Politik, gleichgültig, ob sie nach innen oder außen gerichtet ist, befindet sich stets im Fluß, in der Entwicklung. Ein statisches Element, sieht man einmal von den sie bestimmenden Grundpositionen, auch Überzeugungen ab, ist ihr fremd. Insoweit kann, wer sich mit den Resultaten der Ost-und Deutschland-politik während der letzten zwei, drei Jahre beschäftigt, bestenfalls eine Zwischenbilanz liefern. Neue Entwicklungen können die Lage und damit die Ergebnisse dieser Politik kurzfristig verändern, weniger in ihren Grundlinien, wohl aber in zahlreichen Details. Das gilt für die Ost-und Deutschlandpolitik zu Beginn des Jahres 1985 in besonderem Maße.
Als im Herbst 1982 in Bonn der Regierungswechsel stattfand, als die neue christlich-liberale Koalition speziell auf dem Gebiet der Innen- wie der Wirtschafts-und der Finanzpolitik andere Akzente als ihre Vorgängerin setzte, blieb von diesen Veränderungen zur Überraschung vieler die Ost-und Deutschland-politik hiervon ausgenommen. Auf diesem Gebiet konnte deshalb mit gutem Grund von Kontinuität gesprochen werden, wenn man einmal von den unterschiedlichen Temperamenten und damit Handschriften der beiden Politiker Schmidt und Kohl absieht. Die Regierungserklärung von Bundeskanzler Kohl vom 13. Oktober 1982 ist hierfür Beleg genug.
„Auf der Grundlage der geschlossenen Verträge und der Schlußakte von Helsinki“, so Kohl vor dem Deutschen Bundestag, „wird sich die Bundesregierung, um echte Entspannung, um Dialog und Zusammenarbeit bemühen. Wir wollen das in unseren Kräften stehende dazu beitragen, die Teilung Deutschlands und Europas, die schwere Last unserer Geschichte, für die betroffenen Menschen erträglicher zu machen und gute Beziehungen zu unseren Nachbarn in Mittel-und Osteuropa zu unterhalten." Das hätte, fast wörtlich, auch Kohls Vorgänger Schmidt erklären können — und hat dies auch bei anderer, ähnlicher Gelegenheit getan. Das dem so war, lag auch mit daran, daß die FDP und hier vor allem Bundesaußenminister Genscher dem alten wie neuen Bündnis angehört.
So war es gewiß kein Zufall, daß Bundeskanzler Kohl in jener Regierungserklärung in deren deutschlandpolitischem Teil hierauf einging: „Hier gilt in besonderer Weise das Wort von Hans-Dietrich Genscher: . Deutschlandpolitik ist europäische Friedenspolitik'. Der Brief zur deutschen Einheit vom 12. August 1970, der zu den Vertragswerken gehört, formuliert unzweideutig das Ziel unserer Politik:,... auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt'. Die Zusammenarbeit der deutschen Staaten muß im Interesse der Deutschen und ihrer Nachbarn in Europa verbessert werden. Wir werden die laufenden Verhandlungen und Gespräche fortsetzen. Wir sind an umfassenden, längerfristigen Abmachungen zum Nutzen der Menschen und auf der Grundlage der geltenden Abkommen interessiert."
Bundeskanzler Kohl in Moskau Deutlicher konnte die anvisierte Kontinuität nicht zum Ausdruck gebracht werden. Vergessen schien der heftige Kampf während der siebziger Jahre um die sogenannten Ostverträge, als sich die parteipolitischen Fronten im Deutschen Bundestag unversöhnlich gegenüberstanden und wo erst das Bundesverfassungsgericht diesen Streit schlichten und damit zugleich beenden mußte. Das gehört heute der Vergangenheit an — oder sollte es zumindest. Bundeskanzler Kohl reiste jedenfalls im Frühsommer 1983 nach Moskau und vertrat dort die Ost-und Deutschlandpolitik der christlich-liberalen Koalition, wie er diese zuvor in seiner Regierungserklärung formuliert hatte. Die Kontinuität zur Politik seines Amtsvorgängers Schmidt blieb, nicht zuletzt dank der Assistenz durch Bundesaußenminister Genscher, gewahrt.
Kohl ließ dabei kein Thema aus — das langfristige Ziel der Wiederherstellung der deutschen Einheit ebensowenig wie die Mauer in Berlin, hinsichtlich der er seinen sowjetischen Gesprächspartnern die Frage stellte, wie sie sich wohl verhalten würden, wenn ein solches Monstrum quer durch Moskau existieren würde. Die Art seines Auftretens, fern jeden Anflugs von „Revanchismus" oder „Militarismus", von dem heute wieder soviel die Rede ist, mag seine Wirkung im Kreml nicht verfehlt haben. Jedenfalls konnte Kohl damals in dem Bewußtsein an den Rhein zurückkehren, den von seinen Vorgängern Schmidt und Brandt, aber auch Kiesinger und Erhard bis hin zu Adenauer geknüpften Gesprächsfaden aufgenommen und fortgeführt zu haben. Dabei hatte der Kanzler auch keinen Zweifel darüber aufkommen lassen, wie Bonn sich verhalten würde, falls die Genfer Mittelstrekken-Verhandlungen am Ende scheitern sollten.
Die Geschäftsgrundlage der neuen Bundesregierung gegenüber der Führung im Kreml war klar. Kohl konnte dabei nicht allein auf den von Moskau 1970 akzeptierten „Brief zur deutschen Einheit" abheben, von dem sich der SPD-Vorsitzende Brandt, der ihn als Bundeskanzler seinerzeit mit konzipiert hatte, heute überflüssigerweise distanziert. Im Zuge der Verhandlungen zwischen dem sowjetischen und dem deutschen Außenminister hatte Gromyko damals gegenüber Scheel geäußert: „Ihre Position ist klar, die unsere auch. Auch wir haben unsere Vorstellung, wie die künftige deutsche Einheit beschaffen sein soll. Wir könnten einen Vertrag machen, der das Kreuz über alle Pläne zur Wiedervereinigung Deutschlands setzen würde. Dann stünde jede Äußerung über die Wiedervereinigung im Gegensatz zum Vertrag... Jetzt etwas, um Ihre Bedenken zu zerstreuen. Wenn zwei Staaten freiwillig ihre Vereinigung beschließen oder Grenzen korrigieren, wie wir das selbst mit Norwegen, Afghanistan und Polen, dort sogar mehrmals, gemacht haben, oder wenn andere Staaten zum Beispiel ihre gemeinsamen Grenzen aufgeben und sich vereinigen wollen — wie Syrien und Ägypten —, so wäre uns nicht eingefallen, hier zu kritisieren. Denn dies ist Ausdruck der Souveränität und gehört zu den unveräußerlichen Rechten der Staaten und Völker. Wer hier Fragen stellt, sieht Probleme, wo keine sind." 1)
Das ist, wie man weiß, nur die halbe Wahrheit; übrigens auch nur eine Zwischenphase bei den Moskauer Verhandlungen. Doch diese Beispiele zeigen, daß sich die Bundesregierung heute auf festem Grund bewegt, wenn sie beharrlich ihre ost-und deutschlandpolitischen Ziele äußert und verfolgt, so wenig aktuell die deutsche Frage derzeit auch ist. Die in den siebziger Jahren gelegten Grundlagen erweisen sich, sofern von ihnen der richtige Gebrauch gemacht wird, auch heute, zum Jahresbeginn 1985, als durchaus tragfähig. Das schließt Meinungsverschiedenheiten mit Moskau in bezug auf die Nachrüstung ebenso wie im Hinblick auf die deutsche Frage selbstverständlich nicht aus.
Die Wirtschaft als stabilisierender Faktor Bei all diesen Differenzen erweisen sich seit jeher die Wirtschaftsbeziehungen als stabilisierender Faktor im beiderseitigen Verhältnis. Mag der Warenaustausch der Bundesrepublik mit der Sowjetunion, wie übrigens mit den Staaten des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe insgesamt, prozentual nicht sonderlich hoch zu Buche schlagen (der Osthandel unter Einschluß Chinas machte 1983 nur 5, 2 Prozent am deutschen Außenhandel aus, während im gleichen Jahr der mit Luxemburg und Belgien bei über 7 Prozent lag); gleichwohl ist das Interesse aller sozialistischen Länder, wenn man einmal von den Besonderheiten des innerdeutschen Handels absieht, an diesem Warenaustausch unverändert groß, wie dessen Bedeutung auch für die Wirtschaft der Bundesrepublik angesichts unserer Arbeitsmarktprobleme gewachsen sein dürfte.
Dieses beiderseitige Interesse an kontinuierlichen Wirtschaftsbeziehungen hat auch die in der zweiten Hälfte des letzten Jahres sich verschärfende Sprache zwischen Moskau und Bonn überdauert. Nach dem Tode des bisherigen langjährigen Vorsitzenden der sowjetisch-deutschen Wirtschaftskommission, des Stellvertretenden Ministerpräsidenten Kostandow, ist in der Person des Nachfolgers, des Stellvertretenden Ministerpräsidenten Antonow, ein ähnlich gewichtiger Mann nominiert worden. Anzumerken bleibt noch, daß die Sowjets auch nach diesem Wechsel den bisherigen Brauch beibehalten haben, daß dieser in Personalunion zugleich auch Vorsitzender der sowjetisch-ostdeutschen Wirtschaftskommission ist. Gleichwohl wäre es zu einfach, zu oberflächlich, wollte man die sich in den letzten Monaten verschärfende „Revanchismus" -Kampagne Moskaus als sekundär, als schlicht „dumm" und damit ohne Belang abtun. Denn unsere innenpolitische Diskussion, wie offen die deutsche Frage sei, welche Bedeutung der völkerrechtliche Vorbehalt, daß bis zu einem Friedensvertrag Deutschland (rechtlich) weiterhin in seinen Grenzen des Jahres 1937 bestehe, für die Außenpolitik der Bundesregierung habe, diese und manch andere rein theoretische und insoweit höchst überflüssige Erörterung hat sich längst verselbständigt. Sie wird uns aller Voraussicht nach auch in diesem Jahr beschäftigen. Sollte der Kanzler hier nicht endlich deutlicher Farbe bekennen, wie dies sein Außenminister seit Monaten unermüdlich tut in der richtigen Erkenntnis, welcher Schaden daraus für die bundesdeutsche Ostpolitik erwachsen wird — wenn er nicht schon längst enstanden ist —, dann wird all dies Gerede durchaus negative Folgen haben, zuerst in den Staaten Osteuropas, dann aber auch im Westen.
Eine Passage aus einem Kommentar der Süddeutschen Zeitung soll dies verdeutlichen. Unter der Überschrift „Des Kanzlers Redensart" heißt es dort unter anderem: „Um jedes Mißverständnis von Anfang an zu vermeiden: Natürlich muß sich der Bundeskanzler bei Bedarf in aller Entschiedenheit, ja auch (Gedanken) -Schärfe mit seinen ausländischen Kritikern und innenpolitischen Gegnern auseinandersetzen. Aber wer sollte ein löbliches Vorbild darin erkennen, daß Kohl als Kanzler (und also als Staatsmann) die Moskauer Propaganda mit den Worten , so dumm'belegt; daß er die kritischen Voten nach seinem Auftritt bei den Vertriebenen als Stimmen . irgendwelcher Kläffer in der SPD'klassifiziert; daß er über den Revanchismus-Vorwurf aus Warschau (eine Art Auftragserledigung für andere ) sagt, er sei , zu dümmlich, als daß man ihn ernst nehmen kann'."
Bleibt Schlesien wirklich unsere Zukunft?
Diese Debatte hat sich längst verselbständigt, weil ein rechtzeitiges, ein klärendes Wort des Bundeskanzlers ausgeblieben ist. Mag der Inhalt seiner Rede vom 2. September 1984 in Braunschweig zum „Tag der Heimat" rechtlich auch unanfechtbar gewesen sein: Sein Hinweis etwa auf die Oder-Neiße-„Linie", welche die Westgrenze Polens bilde analog von Artikel 1 des Warschauer Vertrages; „daß damit die Bundesrepublik Deutschland sich selbst, nicht aber ein später wiedervereinigtes Deutschland völkerrechtlich verpflichtet. Dies ist ein Teil der durch das Nichtzustandekommen eines Friedensvertrages fortgeltenden Rechtslage." Doch durch manch andere Diskussion, bis hin zu dem neuen Motto des Schlesiertreffens: „ 40 Jahre Vertreibung — Schlesien bleibt unsere Zukunft — im Europa freier Völker", auf dem Kohl im Juni 1985 sprechen will, ist einiges von dem, was für den Kanzler selbstverständlich erscheint, inzwischen verlorengegangen. Das Hin und Her um jenes Motto sowie die vom Vorsitzenden der Landsmannschaft Schlesien, Hupka, zu seiner Neufassung mitgelieferte, nun kaum noch mißverständliche Interpretation, das alles hat bei der polnischen Bevölkerung Spuren hinterlassen.
Jedenfalls genügt es heute nicht mehr, wenn in diesem Zusammenhang erklärt wird, die Vertriebenen seien eine wichtige gesellschaftliche Gruppe, zu der er als Bundeskanzler ebenso gehe wie zu den Gewerkschaften.
So einfach, so unbelastet, ist das alles nicht, zumal andere hier Äußerungen getan haben, die nicht im Einklang mit Inhalt und Geist des Warschauer Vertrages standen. Mit Mißverständnissen ist die zum Teil erregte Diskussion nicht zu erklären, zumal im Falle Polens ganz spezifische Erfahrungen hinzukommen, welche die Menschen dort so besonders hellhörig sein und sensibel reagieren lassen.
Wer das Land kennt, weiß, daß in diesem Zusammenhang von . Auftragserledigung für andere" nicht gesprochen werden darf.
Sicherlich nicht ohne Grund, auch nicht ohne Not hat Bundesaußenminister Genscher am Jahreswechsel in einem Gespräch ausdrücklich davor gewarnt, das „schlimme und böse Wort vom Verzicht und Verzichtlern in die Debatte“ zu werfen. Er könne dazu nur sagen, „wehret den Anfängen, wehret den Anfängen aus Gründen der inneren Stabilität unseres Staates, wehret den Anfängen aus Gründen der Verläßlichkeit und Berechenbarkeit der deutschen Außenpolitik." Diesen Warnungen ist in der Tat nichts hinzuzufügen. Wer aber hätte gedacht, daß die innenpolitische Diskussion in der Bundesrepublik an der Jahres-wende 1984/85 sich mit derartigen Fragen befaßt. Da ist in der Entwicklung etwas schief gelaufen, da muß, notfalls durch ein Machtwort des Kanzlers, möglichst bald hinreichende Klarheit geschaffen werden. Natürlich ist richtig, was Ministerialdirektor Teltschik vom Bundeskanzleramt im Sommer letzten Jahres in einer Diskussion über die Bonner Ostpolitik in Moskau erklärte: „Die bestehenden Verträge zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion über die wirtschaftliche Zusammenarbeit reichen über dieses Jahrhundert hinaus. Wir wollen diese Verträge weiterentwickeln. Aus diesem Grunde hat die Bundesregierung im Mai 1983 die beiden Kooperationsverträge von 1973 und 1974 um weitere zehn Jahre verlängert. In seiner Regierungserklärung vom 6. Mai 1983 hat der Bundeskanzler erklärt, daß die Bundesregierung auf der Grundlage der bestehenden Verträge die Beziehungen mit der Sowjetunion und den übrigen östlichen Nachbarn langfristig fortentwickeln will und eine . neue und bessere Qualität'der Beziehungen begründen will. Diese Politik findet bei allen politischen Kräften in der Bundesrepublik Deutschland breite Zustimmung." Diesen Ausführungen ist ohne Einschränkung zuzustimmen. Die Frage, die sich freilich stellt, lautet, ob hinter dieser Politik zu Beginn des Jahres 1985 wirklich noch alle politischen Kräfte in der Bundesrepublik stehen, ob nicht speziell an den Rändern der Unionsparteien Erosionserscheinungen zu registrieren sind? Immerhin kein geringerer als Bundesinnenminister Zimmermann konnte, ebenfalls vor Vertriebenen, am 29. Januar 1983 in München unwidersprochen sagen, es werde bei der neuen Bundesregierung keine Tendenzen geben, die deutsche Frage auf die Bundesrepublik Deutschland und die DDR zu beschränken und die „ostdeutschen Gebiete jenseits von Oder und Neiße nicht einzubeziehen". Was immer das konkret bedeuten mag, wie ernst solche Mark-und Kernsätze von ihren Autoren selbst genommen werden — fest steht, daß sich die Diskussion in den letzten zwei Jahren anfangs unmerklich, heute aber nicht mehr länger zu überhören, in eine kontraproduktive Richtung entwickelt hat.
Vor solchem Hintergrund werden andere Passagen verantwortlicher Politiker leicht in den Hintergrund gedrängt Etwa, wenn der Kanzler in Braunschweig vor Vertretern der Vertriebenen erklärte, von deutschem Boden müsse Frieden ausgehen; „das gilt auch für die Lösung der nationalen Frage, die sich nur als Friedenswerk in einem größeren europäischen Rahmen verwirklichen läßt. Es geht nicht nur um die Teilung Deutschlands. Die Teilung Deutschlands ist eine Teilung Europas. Diese Teilung wollen wir überwinden. Wir wollen Grenzen nicht verletzen, sondern sie endlich öffnen, damit die Menschen zusammenkommen können, jene Menschen, die zueinander wollen."
Weizsäcker: Mit Herz und Kopf für Europa Am deutlichsten, am konkretesten in dieser mittlerweile zu einem zentralen Thema gewordenen Frage der Ost-und Deutschlandpolitik Bonns war nicht der Bundeskanzler, sondern neben Außenminister Genscher Bundespräsident von Weizsäcker, offensichtlich mit einem besseren Gefühl dafür ausgestattet, in welchen außenpolitischen Gefahrenzonen, wohlgemerkt im Osten wie im Westen, sich die Bundesrepublik derzeit bewegt. Gegenüber dem rumänischen Staatspräsidenten sagte er in einer Tischrede auf Schloß Falken-lust Mitte Oktober 1984, die Deutschen erstrebten „mit Herz und Kopf" für ganz Europa einen Zustand des Friedens, der die schmerzhafte Trennung überwinde und in dem auch die Deutschen ihr Recht auf Selbstbestimmung ausübten. Diese Politik der Bundesregierung lasse für Revanchismus keinen Raum. Die Bundesrepublik achte die territorale Integrität aller Staaten Europas in ihren heutigen Grenzen. „Sie betrachtet die Grenzen aller Staaten als unverletztlich. Sie hat keine Gebietsansprüche gegen andere Staaten; sie wird solche auch in Zukunft nicht erheben"; sie stehe ohne Vorbehalt zu den Verträgen mit Osteuropa
Jedenfalls ist nicht vorstellbar, ein Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland hätte im Sommer des Jahres 1985 auf einem Vertriebenentreffen gesprochen, dessen Stirnwand ein Spruch zierte: „Schlesien bleibt unser". Nach den voraufgegangenen Erfahrungen hätte eine Klärung jenes Mottos des Schlesiertreffens an den Anfang der Frage gehört, ob der Kanzler an einer solchen Veranstaltung teilnimmt, teilnehmen kann. Nicht seiner dort zu haltenden Rede wegen, sondern allein wegen jener Umstände geriete er in das Kreuzfeuer der innen-wie außenpolitischen Kritik. Das gilt letztlich auch für das modifizierte Motto, das keineswegs so unmißverständlich ist, wie es das im 40. Jahr der Kapitulation sein sollte.
Weniger, daß die große Sowjetunion hierüber wirklich besorgt wäre; davon kann angesichts der tatsächlichen Machtverhältnisse keine Rede sein. Auch in Ost-Berlin dürfte letztlich eine nüchterne Betrachtungsweise überwiegen, zumal dort andere Interessenlagen vorherrschen. Speziell in Polen aber ist das bisherige schädliche Gerede nicht ohne Resonanz geblieben. Diese innenpolitische Diskussion über die offene deutsche Frage im Zusammenhang mit den Grenzen Deutschlands von 1937 mag der heutigen Führung in Warschau aus innenpolitischen Gründen nicht ganz unwillkommen sein.
Andreotti und der „Pangermanismus"
So wenig man in dem Land zwischen Oder und Bug auch bereit ist, der kommunistischen Obrigkeit zu glauben, so empfindlich, so emotional reagiert die Bevölkerung auf derlei Redereien. Mögen Vater und Sohn dem Regime noch so kritisch gegenüberstehen: die spezifischen Erfahrungen der Älteren werden in diesem Punkt nahezu automatisch auf die Jüngeren übertragen. Dadurch wird der überaus positive Eindruck, den die große Hilfsbereitschaft der Bevölkerung in der Bundesrepublik während der schwierigen Zeit des Kriegsrechts in Polen hinterlassen hat, relativiert. Die Äußerung des italienischen Außen-ministers Andreotti auf dem Pressefest der kommunistischen „Unita" in Rom über die Gefahr des „Pangermanismus" und der Zusatz: „Es gibt zwei germanische Staaten, und zwei müssen es bleiben", zeigen, wie dünn die diesbezügliche Decke selbst im Westen ist; aber auch, wie allergisch sogar Politiker in befreundeten Ländern auf das Gerede über Deutschland in den Grenzen von 1937 reagieren.
Hier sind jedenfalls wesentlich größere Behutsamkeit, auch mehr politisches Fingerspitzengefühl gefordert. Es dürfte der Sowjetunion sogar willkommen sein, wenn beim ungeliebten Nachbarn Polen alte, gleichsam traditionelle Ängste vor dem unheimlichen Nachbarn im Westen wieder geweckt werden; denn dadurch wird Polen fast automatischer stärker an die Seite Moskaus gedrängt, das allein die Lage in Ost-Mitteleuropa beherrscht und insoweit garantiert. Weder heute noch morgen aber stehen irgendwelche Veränderungen der politischen Landkarte Europas auf der Tagesordnung. Selbst Andreotti sagte in seiner Wortmeldung bei der kommunistischen „Unita": Wenn man „wieder damit anfängt, die staatlichen Beziehungen und Grenzen in Frage zu stellen, ist dies hochgefährlich". Der Italiener bezog sich primär auf das Verhältnis zwischen Bonn und Ost-Berlin, meinte damit aber gleichwohl die gesamte Lage in Mitteleuropa.
Im Bericht zur Lage der Nation erklärte der Bundeskanzler am 23. Juni 1984: „Aus geschichtlicher Erfahrung sind wir uns bewußt, daß die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands in Frieden und Freiheit nur im Rahmen einer gesamteuropäischen Friedensordnung zu verwirklichen ist. Die Teilung Deutschlands ist immer zugleich die Teilung Europas. Deutschlandpolitik muß sich deshalb immer auch als Beitrag zum europäischen Einigungswerk und damit als europäische Friedenspolitik verstehen." Wenn dem so ist, dann sollte dieser Gedanke stärker als bisher seitens der Bundesregierung in den Vordergrund der Diskussion gerückt werden; die Themen „Deutschland in den Grenzen von 1937" oder „Wie offen ist die deutsche Frage" gehören ganz gewiß nicht dazu.
Der „Bergedorfer Gesprächskreis" traf sich zum 76. Mal im letzten Dezember in Rom, auf dem Campo Santo Teutonico. Dabei sprach der polnische Papst Johannes Paul II. auf einer Audienz vom geographischen Raum Europa, der vom Atlantik bis zum Ural reiche. Als Methode zu seiner Einigung empfahl er „kleine Schritte". Daraus folgt, nicht nur Deutschlands, sondern ebenso Polens wie der anderen osteuropäischen Nationen wegen kann die „Spaltung Europas nicht das letzte Wort" sein. In seinem Buch „Das Ende des ideologischen Zeitalters — Die Europäisierung Europas" gelangt Peter Bender zu einem ähnlichen Schluß: „Wenn die Bundesrepublik nicht gesamtdeutsch, sondern nur gesamteuropäisch vorwärtskommt, dann darf sie nicht mehr allerorten die deutsche Not beklagen und die deutsche Einheit beschwören, sondern muß die Spaltung Europas zu ihrer Hauptsorge und die Einheit Europas zu ihrem Hauptziel werden lassen."
Das wird ihr wenig Beifall in Moskau wie in Ost-Berlin eintragen; doch ist eine Bonner Ost-und Deutschlandpolitik auf solcher Basis deshalb nicht falsch. Sie ist vielmehr nach Lage der Dinge in den achtziger Jahren und darüber hinaus der einzige Weg, welcher dem in der Präambel des Grundgesetzes gesetzten Ziel, eines Tages in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands „zu vollenden", am nächsten kommt; denn die Lösung der deutschen Frage, in welchen Formen auch immer, wäre nicht einmal theoretisch denkbar, wenn damit nicht auch eine Regelung der Grenzfrage analog zum Warschauer Vertrag verbunden wäre. Diese kann heute und später nur an Oder und Neiße verlaufen. Es ist eine der Folgen der Jahre 1933 bis 1945, daß das deutsche Siedlungsgebiet heute nun einmal an jenen beiden Flüssen endet. Ohne eine Zustimmung auch Polens ist eine Lösung der deutschen Frage deshalb undenkbar.
Polnische Überlegungen zur deutschen Frage Gleichwohl macht man sich auch dort Gedanken darüber, was eines, heute noch fernen Tages aus den beiden deutschen Staaten werden soll. Der Schriftsteller und zugleich Mitglied des Sejm, Edmund Osmanczyk, erklärte in einem Vortrag vor dem Schlesischen Institut in Oppeln: „Sagen wir es offen, die Gefahr einer Revision der Grenzen ist seit rund vierzig Jahren unser innenpolitischer Buhmann gewesen, den wir mit Nachdruck aus allen möglichen Gründen allen Generationen der Polen vor Augen gestellt haben. Ich betone noch einmal, daß Deutschland nicht über die physischen Kräfte zur Revision der östlichen Grenzen verfügt. Und an einem Dritten Weltkrieg mit Rußland sind auch die Deutschen nicht interessiert; denn das wäre ihre dritte und letzte Niederlage ... Auf eine Vereinigung Deutschlands, der eine einheitliche Ge-* sellschaftsordnung zugrunde liegt, wird sich weder die eine noch die andere Weltmacht einlassen; denn das würde den Nuklearfrieden destabilisieren. Eine Konföderation mit zwei Gesellschaftsordnungen wäre dagegen ein neues Modell in einer durch verschiedene Sozialordnungen geteilten, aber auf menschlicher Ebene absolut einheitlichen Welt Die Deutschen könnten auf diese Weise eine wichtige Friedensrolle in der Mitte Europas spielen, das auf beiden Seiten mit Raketen bestückt ist, die über eine gleichwertige Sprengkraft von thermonuklearen Sprengköpfen verfügen. Wir müssen uns klarmachen, daß eine solche Konföderation für Polen keine irgendwie geartete Revision der Grenzen bedeutet. Diese Möglichkeit haben die Deutschen zu keiner Zeit gehabt; denn dafür wäre die Zustimmung aller vier Mächte nötig. In Wirklichkeit waren sie auch niemals daran interessiert. Für den Drang nach Osten haben sie einfach keine biologischen Kräfte, weder in der DDR noch in der BRD."
Manches von dem, was Osmanczyk erklärt, mag heute als utopisch erscheinen; gleichwohl kann diese Vision eines Tages durchaus „konkrete Utopie" werden. So ungefähr könnte die Zukunft Mitteleuropas eines Tages aussehen, auch wenn manche in der Bundesrepublik, wie der SPD-Vorsitzende Brandt, zu resignieren scheinen und aus der Ost-Politik gleichsam „aussteigen"; denn, was SED-Generalsekretär Honecker im Bericht des SED-Politbüros an das 9. Plenum des Zentralkomitees Ende November letzten Jahres aus Plenum des Zentralkomitees Ende November letzten Jahres aus einer Rede Brandts vortrug, dürfte in Ost-Berlin wenig Glauben finden: „Nachdem sich die . Wiedervereinigung'als eine große Illusion erwiesen habe, habe der Streit um die deutsche Frage für ihn die Dramatik eines Traumes, der nachschwingt, aber vorbei ist, wenn man aufwacht. Nicht in Frage gestellt werden dürften angesichts wachsender Gefahren die europäischen Grenzen." 8)
Das ist denn doch eine etwas zu kurz geratene Sicht, die mit der von Brandt als Berliner Regierender Bürgermeister sowie als Bundes-außenminister in den sechziger Jahren konzipierten Politik nicht mehr viel zu tun hat. Als Bundeskanzler hatte Brandt demgegenüber zutreffend von dem, „was sich auf die Geschichte, die Kultur, die getrennten Familien und auf das die Deutschen Verbindende, das zusätzlich Verbindende bezieht", gesprochen.
Dies werde eine „Wirklichkeit sein; gleichgültig, ob es von denen, die in der DDR etwas zu sagen haben, akzeptiert wird oder nicht". Es werde eine Rolle spielen, „geschichtlich gesehen, unabhängig davon, was schon jetzt in einer ersten oder zweiten Runde seinen Niederschlag finden" könne. Nach seiner Ansicht wäre es vernünftig, wenn ergänzend zu dem, was ohnehin zwischen den Staaten in Deutschland geregelt werden müsse, die Deutschen einen zusätzlichen Beitrag leisteten. „Wenn das aber nicht möglich ist, dann wird sich der Prozeß anders abspielen. Dann wird noch stärker, als ich das ohnehin in meine Politik einbeziehe, die Wirkung von draußen auf die deutsche Szene zukommen. Dann wird sich aus der Veränderung zwischen den Teilen Europas in West und Ost eine Wirkung auf die deutsche Situation ergeben. 9)
Die Bedeutung der Oder-Neiße-Grenze In dieser Situation befinden wir uns heute; diese Lage wird auch in den nächsten Jahren, Jahrzehnten in bezug auf die Ost-und Deutschlandpolitik Bonns anhalten. Wenn es richtig ist, daß kein Weg, der eines Tages eine veränderte Lage in Mitteleuropa ergeben könnte, an Moskau, an den weit-wie sicherheitspolitischen Interessen des Kreml vorbeiführt, so trifft das ebenso auch auf Polen zu; dort vor allem aus Gründen der Existenzsicherung des Staates in seinen derzeitigen Grenzen, die weder heute noch künftig verändert werden können, auch nicht verändert werden sollen. Selbst wenn die Russen, was wenig wahrscheinlich ist, die Oder-Neiße-Grenze eines Tages ins machtpolitische Spiel einbrächten, müßten die Deutschen jegliche diesbezügliche Offerte aus europäischer Überzeugung, aus nachbarschaftlichen Motiven gegenüber Polen ablehnen. (Der Verfasser dieser Zeilen — diese persönliche Bemerkung sei gestattet — ist in Schlesien geboren, in Pommern aufgewachsen und weiß somit, wovon er spricht.)
Jedenfalls darf sich die bundesdeutsche Politik die Chance, mit in die europäische Zukunft denkenden Männern wie zum Beispiel dem Polen Osmanczyk zusammenzuarbeiten, nicht durch verbale Kraftakte einiger weniger zunichte machen lassen. Zu Beginn des 1985 ist speziell an diese Gefahr, aber auch an die Aufgabe, ihr zu begegnen, zu erinnern. Offensichtlich wächst diese Einsicht auch in der Union. Ende des Jahres 1984 erklärte der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Rühe in einer leider in der Öffentlichkeit wenig beachteten Stellungnahme: „Eine Regierung wird — ebenso wie eine Regierungspartei — nicht an ihren guten Grundsätzen gemessen, sondern an ihren guten Ergebnissen... Die Beschreibung der Lage in der DDR oder in Osteuropa ist noch kein Beweis für praktische Politik. Dieser wäre erst dann erbracht, wenn sich dadurch die dort herrschenden Zustände tatsächlich verbessern ließen. Doch das ist leider nicht zu erwarten. Das Instrument der öffentlichen Kritik mag in manchen Fällen angebracht sein, aber die Erfahrung lehrt, daß es im allgemeinen wirkungslos bleibt. Mehr noch: Wer anprangert, verkürzt eher seine Einwirkungsmöglichkeiten, weil er beim Adressaten seiner Kritik zusätzliche Verhärtungen hervorruft. Diese Realität will bedacht sein."
Fast könnte man sich in die siebziger Jahre zurückversetzt sehen, als sich die sozial-liberale Koalition mit ähnlichen Begründungen gegen eine allzu emotionsgeladene, allzu unsachliche Kritik aus den Reihen der damaligen Opposition zur Wehr setzen mußte.
Heute scheint sich dieser Vorgang nun innerhalb der Unionsparteien zu wiederholen.
Denn ähnlich, wie dort das Thema „Grenzen des Jahres 1937" in der Diskussion an Intensität, aber auch an Unschärfe zunimmt, läßt sich das gleiche im Hinblick auf die Deutschland-politik sagen. So kündigte Mitte Dezember 1984 der deutschlandpolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion Lintner für dieses Jahr eigene Initiativen der CDU/CSU an, die bisher aufgrund von Einwänden der Freien Demokraten zurückgestellt wurden. Als Beispiel nannte der CSU-Bundestagsabgeordnete eine Große Anfrage über die „menschenrechtliche Lage der Deutschen in der DDR und in Osteuropa", die nicht habe verwirklicht werden können, weil die Freien Demokraten zu einer solchen Initiative nicht bereit gewesen seien.
Solche und andere Aktivitäten hatte Rühe offenbar im Auge, als er sich am 20. Dezember 1984 zu seiner eindringlichen Warnung entschloß. Dabei hatte der gleiche Abgeordnete Ende Mai letzten Jahres in einem Vortrag vor dem Institut für Internationale Angelegenheiten in Warschau, wenig einfühlsam in die deutsch-polnische Problematik, selber eher wie ein Advokat als ein in die Zukunft blikkender Politiker argumentiert. Damals standen Fragen der Grenzen des Deutschen Reiches vom 31. Dezember 1937 zwar nicht im Vordergrund seiner Ausführungen, aber auch Rühe gab diesem Thema zu viel Raum und damit Gewicht: Die Geister, die manche viel-leicht in Unkenntnis über die Dynamik wie auch die Tragweite dieses Themas geweckt haben, werden sie nun nicht wieder los.
Der verhinderte Honecker-Besuch Das war schon im Herbst 1984 so gewesen bei mancher Aufgeregtheit am Rhein im Vorfeld des Honecker-Besuches, als in reichlich provinzieller Weise über Pro und Kontra, über Sinn und Nutzen einer solchen Visite diskutiert wurde. Selbst der Bundespräsident nannte diese Debatte „recht hausbacken, mitunter auch ein bißchen eng" was Weizsäkker wiederum die öffentliche Kritik eines CDU-Bundestagsabgeordneten eintrug. Die DDR hatte Anfang September ein Interview des Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion als Hauptgrund für ihre Absage bemüht, die sich über lange, quälende Wochen hingezogen und gewiß andere Motive hatte als jene in der Tat ungewöhnlichen Bemerkungen Dreggers: „Unsere Zukunft hängt nicht davon ab, daß Herr Honecker uns die Ehre seines Besuches erweist" Fast müßte man im Interesse eines möglichst unbeschädigten Fortganges des deutsch-deutschen Gesprächs dafür dankbar sein, daß der CDU-Politiker, wenn auch sicherlich unbeabsichtigt, Ost-Berlin jenen Vorwand für die Absage lieferte.
Gegenüber SPD-Politikern war schon im letzten August in Moskau signalisiert worden, daß es zu einem solchen Besuch nicht kommen werde. Ähnlich äußerten sich zur gleichen Zeit auch sowjetische Diplomaten, in der Schroffheit ihrer Sprache übrigens ganz undiplomatisch. Jedenfalls reagiert man in bezug auf die deutsch-deutschen Kontakte im Kreml seit jeher ausgesprochen sensibel. Offensichtlich hat es hier seitens des SED-Generalsekretärs im Vorfeld dieses Reisevorhabens einige taktische Fehler gegeben beziehungsweise wurden die Verhältnisse in Moskau seitens der SED-Führung falsch eingeschätzt. Honecker machte nach seiner Absage noch das beste daraus, indem er die Formel wählte: Aufgeschoben sei nicht aufgehoben. Gleichwohl spricht gegenwärtig nichts dafür, es werde in einer überschaubaren Zeit zu einem solchen Besuch des SED-Generalsekretärs in der Bundesrepublik kommen.
Daß in Genf Amerikaner und Russen wieder am Verhandlungstisch sitzen, mag in der politischen Großwetterlage auf eine gewisse Entspannung hindeuten. Doch muß diese nicht unbedingt zu einer parallelen Entwicklung zwischen Ost-Berlin und Bonn führen, wie zuvor die Verhärtung zwischen Moskau und Washington umgekehrt auch nicht zu einer Verschärfung der deutsch-deutschen Situation geführt hatte; eine Art Automatik gibt es weder in der einen noch in der anderen Richtung. Manches spricht dafür, daß die politische Bedeutung Bonns für die Sowjets, wenn man einmal von der bundesdeutschen Wirtschaft absieht, in den nächsten Monaten, und daraus können leicht Jahre werden, eher abnehmen wird. Der Besuch des ZK-Sekretärs Gorbatschow Ende Dezember 1984 in London, den manche in der Sowjet-Hierarchie schon für den zweiten Mann halten, sowie die angekündigte Visite Generalsekretär Tschernjenkos in Paris könnten in diese Richtung deuten. Ihre eigenen weltpolitischen Interessen definieren Großmächte immer noch selber.
Aber auch aus einem anderen Grund könnte dem Kreml etwas mehr Distanz zwischen Ost-Berlin und Bonn wünschenswert erscheinen. Das Wort Honeckers von der „Schadensbegrenzung" (nach Stationierung der ersten Pershing-II-Raketen als Antwort der NATO auf das Scheitern der sogenannten Mittelstreckenverhandlungen in Genf) war eben mehr als eine „Rollenverteilung", als eine „konzertierte Aktion" zwischen Moskau und Ost-Berlin. Hier kamen, übrigens nicht zum ersten Mal, unterschiedliche Interessen zwischen Moskau und der DDR zum Vorschein, speziell im Verhältnis zum Westen. Auf einen kurzen Nenner gebracht: Auch in Ost-Berlin wie offensichtlich ebenso in Budapest und den anderen osteuropäischen Hauptstädten mögen Zweifel an der Weisheit sowjetischer Außen-sprich Konfrontationspolitik gegenüber den Vereinigten Staaten und damit gegenüber dem Westen gewachsen sein. Aus diesem Grunde möchte man nicht jede Wende, welche die Weltmacht Sowjetunion gegenüber Washington einlegt, mitmachen müssen, mit möglicherweise wirtschaftlichen Nachteilen, besonders für die immer stärker auf den Warenaustausch mit dem Westen angewiesenen Staaten, wie die DDR oder auch Ungarn.
Spezifische Interessen der DDR Professor Seiffert, bis 1978 als Völkerrechtler in der DDR tätig, brachte diesen Zwiespalt hinsichtlich Ost-Berlins auf die Formel: „Diese SED-Position wurzelt zweifellos in der spezifischen Interessenlage der DDR als einer in hohem Maße außenhandelsabhängigen Wirtschaftsmacht, die ihre Probleme der technologischen Zukunft nicht allein durch Kooperation mit der UdSSR und den anderen Staaten des Comecon meistern kann. Sie be21 darf dazu der Kooperation mit den westlichen Industriestaaten, vor allem der Bundesrepublik." Der technische Fortschritt ist nun einmal im Westen und nicht im Osten zu Hause.
Honeckers Kritik an der Rüstungspolitik der Vereinigten Staaten meinte, mehr oder weniger direkt, stets auch die Haltung der Sowjets. So erklärte er am 4. Juli 1984 in einem Trinkspruch gegenüber dem griechischen Ministerpräsidenten Papandreou: „Es wäre eine tragische Fehleinschätzung, Weltprobleme mit militärischen Mitteln lösen zu wollen, einschließlich der historischen Auseinandersetzung zwischen Kapitalismus und Sozialismus.
Ein solcher Weg führt in den Abgrund." Man muß davon ausgehen, daß diese Sorgen des SED-Generalsekretärs echt sind, daß sie bei den Differenzen zwischen Ost-Berlin und Moskau über die geplante Reise Honeckers in die Bundesrepublik eine wichtige Rolle spielten. Höhepunkt dieser Auseinandersetzung — jedenfalls, soweit diese öffentlich erkennbar wurde — war der Artikel in der „Prawda" vom 27. Juli 1984, der unter der Überschrift „Im Schatten amerikanischer Raketen" gegen eine Intensivierung und damit Verbesserung der deutsch-deutschen Beziehungen gerichtet war.
Man mag sich vor diesem Hintergrund tatsächlich fragen, was von dem Konflikt, der weiterwirkt, in der Bundesrepublik, in Bonn wirklich verstanden wurde. Aus übergeordneten Interessen, im Blick auf die weitere Entwicklung der Beziehungen zwischen beiden Staaten in Deutschland, muß man es letztlich fast begrüßen, daß Honecker auf diese Reise verzichtet hat; daß die Bundesregierung ihm nicht positive Resultate in Aussicht gestellt hatte, die am Ende angesichts der kontroversen Diskussion im Regierungslager vielleicht nicht hätten erfüllt werden können. Für den SED-Generalsekretär, der trotz sowjetischer Einwände in die Bundesrepublik gereist und von dort mit leeren Händen zurückgekehrt wäre, hätte dies möglicherweise früher oder später sogar personelle Konsequenzen haben können.
Inzwischen ist die Entwicklung ein Stück weitergegangen. Die Diskussion in der Bundesrepublik, wie offen die deutsche Frage sei, hat den Spielraum der DDR gegenüber Bonn nicht gerade erhöht. Die vier in seiner Geraer Rede vom 14. Oktober 1980 aufgestellten For-derungen liegen weiterhin auf dem Tisch. Die DDR wird immer, wenn es ihr opportun erscheint, an sie erinnern, ohne daß sich freilich viel bewegen kann: Die beiderseitigen Ständigen Vertretungen bleiben Ständige Vertretungen; es besteht keinerlei Anlaß, sie in Botschaften umzuwandeln, zumal ein solcher Schritt unserem Rechtsvorbehalt in bezug auf Deutschland als ganzes tatsächlich widersprechen würde.
Das gleiche läßt sich vom Streit über die Staatsbürgerschaft sagen, worüber ohnehin zu viel geredet und geschrieben wird. Die Zentrale Erfassungsstelle der Landesjustizverwaltung in Salzgitter, wo Bewegung möglich gewesen wäre, steht nach dem jüngsten Mord an der Berliner Mauer im Dezember 1984 gleichfalls nicht zur Disposition; das weiß man auch in Ost-Berlin. Bleibt noch die Grenzlinie auf der Elbe entlang jener strittigen 93, 7 Stromkilometer. Hierüber wird eines Tages, dann aber in einem größeren Zusammenhang, bei dem auch Wünsche der Bundesregierung an die DDR eine Rolle spielen, gesprochen werden. Freilich, vorerst ist es nicht soweit, und es läßt sich derzeit auch kein Anlaß erkennen, der ein solches Verhandlungspaket in absehbarer Zeit als möglich erschienen ließe.
Es soll hier nicht noch einmal näher auf die Absprachen mit der DDR über Reiseerleichterungen eingegangen werden, worüber Staatsminister Jenninger vom Bundeskanzleramt am 25. Juli 1984 vor der Presse in Bonn berichtete. An dieser Vereinbarung entzündete sich seinerzeit wegen der fehlenden Einbeziehung West-Berlins in die Verbesserungen beim Besucherverkehr, von der Umtauschsenkung für Rentner einmal abgesehen, eine heftige innenpolitische Diskussion. Man mag jenes Versäumnis auf einen Mangel an diesbezüglicher Erfahrung zurückführen, wenngleich solche „Kunstfehler" in den siebziger Jahren nicht passiert sind; andererseits müssen die Chancen dafür, daß Zehntausende von West-Berlinern im Ostteil der Stadt sowie in der DDR bei Verwandten und Freunden übernachten können, ohnehin als nicht sonderlich groß bezeichnet werden. Denn lassen sich die wenigen Reisenden im sogenannten kleinen Grenzverkehr entlang der Zonengrenze leicht kontrollieren, wie könnte dies bei Besuchern aus West-Berlin geschehen, deren Zahl die diesbezüglichen Möglichkeiten des DDR-Staatssicherheitsdienstes weit überfordern dürfte? An den Erfordernissen des SSD aber führt, abgesehen von den Sowjets, immer noch kein Weg vorbei.
Weitere Reiseerleichterungen?
Sehr bald wird es kaum eine Fortsetzung solcher Absprachen zwischen Bonn und OstBerlin geben, jedenfalls nicht in größerem Umfang. Der Umstand, daß die DDR bisher diese Vereinbarung nirgendwo veröffentlicht hat, sollte zu denken geben. Andererseits steht in absehbarer Zeit auch keine Verschärfung des deutsch-deutschen Verhältnisses bevor; jedenfalls läßt sich eine solche negative Entwicklung derzeit nicht erkennen. Natürlich werden sich die Propagandisten der SED von Zeit zu Zeit zu Wort melden, sich zu Wort melden müssen. Zumal, wenn in der Bundesrepublik noch länger über die offene deutsche Frage diskutiert wird und in den Unionsparteien Grundsatzfragen des Ost-West-Verhältnisses und damit auch der Ost-verträge aufgeworfen und allzusehr in den Vordergrund gerückt werden. Zu wünschen bleibt, daß diese letztere Diskussion sich bald aus dem politischen Raum in den Bereich des Staats-und Völkerrechts verlagert, wo diese Fragen, bis auf weiteres, sämtlich hingehören. Wer sich die über Monate hinziehenden quälenden Vorgänge im Zusammenhang mit den DDR-Bürgern in den Botschaften in Prag, Budapest und Warschau vor Augen führt, erkennt unschwer die Grenzen bundesdeutscher Rechtspositionen in der Praxis des Ost-West-Verhältnisses. Dem Bundesaußenminister ist jedenfalls zuzustimmen, wenn er Ende Dezember letzten Jahres in Prag erklärte, die Bundesrepublik habe in den vergangenen Jahren wesentliche Beiträge dazu geleistet, den Zug der Entspannung „unter Dampf zu halten". Jetzt, wo sich dieser Zug wieder in Bewegung setzt, „sitzt die Bundesrepublik nicht im Bremserhäuschen". Dieser Eindruck konnte jedoch angesichts einer ausufernden innenpolitischen Diskussion über Deutschland in den Grenzen von 1937 sowie über die offene beziehungsweise nicht gelöste deutsche Frage zuweilen entstehen. Berlins Innensenator Lummer hat diese Debatte auf die einprägsame wie zutreffende Formel reduziert: Die deutsche Frage ist solange offen, wie das Brandenburger Tor geschlossen ist. Mögen aus Anlaß des 35. Jahrestages der DDR-Gründung am 6. Oktober 1984 stundenlang junge Menschen Unter den Linden vor der SED-Führung vorbeiziehen; solange sie dies an der nur wenige Meter entfernten, scharf bewachten Mauer tun müssen, ist in der Tat nichts über die Zukunft Deutschlands ausgesagt; wohlgemerkt: eines Deutschland zwischen Rhein und Oder — alles andere ist Träumerei.