I. Einführung
Gefängnisüberfüllung ist gegenwärtig weltweit das wohl bedrückenste Problem des Strafvollzugs, ja der gesamten Kriminalpolitik. Medienschlagzeilen verdeutlichen es: „Dramatische Zuspitzung im Strafvollzug" — „Für 6000 Verurteilte kein Platz in Gefängnissen" — „Wegen Überfüllung frühe Begnadigung?" — „Keine Zelle mehr frei" — „Mithäftling niedergeschossen" — „Rauschgifttoter in Plötzensee" — „Das private Gefängnis ist im Kommen" — „Gefängnisrevolte im Sing-Sing" usw. Aber weder über Ursachen noch über Abhilfe besteht Einigkeit. Kontroversen findet man ebenso in der kriminologischen Wissenschaft wie in der Praxis von Politik und Strafjustiz.
Ist es steigende Kriminalität, welche Gefängnisse überquellen läßt, oder eine sich ausweitende, verschärfende Strafverfolgung? Soll man den wachsenden Gefangenenzahlen durch Gefängnisneubauten begegnen oder umgekehrt Strafgesetze, Strafverfolgung und Strafvollzug abbauen? Bedarf die Strafrechts-reform der sechziger und siebziger Jahre einer Korrektur oder konsequenter Fortführung? Wurde die alte und würde eine neue Reform von der Justiz angenommen oder womöglich unterlaufen, umgangen? Wieviel Strafverfolgung und Freiheitsentzug sind überhaupt nötig, um Sicherheitsgefühl und Normtreue der Bevölkerung zu gewährleisten? Kurzum: Gefängnisüberfüllung ist Anlaß genug, Kriminalpolitik insgesamt zu überdenken.
Zwei Schlaglichter mögen Haftzustände beleuchten: Das Landgericht Braunschweig befand kürzlich: „Die Belegung einer Einzelzelle mit einer Grundfläche von 7, 98 qm und einem Rauminhalt von ca. 22 cbm mit zwei Gefangenen ist in ihren Auswirkungen insgesamt unwürdig und erniedrigend und verletzt den Anspruch des Gefangenen auf Achtung seiner Persönlichkeit und seiner Menschenwürde und ist demzufolge unzulässig."
Ungemein alarmierender sind Haftzustände im reichsten Land der Welt — den USA. Ein erfahrener Praktiker beobachtete das Gefängnis von Mount Meigs bei Elmore: „In der Eingangsdiagnose-Station war der erste Schock am entsetzlichsten. Der nördliche Schlafsaal ist eine Höhle von etwa 9 x 23 m. Am Tage meines Besuchs enthielt sie 218 Gefangene, so daß auf jeden rund 0, 95 qm Grundfläche entfielen. Auf zweistöckigen Pritschen, zwischen die Pritschen gelegten Matratzen und einigen Matratzen auf einem Sims über den Toilettenschüsseln findet jeder Häftling einen Schlafplatz... Kein Bediensteter betritt den Saal bei Nacht und kaum einer am Tag. Die Insassen dürfen den Saal zu den Mahlzeiten verlassen. Einmal pro Woche werden sie um-geschlossen, so daß ein Reinigungstrupp das Nötigste erledigen kann."
In der Bundesrepublik fand die Problematik jüngst starke Beachtung, als zwischen SPD und GRÜNEN über ein hessisches Gefängnisneubauprogramm gestritten wurde. Eine erstmalige, umfassende Anhörung im Hessischen Landtag am 6. /7. September 1984 vereinte etwa zwei Dutzend Wissenschaftler und Praktiker. Dabei wurden nahezu alle gegenwärtig diskutierten Ansichten über Situation, Ursachen und mögliche Konsequenzen zusammengetragen. Brennende Fragen blieben allerdings offen Im folgenden soll die Problematik im Zusammenhang unserer neueren Kriminalitätsentwicklung und Kriminalpolitik aus der Sicht eines Kriminologen und Kriminalwissen-schaftlers, der sich selbst zur Mitte des wissenschaftlichen und politischen Meinungsspektrums zählt, dargestellt werden.
II. Geschichtliche Perspektive
Gefängnisüberfüllung ist vielschichtig, in mancher Hinsicht relativ, in der Forschung erst neuestens beachtet Dies gilt ebenso für den Begriff wie für Erscheinungsformen, für eine Diagnose der Ursachen wie für deren Abhilfe. Und doch ist das Problem so alt und so verbreitet wie das neuzeitliche, auf die Amsterdamer Zucht-und Spinnhäuser von 1595 zurückreichende Gefängniswesen selbst.
Waren Strafanstalten ursprünglich für die Besserung durch Arbeitserziehung geschaffen, wenn man Todes-und Leibesstrafen vermeiden wollte, so verfielen die zu Zeiten des Merkantilismus im 17. /18. Jahrhundert an Private verpachteten Zuchthäuser zu Stätten bloßer Ausbeutung von Gefangenen. Indem man Kriminelle, Landstreicher, Irre, Arme und Waisen zusammenpferchte, provozierte man Überfüllungen, kriminelle Ansteckung, Demoralisierung, subkulturelle -Unterdrückung. Entweder wurden solche Nöte — im ideengeschichtlichen steten Auf und Ab, Vor und Zurück — gar nicht als Problem empfunden; vielmehr rechtfertigte man sie bis in die sechziger Jahre unseres Jahrhunderts als mit dem Wesen des strafenden Freiheitsentzugs vereinbare oder gar gewollte zusätzliche Strafübel. Oder sie bildeten den Motor reformerischer Bewegungen; man erinnere nur an Reformanstöße von John Howard 1777, Heinrich Wagnitz 1791 oder Theodor Fliedner in der Rheinisch-Westfälischen Gefängnisgesellschaft 1826. Grundlegende Reformen blieben jedoch aus. Noch 1966 befand das Berliner Kammergericht: „Mit dem Verlust der persönlichen Freiheit als Strafe ... verliert der Gefangene im Prinzip tatsächlich alle diejenigen Grundrechte, zu deren uneingeschränkter Ausübung er der persönlichen Freiheit bedarf. Er hat dementsprechend uneingeschränkt nur noch das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit." In der Bundesrepublik bedurfte es — abgesehen von Aufklärung, Reformforderungen, Aufrufen der Vereinten Nationen, internationalen Kongressen — offenbar erst des heilsamen Schocks markanter Gefängnisskandale wie der Hamburger „Glocke" und des Kölner „Klingelpütz", um Problembewußtsein auch in die Rechtsprechung und Politik zu tragen. Mutig ging 1967 das Oberlandesgericht Hamm voran Damals hatte man es mit der zweiten Überfüllungsphase der Nachkriegszeit zu tun; heute ist es die dritte. Das Gericht befand, drei Gefangene in einer Einmannzelle von 23, 5 cbm mit Toilette ohne Schamwand einzusperren, verstoße gegen den Schutz der Menschenwürde in Art. 1 Grundgesetz. Ihm folgte 1972 das Bundesverfassungsgericht mit seiner Aufforderung, ein Strafvollzugsgesetz zu schaffen, welches die Rechtsstellung des Gefangenen sichert und seine Wiedereingliederung in die Gesellschaft fördert.
III. Die gegenwärtige Lage im internationalen Vergleich
Ein internationaler Vergeich des Problems setzt einheitliche Maßstäbe und Definitionen für Gefängnisüberfüllung voraus; aber daran mangelt es. Gleichwohl sei eine Diagnose der Lage hierzulande und in einigen vergleichba-ren Ländern versucht. Die Relativität von Gefängnisüberfüllung erfordert dabei vor allem, zwei Vergleichsgesichtspunkte zu unterscheiden: Zum einen die „Haftquote“ (Verhältnis-zahl Inhaftierter je 100000 Einwohner einer Bevölkerung an einem Stichtag), zum anderen die konkrete Auslastung bestehender Anstalten. Denn es gibt in einzelnen Ländern unterschiedlich hohe Ausgangslevels der Haftintensität, und je nachdem werden sich Größenordnung und politische Brisanz einer akuten Überfüllungslage anders darstellen. Überfüllungen, die mit ohnehin hohen Haftquoten einhergehen, drängen allemal mehr zu umfassenden kriminalpolitischen Lösungen; Über-füllungen bei an sich geringen Haftquoten können leichter hingenommen oder als organisatorisches Problem bewältigt werden. 1. Haftquotenvergleich Der internationale Vergleich von Haftquoten verweist die Bundesrepublik in ein Mittelfeld zwischen zwei Extremen. Unsere Haftquote beträgt 104 Gefangene (davon 27 Untersuchungsgefangene) je 100000 Einwohner Diese Zahl nimmt sich vergleichsweise günstig aus gegenüber Haftquoten in wohl fast allen Diktaturen. In den kommunistisch regierten Ländern des Ostblocks werden die Haftquoten von der DDR bis zur Sowjetunion auf 200 bis 400 geschätzt; hierbei sind allerdings haftähnliche Maßnahmen wie Zwangserziehungs-, Zwangsarbeitslager und Zwangs-unterbringungen in psychiatrischen Anstalten nicht mit berücksichtigt; periodisch wiederkehrende Massenamnestien werden zwar als politische Wohltat gefeiert, beruhen aber in erster Linie auf immer wieder anschwellenden Haftquoten und Haftüberlastungen, die selbst dort als unerträglich angesehen werden. Gleich hoch liegt bemerkenswerterweise die Haftquote in den USA.
Im näherliegenden Vergleich mit Staaten des Europarats schneidet die Bundesrepublik jedoch sehr ungünstig ab. Höher liegt die Haft-quote lediglich in Österreich (114) und in der Türkei (177), am niedrigsten liegt sie in den Niederlanden (31), gefolgt von Spanien (38), Norwegen (48), Schweden (57), der Schweiz (62), Dänemark (70), Belgien (72), Frankreich (74), Italien (76) und England (83), um nur die wichtigsten zu nennen.
Etwas anders sieht das Bild allerdings aus, wenn man unterschiedliche Haftlängen in den Vergleich einbezieht. Bekanntlich sind durchschnittlich verbüßte Haftzeiten etwa in den Niederlanden und in Dänemark (2, 0 Monate) sehr kurz, in Portugal am höchsten (8, 0 Monate). Auch hier liegt die Bundesrepublik mit 6, 2 Monaten im ungünstigen oberen Bereich. In Anbetracht unseres Straflängenlevels nehmen wir allerdings nach der Verhältniszahl jährlicher Haftantritte durchaus einen mittleren Rang ein. 2. überschreiten der Haftkapazität und Folgen Betrachtet man die Lage innerhalb bestehender Haftanstalten, so ist die Überfüllung in bundesdeutschen Gefängnissen eindeutig. Sie tritt schon bei einer jahresdurchschnittlichen Auslastung von 90 % der vorhandenen Haft-plätze ein. Ähnlich dem Krankenhauswesen müssen nämlich in jeder Anstalt Platzreserven verbleiben. Auch lassen sich nicht alle Abteilungen gleich stark belegen; eine überlast im geschlossenen Männervollzug läßt sich nicht etwa ausgleichen durch ungenutzte Plätze im offenen Frauenvollzug; gleiches gilt für Unterscheidungen nach Jugendstraf-, Untersuchungshaft-, sozialtherapeutischen, Gefängniskrankenhaus-, Langstraf-oder Sicherungs-Einrichtungen. überdies schwankt die Belegungsintensität, beispielsweise wegen des Urlaubswesens, jahreszeitlicher Stoßzeiten, Baumaßnahmen oder — horribile dictu! — sogenannter „Verschubungen", fortlaufend.
Im Sinne einer 90 %-Auslastung gab es bereits lange vor der in das öffentliche Bewußtsein getretenen Problematik Überbelegungen, teils regional und sektoral, teils ganze Bundesländer erfassend. Die jetzige Situation ist jedoch dadurch gekennzeichnet, daß ohne entscheidende Gegenmaßnahmen eine unerträgliche kapazitäre Überfüllung bis in das nächste Jahrtausend voraussehbar ist. Bundesweit sind alle Länder außer den Stadtstaaten Bremen und Hamburg davon betroffen. Im Saarland ist die kritische 90 %-Marke insgesamt um 50 %, im Bundesdurchschnitt um 14% überzogen. In Hessen beispielsweise ist die offiziell ausgewiesene Belegungskapazität des geschlossenen Strafvollzugs für Männer seit 1980 um 24 bis 30 %, in einzelnen Anstalten noch weit stärker überschritten.
Selbst diese Daten verdecken noch die Kluft zwischen dem Anspruch des 1976 erstmals geschaffenen Strafvollzugsgesetzes an die Beschaffenheit von Haftplätzen einerseits und der Gefängniswirklichkeit andererseits. So fordert das Gesetz u. a. weitgehend offenen Vollzug, Trennung von Untersuchungs-und Strafgefangenen, pädagogisch geführte Freizeitgestaltung, sinnvolle Arbeitsmöglichkeiten, soziale Hilfen, Unterricht, Krankenpflege, regelmäßige Einzelunterbringung, sanitäre und wohnliche Ausgestaltung der Hafträume, Wohngruppenvollzug, Besucher-und Gruppenräume. Von solchen unabdingbaren Zielforderungen rückt die bundesdeutsche Wirklichkeit mit der skizzierten Überfüllung noch weiter ab. Dadurch könnten Zustände eintreten, die dem sonst hohen zivilisatorischen Stand dieses Landes und den hehren grundrechtlichen Erwartungen seiner Verfassung Hohn spotten. Ähnlich rügt das zuständige britische Ministerium dortige Zustände als einen „Affront gegenüber einer zivilisierten Gesellschaft". Beispielhaft läßt sich dies dokumentieren mit der bei uns wie in vergleichbaren Ländern üblichen, rigoros ausgeweiteten Doppelbelegung von Einzelzellen („Doppelstockbetten", „double celling", „double bunking"). Gemeinschaftsunterbringung ist in den Jahren 1970 bis 1982 von 33, 1 % auf 44, 6 %, im Saarland gar auf 74, 4 % angewachsen. Demgegenüber gehört der Grundsatz nächtlicher Einzelunterbringung nicht nur zu den gesetzlichen Forderungen, sondern schon zu dem Verlangen früher Reformer und der moralisch verpflichtenden „Einheitlichen Mindestgrundsätze für die Behandlung der Gefangenen" (Wirtschafts-und Sozialrat der Vereinten Nationen, Genf 1957).
Überfüllung wirkt sich schädigend für Gefangene, Bedienstete und die Allgemeinheit aus. Insgesamt verschlechtert sich das Haftklima; Mißtrauen, Angst und Aggressionen der Gefangenen untereinander sowie zwischen ihnen und Bediensteten mehren sich. Die ansatzweise wohl in jeder Anstalt vorhandenen subkulturellen Strukturen mit Hackordnung, wechselseitiger Unterdrückung, heimlichen Machenschaften, Drogenschmuggel, Korruptionsgefahr usw. verfestigen sich. Ohnehin geringe, oft euphemistisch überzeichnete Chancen eines wirksamen Behandlungsvollzugs schwinden. Moderner Resozialisierungs-, wenigstens aber humaner Strafvollzug entwickelt sich zurück in überholten, allein auf Sicherheit und Ordnung gründenden Verwahrvollzug, wobei das Bild des Vollzugsmitarbeiters droht, sich in jenes vom „Schließer"
zurückzubilden.
Letzten Endes ist mit Gefängnisrevolten und Skandalen zu rechnen, wie sie beispielsweise aus den USA in den letzten Jahren (Pontiac, Reidsville, New Mexico, Attica), aus Polen, Italien oder Brasilien berichtet werden, wie sie aber auch bei uns möglich sind, wenn man etwa an den Brand in der Berliner Abschiebe-haft denkt. Auf individuelle und generelle Vorbeugung bedachter Strafvollzug droht dann in das Gegenteil, in vermehrte Kriminalität und geringere Sicherheit umzuschlagen.
In vielen anderen Ländern haben wir es mit gleichen, in manchen mit noch weit stärkeren Überlastungen bestehender Haftanstalten zu tun. So befinden sich derzeit allein in Staats-und Bundesgefängnissen der USA mit einer Kapazität von insgesamt etwa 300000 Plätzen 430000 Gefangene. Die genannten Revolten sind Symptome unerträglicher Zustände. Dabei ist die Lage in der Bundesrepublik der in Großbritannien vergleichbar. Aber selbst Länder, deren Strafvollzug in mancherlei Hinsicht Vorbild war und ist, bleiben von diesen Problemen nicht verschont. So hatte man beispielsweise in Schweden zunächst einen weitgehenden Behandlungsvollzug kreiert, war dann nach Abflauen der „Behandlungsideologie" wieder auf ein Sicherungsdenken umgeschwenkt, wollte die Haftzahl aber in den achtziger Jahren auf 1000 Gefangene reduzieren und muß nun etwa 5500 Gefangene verkraften, teils sogar in Hotels unterbringen. Selbst in den Niederlanden plant man Gefängnisneubauten. Indem man Überbelegungen bestehender Anstalten vermeidet, nimmt man indes einen Stau der auf eine Verbüßung wartenden Verurteilten, eine „Überfüllung vor den Haftanstalten" in Kauf. Weitaus drastischer wirkt sich ein solcher Stau beispielsweise in Brasilien aus; so gab es bis 1982 in Sao Paulo 25000 Gefangene und ebenso viele Verurteilte, für die in den Gefängnissen kein Platz war und die somit auf eine Verjährung des staatlichen Strafvollstreckungsanspruchs hofften
IV. Ursachen gegenwärtiger Gefängnisüberfüllung
1. Kriminalitätsanstieg Als wichtigste Ursache des derzeitigen Belegungsdrucks in Haftanstalten wird die steigende Kriminalität diskutiert, denn in den letzten Jahrzehnten läßt sich für die gesamte verfolgte Kriminalität und für einzelne Bereiche ein Anstieg feststellen. Zu nennen sind dabei einmal die zahlenmäßig besonders ins Gewicht fallenden leichteren Straßenverkehrsdelikte und Diebstähle (Ladendiebstähle, Diebereien von und aus Kraftfahrzeugen sowie von Fahrrädern). Zum anderen sind es vor allem schwerere Delikte: Einbrüche und Gewalttaten wie der überproportional angestiegene Raub, ferner Drogenhandel.
Der Zuwachs verfolgter Kriminalität hängt nicht allein mit Umschichtungen der Bevölkerung zusammen; er zeigt sich auch in Verhältniszahlen (Zahl rechtskräftig Verurteilter je 100000 Einwohner der jeweiligen Bezugs-gruppe). Besonders macht er sich bei jungen Menschen bemerkbar. Freilich ist es nur ein allmählicher, nicht jäher, keineswegs dramatischer Anstieg. Wenige Daten mögen ihn verdeutlichen. Die Verurteiltenzahlen wuchsen im 25-Jahreszeitraum von 1954 bis 1979 bei allen Altersstufen von 1281 auf 1421, und zwar bei Jugendlichen von 842 auf 1887, bei Heranwachsenden von 2623 auf 3369, bei Erwachsenen von 1225 auf 1249. Ungleich höhere Zuwachsraten der polizeilichen Kriminalstatistiken finden in diesen Daten keinen entsprechenden Niederschlag; ein Großteil leichter und mittelschwerer Kriminalität wird nämlich zunehmend durch staatsanwaltliche oder gerichtliche Verfahrenseinstellungen im Vorfeld einer Verurteilung erledigt. Im Strafvollzug zeigt sich dieser Trend in wachsenden Anteilen derer, die wegen Gewalt-oder Drogendelikten verurteilt sind. So veränderte sich die Deliktstruktur bei über 25jährigen männlichen Strafgefangenen innerhalb eines Jahrzehnts bis 1982 folgendermaßen: Wegen Körperverletzung verurteilte Gefangene nahmen absolut von 556 auf 1370 zu, und ihr Anteil wuchs im Strafvollzug von 2, 5 % auf 4, 3 %; für Raub und Erpressung lauten die entsprechenden Zahlen: 1672 bzw. 7, 5 % und 3127 bzw. 9, 9 %. Hingegen nahmen die Vollzugsanteile bei Diebstahl und Unterschlagung von 40, 6 % auf 28, 0 % ab, obwohl gerade hier kriminalstatistisch beträchtliche Anstiege zu verzeichnen sind. Im Jugendstrafvollzug sind beispielsweise die Anteile wegen Raubes Verurteilter um etwa 6 % auf rund 19 % angestiegen. Namentlich für die Jugendkriminalität wird diese Diagnose eines Kriminalitätsanstiegs jedoch von manchen Kriminologen vehement kritisiert: Sie verkenne eine Verschiebung vom Dunkelfeld unerkannter zum Hellfeld verfolgter Kriminalität; diese wiederum beruhe auf verstärkter Anzeigebereitschaft in der Bevölkerung und auf dem Ausbau des Verfolgungsapparates Bei aller Lückenhaftigkeit und Fragwürdigkeit unseres kriminologischen Wissens und Messens lassen sich solche Einwände aber doch entkräften. So ist die Anzeigebereitschaft allenfalls in Teilbereichen gestiegen; im übrigen ist sie sogar rückläufig, wie insgesamt soziale Nahraumkontrolle nach dem Motto „Was geht mich das an?" schwindet. Und die personelle Erweiterung bei Polizei und Justiz wird großenteils kompensiert durch verringerte Arbeitszeit, neue bürokratische Belastungen, Abzug von Polizeikräften für Personen-und Objekt-schutz sowie Spezialfahndungsbereiche.
Wie wenig der Hinweis auf die angeblich drastisch gesteigerte Verfolgungskapazität zu verfangen vermag, zeigt ferner die polizeiliche Quote der Verbrechensaufklärung: Sie ist in den letzten zwei Jahrzehnten von 55 % auf 45 % gesunken; dies macht sich beispielsweise bei Raub-und Einbruchskriminalität bemerkbar. Auch liegt der beobachtete Kriminalitätsanstieg im Trend vergleichbarer Industrienationen. Letztlich lassen sozialstrukturelle, kriminalitätsbegünstigende Entwicklungen einen solchen Anstieg plausibel erscheinen; sie seien nur mit den Stichworten Entfremdung, Anonymität, Verstädterung, Arbeitslosigkeit, Umbrüche in Familie, Erziehung, Freizeitgestaltung und Wertehaltung angedeutet. 2. Entwicklungen der Bevölkerung und Haftplätze Eine weitere Ursache gegenwärtiger Engpässe liegt in den zeitweilig scherenartig auseinandergehenden Entwicklungen der Bevölkerung einerseits und des Haftplatzangebots andererseits.
Wie in Universitäten und im Lehrstellenbereich macht sich im Strafvollzug die bekannte demographische Umschichtung bemerkbar. Der Bevölkerungsanteil 18 bis 45jähriger Männer ist in den letzten Jahren merklich gestiegen; es ist dies zugleich die kriminalitätsintensivste Altersstufe. Dabei wirken sich die geburtenstarken Nachkriegsjahrgänge ebenso aus wie der Zuzug von jüngeren männlichen Ausländern. In der Bevölkerung ist diese Personengruppe mit 20% (12, 5 Millionen) vertreten, im Strafvollzug mit 85 % weit überrepräsentiert. So dürften im Strafvollzug ein weiterer Antstieg bis in die späten achtziger und ein allmählicher Rückgang in den neunziger Jahren zu erwarten sein. Beispielsweise beobachtet die Jugendstrafanstalt Rockenberg — dort sind jugendliche männliche Strafgefangene aus Hessen inhaftiert — neuestens schon ein Stagnieren der Zugangs-raten. Solches Symptom des „Pillenknicks" wird sich in der Wiesbadener Anstalt mit heranwachsenden Gefangenen vermutlich in wenigen Jahren zeigen, danach in Jungmänner-Anstalten usw. Erst um die Jahrtausendwende dürfte indessen — bei sonst gleichen Verhältnissen — die Gesamtpopulation Gefangener wesentlich unter den heutigen Stand absinken.
Auf die sich frühzeitig abzeichnende demographische Umschichtung reagierten Kriminalpolitiker spät. Im Zuge der Strafrechtsreformen nutzte man Rückgänge der Gefangenenzahlen seit 1970 zunächst, um manche der überwiegend aus dem 19. Jahrhundert stammenden veralteten Gefängnisbauten zu beseitigen, umzuwidmen oder zu modernisieren. Vorausschauende Planer fehlten. Neubauten, die jene Altbausanierungen und Abrisse hätten kompensieren können, wurden zu spät konzipiert.
Man braucht dies nicht einmal zu bedauern. Schon in den wenigen Neubauten der siebziger Jahre offenbarten sich nämlich gigantomane, kommunikationsfeindliche architektonische „steingewordene Riesenirrtümer". Sie liefen heutigen Vorstellungen stadt-und heimatnaher, kleiner, überschaubarer, dem Vorrang des Wohngruppen-und offenen Vollzugs dienender, an „soziale Netze" angebundener Gefängniseinheiten zuwider. Erst um 1975 wurden in größerem Ausmaß neue, zum Teil offene Haftplätze geschaffen, insgesamt etwa 10000; doch ziehen sich Neubauprogramme heute von der Planung bis zur Bezugsfertigung über zehn Jahre hin. Eine un-heilige Allianz von „progressiven", umweltbewußten, die Strafe ablehnenden Kräften einerseits und „konservativen", „Kriminelle in der Nachbarschaft" nach dem Sankt-Florians-Prinzip ebenso wie Altenheime, psychiatrische Kliniken und Friedhöfe verdrängenden Bürgerinitiativen andererseits verhindern zudem rasche, standortgünstige Neubäuten. Selbstverständlich wirken sich außerdem auch die knappen öffentlichen Kassen aus. Immerhin kostet heute jeder neue Haftplatz einmalig ca. 180000 DM. Die unmittelbaren Folgekosten für jeden Gefangenen belaufen sich auf jährlich ca. 44000 DM. Demgegenüber sind für anteilige Bewährungshilfekosten je Proband jährlich nur etwa 1500 DM aufzuwenden. Auch in dieser Kostenrelation zeigt sich, daß eine ambulante, intensive sozialarbeiterische Betreuung allemal einem stationären Vollzug vorzuziehen ist. 3. Ursachen in neuen Strafgesetzen Eine weitere, insgesamt 'jedoch weniger bedeutsame Ursache für steigende Gefangenen-zahlen liegt in gesetzgeberischen Verschärfungen und Ausweitungen des Strafrechts. Einer Welle der Entkriminalisierung in den früheren Strafrechtsreformen folgte eine solche mit umgekehrtem Vorzeichen. Schließlich überlagerten sich Ent-und Neukriminalisierung. Einheitliche Ziele sind nicht mehr erkennbar. Exemplarisch soll dies anhand der Neugestaltung des Betäubungsmittelgesetzes von 1981 belegt werden Hier werden entkriminalisierende, auf Vermittlung von Therapie für Drogenabhängige bedachte Tendenzen konterkariert. Neue Verbrechenstatbestände und erheblich erhöhte Strafrahmen sollten vom Gesetzgeber erklärtermaßen „bandenmäßig organisierte, selbst nicht süchtige Großdealer, die Millionengewinne auf Kosten der Gesamtheit und des Lebens anderer machen", „nicht-süchtige, profitgierige Großtäter", „kalkulierende Täter", auf die solche Strafen abschreckend zu wirken vermögen, „Rauschgiftproduzenten und -händler großen Stils" treffen An diesen Personenkreis kommt man bekanntlich selten heran. Quasi kontraproduktiv ist das Gesetz aber so angelegt, daß sogar bloße Haschischkonsumenten, vor allem aber jene Drogenabhängigen getroffen werden, denen zugleich therapieförderliche Umleitungsvorschriften eben jenes Gesetzes gewidmet sind, stellen diese doch regelmäßig einen Mischtyp von Händler-Konsumenten bzw. Kleinverteilern dar. Um nicht mit den hohen Strafen die Zielgruppe der gefährlichen Großdealer zu verfehlen, hätte der Gesetzgeber konsequenterweise besonders gefährliche Drogen wie Heroin und besonders große Handelsmengen hervorheben müssen.
Insgesamt wirken sich derartige gesetzgeberische Neukriminalisierungen und Strafschärfungen erfahrungsgemäß kaum nachhaltig aus; sie entpuppen sich überwiegend als Papiertiger. So werden neue Straftatbestände nur dann wirksam, wenn zusätzliche Verfolgungsressourcen zur Verfügung stehen. Anderenfalls laufen sie weitgehend leer, oder es finden lediglich Umschichtungen statt; beispielsweise werden Diebstahlsermittler für verstärkte Drogenkontrolle abgezogen, also weniger Diebstähle, mehr Drogendelikte ermittelt. I
Auch fragt es sich immer, wieweit Strafgesetzschärfungen von der Praxis akzeptiert oder umgewertet werden. Abgesehen von inländischen Beispielen zeigt etwa die Kehrtwendung in der New Yorker Drogengesetzgebung von 1973, daß hier sozusagen eine Rechnung ohne den Wirt — Polizei und Justiz — gemacht wurde Solche Wirkungen, Um-wertungen und Fehlkalkulationen gilt es augenblicklich zu bedenken, will man Strafandrohungen im Demonstrationsstrafrecht ausweiten. 4. Ursachen in der Rechtsprechung Schwieriger zu beurteilen ist es, wieweit die Rechtsprechung für Überfüllungszustände mitverantwortlich zeichnet.
Von einigen Kritikern wird behauptet, neuerdings würden ohne Not, d. h. ohne Zusammenhang mit einer steigenden Kriminalität, freiheitsentziehende Strafen ausgeweitet In dieser Pauschalität trifft das jedoch nicht zu. Insgesamt hat die Geldstrafe mit 83 % aller Strafen die Freiheitsstrafe deutlich zurückgedrängt. Etw die Hälfte der Freiheitsstrafen wird überdies zur Bewährung ausgesetzt. Allerdings hat sich von 1977 bis 1982 die Zahl zu unbedingter Freiheitsstrafe Verurteilter von 35909 auf 40544 erhöht. Vor allem aber haben längere Strafen zugenommen: Der Anteil von Strafen zwischen zwei und fünf Jahren ist von 10, 9% auf 12, 1 %, der von Strafen zwischen fünf und Jahren von 2, 5 % auf 3, 2 % gestiegen. Dies wirkt sich ganz sicher entscheidend auf den Belegungsdruck aus. Freilich zeigt die schon genannte Umschichtung der Strafgefangenen, daß solche Veränderungen nicht willkürlich sind. Sie beruhen vorrangig darauf, daß Gerichte differenziert auf wachsende verfolgte Kriminalität reagieren, Vermögens-delikte stärker anderweitig erledigen, Freiheitsstrafe immer mehr für gefährlichere Taten und Täter vorbehalten. Hierzu bemerkt Alexander Böhm 15) treffend, die Preise für das Verbrechen seien gefallen.
Ist eine Schelte der Strafjustiz insoweit also kaum berechtigt, so sind andererseits seit langem Tendenzen feststellbar, die das Ausmaß des Freiheitsentzugs unnötig groß halten. Dafür seien vier Belege angeführt:
— Insbesondere weist die Untersuchungshaft nach Häufigkeit und Dauer bei uns eine unangemessen hohe, derzeit noch leicht wachsende Größenordnung auf. Sie ist überhaupt Stiefkind in Gesetzgebung, Rechtsprechung und Vollzug. Oft genug nimmt sie aufgrund verborgener, gesetzlich nicht vorgesehener Haftgründe Züge des Ersatzes für verbotene kurze, schnelle Freiheitsstrafen an. Das ge-setzliche Verhältnismäßigkeitsgebot wird sträflich vernachlässigt. Dafür mag das Beispiel des berühmt-berüchtigten Nürnberger KOMM-Verfahrens stehen. Und es mag der Hinweis genügen, daß nur etwa jeder zweite Untersuchungsgefangene mit einer Strafverbüßung nach der Verurteilung zu rechnen hat. Allzu schematisch-formelhaft wird Fluchtgefahr auf die bloße Straferwartung gestützt. In bemerkenswerter Offenheit hat ein erfahrener Frankfurter Haftrichter in der Hessischen Landtagsanhörung eingeräumt, Haftbefehle ergingen oft sogar in Bagatellsachen: bei Kleindiebstählen, Fahrgeldhinterziehen, Überschreiten des Touristenstatus
— Weiterhin wird nur unzureichend die gesetzliche Beschränkung kurzer Freiheitsstrafen unter sechs Monaten eingehalten. Nach dem erklärten Willen der Strafrechtsreform als seltene Ausnahme gedacht, machen diese kurzen, resozialisierungsfeindlichen Strafen noch nahezu die Hälfte aller verhängten Freiheitsstrafen aus. Lediglich in Straßenverkehrssachen ist das Reformziel erreicht, überdies weichen manche Urteile offenkundig auf Strafen von über sechs Monaten nach oben aus, um keinen Ausnahmefall begründen zu müssen; der sprunghafte Anstieg dieser Strafhöhe seit dem Reformzeitpunkt von 1970 deutet dies an. Weitaus häufiger böten sich hier Geldstrafen an, wobei dies erneut ein Beispiel dafür ist, wie gesetzliche Reformvorstellungen von der Praxis widerwillig aufgenommen werden. Haftbelastend kommen zahlreiche Ersatzfreiheitsstrafen für uneinbringliche Geldstrafen hinzu, denn mit wachsender Arbeitslosigkeit hat sich die Lage dramatisch verschärft. An diesem Punkt setzen deswegen Bemühungen ein, gemeinnützige Arbeit statt uneinbringlicher Geldstrafen anzubieten. — Zögerlich nutzt die Praxis ferner gesetzliche Chancen, Strafgefangene vorzeitig zu entlassen. Zwar wird überwiegend, jedoch regional ziemlich ungleich, dem Regelfall einer Strafrestaussetzung nach der Verbüßung von zwei Dritteln entsprochen. Dagegen wird das Ermessen, Reststrafen bei Erwachsenen schon nach hälftiger, bei Jugendstrafgefangenen nach der Verbüßung von einem Drittel zur Bewährung auszusetzen, fast gar nicht genutzt — Schließlich ist auf die nicht immer therapiefreundliche, das gesetzgeberische Anliegen „Therapie vor Strafe" mitunter verkennende Rechtsprechung zum Betäubungsmittelgesetz hinzuweisen. Therapieüberleitung für drogenabhängige Straftäter ist of schwieriger geworden. Allzu skeptisch werden ambulante Therapie und Rehabilitation im offenen Vollzug beurteilt. Strafaussetzungen zur Bewährung sind seltener geworden
V. Kriminalpolitische Bemühungen um weniger Freiheitsentzug
1. Absage an Abolition, Expansion und Technokratie In Wissenschaft und Praxis pendeln Vorschläge für Strategien gegen die Gefängnisüberfüllung und für eine bessere Kriminalpolitik zwischen zwei extremen Richtungen: Abolitionismus einerseits, Expansionismus andererseits.
Die internationale abolitionistische Bewegung verbindet sich mit dem Namen des Nor-wegers Thomas Mathiesen Ihr Ziel ist es, durch eine Strategie der Negation, also Verweigerung der Mitarbeit an jeglicher systemimmanenten Gefängnisreform, Gefängnisse überhaupt überflüssig zu machen, Resozialisierung in Freiheit zu erreichen. Man kann dieser Bewegung durchaus intellektuellen Reiz, Konsequenz im Lehren und Handeln, ja wertvolle Denkanstöße bescheinigen. Reali-stische Beiträge für politisch zu entscheidende und zu verantwortende Lösungen der konkret anstehenden Strafvollzugsprobleme vermag sie aber nicht zu leisten. Schon ihre Prämisse ist fragwürdig, denn gesellschaftlichen Schutz ohne jeglichen staatlichen Zwang und Freiheitsentzug gewährleisten zu wollen, bedeutet eben, Rückfälle in Chaos, in Willkür, in Privatjustiz zu riskieren.
Einer abolitionistischen entgegengesetzt ist bei uns und vor allem in den USA („Reaganismus in der Rechtspolitik") ansatzweise eine expansionistische Strategie erkennbar. In den Vereinigten Staaten äußert sie sich am bemerkenswertesten in der wieder auflebenden, an Irrationalität, Peinlichkeit, Naivität und verfehlter Abschreckungsgläubigkeit reichen Praxis von Hinrichtungen Zwar sind wir in der Bundesrepublik von solchen Exzessen erfreulich weit entfernt, andererseits aber äußert z. B. ein Landesjustizministerium, die Strafrechtspflege müsse ihren Beitrag zur Bekämpfung steigender Kriminalität leisten, die präventive Wirkung des Strafrechts ausgebaut, die Strafdrohung bei bestimmten Delikten eher verschärft werden, wodurch längerfristig auch der Strafvollzug entlastet werde. Noch deutlicher rügt eine kriminalpolizeiliche Standesorganisation, im Verhältnis zur Kriminalitätsentwicklung werde zu wenig verhaftet; beachtenswert ablehnend gegenüber nahezu jeder den Strafvollzug entlastenden Maßnahme außerhalb echter Kapazitätserweiterungen zeigt sich der Deutsche Richterbund
Diese Strategie würde in eine Teufelsspirale wechselseitiger Eskalation von Kriminalität und Strafe führen, denn es ist einsichtig, daß gesteigertes Strafen Kriminalität kaum mindert, ja eher verschärft. Wesentliche soziale Bedingungen heutigen Kriminalitätszuwachses, wie Entfremdung, Orientierungslosigkeit, Arbeitslosigkeit, lassen sich nicht strafend verändern.
Insofern liegt es nahe, an (Binsen-) Weisheiten früher Kriminalpolitiker zu erinnern.
Etwa an Beccarias Ausspruch von 1767, wonach der gleiche Geist von Grausamkeit, der die Hand des Mörders führe, auch die Hand des Gesetzgebers geführt habe; oder an von Liszts berühmte, vor etwa hundert Jahren aufgestellte These, eine gute Sozialpolitik sei die beste Kriminalpolitik.
Verkannt wird auch, daß Strafrecht und Strafen nur fragmentarisch, geradezu symbolisch sind; freiheitsentziehende Strafen sind allein in dem Maße geboten, welches unabdingbar ist, um Sicherheitsgefühl und Rechtsfrieden in der Bevölkerung zu gewährleisten. Danach verlangt mäßig steigende Kriminalität keineswegs proportional wachsende Strafreaktionen; sie läßt sich sogar mit konstanter oder relativ rückläufiger Repression vereinbaren; vergleichbare Länder und unsere Erfahrungen mit der Abschaffung von Körper-und Todesstrafen sowie mit der Einschränkung lebenslanger Freiheitsstrafen zeigen es. Indem man Strafen übermäßig androht oder verhängt, wertet man das Strafrecht und dessen generalpräventive Bedeutung inflationär ab, macht man dieses kriminalpolitische Schwert stumpf.
Ebenso abzulehnen sind aber auch technokratische Scheinlösungen vielfältiger Art. Zu ihnen greifen Bürokratien gern, um Überfüllungslagen zu kaschieren, ohne sie längerfristig zu lösen. So werden amtliche Kapazitätsfestsetzungen manipuliert. Man ändert Definitionen und Zählweisen, oder man widmet Hafträume um. Aus Einmann-werden Zweimannzellen, aus Besuchs-und Gruppenräumen Gemeinschaftsschlafsäle. Um Personal zu sparen, bedient man sich kommunikationsfeindlicher hochtechnisierter automatischer Überwachungssysteme; „big brother" wird Mitarbeiter. Oder man leitet, wie erwähnt, den Stau in Gefängnissen in einen solchen vor deren Toren um. Im Bundesrat hat man sich sogar dafür eingesetzt, eine anhaltende Überbelegung von Hafträumen zu legalisieren
In diesem Zusammenhang ist ferner vor Gefahren einer Reprivatisierung des Strafvollzugs zu warnen. Entsprechend der Debatte um die Privatisierung öffentlicher Wirtschafts-und Versorgungsbetriebe wird gele-gentlich gefordert, sich auch im Strafvollzug kostengünstigeres Wirtschaften privater Unternehmer zunutze zu machen. In den USA — sie sind uns eben in vielem voraus, ob positiv oder negativ — beginnen bereits private Gesellschaften, wie die „Correction Corporation of America“, solche Ideen zu verwirklichen. Anderenorts überläßt man zumindest Teile von Anstalten oder einzelne Gefangene privaten Unternehmern Die genannten historischen Erfahrungen merkantilistischer Ausbeutung warnen. Wertvolle Errungenschaften des staatlichen Strafmonopols stehen auf dem Spiel.
Letztlich gehören amerikanische Vorschläge in den Bereich technokratischer Scheinlösungen, die das Überfüllungsproblem gesetzgeberisch durch Eingriffe in das richterliche Strafzumessungsermessen lösen wollen. So erwägt man, je Richter oder Gericht eine Art Verfügungskonto zu schaffen, welches der jeweiligen Haftplatzkapazität angepaßt ist Dies aber läßt sich nicht vereinbaren mit freier richterlicher Entscheidung, mit individuellen Erwägungen, mit nötigem Wandel in der Rechtsfindung. 2. Leitsätze einer moderaten kriminalpolitischen Reform Hier sei systemimmanenten Bemühungen um eine Lösung des Überfüllungsproblems das Wort geredet. Einzelne Maßnahmen sind in eine längerfristige kriminalpolitische Gesamtstrategie einzufügen. Gefängnisüberfüllung sollte Anstoß sein, unsere zu pragmatische, zu wenig in ein Gesamtkonzept gefügte Kriminalpolitik insgesamt, nicht allein in ihrem dem Freiheitseiltzug gewidmeten Teil zu überdenken. Daher sei versucht, Leitsätze eines solchen Konzepts moderner Kriminalpolitik zu formulieren:
1. Kriminalität kann in gegenwärtigen Gesellschaften nicht beseitigt, nur gemäßigt werden. Es geht um einen möglichst rationalen Umgang mit, um Minderung von Kriminalität. Ein grundsätzlicher „Krieg gegen Kriminalität und Kriminelle" wäre verfehlt.
2. Vorrangig ist dies Aufgabe der gesamten, namentlich der Sozial-Politik, nur hilfsweise einer Kriminalpolitik. Diese darf sich nicht ausschließlich repressiver Mittel bedienen. Sie sollte — wo möglich und nötig — soziale Hilfen vermitteln.
3. Wir haben gelernt, auf Todes-und Leibes-strafen, Folter und tatsächlich lebenslangen Freiheitsentzug ohne Schaden für das Recht verzichten zu können. Jetzt stellt es einen Lernauftrag dar, nach besseren Alternativen zum Freiheitsentzug zu suchen. 4. Derzeit ist aber ein Mindestmaß an strafrechtlichen Sanktionen, einschließlich des Freiheitsentzugs, noch unverzichtbar. Sonst riskiert man private Willkür, eine Gefährdung des demokratischen Rechtsstaats. 5. Strafsanktionen beschränken sich angesichts bekanntermaßen großer Dunkelfelder weitgehend auf ein symbolisches Ausmaß.
Dies gilt vor allem für massenweise und minderschwere Kriminalität. Nach Gesamtumfang und Struktur soll das Strafen ein Minimum anstreben, welches für die Wahrung von Sicherheit und Rechtsfrieden unverzichtbar ist. Generalpräventive Wirkungen können im Laufe der Zeit mit weniger Strafen und weniger drastischen Eingriffen gleichermaßen erreicht werden.
6. Vor allem im Umgang mit kleinerer und mittlerer Kriminalität dürfte ein Großteil strafender, insbesondere freiheitsentziehender Reaktionen entbehrlich sein. Dieser Teil läßt sich ohne Schaden für die Allgemeinheit und den einzelnen z. B. durch Geldstrafen, gemeinnützige Arbeit, ehrenamtliche Bewährungshilfe, Eingriffe in den Freizeit-und Berufsbereich ersetzen.
7. Freiheitsstrafe als ultima ratio kommt insbesondere in Betracht in der Auseinandersetzung mit schwerer Kriminalität (z. B. erhebliche Gewaltdelikte, organisierte, Wirtschafts-und Umweltkriminalität bzw. besonders gefährliche Täter).
8. Strafvollzug, erst recht die Untersuchungshaft, sind nach Kriterien kriminalpolitischer Mäßigung und Verhältnismäßigkeit, der Menschenwürde und Sozialstaatlichkeit zurückhaltender anzuordnen und dementsprechend inhaltlich auszugestalten. Haftschäden für Gefangene, Angehörige und die Allgemeinheit werden oft unterschätzt, bessernde Wirkungen überschätzt.
9. Kurzfristig wird man nicht ganz auf-Gefängnisneubauten und neue Haftplätze im offenen Vollzug verzichten können. Dies zu verweigern, um die Notlage im Gefängniswesen auf Dauer zu nutzen, den Abbau von Freiheitsentzug politisch zu erzwingen, erscheint unrealistisch und unmenschlich gegenüber Gefangenen und Gefängnisbediensteten. Mittelfristig sollte dadurch jedoch kein Ausbau der Haft-kapazität, vielmehr eine Verbesserung der Haftplätze erreicht werden.
10. Langfristig geht es darum, Strafvollzug behutsam durch Alternativen abzubauen. Abrupte kriminalpolitische Reformen gefährden hingegen Sicherheitsgefühl, Rechtsbewußtsein und Normtreue. Sie provozieren unterschwellig gegenläufige Tendenzen der Praxis und lösen erfahrungsgemäß gegenreformerische, ebenso unheilvolle Bewegungen aus. Oder sie münden in Etikettenschwindel.
11. Kriminalpolitische Reformen sollten daher mit der Praxis, nicht gegen sie erarbeitet und durchgesetzt werden. Sie müssen von der Justiz und von der Öffentlichkeit angenommen werden und sollten deshalb in regionalen, überschaubaren, wissenschaftlich kontrollierten Projekten erprobt, in kleinen Schritten verwirklicht werden. Sie sind vorzubereiten und zu begleiten durch entsprechende Bemühungen in der Aus-und Fortbildung sowie in der allgemeinen Aufklärungsarbeit. 3. Ein Reformbeispiel: „Die Brücke"
Inzwischen gibt es viele Projekte und Beispiele der Reform in kleinen Schritten, die sich zugleich haftmindernd auswirken könnten. So wurden von einer kriminalpolitischen Arbeitsgruppe des Hessischen Justizministeriums u. a. Modelle für verstärkte sozialarbeiterische Hilfen bei richterlichen Entscheidungen entwickelt, um Untersuchungshaft oder Widerrufe von Strafaussetzungen zu vermeiden, für den Ausbau gemeinnütziger Arbeit, für die Vermeidung von Freiheitsentzug bei Unterhaltspflichtverletzung oder bei Fahren ohne Fahrerlaubnis, wenn Entschuldungshilfen oder Führerscheinerwerb den Kreislauf „Straftat-Strafe-Rückfall-höhere Strafe" durchbrechen können, usw. Detaillierter sei hier das von Christian Pfeiffer initiierte und betreute Münchener Projekt „Die Brücke" dargestellt, weil es beispielhaft zeigt, wie „innere Reformen" im Rahmen geltenden Rechts, d. h. Veränderungen „von unten" und mit der Praxis, nicht gegen sie, verwirklicht werden können. Pfeiffer stellte fest, daß jugendliche Straftäter in München weitaus häufiger als anderenorts förmlich verurteilt sowie mit Jugendarrest und Jugendstrafe belegt wurden. Jugenddelikte sind jedoch meistens episodenhaft, sie bedürfen keiner energischen Eingriffe. Wo sie indes Symptome erheblicher Entwicklungsstörungen sind, muß erzieherisch sinnvoll reagiert werden. Zuviel jugendstrafrichterlicher Aufwand verstärkt eher „kriminelle Karrieren", statt sie zu verhindern. Deshalb wurden in dem „Aktionsforschungsprojekt" für die Praxis Sanktionsalternativen erarbeitet und ihre Anwendung kontrolliert. Erzieherische Handlungsspielräume des Jugendgerichtsgesetzes sollten optimal ausgeschöpft, übermäßige Verfahrensförmlichkeiten vermieden werden. Geldbußen, Jugendarrest und Bewährungs-Jugendstrafen galt es durch sozialarbeiterisch begleitete „Betreuungsweisungen" und „gemeinnützige Arbeit" zu ersetzen. Hervorgegangen war das Projekt aus einer Bürgerinitiative „Zeitungsabonnements für Gefangene"; als „Verein Brücke" begann 1974 die Forschung. Die Stadt München, das Land Bayern und die Bosch-Stiftung trugen zur Finanzierung bei.
Dürre Daten belegen schon jetzt wichtige Erfolge: Die Sanktionspraxis Münchener Jugendrichter wandelte sich drastisch. Verurteilungen schrumpften um ein Fünftel; sie könnten nach Erfahrungen mit weiteren inzwischen anderenorts initiierten Brücke-Projekten (z. B. in Braunschweig und Lübeck) sogar unter ein Drittel aller Verfahren sinken. Jugendarrest und Jugendstrafe wurden merklich zurückgedrängt. 80 % der Jugendlichen — von Richtern zur „Brücke" geschickt — befolgten die Weisungen auf Anhieb, die übrigen nach Mahnung. Fast alle erfüllten die Arbeitsauflagen. Entscheidend dürften auch Erkenntnisse über Formen und Folgen unterschiedlicher richterlicher Handlungsstile sein. Hierfür wurden Münchener Jugendrichter in einem Quasi-Experiment in zwei Gruppen eingeteilt: A-Richter, die 1978 in ihren fast 500 Jugendstrafsachen Freiheitsentzug selten, und B-Richter, welche ihn häufig angeordnet hatten. In beiden Gruppen wurde untersucht, wie sich die Richter selbst sahen, wie sie von Jugendlichen und Jugendgerichtshelfern erlebt wurden, wie Jugendliche die jeweilige Sanktion annahmen, schließlich, ob sie sich im Laufe mehrerer Jahre bewährten. A-Richter werden durchweg besser beurteilt, ihre Sanktionen für gerechter gehalten und weniger widerstrebend befolgt. Sie verhandeln vorzugsweise in aufgelockerter Atmosphäre und „Zimmerterminen", sind selbstkritischer und skeptischer gegenüber bloßer Repression, aufnahmebereit für neue Ideen, aufgeschlossener in der Zusammenarbeit mit der „Brücke" und oft selbst in der Jugendarbeit engagiert. Von B-Richtern fühlen sich Jugendliche hingegen öfter abgelehnt. Diese Richter gelten als „autoritär-streng". Sie setzen in erster Linie auf Furcht vor Strafe.
Verblüffend sind Befunde zu Erfolgen und Kosten dieser unterschiedlichen Stile. Rückfälle der Probanden von A-Richtern sind seltener — gemessen an erneuter Straffälligkeit innerhalb von zwei Jahren. 24 % der Probanden von A-Richtern, 34 % derer von B-Richtern durchlaufen ein weiteres Jugendgerichtsverfahren. Außerdem ist das Verhalten von A-Richtern billiger. Zwar werden Kosten-analysen in der Justiz als ungehörig angesehen: Argumentiert man, weniger Strafen verringerten Haftkosten, wird gekontert, auch die Sicherheit mindere sich dadurch. Aber Pfeiffer konnte nachweisen, daß sogar weniger Rückfälligkeit, also mehr Sicherheit durch A-Richter erreicht werde. Berücksichtige man Haftkosten von täglich 62 DM in Bayern, ferner Kosten und Einkünfte bei anderen Sanktionen sowie Kosten durch Rückfälligkeit, so verursache ein „autoritär-strenger" Richter jährlich Mehrkosten in Höhe von einer Dreiviertelmillion DM. 4. Gefahren für kriminalpolitische Reformen und notwendige Begleitmaßnahmen Kriminalpolitische Reformen, einzelne hier stichwortartig vorgeschlagene Maßnahmen, ja sogar Gesetzesänderungen können durch die strafjustizielle Praxis unterlaufen werden. Dies wird und wurde vom Gesetzgeber nicht immer hinreichend einkalkuliert. Informationslücken, eigene Wertungen, Beharrlichkeit tradierter Entscheidungsstile, ungeprüfte Alltagstheorien, Widerstände gegen „Reformen von oben", „vom grünen Tisch", mögen dafür verantwortlich sein.
In dieser Sicht sind mögliche nachteilige Wirkungen einzelner Maßnahmen auch gegen Gefängnisüberfüllung bedenkenswert. Dafür mögen vier Beispiele stehen:
— In der Bundesrepublik und in den Vereinigten Staaten wird die Gefahr diskutiert, neue Haftanstalten oder freiwerdende Haft-kapazität übten eine Sogwirkung auf die Rechtsprechung aus. So resümierten amerikanische Forscher: „Ohne Zweifel halten sich manche Richter zurück, verurteilte Täter in überfüllte Gefängnisse zu schicken; ein Ausbau der Haftkapazität dürfte diese Zurückhaltung mindern" Immerhin ist auch bei uns zu beobachten, daß eine an sich positiv verstandene „Imagepflege" in neuen Anstalten solchen Sog begünstigen kann; man denke an das makabere, vielsagende Bonmot vom „Strafanstaltstourismus" bei „Modellanstalten". — Nicht von der Hand zu weisen sind ferner Gefahren, daß Richter längere Strafen aussprechen, wenn Straf-oder Strafrestaussetzungen gesetzlich oder durch Vollstreckungsbehörden extensiver gestaltet werden. So hat man in England beobachtet, daß mit Einführung der Strafaussetzung zur Bewährung Personen entsprechend bestraft wurden, die sonst überhaupt keine Freiheitsstrafe erhalten hätten Ähnliche Erfahrungen gibt es bei uns, etwa im Zusammenhang mit der Begrenzung kurzer Freiheitsstrafen oder mit hessischen Versuchen, Strafrestaussetzungen häufiger nach hälftiger Verbüßung zu ermöglichen. Manche Richter, die solchen frühzeitigen Entlassungen reserviert gegenüberstehen, erklären unumwunden, sie würden gegebenenfalls Strafen von vornherein länger bemessen. Diese Gefahren sind zu bedenken, wenn jetzt im Bundestag über großzügigere Strafaussetzungen entschieden wird.
— Beispielhaft erwähnt seien schließlich auch Gefahren der Ausweitung sozialer Kontrolle angesichts neuer, haftmindernd gedachter Alternativen zu bisherigen Sanktionen. Solche Gefahren werden in den USA heiß diskutiert („net-widening-effect") und mitunter von Kriminologen vorschnell und zu pauschal auf unsere Verhältnisse übertragen Befürchtet wird, daß Straftäter, die ohne das Vorhandensein neuer sozialarbeiterischer Hilfsangebote keinerlei Sanktion erhalten hätten, nunmehr in langfristig und repressiv-kontrollierend wirkende, als Hilfen deklarierte justizielle Maßnahmen einbezogen werden. Auch Pfeiffer ist in der „Brücke" auf solche Ausweitungstendenzen gestoßen.
Derartige Gefahren lassen sich nur durch intensive Aufklärungsarbeit mindern. Daß dies möglich ist, hat Pfeiffer ebenfalls in seinem Projekt gezeigt. Wiederum beispielhaft seien einige Vorschläge für solche Aufklärungsarbeit in der strafjustiziellen Aus-und Fortbildung skizziert:
— Zu den unabdingbaren beruflichen Voraussetzungen von Strafrichtern und Staatsanwälten sollten gründliche Kenntnisse über Haft-anstalten gehören. Mancher Strafjurist hat Haftanstalten seines Wirkungskreises noch nie von innen gesehen. Zu Zeiten des für den hessischen Strafvollzug tätigen Albert Krebs mußte noch jeder Referendar mehrere Wochen in einer Strafanstalt mitarbeiten. Erfahrungsgemäß dämpfen sich allzu optimistische Vorstellungen über Haftwirkungen, wenn man erstmals realistische Einblicke in den Haftalltag und in subkulturelle Haftstrukturen erhält. Solche Eindrücke gewinnt man indes nicht bei oberflächlichen, für Gefangene zudem demütigenden „Führungen". Aufgeschlossene, intensive Gespräche mit Beteiligten oder zeitweilige amtliche bzw. ehrenamtliche Mitarbeit sind vielmehr vorauszusetzen. So könnte Einsicht für die Notwendigkeit wachsen, Alternativen für die Haft anzustreben. — In die überregionale Fortbildung sollten verstärkt — nach dem Vorbild von Veranstaltungen der Deutschen Vereinigung für Ju-gendgerichte und Jugendgerichtshilfen — Vertreter aller am Strafverfahren beteiligten Berufe einbezogen werden. So kann der Blick des juristischen Praktikers geweitet werden. Er scheint nach tradierter Ausbildung allzu-sehr auf die Rechtsdogmatik und die Kommunikation mit Juristen verengt, in ihr befangen. — Kenntnisse über Erfordernisse, Nöte und Wirkungen von Haft, über Möglichkeiten, Haft zu vermeiden, über aktuelle Schwierigkeiten „vor Ort" vermitteln dezentrale, regionale, organisatorisch weniger aufwendige und flexible informelle Gesprächskreise aller am jeweiligen Strafgeschehen Beteiligten. In ihnen wächst zugleich Aufgeschlossenheit für unterschiedliche Selbstverständnisse anderer Berufszweige. Mißverständnisse, Vorurteile und bürokratische Hindernisse werden so oftmals abgebaut, neue Wege in der Strafgerichtsbarkeit gebahnt
— Wachsende strafjustizielle Aufgeschlossenheit für Reformanliegen ließe sich auch durch eine bessere Auswahl von Strafrichtern, Staatsanwälten und vor allem Jugend-richtern erreichen. Das Jugendgerichtsgesetz gebietet z. B.seit langem eine Auswahl nach erzieherischer Befähigung und Erfahrung. Doch wird diese Vorschrift kaum befolgt.
— Nicht zuletzt darf erneut appelliert werden, kriminologische und pönologische, praxisnahe Forschung zu verstärken. Die seit Jahren beschlossene kriminologische Zentralstelle in Wiesbaden sollte endlich eingerichtet werden. So ließe sich vermeiden, daß Kriminalpolitik — wissenschaftlich gesehen — sozusagen „von der Hand in den Mund" lebt; sie könnte besser fundiert und in Praxis und Öffentlichkeit vermittelt werden.
Reformen in der Kriminalpolitik sind letztlich nur durchsetzbar, wenn sie von großen Teilen der Bevölkerung mitgetragen werden. Durch Aufklärung in der Erziehungs-und Bildungsarbeit, vor allem in den Massenmedien, muß immer wieder Vorurteilen entgegengewirkt, um Verständnis, Toleranz und Mitverantwortung für Randgruppen, gefährdete Täter und Opfer gerungen werden. Lediglich drei Bei-spiele mögen die Weite möglicher Ansätze solcher Kriminalpädagogik andeuten:
— Angesichts verzerrter, desinformierender massenmedialer Darstellung von Kriminalitätsbildern gilt es, neue Akzente zu setzen. Statt vordergründig-klischeehafte Tätervorstellungen, Gewaltkriminalität, Täterverfolgung oder Sicherungsvorkehrungen in das Zentrum publikumswirksamer Berichte zu stellen, sollten wenigstens in „Medienspots zur Kriminalpolitik" auch beispielsweise folgende Themen und Aspekte berührt werden, die sich gelegentlich durchaus unterhaltend aufbereiten lassen: Mitverantwortung in Familie, Nachbarschaft und Schule als Beitrag zur Delinquenzverhütung; Deliquenz als Jedermannsverhalten — vom Wesen und der Bedeutung des Dunkelfeldes; Hintergründe konflikthafter Delikte; Entwicklung vom Apfelklau zum Ladendiebstahl — die Verlagerung der Sozialkontrolle; es geht auch ohne Todesstrafe; der Haftalltag eines Jugendstrafgefangenen usw.
— In der Kriminalprävention und Strafverfolgung gilt es, frühzeitig pädagogische, therapeutische, entdramatisierende, sinnvoll konfliktregulierende Ansätze fruchtbar zu machen. Dazu sind u. a. neue Wege der Zusammenarbeit zwischen Kriminalpolizei, Sozialarbeit und anderen Trägern formeller und informeller Kontrolle, aber auch zwischen Polizei und Bürger zu suchen, dies trotz aller notwendigen Abgrenzung und getragen von wechselseitigem Respekt.
— Verständnis und Mitverantwortung der Bevölkerung sind auch und gerade im Zusammenhang mit dem Strafvollzug zu stärken. So sollten vor notwendigen Gefängnisneubauten Anhörungen „vor Ort" stattfinden, um Ängste, Voreingenommenheiten und Konflikte zu mindern. Für Jugendheime und vielleicht Haftanstalten könnten nach ausländischen Vorbildern Nachbarschaftspatenschaften gegründet werden, in denen geeignete Persönlichkeiten der nahen Umgebung Mitverantwortung übernehmen Kirchengemeinden in der Nähe dieser Einrichtungen könnten beispielsweise gemeinsame Gottesdienste mit Anstaltspfarrern und Gefangenen durchführen sowie ehrenamtliche Mitarbeit anregen. Im übrigen ist das Feld der Kriminalprävention weit und weitgehend unbestellt. Es harrt der Mitarbeit aller.