken und Verhalten der Bürger aus.

Der Begriff des Pluralismus — das sei hier bemerkt — wird verfassungspolitisch falsch interpretiert, wenn er als Indifferentismus gegenüber der Gültigkeit der in der Verfassung verkörperten Normen und Werte aufgefaßt wird. Der dem Grundsatz und der von ihm geprägten politischen Kultur gemäße Pluralismus hat nichts mit Permissivität zu tun. Wie der amerikanische Pluralismus, so fußt auch er auf dem in der Verfassung als verbindlich festgelegten Rahmen von Werten, innerhalb dessen der Spielraum für eine Vielfalt von Interessen und Ausdrucksmöglichkeiten von Gruppen und Individuen liegt.

Damit wird keinem Kirchhofsfrieden das Wort geredet. Die politische und soziale Auseinandersetzung gehört zur Demokratie. Eine lebendige Gesellschaft ist eine Gesellschaft mit Konflikten. Entweder werden diese Konflikte auf friedfertige Weise im Rahmen der rechtlichen Institutionen gelöst, dann können diese Spannungen abgebaut werden, oder aber die Explosion ist unvermeidbar, und die Freiheiten bleiben auf der Strecke.

Bei dieser Sachlage können die Bestrebungen, den rechtswidrigen Erscheinungsformen des zivilen Ungehorsams Anerkennung zu verschaffen, keine Plausibilität beanspruchen. Man muß zwischen der Äußerung von Meinungen und der Ausübung von Pression unterscheiden. Handelt es sich um Meinungen, die im geistigen Meinungskampf wirksam werden sollen, so steht dem Protestierenden der Schutz des Grundrechts aus Art. 5 GG zur Seite. Aktionen wie die Belagerung von. Amtsgebäuden sind jedoch unbeschadet des ihnen beigelegten Demonstrationscharakters keine Meinungsäußerung mehr. Nichts anderes gilt von Ungehorsamsaktionen wie der Steuerverweigerung und dem Vordringen in die Bannmeile. Bei der Steuerverweigerung wird die Erfüllung einer staatsbürgerlichen Pflicht abgelehnt, bei dem Eindringen in die Bannmeile sogar mit Körpergewalt versucht, das Parlament unter Druck zu setzen. Sinn des Rechts der Meinungsäußerung ist es, geistige Wirkung auf die Umwelt ausgehen zu lassen, im Kampf der Meinungen meinungsbildend und überzeugend auf die Gesellschaft zu wirken. Die Reichweite von Art. 5 GG ist dadurch begrenzt auch und gerade, wenn in diesem Grundrecht mit der Rechtsprechung nicht nur ein die individuelle Freiheit schützendes Abwehr-, sondern ein politisches Bürger-und Aktionsrecht und Aufruf zu tätiger Mitarbeit am Staat gesehen wird. Handlungen jenseits des in Freiheit zu führenden geistigen Meinungskampfes werden durch Art. 5 GG nicht gedeckt

Wer diesen — großen — Freiheitsraum nicht für ausreichend hält, mag auf eine Besserung durch Veränderung des Rechts dringen; das jedenfalls ist der verfassungsgemäße Weg, den zu beschreiten das gute Recht des Staatsbürgers ist. Abwegig ist jedoch zu verlangen, daß der Rechtsstaat Rechtsverletzungen vorsätzlich duldet. Wenn man in einer Demokratie aufhört, Gesetze zu vollziehen, so ist der Staat verloren.

Verfehlt ist es auch, in der Praktizierung und Duldung von Rechtsverletzungen als legitimer Mittel der politischen Auseinandersetzung einen Fortschritt der politischen Kultur zu sehen Das Gegenteil ist richtig: Die rechtliche Kanalisierung und Institutionalisierung der Gewalt ist progressiv, während deren Preisgabe ein Rückfall in einen geschichtlich überwundenen Zustand ist. Der Rechtsstaat bändigt das natürliche Recht des Stärkeren und damit auch die Willkür der Machtanwendung durch Gewaltenteilung, Minderheitenschutz und wechselseitige Machtkontrolle. Dadurch erst schafft er den „Raum für Freiheit" und für das Agieren von Minderheiten mit dem Ziel, Mehrheit zu werden. Wer selektiven Rechtsgehorsam in Gestalt des sogenannten zivilen Ungehorsams übt, setzt daher gerade das System aufs Spiel, dem er es verdankt, daß er nicht zum Schweigen verurteilt ist.

Damit wird nicht verkannt, wie wichtig es gerade im Zeitalter bürokratisierter Großorganisationen ist, daß es Bürger gibt, die bereit sind, ihre staatsbürgerlichen Rechte zu behaupten und zu verteidigen. Da die gesellschaftlichen Trends nach wie vor darauf hinauslaufen, die individuellen Verantwortungsbereiche zu vermindern, andererseits aber der Bürgerstaat auf den Gemeinsinn der Bürger angewiesen ist, haben Ermutigungen zur Zi-vilcourage auch heute durchaus ihre Berechtigung. Engagierte Bürger sind das Salz der Demokratie, und die moderne Massengesellschaft bedarf ihrer heute mehr denn je. Zwi-schen erlaubter, ja erwünschter Zivilcourage und rechtswidrigem Widerstand besteht jedoch ein gewichtiger Unterschied, der nicht verwischt werden darf.

VII. Verfassungsmißachtung durch institutioneilen Mißbrauch

Kaum weniger bedrückend als die zunehmende Neigung, das Recht zu verletzen, ist eine politische Praxis, die man als institutioneilen Mißbrauch oder Verfassungsmißachtung nennen kann. Mit dieser Bezeichnung soll jenes Phänomen benannt werden, auf das kürzlich auch der Bundestagsabgeordnete Hermann Scheer aufmerksam gemacht hat. Eine Verfassung sollte für Volk und Land mehr sein als ein Paragraphenwerk, bei dem clevere Advokaten überlegen, wie sie dem Gesetzgeber ein Schnippchen schlagen, die Vorschriften umgehen können. Verfassungen stiften politische Einheit, und dies in dem Maße, in dem Bürger wie politische Kräfte sich an das halten, was der Verfassungswille ist, und sich von dem Geist der Verfassung in ihrem Verhalten determinieren lassen. Für die pluralitäre Gesellschaft — darauf wurde bereits hingewiesen — gilt das besonders, und bei der Kreation des Grundgesetzes wurde der größte Wert darauf gelegt, daß seine Aussagen nicht bloß Worte sein sollten, sondern das politische Leben gestaltende Werte. Insofern kommt dem Grundgesetz eine politisch-moralische Appellfunktion zu. Das, was wir die politische Kultur eines Volkes nennen, sollte von ihm nachhaltig beeinflußt werden.

Macht man sich diese umfassende Bedeutung der Verfassung klar, so kann man nur bedauern, wie leichtfertig vielfach mit dem Sinngehalt des Grundgesetzes umgegangen und wie gern an diesem manipuliert wird. In erster Linie muß man den alternativen Bewegungen diesen Vorwurf machen. Die GRÜNEN z. B., die sich als antiparlamentarische Bewegung verstehen, haben das Verdienst, die Sonde ihrer Kritik an viele bedenkliche, ja zerstörerische Erscheinungen unseres gesellschaftlichen Lebens angelegt zu haben; zum Rotationsprinzip und noch weniger zu der Frage, ob der Mandatsverzicht unter rechtlichen Gesichtspunkten anfechtbar ist, soll hier bewußt nicht Stellung bezogen werden Seitdem sie in die Parlamente eingezogen sind, haben sie jedoch manche Gelegenheit genutzt, um dem parlamentarischen System ihre Mißachtung zu bezeugen. Die verlegenen Reaktionen, die solche Provokationen in der angegriffenen Institution selbst und bei den sich zum Parlamentarismus bekennenden Parteien auslösen, wirken eher als Ermutigung, in der Mißachtung der Verfassungsinstitution fortzufahren, denn als Aufforderung, die innere Substanz des Verfassungsstaates zu achten.

Allerdings sind es nicht etwa die GRÜNEN allein, die die Mißachtung des Parlaments betreiben. Auch die großen Parteien lassen es oft an dem politisch-moralischen Verfassungsrespekt fehlen. Allgemein bekannte Fälle der Verfassungsmanipulation, an die erinnert werden muß, waren z. B. die vorgezogenen Neuwahlen des Bundestages, die auf dem Mißbrauch des konstruktiven Mißtrauensvotums beruhten, da weder eine Patt-noch eine Minderheitssituation für die amtierende Regierung gegeben war. Im Zusammenhang dieser Betrachtung spielt es keine Rolle, daß das Bundesverfassungsgericht mit Mehrheit geglaubt hat, die Bundestagsauflösung für vereinbar mit der Verfassung erklären zu können Hier geht es um die Frage der politischen Moral. Dafür aber ist relevant, daß Art. 68 GG im Rahmen des Systems der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie dazu dienen soll, einen Notbehelf für die Ausnahmesituation zur Verfügung zu stellen, daß der Bundestag seinerseits keine Regierungsmehrheit bilden kann und der Bundeskanzler we-der zurücktreten noch über Art. 81 GG ohne den Bundestag regieren will, sondern mit Hilfe der Vertrauensfrage und der Auflösungsdrohung den vergeblichen Versuch unternommen hat, im Parlament eine Mehrheit für seine Politik zu gewinnen. Diesem Norm-zweck läuft es zuwider, wenn dem Bundeskanzler nicht die Mehrheit fehlt, sondern er sich im Einverständnis seiner politischen Freunde das erbetene Vertrauen verweigern läßt, um auf diese Weise den Weg zu Neuwahlen zu eröffnen. Der Bundestag ist für eine fest bestimmte Zeit gewählt. Bewußt haben die Verfassungsväter dem Parlament das Recht zur Selbstauflösung oder die Herbei-führung der Auflösung durch ein destruktives Mißtrauensvotum verweigert. Hält man etwa die Selbstauflösung für nötig, wofür gute Gründe sprechen, so muß die Verfassung geändert werden. Der Lauterkeit und Sinnhaftigkeit des Umgangs mit der Verfassung widerspricht es jedoch, wenn man gesetztes, nach seinem Sinnganzen in bestimmter Weise ausgestaltetes Verfassungsrecht durch Regeln der Opportunität ersetzt. Mit der Notwendigkeit, für eine Regierung Legitimation zu beschaffen, kann ein solches Vorgehen nicht gerechtfertigt werden. Es gibt für die Regierung keine Legitimation außerhalb, neben oder über der Verfassung

Praktiken dieser Art, die geeignet sind, die Verfassung zu einem Steinbruch zu machen, aus dem sich jeder nach Belieben Steine heraussucht, um diese solange zu bearbeiten, bis sie ihm in sein politisches Kalkül passen, gibt es natürlich nicht nur im Bundestag. Ein aktuelles Beispiel, das sich wie ein Flächenbrand ausgebreitet hat, sind die Beschlüsse kommunaler Vertretungen, die ihre Gemeinden oder Kreise zu atomwaffenfreien Zonen erklären.

Diese Selbstverwaltungsorgane sind keine Parlamente, und sie haben auch keine Zuständigkeit für Außen-oder Verteidigungspolitik.

Gleichwohl haben sie nicht gezögert, ihre Kompetenz auszudehnen, um, wie sie meinten, politische Signale zu setzen. Der damalige Bundesverfassungsrichter Joachim Rottmann meinte in seinem abweichenden Votum zu den vorgezogenen Neuwahlen, der Vorgang dokumentiere die Verfassungsfremdheit der Parlamentarier und die Unbefangenheit, mit der versucht werde, die Vorschriften der Verfassung zurechtzubiegen Was hätte er erst zu der kommunalen Praxis der Erklärung zu atomwaffenfreien Zonen sagen müssen, wenn man ihn damit befaßt hätte, handelt es sich doch um die Mißachtung der Verfassungsinstitution kommunale Selbstverwaltung.

Sind wir bei solchen Praktiken nicht auf dem besten Wege, die Verfassung zu einer Geschäftsordnung degenerieren zu lassen? Wenn man dies nicht will, so muß man darauf dringen, daß Fehlentwicklungen dieser Art wenigstens für die Zukunft verhindert werden. Die Verfassung ist kein Fiaker, der einen hinfährt, wohin man will, und aus dem man aussteigen kann, wo es einem paßt. Ein strengeres Verfassungsbewußtsein ist nötig, ein wacheres Bewußtsein für den Sinngehalt der Verfassung. Wir haben im politischen Raum nichts anderes, was Konsens stiftet, als Verfassung und Recht, und dieser Konsens darf nicht verloren gehen.

Man dürfte das Phänomen, um das es sich hier handelt, kaum falsch interpretieren, wenn man darin ein Anzeichen für das Vordringen des Wertrelativismus sieht, wie ihn etwa Hans Kelsen als Wesensmerkmal der Demokratie gekennzeichnet hat Im gesamteuropäischen Maßstab gleicht sich die Bundesrepublik damit einem Verfassungsverständnis an, das in vielen Staaten dominiert. Die Frage ist, ob der Preis für diese Normalisierung — die Preisgabe einer Lehre, die die Verfassungsväter aus Weimar und Drittem Reich gezogen haben — nicht zu hoch ist.

VIII. Mehr Respekt vor dem Sinngehalt von Verfassung und Recht

Die Gegenwart ist stets zwischen gestern und morgen gestellt. Als am 8. Mai 1945 der Zweite Weltkrieg zu Ende ging, war das deutsche Volk auf Gnade oder Ungnade den Sie-germächten ausgeliefert. Die Chance, die sich alsbald zur Neugestaltung seines politischen Lebens bot, wurde genutzt, um in Reaktion auf das nationalsozialistische Terrorregime einen Rechtsstaat aufzubauen, der auch heute noch als kostbarer Besitz anzusehen ist, aber durch perfektionistische Übertreibung und mangelnden Erneuerungswillen auf der einen, durch eine Erosion des Rechtsbewußtseins auf der anderen Seite als gefährdet erscheint. So perfekt das juristische System auch anmuten mag, der Rechtsstaat ist erst gesichert, wenn er Widerhall im Herzen und im Bewußtsein seiner Bürger findet. Baron de Montesquieu hat aus diesem Grunde die „Liebe zu den Gesetzen" als Bürgertugend gefordert, ohne die ein Staat der Bürger, also eine Demokratie, nicht bestehen kann Bürger und Recht gehören also zusammen, und zwar in der Weise, daß es keinen Bürger gibt, wenn der Mensch entrechtet wird, und kein lebendes Recht, wenn die Bürger den Zusammenhang von Freiheit und Recht nicht in ihr Bewußtsein aufgenommen haben.

Man kann dies — mit Adolf Arndt — auch so ausdrücken: In einem Staat kann es nur soviel Recht geben, wie es rechtlich denkende Menschen gibt. Das aber ist der Grund, weshalb unsere Bemühungen um die Erfüllung des Verfassungs-und Rechtsstaats durch das wache Verfassungs-und Rechtsbewußtsein seiner Bürger nie aufhören dürfen. Daß Verfassung und Recht in ihrem Sinngehalt respektiert werden und das Verhalten der Bürger wie der Gruppen determinieren, ist für die pluralistische Gesellschaft ein politisch-moralisches Problem allerersten Ranges. Anstatt sich an Verfassung und Recht vorbeizumogeln, muß sich die Politik bewußter an die Maximen von Verfassung und Recht halten, wenn nicht die innere Substanz unseres Staates Schaden nehmen soll.

Benjamin Franklin wurde nach dem Verfassungskonvent von Philadelphia von einer Dame gefragt, ob sie nun eine Demokratie hätten. Ja, liebe Dame, antwortete Franklin, wir haben sie, wenn Sie sie halten können.

So steht es auch mit dem demokratischen Verfassungs-und Rechtsstaat. Wir haben ihn, wenn wir ihn halten können.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. J. Kocka, 1945: Neubeginn oder Restauration?, in: C. Stern /H. A. Winckler, Wendepunkte deutscher Geschichte, 1979, S. 143 f.

  2. Die hetzerische Absicht war, Rathenau zu schaden; siehe dazu: H. Graf Kessler, Walter Rathenau. Sein Leben und sein Werk, 1928, S. 287 f.

  3. In seinen Ausführungen im Parlamentarischen Rat am 8. Mai 1949 zum Abschluß der Beratungen und zur Annahme des Grundgesetzes; siehe Th. Heuss, Die großen Reden, 1967, S. 94 ff., 103. Das Zitat lautet: „Im Grunde genommen bleibt dieser 8. Mai 1945 die tragischste und fragwürdigste Paradoxie der Geschichte für jeden von uns. Warum denn? Weil wir erlöst und vernichtet in einem gewesen sind.“

  4. Im „Prolog“ des von ihm zusammen mit H. P. Schwarz herausgegebenen Sammelbandes: Die zweite Republik. 25 Jahre Bundesrepublik Deutschland — Eine Bilanz, 1974, S. 11.

  5. Dazu statt vieler W. Maihofer, Menschenwürde im Rechtsstaat, 1967; E. Benda, Die Menschenwürde, in: Benda /W. Maihofer /H. J. Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 1983, S. 107 ff.; ders., Erprobung der Menschenwürde am Beispiel der Humangenetik, in: Aus'Politik und Zeitgeschichte, B 3/85 vom 19. Januar 1985, S. 18 ff., und die Kommentierungen von G. Dürig in Th. Maunz /G. Dürig /R. Herzog /R. Scholz, Grundgesetz, Art. 1 Abs. 1, und A. Podlech, in: Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Reihe Alternativkommentare (AK GG), Art. 1 Abs. 1, 1984. So jetzt auch W. Graf Vitzthum, Die Menschenwürde als Verfassungsbegriff, in: Juristenzeitung, 1985, S. 202 ff.

  6. K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, S. 892.

  7. Vgl. Th. Maunz /G. Dürig /R. Herzog /R. Scholz (Anm. 5), Art. 92 Rz. 2; R. Wassermann in: Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (Anm. 5), Art. 92 Rz. 12.

  8. Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem, o. J. (1951), S. 32.

  9. G. Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, in: Süddeutsche Juristenzeitung, 1946, S. 108 (= G. Radbruch, Der Mensch im Recht, 1957, S. 124).

  10. A. Arndt, Rechtsdenken in unserer Zeit, in: E. -W. Böckenförde /W. Lewald (Hrsg.), Gesammelte juristische Schriften, 1976, S. 37 ff., 56.

  11. H. Jahrreiß, in: H. Jahrreiß /G. A. Zinn, Die Rechtspflege im Bonner Grundgesetz, Verhandlungen des 37. Deutschen Juristentages, 1950, S. 33.

  12. In diesem Sinne hat z. B. H. Jahrreiß (Anm. 11), S. 28, vor dem Deutschen Juristentag 1949 Werner Kägis damals sehr bekannte Habilitationsschrift Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates', Zürich o. J. (1945), mit ihrer Warnung vor dem „latenten Absolutismus des Mehrheitsentscheids" zitiert. Siehe auch bei W. Kägi, S. 182: „Nur wo der Richter über der Verfassung wacht, ist Herrschaft der Verfassung möglich", und S. 184: „Wo die 51 % glauben, kraft dieser 51 % alles tun zu dürfen, ist die Demokratie unrettbar im Niedergang".

  13. Vgl. etwa K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1984, 4. erg. Auflage, S. 15 f., 17 f.; E. Stein, in: Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (Anm. 5), Einleitung II Rz. 77 ff.

  14. So Chief Justice Charles Evans Hughes 1926. Zur Rolle des Supreme Court in den Vereinigten Staaten: A. H. Kelly /W. A. Harrison, The American Constitution — Its Origins and Developments, New York 19633, S. 4; W. Haller, Supreme Court und Politik in den USA, Bern 1972, S. 12 ff.

  15. Dazu W. Bergsdorf, Herrschaft und Sprache, 1983, S. 14 f., 26 ff., vorher M. Greiffenhagen (Hrsg.), Kampf um Wörter? Politische Begriffe im Meinungsstreit, Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 163, 1980, und E. Noelle-Neumann, Die Schweigespirale, 1980, S. 214 ff., 219 ff., 225 f., 24 ff.

  16. Ich benutze den von W. Bagehot, The English Constitution, (1867), 1952, S. 4, geprägten Ausdruck (in freier Verwendung).

  17. Vgl. auch A. Grosser, Mit dem Widerspruch leben, in: DIE ZEIT vom 1. März 1985, S. 5.

  18. Vgl. R. Dahrendorf, Gesellschaft und Demokra tie in Deutschland, 1965, S. 130 ff.

  19. Urteil vom 15. Dezember 1983 („Volkszählungsurteil", in: Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE), Bd. 65, S. 1 ff.).

  20. Vielfach ist dieses im amerikanischen Recht anerkannte Recht gemeint, wenn vom Datenschutz die Rede ist (vgl. W. Kamlah, Right of Privacy. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht in amerikanischer Sicht unter Berücksichtigung neuer technologischer Entwicklungen, 1969).

  21. H. P. Westermann, Verabschiedung oder Überarbeitung des BGB?, in: Zeitschrift für Rechtspolitik (ZRP), 1983, S. 249, 257.

  22. R. Herzog in: Th. Maunz /G. Dürig /R. Herzog /R. Scholz (Anm. 5) Art. 97 Rz. 20.

  23. H. Sendler, Zur Makulaturproduktion des Gesetzgebers. Festschrift zum 25jährigen Bestehen der Juristischen Gesellschaft zu Berlin, 1984, S. 753, 767.

  24. E. Forsthoff, Verwaltung und Verwaltungsrechtsprechung, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Strafrechtslehrer (WDStRL), Bd. 14, S. 187 f.

  25. W. Hoppe, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsgerichtsbarkeit, Deutsches Verwaltungsblatt 1975, S. 684.

  26. H. P. Ipsen, in: Verwaltung und Verwaltungsrechtsprechung, in: VVDStRL, Bd. 14, S. 193 f.

  27. J Dazu R. Wassermann, Verwaltung und Bürger, in: H. P. Bull (Hrsg.), Verwaltungspolitik, 1979, S. 89 ff., 111 f.; K. Redeker, Notwendigkeit und rechtliche Gestaltungsmöglichkeiten von Parlamentsbeauftragten in Deutschland, in: Neue Juristische Wochenschrift (NJW), 1976, S. 1297 ff.; siehe auch die Entschließung der Europäischen Gemeinschaft zur Einsetzung eines Ombudsman, EG-Drucksache 8/1927 vom 1. Juni 1978.

  28. So die Warnung von H. -J. Vogel, Zur Diskussion über die Normenflut, in: Juristenzeitung, 1979, S. 321 ff.

  29. Der letzte Fall dieser Art war das Gesetz gegen die sogenannte Auschwitzlüge; vgl. R. Wassermann, Der zerrechtete Staat, in: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt vom 27. Januar 1985, S. 5. Immerhin gelang es gerade in diesem Fall, Öffentlichkeit und Bundestag zu Nachdenklichkeit und besserer Einsicht zu bewegen.

  30. Die Erklärungen von W. Jens und N. Greinacher vor dem Amtsgericht Schwäbisch-Gmünd in dem Strafverfahren, das gegen sie wegen der Blokkade der Zufahrtsstraße zur amerikanischen Kaserne in Mutlangen eingeleitet worden war, sind abgedruckt in der Frankfurter Rundschau vom 1. Februar 1985, S. 14. Die mündliche Urteilsbegründung des Richters, der W. Jens zu einer Geldstrafe von 20 Tagessätzen zu jeweils 150, — DM verurteilte, ist veröffentlicht in der Frankfurter Rundschau vom 15. Februar 1985. Siehe zu dem Mutlangen-Komplex demnächst das diesem gewidmete Heft in der von der Niedersächsischen Landeszentrale für politische Bildung herausgegebenen Reihe Aktuell-kontrovers.

  31. Dazu R. Wassermann, Ist der Rechtsstaat noch zu retten? Grundfragen der Demokratie, Schriftenreihe der Niedersächsischen Landeszentrale für politische Bildung, Folge 7, 1985.

  32. Siehe dazu meine Beiträge: Gibt es ein Recht auf zivilen Ungehorsam?, und Von der parlamentarischen zur Demonstrations-und Widerstandsdemokratie, in: Zeitschrift für Politik, 1983, S. 343 ff., und 1984, S. 1 ff., sowie den von P. Glotz herausgegebenen Sammelband: Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat, 1983.

  33. Die Ausführungen des Bundesgerichtshofs im Fall Pätsch, die heute vielfach zur Rechtfertigung des zivilen Ungehorsams herangezogen werden, betrafen eine Meinungsäußerung, nämlich die Weitergabe geheimzuhaltender Kenntnisse. Vgl. die Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen (BGHSt), Bd. 20, S. 342 ff.

  34. Zu Art. 5 GG als politisches Aktionsrecht vgl. G. Scheidle, Das Widerstandsrecht, 1969, S. 95, 101.

  35. Anderer Ansicht insbesondere R. Dreier. Widerstandsrecht im Rechtsstaat. Festschrift für H. U. Scupin, 1983, S. 574 ff., und dessen Beiträge in: P. Glotz (Hrsg.) (Anm. 32), S. 54 ff., und in der Festschrift für R. Wassermann, 1985, S. 299 ff. Wie hier dagegen W. Hassemer, Ziviler Ungehorsam — ein Rechtfertigungsgrund?, in: Chr. Broda /E. Deutsch /H. -L. Schreiber /H. -J. Vogel, Festschrift für Rudolf Wassermann zum sechzigsten Geburtstag, 1985, S. 325 ff. Siehe auch die von der Landeszentrale für politische Bildung in Hamburg und der Hamburger Katholischen Akademie herausgegebene Publikation: Widerstand in der Demokratie, 1983, mit Beiträgen von C. Arndt, H. Juros, W. S. Kewenig, I. v. Münch, und — zeitlich vorgehend — meinen Beitrag: Gibt es ein Recht auf zivilen Ungehorsam?, in: Zeitschrift für Politik, 1983, S. 343 ff.; ferner U. Kaupen, „Ziviler Ungehorsam" im demokratischen Rechtsstaat, R. Wassermann, Zur Rechtsordnung des politischen Kampfes in der verfassungsstaatlichen Demokratie, G. Frankenberg, Ziviler Ungehorsam und Rechtsstaatliche Demokratie, sämtlich in: Juristenzeitung, 1984, S. 249 ff., 273 ff., 266 ff. Eine eingehende Auseinandersetzung verdient die soeben erschienene Studie von U. K. Preuß, Politische Verantwortung und Bürgerloyalität. Von den Grenzen der Verfassung und des Gehorsams in der Demokratie, 1984.

  36. Vgl. J. Habermas, Ziviler Ungehorsam — Testfall für den demokratischen Rechtsstaat. Wider den autoritären Legalismus in der Bundesrepublik, in: P. Glotz (Hrsg.) (Anm. 32), S. 29 ff. Ähnlich spricht Th. Ebert — mit Ossip K. Flechtheim einer der frühesten Vorkämpfer für den gewaltfreien Widerstand in der Bundesrepublik — von dem zivilen Ungehorsam als einer „sozialen Erfindung der Demokratie"; in seinem in den Tutzinger Materialien, (1983) 6, S 1 ff., veröffentlichten Vortrag fordert er, Gesetzgeber und Justiz müßten „für den Umgang mit zivilem Ungehorsam einen Weg finden zwischen Laissez-faire und abschreckender Unterdrükkung" (S. 21).

  37. K. D. Bracher, Geschichte und Gewalt, 1981, S. 27.

  38. Vgl. dazu etwa die unterschiedlichen Standpunkte von R. Scholz, Krise der parteienstaatlichen Demokratie? „Grüne" und „Alternative" im Parlament, 1983, S. 17 ff.; R. Stober, GRÜNE und Grundgesetz, in: ZRP, 1983, S. 209 ff.; F. Hase, Die Grünen — eine verfassungswidrige Partei?, in: ZRP, 1984, S. 86 ff.; K. -H. Hohm /T. Rautenberg, Mandatsrotation und Grundgesetz, in: NTW, 1984, S. 1657 ff.; Th. Bruha /P. Möllers, Rotationsprinzip und Verfassung, in: Juristische Arbeitsblätter (JA), 1985, S. 13 ff. Das Verfahren über die Zulässigkeit des Mandatsverzichts zwecks Rotation ist beim Niedersächsischen Staatsgerichtshof noch anhängig.

  39. Vgl. die von W. Heyde und G. Wöhrmann herausgegebene Dokumentation: Auflösung und Neu-wahl des Bundestages 1983 vor dem Bundesverfassungsgericht, 1984, und die Urteilsbegründung mit den abweichenden Meinungen, daselbst S. 235 ff.

  40. So auch der damalige Richter am Bundesverfassungsgericht H. J. Rinck in der vorstehend angeführten Dokumentation S. 292.

  41. Ebd., S. 314.

  42. H. Kelsen, Wesen und Wert der Demokratie, 1920, S. 36 ff.

  43. Vgl. De lesprit des lois, I, 7.

  44. A Arndt, Gesammelte juristische Schriften, 1976, S. 36 (Vortrag „Der Jurist in unserer Zeit", 1965).

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Rudolf Wassermann, Dr. jur. h. c„ geb. 1925; Studium der Rechtswissenschaft, Philosophie, Politologie und Soziologie in Halle (Saale) und an der Freien Universität Berlin; seit 1971 Präsident des Oberlandesgerichts Braunschweig, zugleich Präsident des Niedersächsischen Landesjustizprüfungsamts und Mitglied des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs. Veröffentlichungen u. a.: Ist Bonn doch Weimar? Zur Entwicklung der Justiz nach 1945, Neuwied — Darmstadt 1983; Kontinuität oder Wandel? Konsequenzen aus der NS-Herrschaft für die Entwicklung der Justiz, Hannover 1984; Die richterliche Gewalt. Macht und Verantwortung des Richters in der modernen Gesellschaft, Heidelberg 1985; Recht, Gewalt, Widerstand, Berlin 1985; Ist der Rechtsstaat noch zu retten?, Hannover 1985. Ein Gesamtverzeichnis der Publikationen findet sich in: Chr. Broda/E. Deutsch/H. -L. Schreiber/H. -J. Vogel, Festschrift für Rudolf Wassermann zum sechzigsten Geburtstag, Neuwied und Darmstadt 1985.