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„Fahrplan zur Abrüstung"? Zur Doppelbeschluß-Politik der Bundesrepublik Deutschland bis 1983 | APuZ 14-15/1985 | bpb.de

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APuZ 14-15/1985 Strategische Verteidigungsinitiative (SDI). Kriegsführung oder Kriegsverhinderung? Rückblick und Ausblick auf Genf Zur Wiederaufnahme der Rüstungskontrollverhandlungen zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion „Fahrplan zur Abrüstung"? Zur Doppelbeschluß-Politik der Bundesrepublik Deutschland bis 1983 Artikel 1

„Fahrplan zur Abrüstung"? Zur Doppelbeschluß-Politik der Bundesrepublik Deutschland bis 1983

Thomas Risse-Kappen

/ 30 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Politik der Bundesrepublik in der Frage der Mittelstreckenwaffen (Intermediate Range Nuclear Forces, INF) versuchte, in der NATO und gegenüber den USA einen Doppelbeschluß erst durchzusetzen und ihn später rüstungskontrollpolitisch zum Erfolg zu führen. Im Kern handelte es sich um eine außenpolitische Strategie zur Beeinflussung des amerikanisch-sowjetischen Verhältnisses: Weder kooperative (der SALT-Prozeß der siebziger Jahre) noch konfrontative Beziehungen (nach 1980) zwischen den Supermächten sollten auf Kosten westeuropäischer Sicherheitsinteressen gehen dürfen. Allerdings war die Doppelbeschluß-Politik der Bundesregierung in sich nur zum Teil konsistent. Insbesondere die militärstrategischen und bündnispolitischen Motive, die mit der INF-Politik verfolgt wurden, widersprachen deren entspannungs-und rüstungskontrollpolitischen Zielsetzungen. Dies war für die späteren INF-Verhandlungen um so schwerwiegender, als in der NATO ebenfalls kein Konsens hinsichtlich der Interpretation des Doppelbeschlusses herrschte. Dadurch setzte sich in der Verhandlungsphase die Priorität der Modernisierung gegenüber einem Rüstungskontrollkompromiß durch. Im Bündnis setzte sich die Bundesregierung für die nichtverhandelbare globale „Null-Lösung" ein. Der Verzicht auf die Pershing II im Rahmen des „Waldspaziergang" -Kompromisses stieß auch in der Bundesregierung auf Kritik. Deshalb kann insgesamt die westdeutsche INF-Politik nur teilweise als Versuch präventiver Rüstungskontrolle gewertet werden. Andererseits haben die konkreten politischen Umstände den Blick dafür verstellt, daß Doppelbeschluß-Politik unter bestimmten Voraussetzungen eine eigenständige außenpolitische Strategie zwischen Abrüstung und Abschreckung sein kann. Sie ist mit dem Scheitern des ersten Versuchs nicht grundsätzlich widerlegt.

I. Einleitung

Kein anderes sicherheitspolitisches Thema hat die westdeutsche Öffentlichkeit in den letzten Jahren derart bewegt wie der NATO-Doppelbeschluß. Am 12. Dezember 1979 hatte eine Sondersitzung der NATO-Außen-und Verteidigungsminister die Stationierung von 464 bodengestützten Marschflugkörpern und 108 Pershing II-Raketen in Westeuropa beschlossen. Gleichzeitig wurde der Sowjetunion ein Verhandlungsangebot über weitreichende Mittelstreckensysteme unterbreitet.

In der politischen und wissenschaftlichen Kontroverse sind drei Positionen in bezug auf den Rüstungskontrollteil des Doppelbeschlusses festzustellen:

— Kritiker, die der neuen Friedensbewegung nahestehen, halten ihn für eine Taktik der USA, die Stationierung von Pershing II und landgestützten Marschflugkörpern gegenüber den europäischen NATO-Verbündeten und der öffentlichen Kritik abzusichern. Realer Gegenstand der NATO-Entscheidung sei die Aufrüstung. Diese Kritiker fühlen sich durch den Verlauf der Genfer Gespräche bestätigt

— Auch von konservativer Seite wird der Rüstungskontrollteil des NATO-Beschlusses kritisiert, allerdings mit der entgegengesetzten Begründung. Die Modernisierung des NATO-INF-Potentials sei unabhängig von Rüstungskontrollergebnissen notwendig. Das Verhandlungsangebot verdecke diese Notwendigkeit aus innenpolitischen Gründen und sei Teil einer Appeasement-Politik des Westens gegenüber einer auf militärische Überlegenheit setzenden Sowjetunion. Außerdem sei es illusorisch, sowjetische Rüstungskontrollzugeständnisse vor Beginn einer westlichen Dislozierung zu erwarten. Auch diese Kritiker sehen sich durch den Verhandlungsverlauf bestätigt — Befürworter des Rüstungskontrollteils der NATO-Entscheidung von 1979 weisen demgegenüber daraufhin, es handele sich um einen ernsthaften Versuch präventiver Rüstungssteuerung. Zum ersten Mal in der Geschichte der Rüstungskontrolle seien neue Waffensysteme vor ihrer Indienststellung in Verhandlungen eingebracht worden. Zugleich habe die NATO eine geplante Modernisierung mit der ausdrücklichen Ankündigung verbunden, sie als Ergebnis von Verhandlungen ganz oder teilweise zur Disposition zu stellen

Farce, Illusion oder „Fahrplan zur Abrüstung" (H. Geissler) bzw. zumindest ernsthafter Versuch präventiver Rüstungskontrolle?

Der folgende Beitrag soll diese Frage beantworten helfen. Er analysiert den Stellenwert von Rüstungskontrolle und Abschreckung im Verhältnis der Bundesrepublik zu den Super-machten am Beispiel der INF-Politik Zugleich handelt es sich um eine Fallstudie über die Definition westdeutscher Sicherheitsinteressen im Kontext der amerikanisch-sowjetischen Beziehungen. Hat die Bundesrepublik ihren Handlungsspielraum in der NATO und gegenüber den USA genutzt, um ihre spezifischen sicherheitspolitischen Ziele im Bündnis einzubringen?

Zur Bewertung der westdeutschen INF-Politik werden die von der Theorie der Rüstungskontrolle entwickelten Stabilitätskriterien herangezogen In welchem Verhältnis standen verteidigungs-und rüstungskontrollpolitische Ziele des Doppelbeschlusses? Inwieweit hat sich die Bundesrepublik darum bemüht, rüstungskontrollpolitische Ziele allianzintern, gegenüber den USA und im Vert hältnis zur Sowjetunion durchzusetzen? Hat sich die Bundesrepublik für kompromißfähige Verhandlungsangebote eingesetzt? Spielten Erwägungen zur Krisenstabilität bei der Auswahl der Waffensysteme im Entscheidungsprozeß eine Rolle?

Aus methodischen Gründen klammert der Beitrag die Bewertung der Begründungen des Stationierungsteils der NATO-Entscheidung aus Die von den Entscheidungsträgern angegebenen Ziele — Durchführung der „flexible response", Sicherung der amerikanischen Nukleargarantie, Reaktion auf die sowjetische Mittelstreckenrüstung — werden nicht im einzelnen auf ihre Stichhaltigkeit geprüft, sondern lediglich auf Unvereinbarkeiten untereinander und auf Widersprüche zu den rüstungskontrollpolitischen Zielen hin untersucht.

II. Die Geschichte des Doppelbeschlusses und der Beitrag der Bundesrepublik Deutschland

1. Das Zustandekommen der NATO-Entscheidung Die Vorgeschichte des NATO-Doppelbeschlusses begann Ende der sechziger/Anfang der siebziger Jahre. In der NATO ging es seit Anfang der siebziger Jahre in der Nuklearen Planungsgruppe darum, militärische Mittel für die Durchführung der Militärdoktrin der „flexible response" bereitzustellen. Dabei wurde von vornherein an die Modernisierung weitreichender INF-Systeme gedacht. Der NATO-Doppelbeschluß war deshalb keine rein politische Entscheidung ohne militärischen Hintergrund. Vielmehr hat die Frage der militärischen Implementierung der „flexible response" im Sinne selektiver Optionen für die vorbedachte Eskalation — wie fragwürdig auch immer solche Vorstellungen sein mögen — von Anfang an eine Rolle gespielt. In den NATO-Gremien dominierte dieses Thema bis 1977; die sowjetische Mittelstrekkenrüstung war hier zunächst ohne Bedeutung für den Entscheidungsprozeß. Es ist aber unwahrscheinlich, daß diese militärstrategische Anforderung allein einen entsprechenden Beschluß der NATO-Führungsgremien zur Folge gehabt hätte.

Die politischen Entscheidungseliten Westeuropas, insbesondere der Bundesrepublik, waren es, die die INF-Problematik zu einer sicherheitspolitischen Streitfrage in der Allianz machten. Seit Beginn des SALT-Prozesses fürchteten sie negative Folgen des Bilateralismus der beiden Supermächte für die westeuropäischen Sicherheitsinteressen. Der SALT-Prozeß war insbesondere für die Bundesregierung von Anfang an verknüpft mit dem Problem der „erweiterten Abschreckung". Es ging darum, die amerikanische Nukleargarantie für Westeuropa unter den veränderten Bedingungen strategischer Parität glaubwürdig zu erhalten. Die „Abkoppelungs’-Problematik machte für die politischen Entscheidungsträger in der Bundesrepublik den Kern der INF-Frage aus. Mit Beginn des auf strategische Parität angelegten SALT-Prozesses wurde zugleich die sowjetische Mittelstreckenrüstung für die Bundesregierung zum Problem. Sie war zusätzlich alarmiert, als die Sowjetunion 1976 mit der Dislozierung einer neuen Mittelstreckönrakete, der SS-20, begann. Hinzu kam, daß man seit Mitte der siebziger Jahre die USA im Verdacht hatte, sie könnten die Option einer neuen Generation von Marschflugkörpern (als mögliches Gegengewicht zu den sowjetischen Mittelstreckenwaffen) bei SALT „wegverhandeln".

Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, daß die berühmte Rede Helmut Schmidts in London am 28. Oktober 1977 in den USA weitgehend als Forderung nach Modernisierung des NATO-INF-Potentials verstanden wurde und seine rüstungskontrollpolitischen Überlegungen oft übersehen wurden Die Schmidt-Rede behandelte die Implikationen der SALT-Parität für die europäische Sicherheit. Schmidt fürchtete, daß die nukleare Rüstungskontrolle der beiden Supermächte einseitig die Durchführbarkeit der westlichen Militärstrategie durch Beschränkungen des NATO-INF-Potentials gefährdete, während zugleich der sowjetischen SS-20-Rüstung freie Hand gelassen würde. Solange und sofern es kein Rüstungskontrollregime für den eurostrategischen Bereich gebe, müsse die NATO bereit sein, für die gültige Strategie ausreichende Mittel bereitzustellen. Der Akzent der Rede lag auf der Forderung, alle Nuklearwaffen in die Rüstungskontrolle einzubeziehen. Die Philosophie des späteren Doppelbeschlusses ist in ihr bereits angelegt. Die Schmidt-Rede löste den INF-Entscheidungsprozeß der NATO nicht aus, sie beschleunigte ihn aber dadurch, daß hier erstmals ein westlicher Staatsmann das „Grauzonen-Problem" in den Gesamtrahmen der Ost-West-Beziehungen stellte. Bundeskanzler Schmidt und seine engsten Berater waren in einem präzisen Sinn Erfinder des Doppelbeschlusses. Die Bindung von Modernisierungsentscheidung und Rüstungskontrollangebot in einem Beschluß (die offizielle Bezeichnung lautet „integrated decision document") geht originär auf Helmut Schmidt zurück. Im Grunde handelte es sich um eine Konkretisierung des bereits im Harmel-Bericht angelegten Doppelkonzeptes von Verteidigung und Entspannung, das Schmidt schon Anfang der sechziger Jahre unterstützt hatte Die Äußerungen Helmut Schmidts aus den Jahren 1977/78 lassen sich dahingehend interpretieren, daß er eine rüstungskontrollpolitische Lösung des INF-Problems favorisierte. Die Grundsatzentscheidung, einen Doppebbeschluß als Integration von Modernisierung und Rüstungskontrolle anzustreben, ist in der Bundesregierung relativ früh gefallen, offenbar bereits Anfang 1978. Dieses Konzept wurde von ihr kontinuierlich gegenüber den USA und der NATO vertreten und dort schließlich durchgesetzt.

Die Doppelbeschluß-Politik war zugleich ein Versuch, unterschiedlichen innenpolitischen Anforderungen Rechnung zu tragen. Der Bundesregierung sollte weder von konservativer Seite vorgeworfen werden können, sie vernachlässige westdeutsche Sicherheitsinteressen, noch von links, ihr sei es mit der Rüstungskontrolle nicht ernst. Innenpolitisch mußte der Doppelbeschluß allerdings in erster Linie gegenüber dem Entspannungs-und Rüstungskontrollflügel der SPD vertreten werden. Die wesentlichen Auseinandersetzungen um den NATO-Doppelbeschluß bis zu seiner Verabschiedung fanden zwischen den Rüstungskontrollpolitikern der SPD-Bundestagsfraktion einerseits und der Bundesregierung andererseits statt.

Während der gesamten INF-Debatte forderte der SPD-Mehrheitsflügel, rüstungskontrollpolitischen Lösungen den Vorrang beim Ausgleich militärischer Disparitäten zu geben. Die SPD-Rüstungskontrollpolitiker hielten weder die militärstrategische (Implementierung der „flexible response") noch die sicherheitspolitische Begründung („Ankoppelung") der NATO-Entscheidung für stichhaltig. Allenfalls das „bargaining chip“ -Argument — nur angesichts der Drohung mit neuen westlichen INF-Systemen sei die Sowjetunion zu Verhandlungen über die SS-20 bereit — wurde von ihnen akzeptiert, nachdem die UdSSR alle Moratoriumsforderungen abgelehnt hatte. (Der NATO-Doppelbeschluß wäre aller Wahrscheinlichkeit nach in der Bundesrepublik innenpolitisch nicht durchsetzbar gewesen, seine Tolerierung durch die SPD auf dem Berliner Parteitag im Dezember 1979 nicht zustande gekommen, wenn die Sowjetunion im Vorfeld der NATO-Entscheidung ein einseitiges Moratorium für die SS-20-Sta-10 tionierung verkündet hätte.) Für die SPD-Debatte waren außerdem die Erhaltung der Regierungsfähigkeit und die Überzeugung wesentlich, daß der sozialdemokratische Bundeskanzler schon für ein Rüstungskontrollergebnis sorgen werde

Eine weitere Antriebskraft des NATO-Doppelbeschlusses war schließlich die amerikanische Regierung, die 1978/79 eine politische Entscheidung in der Allianz herbeiführte. Die Carter-Administration war dabei zunächst weniger von der militär-oder sicherheitspolitischen Logik einer Modernisierungsentscheidung überzeugt. Nach dem allianzinternen Streit über die Neutronenwaffe fürchtete sie aber, eine Mißachtung der europäischen Anforderungen würde den Zusammenhalt der NATO gefährden.

Auch für die westdeutsche INF-Politik war die Debatte um die Neutronenwaffe ein wichtiger Katalysator. Zum ersten Mal seit den frühen sechziger Jahren wurde die Frage der Nuklearwaffen im gesellschaftlichen Umfeld, insbesondere in der SPD, öffentlich diskutiert.

Die Position der Bundesregierung gegenüber der Neutronenwaffe nahm entscheidende Elemente ihrer späteren INF-Politik vorweg (u. a. rüstungskontrollpolitische Einbindung, Lagerung nicht nur auf deutschem Boden, keine Sonderrolle der Bundesrepublik gegenüber den Nuklearmächten USA, Frankreich und Großbritannien)

Nach 1977 können folgende Etappen des westlichen INF-Entscheidungsprozesses unterschieden werden:

— Bereits im März 1978 war in der im Herbst zuvor eingerichteten „High Level Group"

(HLG) der NATOein Konsens darüber erzielt worden, die weitreichenden Mittelstrecken-systeme zu modernisieren. Die Fähigkeiten der NATO sollten verstärkt werden, militärische Ziele in der Sowjetunion anzugreifen.

Etwa ein Jahr später bestand in der HLG Übereinstimmung dahingehend, 200 bis 600

Gefechtsköpfe auf Pershing-II-Raketen und landgestützten Marschflugkörpern zu stationieren. — Die Ebene der westlichen Regierungschefs wurde in den INF-Entscheidungsprozeß einbezogen im Zusammenhang mit dem Gipfeltreffen der USA Großbritanniens, Frankreichs und der Bundesrepublik Deutschland in Guadeloupe am 5. /6. Januar 1979. Dort wurde der politische Grundsatzbeschluß gefaßt zugunsten des kombinierten Vorgehens von INF-Modernisierung und Rüstungskontrolle. Außerdem wurde bereits hier entschieden, daß die französischen und britischen Nuklearwaffen (die sogenannten Drittstaaten-systeme) aus dem INF-Rüstungskontrollrahmen ausgeklammert bleiben sollten. In Guadeloupe erklärte sich der Bundeskanzler bereit, der Stationierung von Mittelstreckensystemen auf dem Territorium der Bundesrepublik unter einer Reihe von Bedingungen zuzustimmen (Wahrnehmung der nuklearen Führungsrolle in der NATO durch die USA; gemeinsamer NATO-Beschluß über eine Stationierung; gleichzeitiges Verhandlungsangebot über INF-Systeme im Rahmen von SALT III; alleinige Kontrolle der USA über weitreichende INF-Systeme in der Bundesrepublik; keine ausschließliche Stationierung auf dem Territorium der Bundesrepublik)

— Auf Initiative der Bundesregierung, die zunehmend befürchtete, die USA ließen sich mit der Rüstungskontrolle Zeit, wurde Anfang 1979 eine „Special Group" (SG, später SCG) der NATO für Rüstungskontrolle eingerichtet, die auf der Grundlage der Vorarbeiten der HLG die Rüstungskontrollkriterien des Doppelbeschlusses erarbeitete. In diesem Zusammenhang kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen dem Bundesverteidigungsministerium (BMVg) und dem Auswärtigen Amt (AA), hinter der ein nicht geklärter Dissens in der Bundesregierung über Ziele und Kriterien der Rüstungskontrolle stand. Während das BMVg einen gesamtstrategischen Ansatz für SALT III mit einer Untergrenze für INF-Systeme favorisierte, sprach sich die Rüstungskontrollabteilung des AA dafür aus, an der Struktur von SALT II festzuhalten und INF hinzuzufügen.

— Gleichzeitig spielte die Mittelstrecken-frage in den deutsch-sowjetischen Beziehun- gen eine wachsende Rolle. In verschiedenen Gesprächen wies die Bundesregierung die sowjetische Führung eindringlich auf die sich verschärfende Disparität bei den Mittelstrekkensystemen hin und forderte die UdSSR auf, ihre SS-20-Rüstung zu begrenzen. Anderenfalls sei mit einer westlichen Gegenreaktion zu rechnen. Die Sowjetunion war aber außerhalb verbaler Erklärungen nicht zu einem substantiellen Entgegenkommen bereit. Das Breschnew-Angebot vom 6. Oktober 1979, das den einseitigen Abzug von 20 000 Soldaten und 1 000 Panzern aus der DDR enthielt, erfolgte zu spät und war in der INF-Frage zu wenig konkret, um noch Einfluß auf den NATO-Entscheidungsprozeß nehmen zu können

— Der Verzicht auf die westliche Stationierung bei entsprechenden sowjetischen Zugeständnissen — eine „Null-Lösung" — wurde in der SPD diskutiert und gelangte von dort aus in den INF-Entscheidungsprozeß der Bundesregierung und der NATO. Die Bundesregierung brachte diese Überlegungen Ende 1979 in den NATO-Entscheidungsprozeß ein. Der letzte Satz des NATO-Kommuniquös („der TNF-Bedarf der NATO wird im Licht konkreter Verhandlungsergebnisse geprüft werden") geht auf westdeutsche Initiative zurück, und zwar auf Verteidigungsminister Apel. Man wollte zum einen die NATO-Entscheidung angesichts der wachsenden SPD-Kritik innenpolitisch absichern und zum anderen einer sich anbahnenden Rüstungsdynamik im INF-Bereich einen Riegel vorschieben. Denn angesichts der inneramerikanischen Debatte war im Herbst 1979 das Scheitern von SALT II eine Möglichkeit, mit der man rechnen mußte.

— Im September 1979 hatten HLG und SG ihre Arbeit beendet, Anfang Oktober wurde der Entwurf für das integrierte Beschlußdokument den NATO-Gremien zugleitet. Die Sondersitzung der NATO-Außen-und Verteidigungsminister entschied schließlich am 12. Dezember 1979 in Brüssel endgültig 2. Zielkonflikte der westdeutschen INF-Politik Die Bundesregierung verfolgte mit ihrer INF-Politik seit 1970 eine Reihe höchst unterschiedlicher Ziele: — bündnispolitisch die Erneuerung der Glaubwürdigkeit der amerikanischen Nukleargarantie — „Ankoppelung" — angesichts der bei SALT erreichten strategischen Parität der Supermächte;

— verteidigungspolitisch die Abwehr der sowjetischen Bedrohung durch die SS-20;

— militärstrategisch die Implementierung der „flexible response" zur Sicherung der Eskalationskontrolle;

— rüstungskontrollpolitisch die Einbeziehung der „Grauzonenwaffen" in die Ost-West-Rüstungskontrolle;

— entspannungspolitisch die Ergänzung und Wiederbelebung der politischen Entspannung im militärischen Bereich;

— innenpolitisch die Legitimation einer Rüstungsentscheidung durch ein gleichzeitiges Rüstungskontrollangebot mit der vagen Möglichkeit einer „Null-Lösung".

Diese Ziele waren nur zum Teil miteinander vereinbar: Das militärstrategische Ziel, die Eskalationskontrolle zu sichern, ließ sich nur dann mit dem bündnispolitischen Ziel der „Ankoppelung" in Einklang bringen, solange keine eigenständige eurostrategische Counterforce-Kapazität entstand. Denn ein auf Europa begrenzbarer Nuklearkrieg ist mit den Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik angesichts ihrer geostrategischen Lage unvereinbar. Ebenso problematisch war das Verhältnis der bündnispolitischen Zielsetzung zu der Aufgabe der INF-Modernisierung, die sowjetische SS-20-Bedrohung politisch zu kontern. Dies hätte konsequenterweise den Aufbau eines eigenen eurostrategischen Gleichgewichts bedeutet. Kalkulierte Unterlegenheit sowohl auf konventionellem wie nuklearem Gebiet in Europa betrachtete die Bundesregierung aber als Voraussetzung für die „Ankoppelung".

Gravierender noch waren die Widersprüche zwischen den militärstrategischen bzw. bündnispolitischen Zielen einerseits und den rüstungskontroll-

bzw. entspannungspolitischen Motiven andererseits: Der Modernisierungsteil des Doppelbeschlusses verletzte wichtige Stabilitätskriterien der Rüstungskontrolle.

Die militärstrategische Zielsetzung der INF-Rüstung erforderte eine effiziente Counterforce-Waffe.

Die Pershing II genügte dieser Anforderung, brachte aber infolge ihrer extrem kurzen Vorwarnzeit erhebliche Probleme für die Krisenstabilität mit sich. Die Stationierung einer ballistischen Rakete auf westdeutschem Territorium, die sowjetisches Gebiet erreichen kann, mußte von der Sowjetunion als politische Provokation aufgefaßt werden. Während die landgestützten Marsch-39 flugkörper in dieser Hinsicht die „harmloseren" Waffen des Rüstungsteils sind, verletzen auch sie wichtige Rüstungskontrollkriterien. Dies gilt z. B. für die adäquate Verifizierbarkeit ihrer Reichweiten. Die Bundesregierung hat im Vorfeld der NATO-Entscheidung nur in einem beschränkten Sinne Rüstungskontrollkriterien für den Modernisierungsteil des Doppelbeschlusses evaluieren lassen.

Schließlich war die Vorstellung, daß Rüstungskontrollergebnisse die Modernisierung der NATO-INF ersetzen könnten, mit den bündnispolitischen und militärstrategischen Zielen des Doppelbeschlusses unvereinbar. Sowohl die Implementierung der „flexible response" als auch die „Ankoppelung" erforderten in jedem Fall eine westliche INF-Stationierung, unabhängig vom sowjetischen Verhalten in diesem Bereich. Eine „Null-Lösung" stand dazu im Widerspruch. Dieser Zielkonflikt hatte gravierende Folgen für die INF-Verhandlungen. Zielkonflikte und partielle Unvereinbarkeiten zwischen einzelnen Zielen sind in jedem Politikbereich normal, in der Sicherheitspolitik praktisch unvermeidbar. Sie lassen sich handhaben, wenn man Prioritäten festlegt und sich über das Verhältnis der Ziele untereinander klar wird. Problematisch und inkonsistent wird eine Politik erst dann, wenn man den Eindruck zu wecken sucht, man könne alle diese Ziele gleichzeitig und gleichwertig verwirklichen. Hier lag ein Problem der INF-Politik der Bundesregierung. Intern scheint man sich nicht darüber einig gewesen zu sein, wie die Reihenfolge der zu verfolgenden sicherheitspolitischen Ziele aussehen sollte.

Priorität für Rüstungskontrolle oder für Modernisierung? War man bereit, für ein Rüstungskontrollregime auf die Durchführbarkeit der „flexible response" und die „Ankoppelung" teilweise zu verzichten, wie es die Idee der „Null-Lösung" suggerierte? Zu diesen entscheidenden Fragen gab es im Vorfeld der NATO-Entscheidung keine konsistente Politik der Bundesregierung. Dies war um so bedauerlicher, als in der NATO ebenfalls kein Konsens hinsichtlich der Interpretation des Doppelbeschlusses herrschte. Er war vielmehr ein Kompromiß unterschiedlicher Zielsetzungen. Die Zielkonflikte wurden offengehalten und auf die Verhandlungen bzw.deren Ergebnisse vertagt. 3. Der Doppelbeschluß — ein Instrument präventiver Rüstungssteuerung?

Vor diesem Hintergrund kann nun eine erste Antwort auf die Ausgangsfrage versucht werden, wie die INF-Politik der Bundesregierung bis 1979 rüstungskontrollpolitisch zu beurteilen ist. Zunächst ist festzuhalten, daß das Konzept eines Doppelbeschlusses, das die Bundesregierung seit Anfang 1978 vertrat und schließlich auch in der NATO durchsetzte, in der praktizierten Rüstungskontrolle einen Fortschritt darstellt. Man war erstmals bereit, gleichzeitig mit einer Modernisierungsentscheidung und vor der Dislozierung eines neuen Waffensystems in Rüstungskontrollverhandlungen über diese Systeme einzutreten. Schon aus innenpolitischen Gründen war die Bundesregierung an ernsthafter Rüstungskontrolle interessiert. Der „bargaining chip" -Charakter des Rüstungsteils muß schließlich vor dem Hintergrund des sowjetischen INF-Rüstungsverhaltens der siebziger Jahre gesehen werden. Hätte die UdSSR einen substantiellen Schritt der Mäßigung getan, wäre der Doppelbeschluß innenpolitisch nicht durchsetzbar gewesen.

Auf der anderen Seite war die INF-Politik der Bundesregierung keineswegs so konsistent, daß man ohne weiteres von einer Politik präventiver Rüstungssteuerung oder gar des Gradualismus sprechen kann. Beides hätte eine deutlichere Zielvorgabe hinsichtlich der Priorität von Rüstungskontrolle erfordert. Z. B. hätte man stärker versuchen müssen, auch den Modernisierungsteil des Doppel-beschlusses rüstungskontrollpolitischen Kriterien zu unterwerfen. Hinzu kommen die unterschiedlichen Ziele, die mit dem Doppelbeschluß von den verschiedenen Akteuren verfolgt wurden, was zu den erwähnten Widersprüchen führte. Der Doppelbeschluß war deshalb zwar ein Dokument, das in einem Beschluß Modernisierungsentscheidung und Rüstungskontrollangebot enthielt. Das „Integrated Decision Document" war aber nicht in dem Sinne integriert, daß Modernisierungsund Rüstungskontrollteil den gleichen Kriterien unterlagen und an ihnen ausgerichtet waren. Schließlich übersah man offensichtlich in der Bundesregierung zwei grundlegende Erfordernisse konzeptioneller Außenpolitik: — Eine außenpolitisch innovative Strategie muß innenpolitisch konsensfähig sein. Daß die Landstationierung von Mittelstreckenraketen in der Bundesrepublik auf erheblichen Widerstand im gesellschaftlichen Umfeld stoßen würde, war nach den Erfahrungen in den fünfziger Jahren wahrscheinlich.

— Konzeptionelle Außenpolitik bewährt sich daran, wie sie auf veränderte Rahmenbedingungen in der internationalen Umwelt reagiert. Eine Verschlechterung der amerikanisch-sowjetischen Beziehungen war bereits 1979 absehbar, auch ohne die Afghanistan-B Intervention oder die Wahl Reagans zum US-Präsidenten. In der Bundesregierung gab es aber offenbar kaum Überlegungen, wie man unter veränderten internationalen Rahmenbedingungen den Doppelbeschluß rüstungskontrollpolitisch zum Erfolg führen könnte.

Alles in allem ließen der Doppelbeschluß und auch die INF-Politik der Bundesregierung also mehrere Interpretationen zu. Welche sich schließlich durchsetzen würde, war am 12. Dezember 1979 nicht absehbar.

III. Die Bundesregierung und die Genfer INF-Verhandlungen

Mit der Afghanistan-Intervention der Sowjetunion, dem Scheitern von SALT II, dem Wandel der amerikanischen Außen-und Sicherheitspolitik noch unter Carter und schließlich dem Amtsantritt der konservativsten US-Regierung seit den fünfziger Jahren veränderten sich wichtige Rahmenbedingungen in der internationalen Umwelt, die für das Gelingen einer an präventiver Rüstungssteuerung orientierten INF-Politik unabdingbar gewesen wären. Die Bundesregierung versuchte nun eine Politik der politischen „Schadensbegrenzung" im Ost-West-Verhältnis. Angesichts der bedrohten Grundlagen des Doppelbeschlusses und insbesondere seines Rüstungskontrollteils kam es 1980 zunächst darauf an, die INF-Verhandlungen in Gang zu bringen. Während seiner Moskaureise am 30. Juni/1. Juli 1980 gelang es dem Bundeskanzler, die Sowjetunion zur Rücknahme ihrer Weigerung zu bewegen, nach dem Doppelbeschluß überhaupt noch über Mittelstrekkensysteme zu verhandeln. Die sowjetische Führung erklärte sich zu Vorgesprächen über INF-Systeme bereit, allerdings außerhalb des SALT-Rahmens. In diesem Zusammenhang hat das Doppelbeschluß-Konzept als Kombination von Entschlossenheit zur Stationierung bei gleichzeitiger Bereitschaft zu Rüstungskontrollkompromissen offensichtlich funktioniert.

Hatte die Bundesregierung zu Beginn des Jahres 1980 damit zu tun, die sowjetische Verhandlungsbereitschaft zu erreichen, so setzte sie sich ein Jahr später ebenso eindringlich für die Wiederaufnahme der INF-Gespräche durch die neue amerikanische Regierung ein. Die Reagan-Administration zeigte jedoch zunächst keine Bereitschaft zu Rüstungskontrollgesprächen, alle späteren Zugeständnisse waren das Ergebnis heftiger interner Auseinandersetzungen Das Drängen der Europäer und vor allem der Bundesregierung auf eine verbindliche Zusage der USA für die Aufnahme der INF-Verhandlungen hatte aber schließlich Erfolg.

Nachdem es fast ein halbes Jahr gedauert hatte, bis die neue US-Regierung die Geschäftsgrundlage des Doppelbeschlusses akzeptiert hatte, brauchten die Amerikaner ein weiteres halbes Jahr, um sich auf eine Verhandlungsposition zu einigen. Während des ganzen Jahres 1981 wurden in der Besonderen Beratungsgruppe SCG und ebenso in den zuständigen Referaten der Bundesregierung Verhandlungspositionen nach den Kriterien des Doppelbeschlusses diskutiert. Auf der operativen Ebene war die SCG das entscheidende Gremium, in das die Bundesregierung ihre Positionen einzubringen versuchte. Deutsche Teilnehmer an SCG-Sitzungen beschreiben das Ausmaß der Konsultation als sehr umfangreich.

Der Preis für den integrierten Mitwirkungsprozeß auf den verschiedenen Ebenen im westlichen Bündnis lag darin, daß die Ausarbeitung einer Verhandlungsposition ungewöhnlich lange dauerte, nämlich vier bis sechs Monate. Die Einwirkungsmöglichkeiten der Bundesregierung und der anderen Westeuropäer auf die amerikanische Verhandlungsposition waren auf der institutioneilen Seite ungewöhnlich groß. Andererseits darf nicht übersehen werden, daß es sich trotz aller Konsultationsmöglichkeiten keineswegs um einen integrierten Entscheidungsprozeß handelte. So sehr auch die SCG einzelne Optionen diskutieren konnte, Entscheidungen wurden ausschließlich in Washington getroffen. Innerhalb der Bundesregierung wurden bereits 1981 Überlegungen angestellt in Richtung auf einen amerikanischen Verhandlungsvorschlag, der dann im September 1983 erfolgte (s. u.). Wichtiger für die amerikanische Verhandlungsposition von 1981 waren allerdings Überlegungen in Richtung einer „Null-Lösung". Neben den Niederlanden brachte die Bundesregierung diesen Vorschlag in den allianzinternen Entscheidungsprozeß ein. Die Idee einer Null-Lösung war nicht erst 1981 entstanden, sondern ging zurück auf die SPD-interne Debatte im Vorfeld des NATO-Doppelbeschlusses 1979. Dabei ist zu beachten, daß von vorneherein unterschiedliche Varianten einer Null-Lösung in der Bundesrepublik im Gespräch waren:

— Der Rüstungskontrollflügel der SPD favorisierte eine Null-Lösung, die den Verzicht auf die westliche Stationierung bei sehr weitgehenden östlichen Reduzierungen, insbesondere des SS-20-Potentials, vorsah. Eine vollständige Abrüstung der sowjetischen Mittelstreckenraketen hat die SPD nie gefordert. Aus einer Reihe von Äußerungen geht hervor, daß man zum einen die in Fernost stationierten sowjetischen Mittelstreckenraketen nicht in eine Null-Lösung einbeziehen wollte, zum anderen der Sowjetunion eine gewisse Kompensation für die Drittstaatensysteme zuzugestehen bereit war, auf welcher Verhandlungsebene auch immer

— Teile der Bundesregierung favorisierten offenbar eine auf Europa bezogene Null-Lösung, d. h.den Verzicht auf die westliche Stationierung, sofern die UdSSR alle INF-Raketen aus den Gebieten zurückziehe, aus denen sie Westeuropa erreichen könnten. Auch die sogenannte „Swing-Zone", in der sowjetische Mittelstreckenraketen stationiert sind, die sowohl Ziele in Westeuropa als auch in Asien abdecken, wäre von dieser Null-Lösung betroffen gewesen. Bundeskanzler Schmidt hat diese Position unterstützt

— Der globale Verzicht beider Seiten auf alle weitreichenden landgestützten INF-Raketen, d. h. die von Präsident Reagan am 18. November 1981 vorgeschlagene Null-Lösung, wurde in der Rüstungskontrollabteilung des Auswärtigen Amtes miterdacht und vom Außenminister unterstützt. Gegenüber den USA und in der SCG hat die Bundesregierung diese Null-Lösung vertreten und schließlich mit durchgesetzt.

Um innenpolitische Anforderungen zu befriedigen, setzte sich die Bundesregierung im Bündnis für eine Null-Lösung ein, an deren Realisierbarkeit intern kaum geglaubt wurde und — was schwerwiegender ist — deren Grundrationalität wahrscheinlich nicht verhandelbar war. Gerade die globale Null-Lösung wurde von den kompromißlosen Rüstungskontrollgegnern in der US-Regierung fast zwei Jahre lang, bis zum September 1983, zur Blockade der Genfer Verhandlungen benutzt. Die globale Null-Lösung ignorierte die Asymmetrien bei den Mittelstreckenwaffen zugunsten des Westens.

Diese Asymmetrien waren mit der Herauslösung der INF-Verhandlungen aus dem SALT-Kontext dadurch verschärft worden, daß nun die Aushandlung von Tauschgeschäften zwischen den beiden Ebenen nur noch schwer möglich war. Genausowenig wie der Westen z. B. auf die sowjetische Forderung nach Berücksichtigung der Drittstaatensysteme bei INF eingehen konnte, genausowenig konnte die UdSSR die Forderung nach de facto gleichen globalen Obergrenzen für Mittelstreckensysteme akzeptieren. Die von Bundeskanzler Schmidt favorisierte, auf Europa bezogene Null-Lösung dagegen wäre zwar vermutlich ebensowenig realisierbar gewesen, sie hätte aber der UdSSR die ernsthafte Rüstungskontrollbereitschaft des Westens verdeutlicht.

Die Ablehnung der globalen Null-Lösung erfolgte fünf Tage nach Reagans Rede durch Generalsekretär Breschnew bei dessen Besuch in Bonn am 23. November 1981 Bedeutsam ist, daß die ersten sowjetischen Verhandlungsvorschläge in Genf nicht klärten, ob die UdSSR tatsächlich auf der Einbeziehung der Drittstaatensysteme bei INF bestehen würde. In der Bundesregierung verließ man sich zunächst auf die dem Bundeskanzler im Sommer 1980 gegebene Zusage, daß diese Systeme in den strategischen Bereich gehörten Diese Einschätzung änderte sich erst mit dem sowjetischen Vertragsentwurf vom 25. Mai 1982 und dessen Zusatzprotokoll. Nun erst wurde deutlich, daß die Berücksichtigung der Drittstaatensysteme bei INF für die Sowjetunion die Bedingung für einen Kompromiß war — eine Einschätzung, die die Andropow-Rede im Dezember 1982 bestätigte. Inzwischen hatte sich die innenpolitische Kritik an der INF-Politik der Bundesregierung verschärft. Die neue Friedensbewegung hatte sich zur Massenbewegung formiert, in der SPD war die Opposition gegen die Stationierung stark gewachsen. Angesichts dieser Situation war für die Bundesregierung und den Bundeskanzler deutlich geworden, daß späte-stens ein Jahr vor Beginn der westlichen Stationierung in Genf reale Fortschritte erzielt sein mußten.

Im Frühjahr 1982 wurde dem amerikanischen Verhandlungsführer von westdeutscher Seite bedeutet, daß die amerikanische Position in Genf Zweifel an der Ernsthaftigkeit der westlichen Kompromißbereitschaft wecke. Dies war der Ursprung des „Waldspaziergangs", den der amerikanische Verhandlungsführer P. Nitze auf eigene Initiative mit seinem sowjetischen Kollegen unternahm, um einen Ausweg aus der Sackgasse zu finden, in die die Genfer Gespräche geraten waren -Intellektuell, nicht im Detail, ging der Vorstoß Nitzes auch auf dessen enge Verbindung mit dem Bundeskanzler zurück. Rüstungskontrollpolitisch gesehen war die „Waldspaziergangsformel" ein akzeptabler Kompromiß für beide Seiten, wenn man zugunsten rüstungskontrollpolitischer Lösungen bereit war, auf die Durchsetzung einiger militärpolitischer Ziele zu verzichten.

Der Entwurf für einen Kompromiß (75 Raketenträgersysteme in Europa, wobei die UdSSR nur ballistische Raketen [d. h. 225 SS-20-Sprengköpfe], die USA nur Marschflugkörper stationieren dürften [d. h. 300 Systeme]; Begrenzung der im asiatischen Teil der Sowjetunion stationierten INF-Raketen auf 90 Trägersysteme; Beschränkung der Flugzeuge u. a.) hätte allen wesentlichen Stabilitätskriterien der Rüstungskontrolle entsprochen. Er hätte die INF-Rüstungsdynamik wirksam begrenzt und zugleich die Krisenstabilität in Mitteleuropa erheblich gefördert. Substantiell war dabei für den Westen nur der Verzicht auf die Pershing II. Die Einführung regionaler Untergrenzen für Europa war sowohl in der Bundesregierung als auch in der SOG bereits 1980 erörtert worden.

Es war die raison d’tre der Initiative Nitzes, daß Bundeskanzler Schmidt den Kompromiß unterstützen würde. Gerade weil sie das Engagement u. a. von H. Schmidt zugunsten des Kompromisses befürchteten, haben Rüstungskontrollgegner in der US-Administration durchgesetzt, daß die westeuropäischen Regierungen vor einer amerikanischen Entscheidung über den „Waldspaziergangskompromiß" nicht konsultiert wurden. Zwar sickerten trotz der Geheimhaltungsbemühungen der US-Regierung Anfang September 1982 erste Informationen über eine Bewegung bei den INF-Gesprächen auf der operativen Ebene in der Bundesregierung durch. Einzelheiten wurden aber nicht bekannt. Durch die Nichtkonsultation der Alliierten verstieß die US-Regierung gegen ihre im Doppelbeschluß zugesagte Verpflichtung sowie gegen die Verfahrensweisen in der SCG. Angesichts der Brisanz des Themas sowie des persönlichen Engagements des Bundeskanzles verbleiben einige Unklarheiten. War die US-Regierung etwa über den geplanten Koalitionswechsel der FDP im Sommer 1982 informiert, so daß man in Washington glaubte, auf Schmidt und die SPD keine Rücksicht mehr nehmen zu müssen?

Erst nach der amerikanischen Ablehnung des Kompromisses und nach dem Regierungswechsel in Bonn wurde die Bundesregierung am 14. Oktober 1982 über Einzelheiten der Formel unterrichtet. Allerdings war die neue Bundesregierung unter H. Kohl zu dieser Zeit mehr mit innenpolitischen Themen beschäftigt, so daß sie der INF-Frage zu dieser Zeit nur geringe Aufmerksamkeit widmete. In der internen Bewertung des „Waldspaziergangs" ging es vor allem um die Frage des möglichen Verzichts auf die Pershing II. Schließlich schloß man sich der amerikanischen Haltung an, die Pershing II — und damit den Kern des westlichen Zugeständnisses — wieder in das Verhandlungspaket zurückzunehmen. Das Ziel, die „flexible response" zu implementieren, rangierte hier deutlich vor einem Rüstungskontrollkompromiß. Jedenfalls sah die CDU/CSU-geführte Bundesregierung zunächst keine Veranlassung, die „Waldspaziergangs-Formel" erneut aufzugreifen und sich etwa gegenüber den USA dafür einzusetzen.

Es ist nach wie vor unklar, ob es Bundeskanzler Kohl und Außenminister Genscher auch um den Pershing II-Verzicht ging, als sie 1983 den „Waldspaziergang" in Interview-Äußerungen wieder ins Spiel brachten. Im Bundeskanzleramt hat man Anfang 1983 offenbar den Verzicht auf die Pershing II erwogen Im Sommer 1983 legten Genscher und Kohl allerdings den Hauptakzent auf die Nicht-Berücksichtigung der französischen und britischen Kernwaffen durch die Sowjetunion, wobei interne Differenzen in der Bundesregierung nicht auszuschließen sind. Diese Äußerungen zielten vor allem darauf, den amerikanischen Entscheidungsprozeß im Hinblick auf das Verhandlungsangebot vom September 1983 zu beschleunigen Der Regierungswechsel in Bonn hatte die INF-Politik der Bundesregierung kaum verändert. Allerdings kam es zu Akzentverschiebungen zugunsten einer Politik, die der Bündnistreue Vorrang einräumte. Die CDU/CSU hatte schon vorher die Außen-und Sicherheitspolitik Genschers (gegen die SPD) jahrelang unterstützt, der Doppelbeschluß war von ihr seit Ende 1979 kontinuierlich mitgetragen worden. Insgesamt war die Kohl/Genscher-Regierung innenpolitisch nicht in der gleichen Weise auf ein Rüstungskontrollergebnis in Genf angewiesen wie die sozialliberale Koalition vorher. Statt dessen mußte die neue Bundesregierung ihre INF-Politik nun stärker gegenüber, den vorrangig an der Erhaltung der Abschreckungsfähigkeit orientierten sicherheitspolitischen Eliten der CDU/CSU begründen.

Seit Herbst 1982 setzte sich die Bundesregierung in der SCG und bilateral gegenüber den USA für eine „Zwischenlösung" ein. Man favorisierte einen Vorschlag ähnlich dem amerikanischen Verhandlungsangebot von Ende September 1983. Diese zweite Zwischenlösung gegenüber den Vereinigten Staaten durchzusetzen, dauerte fast ein Jahr. Denn die von Präsident Reagan am 29. März 1983 verkündete erste Zwischenlösung bedeutete keine Abkehr von der Logik der globalen Null-Lösung, sondern führte lediglich gleiche globale Obergrenzen ein. In der Bundesregierung hätte man die Einführung der September-Zwischenlösung bereits im März bevorzugt, auch aus innenpolitischen Gründen. Diesen Vorschlag führten die USA aber erst am 22. September 1983 in Genf ein (Bereitschaft der USA, nicht alle sowjetischen Mittelstreckenraketen in Fernost durch Stationierungen in Westeuropa auszugleichen, d. h. De-facto-Einführung einer regionalen Untergrenze für Europa; Einbeziehung der Pershing II in Reduzierungen des geplanten Stationierungsbedarfs der NATO von Anfang an;

Einbeziehung spezifischer Flugzeugtypen bereits in ein erstes Abkommen)

Damit hatten die USA fast auf den Tag genau zwei Monate vor dem westlichen Stationierungsbeginn und mehr als dreieinhalb Jahre nach dem NATO-Doppelbeschluß erstmals eine verhandlungsfähige Position in Genf offiziell eingebracht, die der Sowjetunion Kompromißbereitschaft in für sie wesentlichen Punkten signalisierte. Die hektischen Aktivitäten aller Beteiligten im Herbst 1983 konnten aber am Mißerfolg der Verhandlungen nichts ändern. Der Versuch präventiver Rüstungssteuerung war mit dem Beginn der westlichen Stationierung im November 1983 gescheitert.

Analysiert man zusammenfassend die westdeutsche INF-Politik nach 1980, so zeigt sich deutlich die Auswirkung der oben diagnostizierten Zielkonflikte. Der Mangel an innerer Konsistenz der westdeutschen INF-Politik wurde auch in der Phase der Implementierung des Doppelbeschlusses nicht behoben. An zwei Punkten, an denen Zielkonflikte zu entscheiden waren, dominierten die militär-und bündnispolitischen gegenüber den rüstungskontrollpolitischen Zielsetzungen:

— Die globale Null-Lösung wurde einer auf Europa bezogenen Null-Lösung vorgezogen, weil sie weniger geeignet war, die Perzeption eines separaten eurostrategischen Gleichgewichts und der damit verbundenen „Abkoppelung" zu fördern. Zugunsten politischer Symbolik wurde rüstungskontrollpolitische Kompromißbereitschaft geopfert.

— Diejenigen in der Bundesregierung, die nicht bereit waren, auf die Pershing II im Rahmen des , „Waldspaziergangs-Kompromisses" zu verzichten, gaben der Durchführbarkeit der „flexible response“ auch dann Vorrang vor einem Rüstungskontrollregime, wenn die Sowjetunion das westeuropäische Sicherheitsinteresse anerkannte.

IV. Bilanz:

1. Zur westdeutschen Sicherheitspolitik im Kontext der Supermachtbeziehungen Die INF-Politik der Bundesrepublik macht die Ambivalenz der westdeutschen Sicherheitsposition gegenüber den Supermachtbeziehungen deutlich. Dabei ist eine dreifache „Verwundbarkeit" der Bundesrepublik gegenüber den USA und der Sowjetunion zu berücksichtigen: — Die Forderungen an die Amerikaner in den siebziger Jahren, die schließlich zum NATO-Doppelbeschluß führten, erfolgten aus der Furcht vor einem zu engen amerikanisch-sowjetischen Bilateralismus auf Kosten der Europäer. Man befürchtete, daß es zu einer rüstungskontrollpolitischen Verständigung der beiden Supermächte kommen könne, die wesentliche Sicherheitsinteressen Westeuropas aussparen würde. Die westdeutsche INF-Politik in dieser Phase sollte verhindern, daß infolge der strategischen Rüstungskontrolle zwischen den USA und der UdSSR die militärische Bedrohung durch die Sowjetunion für Westeuropa zunähme.

— Gleichzeitig war der Doppelbeschluß für die Bundesrepublik ein Instrument, die Verwundbarkeit zu mindern, die sich aus der sicherheitspolitischen Abhängigkeit von den USA ergibt. Hier ging es um negative Auswirkungen des SALT-Rüstungskontrollprozesses für die „erweiterte Abschreckung".

— Schließlich spielte von Anfang an auch die Verwundbarkeit gegenüber der Sowjetunion eine Rolle. Infolge ihrer geostrategischen Lage ist die Bundesrepublik von einer ungebremsten Rüstungsdynamik in Mitteleuropa unmittelbar betroffen. Entspannungspolitik ist für sie deshalb in einem elementaren Sinne Sicherheitspolitik. Darum sollte das INF-Problem von vornherein in den Rüstungskontrollprozeß eingebettet werden.

Die Doppelbeschluß-Politik der Bundesrepublik versuchte, alle drei Gefahren zu bewältigen. Es handelte sich im Kern um die außen-politische Strategie einer mittleren Macht zur Beeinflussung des Verhältnisses zwischen den beiden Supermächten. Weder kooperative noch konfrontative Beziehungen zwischen den USA und der UdSSR sollten auf Kosten westeuropäischer Sicherheitsinteressen gehen dürfen. Die Sowjetunion wollte man mit der Doppelbeschluß-Politik zur Begrenzung ihrer Mittelstreckenrüstung veranlassen. Gegenüber den USA ging es vor 1980 darum, die INF-Option im Zusammenhang mit dem SALT-Prozeß offenzuhalten. Nach 1980 war der Doppelbeschluß ein Instrument, die amerikanische Verpflichtung zur Rüstungskontrolle einzuklagen.

Die westdeutsche INF-Politik als der Versuch einer mittleren Macht, ihre sicherheitspolitische Abhängigkeit von den Supermächten in einem erträglichen Rahmen zu halten, macht zugleich auch die Grenzen einer solchen Strategie deutlich. Schon die Ziele, die die Bundesregierung selbst mit dem Doppelbeschluß verfolgte, waren — wie gezeigt — untereinander nur zum Teil kompatibel. In der NATO wurde die INF-Politik ebenfalls zum Bündniskompromiß unterschiedlicher Zielsetzungen. Die Auseinandersetzung über die verschiedenen Prioritäten der einzelnen Akteure wurde 1979 in der NATO auf die späteren Verhandlungen vertagt, allerdings mit gravierenden Folgen: Erstens mußte mit der neuen US-Regierung der Diskussionsprozeß, der vorher in der NATO zum Doppelbeschluß geführt hatte, noch einmal von vorne begonnen werden. Zweitens schwand im Zusammenhang mit den bündnisinternen Auseinandersetzungen nach 1980 die innenpolitische Unterstützung für den Doppelbeschluß in den wichtigsten Stationierungsländern.

Daß die Bundesregierung nur zum Teil für die Entwicklung der INF-Politik der NATO nach 1980 mitverantwortlich zu machen ist, deutet auf ein Grundproblem westdeutscher Sicherheitspolitik hin. Die „Verwundbarkeit" der Bundesrepublik gegenüber den Supermächten war nicht nur der Ursprung der Doppelbeschlußpolitik, sondern begrenzte zugleich den westdeutschen Handlungsspielraum. Dieser hängt wesentlich zum einen von einem entspannten Supermachtverhältnis und zum anderen von einer grundsätzlichen Überein-stimmung in den außen-und sicherheitspolitischen Zielsetzungen zwischen den USA und der Bundesrepublik ab. Deshalb waren die westdeutschen Einflußmöglichkeiten auf das Supermachtverhältnis trotz des amerikanisch-sowjetischen Bilateralismus in den siebziger Jahren größer als zu Beginn der achtziger. Die Bundesregierung konnte denn auch ihre Doppelbeschluß-Politik im Bündnis 1979 weitgehend durchsetzen. In dem Maße, in dem sich die amerikanisch-sowjetischen Beziehungen verschlechterten und die US-Administration den Harmel-Konsens der NATO verließ, wurde auch der westdeutsche Handlungsspielraum reduziert. Der Einfluß der Bundesrepublik auf die Durchführung des Doppelbeschlusses war daher beschränkt.

Hier zeigt sich also deutlich das westdeutsche Sicherheitsdilemma gegenüber den Supermächten: Die Bundesrepublik ist aufgrund ihrer geostrategischen Lage und ihrer „Verwundbarkeit" unmittelbar von jeder Änderung der globalen Ost-West-Beziehungen betroffen. Sie kann sie aber nur marginal beeinflussen. 2. Zur Theorie präventiver Rüstungskontrolle Die westdeutsche INF-Politik seit den siebziger Jahren sollte verhindern, daß als Ergebnis der nuklearen Rüstungskontrolle die Sicherheitsposition Westeuropas gegenüber der Sowjetunion einseitig beeinträchtigt wird. Ob diese Situationsdefinition tatsächlich gegeben war, war in den letzten Jahren Gegenstand erregter innenpolitischer Kontroversen und steht hier nicht zur Debatte. Geht man aber von dieser Prämisse aus, dann scheint die Verknüpfung einer Rüstungsentscheidung mit einem Rüstungskontrollangebot durch das Scheitern des ersten Versuchs nicht widerlegt. Unter der Voraussetzung einer solchen Ausgangslage führt einseitige Aufrüstung automatisch zu weiterer Rüstungsdynamik, einseitige Zurückhaltung des Unterlegenen dagegen enthält für die andere Seite keinen Anreiz zu ernsthaften Zugeständnissen. Der Versuch, die westdeutsche INF-Politik zu analysieren, macht aber zugleich deutlich, daß eine rüstungskontrollpolitisch erfolgreiche „Doppelbeschluß" -Politik an eine Reihe wichtiger Voraussetzungen gebunden ist:

1. Wie „normale" Rüstungskontrolle hängt Doppelbeschlußpolitik von günstigen Rahmenbedingungen in der internationalen Umwelt ab.

2. Die sicherheitspolitischen Ziele, die mit einem Doppelbeschluß verfolgt werden, müssen mindestens durch klare Prioritätensetzungen kompatibel formuliert werden. Eine solche Doppelentscheidung muß in diesem Sinne tatsächlich integriert sein.

3. Entscheidend für den Erfolg eines Doppel-beschlusses ist seine Verknüpfung mit einer Verhandlungsposition, die die Sicherheitsinteressen beider Seiten im Blick hat und so der anderen Seite den ernsthaften „bargaining chip" -Charakter der getroffenen Rüstungsentscheidung signalisiert. Voraussetzung dafür ist, daß die zur Disposition stehende Verhandlungsmasse vorher klar definiert wird. „Null-Lösungen" sollten nur im Rahmen eines Kompromißfähigkeit signalisierenden Verhandlungskonzeptes angeboten werden oder gar nicht. 4. Ein Dilemma von Doppelbeschluß-Politik ist ihre Unattraktivität für innenpolitische Anforderungen. Diese außenpolitische Strategie soll in sich stimmig sein und muß zugleich konträren Anforderungen des gesellschaftlichen Umfeldes genügen. Abrüstungsorientierte Gruppen werden eine Modernisierungsentscheidung bekämpfen, während Abschreckungsbefürworter rüstungskontrollpolitische Zugeständnisse mißtrauisch verfolgen dürften. Die Erfahrung der letzten Jahre zeigt aber, daß ohne abrüstungsorientierte Anforderungen ernsthafte Rüstungskontrolle kaum von den Regierungen betrieben wird. 5. In einem Bündnis souveräner Staaten kann eine gemeinsame Doppelbeschluß-Politik auf Dauer nur erfolgreich sein, wenn sie von mehreren wichtigen Mitgliedern über Zeit kontinuierlich verfolgt wird. Dies stößt auf erhebliche Schwierigkeiten. NATO-Entscheidungen müssen wegen Regierungswechseln bzw. Veränderungen in innenpolitischen Konstellationen einzelner Mitgliedstaaten immer neu politisch bekräftigt werden. Dies gilt vor allem bei Veränderungen in den USA Doppelbeschluß-Politik kann eine eigenständige außenpolitische Strategie zwischen Abschreckung und Abrüstung sein. Es ist zwar unwahrscheinlich, daß sich eine westliche Regierung in nächster Zeit noch einmal auf ein solches Konzept einlassen wird. Die Alternative traditioneller Rüstungskontrolle — erst rüsten, dann verhandeln — wird auch in Zukunft politisch häufiger bleiben. Dabei wäre eine entschlossene Politik präventiver Rüstungskontrolle heute dringender denn je.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Dieser Aufsatz faßt die Ergebnisse einer umfangreichen Studie zusammen, die unter dem gleichen Titel als Forschungsbericht 1/1985 der Hessischen Stiftung Friedens-und Konfliktforschung sowie als Arbeitspapier ARB 38/85 der Deutschen Kommission Justitia et Pax erschienen ist (zu bestellen bei: Dt. Kommission Justitia et Pax, Kaiserstr. 163, 5300 Bonn 1). Die Arbeit beruht u. a. auf zahlreichen Gesprächen mit Akteuren aus Bundesregierung und Parteien. Ihnen allen sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Gert Krell danke ich für anregende Kritik und ausführliche Kommentierung.

  2. Vgl. z. B. A Mechtersheimer, Rüstung und Frieden, München 1982.

  3. So z. B. J. A. Thomson, The LRTNF decision: evolution of US theatre nuclear policy 1975-9, in: International Affairs, Vol. 40, No. 4, 1984, S. 601— 614, S. 613. Ähnlich L. Ruehl, Belastungen des amerikanisch-deutschen Verhältnisses, in: W. Wagner u. a., Die Internationale Politik 1979— 1980, München — Wien 1983, S. 42— 69, S. 67. Vgl. allgemein U. Nerlich (Hrsg.), Sowjetische Macht und westliche Verhandlungspolitik im Wandel militärischer Kräfte-verhältnisse, Baden-Baden 1982.

  4. Vgl. z. B. H. Koschnick u. a„ Grundpositionen sozialdemokratischer Sicherheitspolitik, in: Die Friedenspartei SPD, Bonn 1981, S. 5— 8. Zum Konzept präventiver Rüstungskontrolle vgl. D. S. Lutz, Sicherheitspolitik am Scheidewege: Sackgasse oder Trampelpfad? Einbahnstraße oder Ausweg?, in: ders. (Hrsg.), Sicherheitspolitik am Scheidewege, Bonn 1982, S. 15— 47, S. 28 f.

  5. Im folgenden wird — soweit nicht ausdrücklich anders vermerkt — die neuere Terminologie der NATO verwendet (SNF = nukleare Kurzstreckenraketen mit Reichweiten unter 150 km; SRINF = nukleare Mittelstreckensysteme kürzerer Reichweite — 150— 1 000 km; LRINF = nukleare Mittelstreckenwaffen größerer Reichweite — 1 000— 5 500 km). Falls nicht anders vermerkt, steht im folgenden „INF" für LRINF-Systeme.

  6. Zur Theorie der Rüstungskontrolle vgl. E. Forndran, Abschreckung und Stabilität, in: ders. /G. Krell (Hrsg.), Kernwaffen im Ost-West-Vergleich, Baden-Baden 1984, S. 15— 57; G. Krell, Theorie und Praxis der Rüstungskontrolle, in: HSFK (Hrsg.), Europa zwischen Konfrontation und Kooperation, Frankfurt/M. 1982, S. 105— 142; H. Bühl, Chancen für Rüstungskontrolle, in: Beiträge zur Konfliktforschung, (1982) 2, S. 5— 43.

  7. Diese Frage bildete den Hintergrund der politischen und wissenschaftlichen Kontroverse der letzten Jahre. Sie ist im wesentlichen ausdiskutiert. Vgl. z. B. H. Afheldt, Atomkrieg, München 1984; G. Krell/H. J. Schmidt, Der Rüstungswettlauf in Europa, Frankfurt/M. 1982; E. Lübkemeier, PD 59 und LRTNF-Modernisierung, Bonn 1981; L. Sigal, Nuclear Forces in Europe, Washington 1984.

  8. Vgl. zur Geschichte des NATO-Doppelbeschlusses im einzelnen: J. Cartwright/J. Critchley, Nuclear Weapons in Europe, Special Report, North Atlantic Assembly Papers, November 1984; R. L. Garthoff, The NATO decision on Theater Nuclear Forces, in: Pol. Science Quarterly, Vol. 98, 1983, No. 2, S. 197— 214; J. M. Legge, Theater Nuclear Weapons and the NATO Strategy of Flexible Response,'Santa Monica 1983; L. Ruehl (Anm. 3); J. A. Thomson, The LRTNF decision (Anm. 3); D. N. Schwartz, NATO's Nuclear Dilemmas, Washington 1983, S. 216— 240.

  9. H. Schmidt, Politische und wirtschaftliche Aspekte der westlichen Sicherheit, in: BPA (Hrsg.), Bulletin, Nr. 112/77, S. 1013— 1020.

  10. Vgl. H. Schmidt, Verteidigung oder Vergeltung, Stuttgart 1961, S. 159.

  11. Vgl. z. B. die Bundestagsreden von H. Ehmke und A. Pawelczyk am 8. 3. 1979, Plenarprotokoll 8/141, S. 11119— 11127 und S. 11178— 11188. Vgl. auch den Berliner Parteitagsbeschluß der SPD, in: Beschlüsse zur Außen-, Deutschland-, Friedens-und Sicherheitspolitik, SPD-Parteitag Berlin, 3. — 7. 12. 1979, S. 10— 22. Zum ganzen auch H. Soell, Sich bar-fuß in die Tür der Weltpolitik klemmen?, FAZ vom 12. 11. 83, S. 10.

  12. Vgl. L. Ruehl, Die Nicht-Entscheidung über die Neutronenwaffe, in: Europa-Archiv, Folge 5/1979, S. 137— 150; ders., Das Ringen um die Neutronenwaffe, in: W. Wagner u. a. (Hrsg.), Die Internationale Politik 1977— 1978, München — Wien 1982, S. 142— 150. Siehe auch die Regierungserklärung Bundeskanzler Schmidts vom 13. 4. 1978, in: Bulletin, Nr. 34/78, S. 321— 326.

  13. Zu Guadeloupe vgl. auch das Gespräch H. Schmidts mit sechs Journalisten der amerikanischen Westküste am 22. 7. 1982. Dieses nicht veröffentlichte Interview wird ausführlich zitiert bei H. G. Brauch, Die Raketen kommen, Köln 1983, S. 9— 16. Einzelheiten der westdeutschen Position finden sich auch in Schmidts Rede vor der SPD-Fraktion am 6. 2. 1979.

  14. Text in: Europa-Archiv, 34 (1979), S. D 556— 560.

  15. Das Kommunique der Sondersitzung der NATO-Außen-und Verteidigungsminister vom 12. 12. 1979 ist an verschiedenen Stellen abgedruckt, z. B. in: A. Mechtersheimer (Hrsg.), Nachrüsten?, Reinbek 1981, S. 21— 25.

  16. Die bestinformjerteste Quelle zu den US-internen Auseinandersetzungen um die INF-Verhandlungen ist S. Talbott, Raketenschach, München 1984. Vgl. als offiziellen Bericht der NATO: SCG, Progress Report to Ministers, NATO Press Service, 8. 12. 1983. Zum ganzen auch J. Cartwright/J. Critchley, (Anm. 8).

  17. Vgl. z. B. E. Bahr, Was wird aus den Deutschen?, Reinbek 1982, S. 180 f.; H. Ehmke, Interview mit der „Zeit" vom 17. 7. 1981; H. J. Wischnewski, Ein eindeutiges Signal, Sozialdemokratischer Pressedienst, Nr. 221, 19. 11. 1981.

  18. Vgl. H. Schmidts Interview mit dem Deutsch-landfunk am 29. 11. 1981, in: BPA (Hrsg.), Stichworte zur Sicherheitspolitik, Nr. 12/81, S. 23— 29.

  19. Zum Breschnew-Besuch vgl. Bulletin, Nr. 112/81, S. 961— 968.

  20. Der Protokollauszug aus den Gesprächen Schmidts in Moskau mit der entsprechenden Erklärung Gromykos wird zitiert in der Bundestagsrede J. Todenhöfers am 14. 10. 1983, Plenarprotokoll 10/29, S. 1952f.

  21. Der ausführlichste Bericht über die Entstehung des „Waldspaziergang-Kompromisses" findet sich bei S. Talbott (Anm. 16). S. 197— 253.

  22. Vgl. „The Euromissile Problem Isn't Over", Washington Post vom 10. 3. 1983.

  23. Vgl. das Interview H. Kohls mit der „Washington Post", zit. nach Regierungssprecher Boenisch am 22. 7. 1983, in: Stichworte zur Sicherheitspolitik Nr. 8/83, S. 46; Interview H. Kohls mit der ARD, 22. 7. 1983, ebd., S. 14f.; Interview H. D. Genschers mit Radio Luxemburg, 31. 7. 1983, ebd., S. 15— 18.

  24. Vgl. SCG: Progress Report ... (Anm. 16), S. 29f.

Weitere Inhalte

Thomas Risse-Kappen, M. A, geb. 1955; Studium der Politikwissenschaft, Soziologie und Kath. Theologie in Bonn, der Politikwissenschaft und Nationalökonomie am Institut d'Etudes Politiques, Paris; seit 1981 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Hessischen Stiftung Friedens-und Konfliktforschung, Frankfurt/M. Veröffentlichungen u. a.: Christen zur Friedensdiskussion, Frankfurt-Bonn 1982; Das Doppelgesicht der Abschreckung, in: F. Böckle/G. Krell (Hrsg.), Politik und Ethik der Abschreckung, Mainz-München 1984; (zus. mit G. Krell und H. J. Schmidt) The No-First-Use Question in West Germany, in: J. D. Steinbrunner/L. V. Sigal (Hrsg.), Alliance Security, Washington 1983.