„Dieses Parlament ist ein ganz großer Fortschritt zu allem, was wir früher jemals hatten; es ist schade, daß es so auf den Hund gekommen ist." Christa Nickels, MdB im Bundestag am 20. September 1984
Flick-Affäre, Parteispendenskandal und der Versuch, durch ein Amnestiegesetz die Verantwortlichen vor ihrer gesetzlichen Strafe zu bewahren, der gegen eine Bevölkerungsmehrheit gefaßte Mittelstreckenraketenbeschluß, aber auch die widersprüchlichen Beschlüsse zum Kraftwerk Buschhaus und zum Katalysatorauto haben zu einer neuen Debatte über eine mögliche Krise des Parlamentarismus geführt.
Diese Debatte wird nicht in erster Linie im Bundestag selbst geführt, sondern in der breiten Öffentlichkeit. Wer in diesen Tagen mit Bürgern auf der Straße spricht, kann das sehr hautnah erleben.
Der Bundestag hat eine Kommission zur „Parlamentsreform''eingerichtet, die sich jedoch wahrscheinlich nur zu kleineren oder sogar nur zu kosmetischen Operationen wird durchringen können, um das . Ansehen“ (Image) des Parlaments zu verbessern. Von etwas anderem Kaliber ist da schon die Initiative von Frau Hildegard Hamm-Brücher, der es um eine Stärkung des Parlaments und um eine Erweiterung der Minderheitenrechte geht.
Allen parlamentarischen Diskussionen ist aber bisher gemeinsam, daß die grundlegenden Defizite unserer bundesdeutschen Demokratie nur am Rande behandelt werden.
Wir haben schon seit langem eine Krise, die in der fehlenden oder mangelhaften Lösung existenzbedrohender „Lebensfragen" einerseits und dem völlig ungenügenden demokratischen Lösungsinstrumentarium andererseits begründet liegt. Beide Mängel sind in der Realität sehr eng miteinander verbunden, und es ist zu erwarten, daß eine grundlegende Verbesserung der Demokratie auch die Lösungschancen für die „Lebensfragen" erhöht.
Solche Kernfragen sind z. B. das Problem der Aufrüstung (Wiederbewaffnung, atomare Bewaffnung, Mittelstreckenraketenbeschluß), die bleibende Bedrohung durch Atomkraftwerke, die Chemisierung der gesamten Umwelt, die Bedrohung der Grundlagen der Demokratie (Notstandsgesetze, Berufsverbote, Volkszählungsgesetz, totale Verkabelung), die Massenarbeitslosigkeit, die umfassende Zerstörung der Ökosysteme (Boden, Grundwasser, Meere, Wälder) und die Unterdrückung der Dritten Welt (Vietnamkrieg, Hungerkatastrophen, Stellvertreterkriege).
Die Lösung dieser Lebensfragen war und ist vor allem deshalb so schwierig, weil es in der bundesrepublikanischen Demokratie eine Fixierung auf Regierung und Parlament gibt, die vielleicht aufgrund der Erfahrungen in der Nazi-Zeit erklärbar, aber dennoch sehr gefährlich ist.
I. Aufhebung des Monopolanspruchs des Parlaments
Schon seit Gründung der Bundesrepublik gab es mehr oder weniger große Minderheiten, manchmal sogar Mehrheiten in der Bevölkerung, die in starkem Gegensatz zur Parlamentsmehrheit standen. Man denke hier nur an die Frage der Wiederbewaffnung. Seit den Zeiten der Großen Koalition kam ein neues Element hinzu: Oppositionelle Gruppierungen sahen sich nicht einmal mehr durch eine ParlamentsOpposition repräsentiert. In zunehmendem Maße kam es in „Lebensfragen" zu einer Trennung zwischen Regierung, Parlament, Parteien auf der einen Seite und Basis-initiativen auf der anderen.
De facto gab es in einer Reihe von sehr wichtigen Zeitfragen eine supergroße Koalition aus Parteien, Industrie, Experten und Büro-31 kratie. Ein technokratisch-orientiertes Allparteienbündnis reklamierte für sich einen Alleinvertretungsanspruch in Sachen Demokratie und Vernunft, während es für viele Bürger immer offensichtlicher wurde, daß dieses Bündnis gigantische Fehler beging und unbelehrbar daran festhielt (Vietnamkrieg, Berufs-verbote, Atomkraftwerke, Betonierung der Städte, Zerstörung der Ökosysteme, Aufrüstung).
Wie auch immer man zu den Positionen der Bürgerinitiativen und der anderen Gruppierungen der Basisbewegungen stehen mag, ein historisches Verdienst kann man ihnen heute gewiß nicht mehr bestreiten: Sie haben einerseits viel früher und viel nachdrücklicher auf neuartige Gefährdungen aufmerksam gemacht als das Parlament, und sie haben andererseits die öffentliche Diskussion zu diesen Themen entscheidend vorangetrieben. Beide Faktoren sind für jede Demokratie von hohem Wert, denn ohne Frühwarnsystem und ohne ausreichende Informiertheit der Bevölkerung ist eine Demokratie auf Dauer nicht lebensfähig.
Ganz anders urteilten jedoch die meisten Parlamentarier. .
Sie warfen den Initiativen vor, sie seien eine Gefahr für die Demokratie. Einerseits verträten sie lediglich Partikular-interessen, die weder mit dem Gemeinwohl übereinstimmten, noch in irgendeiner Weise demokratisch legitimiert seien. Andererseits versuchten sie, die Interessen einer kleinen Minderheit mit Hilfe einer „Emotionalisierung"
der Sachprobleme durchzusetzen.
Je stärker die Basisbewegungen wurden, desto schärfer wurden die* Angriffe, und zwar nicht nur auf der Ebene der vom Parlament „begrüßten", teilweise sehr brutalen Polizei-einsätze, sondern auch auf der Ebene der geistigen Auseinandersetzung. Ein sehr verbreiteter Kampfbegriff war (und ist) z. B.der „Druck der Straße". Mit dem Hinweis, man dürfe diesem nicht nachgeben, wurde auf Erfahrungen mit den Nazis angespielt — die ja den (gewaltsamen) Druck der Straße mobilisierten, um die Demokratie abzuschaffen — und eine geistige Nähe der Demonstranten zu gewalttätigen Verfassungsfeinden hergestellt.
Der Grundimpuls der Bürgerinitiativen, der auf mehr, nicht auf weniger Demokratie abzielte und klar gewaltfrei orientiert war, wurde von den Parlamentariern entweder nicht verstanden oder aus politischem Interesse gezielt diffamiert.
In der geistigen Auseinandersetzung mit den Basisinitiativen beharrten nahezu alle Parlamentarier auf einem demokratischen Alleinvertretungsanspruch des Parlaments. Sie seien die einzigen, vom Volk legitimierten Entscheidungsträger. Kritik am Parlament wurde mit Sätzen wie „dies ist die beste Demokratie, diß es jemals auf deutschem Boden gegeben hat" in pauschaler Weise abgewehrt.
In seiner geistigen Fixierung auf die eigene Bedeutung war es dem Parlament offenbar entgangen, daß es in vielen „Lebensfragen"
schon längst nicht mehr das „Sagen" hatte. Die neuen Technologiesysteme waren von Industrie und Regierung entschieden worden, die Berufsverbote hatte die Ministerpräsidenten-konferenz der Länder entschieden, der zunehmenden Vergiftung der Umwelt lag die strukturelle Ohnmacht des Parlaments gegenüber der Industrie zugrunde. Die „Vertreter des Volkes" waren in vielen Bereichen zu Erfüllungsgehilfen der Regierung degradiert. Sie mußten auf der Grundlage von Expertengutachten entscheiden, für deren Überprüfung sie weder die Zeit, noch den notwendigen Sachverstand hatten. Beispielsweise gab es im Bereich Atomtechnologie jahrelang nur Fachleute, die direkt oder indirekt von der Atom-industrie abhängig waren: Entweder waren sie unmittelbar dort beschäftigt oder sie waren in Forschung und Entwicklung auf ihr Wohlwollen angewiesen.
Je klarer die Basisbewegungen diesen Zusammenhang erkannten, um so grotesker erschien ihnen das mit viel Pathos vorgetragene Selbstverständnis der Parlamentarier.
Was sollte der „mündige Bürger" davon halten, wenn Abgeordnete nicht müde wurden, die Freiheit des Mandatsträgers und die alleinige Verpflichtung gegenüber seinem Gewissen zu betonen, wenn es aber andererseits mit schöner Regelmäßigkeit immer wieder zur Anwendung des Fraktionszwangs kam, wodurch die wenigen, den Basisinitiativen nahe-stehenden Parlamentarier zur Konformität gezwungen wurden.
So war es kein Wunder, daß das Glaubwürdigkeitsproblem des Bundestages immer größer wurde und daß immer mehr Menschen zu der Überzeugung kamen: Die echten, aufrechten und engagierten Demokraten sitzen nicht in Parlamenten, Parteibüros und Regierungszentralen, sondern sind außerhalb dieser Institutionen zu finden — an der Basis.
II. Erneuerung der Demokratie durch Basisinitiativen
Weil die Parlamente bei der Lösung sehr wichtiger Fragen versagten, entstanden außerhalb und in großer geistiger Distanz zum Parlamentarismus neue politische Gruppierungen, die sich dieser Fragen annahmen. Diese entwickelten getrennt von Parlament und Parteien eine neue demokratische Kultur und ein eigenständiges demokratisches Wert-system, das sie „basisdemokratisch" nannten.
Der Begriff „Basisdemokratie" ist ein Sammelbegriff für all jene demokratischen Vorstellungen, die sich vom Parlamentarismus absetzen und sich an den Erfahrungen derjenigen orientieren, die nicht zu den Funktionsträgern von Parteien, Regierungen, Parlamenten, mächtigen Konzernen und Verbänden gehören. In den Basisinitiativen kommen Menschen zusammen, die in ihrer überwiegenden Mehrheit keinen besonderen Einfluß auf die Institutionen des parlamentarischen Systems und keine Lobby haben.
Was „Basisdemokratie" bedeutet, ist in einigen Bereichen noch nicht eindeutig zu beschreiben, da dieses Demokratiekonzept sich noch in der Entwicklung befindet. In den verschiedenen Gruppierungen der Basisbewegungen gibt es auch erhebliche Unterschiede in den Auffassungen. Jeder redet darüber, aber nur wenige benennen präzise, was sie mit Basisdemokratie meinen.
„DIE GRÜNEN" haben den Begriff Basisdemokratie zu einer der vier „Säulen" ihrer Partei erklärt und ihn in einigen Bereichen exakt definiert, in anderen offengelassen.
In der politischen Praxis unserer Partei ist „Basisdemokratie“ ein wichtiger Orientierungspunkt, der aber auch zu großen Mißverständnissen und zu erheblichem Mißbrauch geführt hat. Dies liegt meines Erachtens daran, daß manche den Begriff formalistisch verengen und ihn von den historischen Erfahrungen der Basisinitiativen trennen. Wenn man dies tut, kann dieses Wort zum geistigen Totschläger werden.
Mißbrauchbarkeit und Mißverständlichkeit dürfen aber nicht zu dem Fehlschluß verleiten, basisdemokratische Konzepte seien zu nichts nütze. Das Gegenteil scheint mir der Fall: Die Erfahrungen der Basisinitiativen sind für jeden aufrechten Demokraten sehr wertvoll. Zur Lösung der Krise des Parlaments könnten sie einen unschätzbaren Dienst leisten.
Bevor ich zur aktuellen Parlamentarismusdebatte zurückkehre, möchte ich daher in einer kurzen Skizze die Grundelemente eines basisdemokratischen Konzepts darstellen, das sich auf Programm und Praxis der GRÜNEN und auf meine eigenen Erfahrungen als Mitglied einer Reihe von Basisinitiativen stützt, wobei zu beachten ist, daß diese Prinzipien sich in der politischen Praxis teilweise widersprechen können. Es handelt sich also nicht um dogmatische Sätze, sondern um Erfahrungssätze, die historisch interpretiert werden müssen und neuer Erfahrung grundsätzlich zugänglich sind. 1. Ohne Basisbewegungen bewegt sich nichts Die Erfahrungen der Basis-und Bürgerinitiativen haben gezeigt, daß ohne Mobilisierung von unten die notwendigen politischen Veränderungen nicht durchgesetzt werden konnten. Weder die staatliche Politik noch die Wirtschaft waren bereit, von sich aus gegen die ökologischen, sozialen und militärischen Gefährdungen des Lebens vorzugehen. Deshalb braucht die Durchsetzung einer anderen, besseren Politik eine starke Basisbewegung. Veränderungen werden entweder von unten kommen, oder sie werden ausbleiben. 2. Führungsgruppen tendieren zur Verselbständigung Demokratische Politik kann sich nicht nur auf die moralische und sachliche Qualität von Repräsentanten verlassen. Menschen in Führungsämtern tendieren nach unseren Erfahrungen in ihrer Mehrheit dazu, ihre Macht und ihre Privilegien zu verteidigen oder aber bestimmten Interessengruppen sich verpflichtet zu fühlen. Die Interessen der Bevölkerung, derjenigen, die keine Lobby haben, stehen dahinter zurück. Eine ausreichende Kontrolle aller Personen mit Leitungsämtern ist daher notwendig.
Die GRÜNEN haben durch das Verbot der Ämterhäufung, durch die Rotation in allen Partei-und Parlamentsämtern sowie durch die Mitgliederöffentlichkeit Sicherungen eingebaut, die diese Verselbständigung verhindern sollen. Das „imperative Mandat" soll darüber hinaus dafür sorgen, daß bei Abstimmungen der erklärte Wille der Basis zu einem entscheidenden Kriterium gemacht wird; es darf aber meines Erachtens nicht so verstanden werden, daß der Funktionsträger gegen seine Überzeugung sozusagen in blindem Gehorsam einem „Basisbeschluß" zu folgen hätte. 3. „Wissenschaftlicher Sachverstand" ist nicht neutral Viele Vorhaben, von denen eine Gefährdung unseres Lebens ausgeht (Beispiel: Atomtechnologie), wurden von der Regierung mit wissenschaftlicher Untermauerung durchgesetzt. Erst Jahre später haben sich fatale Folgen oder falsche Berechnungen herausgestellt, die im nachhinein häufig nicht mehr zu korrigieren waren. Die angeblichen „Sachzwänge" oder wissenschaftlichen Argumente stellten sich als Hilfsmittel politischer Durchsetzung heraus.
Basisdemokratische Politik hat daher nach den Interessen der „neutralen Experten" zu fragen, angebliche Sachzwänge zu entschleiern und sich selbst ein fundiertes, auch wissenschaftliches Urteil zu erarbeiten. Viele Bürgerinitiativen verfügen mittlerweile in vielen Bereichen über ein beachtliches Detailwissen, welches sie in die Lage versetzt, die Vorgaben von Industrie oder Regierungen zu widerlegen. 4. Die Betroffenheit von Menschen muß ihnen besondere Mitwirkungs-und Mitentscheidungsrechte geben
Entscheidungen von existentieller Bedeutung werden heute von zentralen Parlamenten gefällt — häufig gegen den Willen der Menschen, die unmittelbar davon betroffen sind. Wenn die Lebensinteressen durch Raketenstationierung, Atomkraftwerke, Chemieprojekte oder Verkehrsmaßnahmen unmittelbar bedroht werden, haben die Menschen auch ein besonderes Recht, ihre Belange einzubringen. Lokale Gruppen, die solche verallgemeinerungsfähigen Lebensinteressen artikulieren, müssen die Möglichkeit haben (bis hin zu einem Vetorecht), sich gegen eine Majorisierung durch Nicht-Betroffene zu wehren. Ihre besondere Sensibilität ist eine sehr wertvolle Bereicherung politischer Entscheidungsfindung, die demokratischen Ansprüchen gerecht werden will. 5. Minderheiten sind zu beteiligen Bürgerinitiativen haben häufig Politik für „Minderheiten" gemacht, die sich erst später als mehrheitsfähig erwiesen. Ein solcher Ansatz ist keineswegs undemokratisch, sondern kann politische Entscheidungsprozesse verbessern, wenn die berechtigten Interessen von Minderheiten nicht per Mehrheitsbeschluß, sondern im Konsensverfahren behandelt werden.
Politik für Minderheiten zu machen bedeutet in vielen Fällen auf Probleme und Entwicklungen aufmerksam zu machen, die von der Mehrheit zur Zeit noch nicht gesehen oder angemessen berücksichtigt werden. Der Schutz solcher Minderheiten ist keine Verteidigung von Partikularinteressen, sondern nutzt der Demokratie als ganzer. 6. Gewaltfreiheit ist unverzichtbar Basisdemokratische Aktivierung der Bevölkerung muß einerseits vor Gewaltmaßnahmen des Staates geschützt werden, darf sich aber andererseits auch nicht selber zur Gewaltanwendung (gegen Minderheiten oder politische Gegner) hinreißen lassen. Konsensprinzip und Gewaltfreiheit bedingen einander, weil Überzeugungsarbeit nur jenseits von Gewaltausübung möglich ist. Gewaltfreiheit schließt aber keineswegs aus, daß sich Menschen in zivilem Ungehorsam einer Politik widersetzen, die ihre Lebensinteressen existentiell bedroht. 7. Offentlichkeit ist notwendig Mißstände scheuen das Licht. Dies ist eine zentrale Erfahrung der Basisinitiativen. Lebenswichtige Fragen wurden nicht selten unter Ausschluß der Öffentlichkeit entschieden. Verheimlichung und Verharmlosung verhindern, daß sich die Bevölkerung (vor allem die direkt Betroffenen) rechtzeitig und ausführlich über die Konsequenzen bestimmter Vorhaben informieren und auf die Entscheidungsprozesse Einfluß nehmen. Aus diesem Grunde ist, wo immer möglich, eine größtmögliche Öffentlichkeit herzustellen, zumindest aber zuzulassen. 8. Demokratie braucht Überschaubarkeit und Dezentralisierung Es sind nicht die großen, zentralen Apparate, die sensibel auf Bedrohungen und notwendige Veränderungen reagieren. Sensibilität ist eher bei denen zu erwarten, die unmittelbar oder mittelbar von den Folgen von Maßnahmen oder Unterlassungen betroffen sind. Aus diesem Grunde müssen Entscheidungen so-B weit wie möglich hierhin (zurück-) verlagert werden. Dezentrale Entscheidungsstrukturen können am besten verhindern, daß gegen Menschen Politik gemacht wird, und sie sorgen dafür, daß diejenigen, welche Entscheidungen fällen, am ehesten auch über die Tragweite dieses Handelns informiert sind. 9. Demokratisierung muß auch auf den Wirtschaftsbereich ausgeweitet werden Die Erfahrungen der Bürgerinitiativbewegungen haben gezeigt, daß ein politischer Druck auf Parlamente und Politiker nicht ausreicht, solange im ökonomischen Bereich Entscheidungen der Industrie keinerlei demokratischer Kontrolle unterworfen sind. Statt Umweltschäden zu reparieren käme es darauf an, schädliche Produktionen von Anfang an zu verhindern. Dies wird nur möglich sein, wenn bei den Produktionsentscheidungen selbst eine direkte Beteiligung von Menschen möglich ist, die Lebensinteressen, keine Geschäftsinteressen vertreten. Aus diesem Grunde ist das Demokratiepostulat auch auf den ökonomischen Bereich auszudehnen.
Auf der Grundlage dieser Erfahrungen der Basisbewegungen möchte ich im nächsten Abschnitt wieder auf die aktuelle Debatte zurückkommen und einige Vorschläge zur Demokratisierung des Parlaments machen.
III. Vorschläge zur Demokratisierung des Parlaments
1. Stärkere Partizipation der Bevölkerung Demokratie bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als daß das Volk das „Sagen" hat. Dies ist ein idealer Anspruch, der nie vollkommen eingelöst werden kann. Die repräsentative Form der Demokratie hat ein doppeltes Gesicht. Einerseits ist sie ein notwendiges und wichtiges Instrument des Volkes zur Kontrolle von Regierung und Industrie, andererseits aber bedeutet sie eine gravierende Einschränkung demokratischer Mitwirkungsmöglichkeiten. Diese müssen auf das unbedingt notwendige Maß begrenzt werden, d. h. gerade eine repräsentative Demokratie muß die Partizipationsmöglichkeit der Bevölkerung möglichst weit ausdehnen. a) Ausbau der Rechte der Betroffenen Das Parlament darf sich nicht abschotten gegen die Erfahrungen und Meinungen der Menschen, die von Parlamentsentscheidungen in bedrohlicher Weise betroffen sind oder sich betroffen fühlen. Deshalb muß ihre Anhörung, ihre Mitsprache integraler Bestandteil der parlamentarischen Arbeit werden. Einmal jährlich . Jugendstunden" im Bundestag oder ähnliches reicht da nicht aus.
Anhörung der Betroffenen müßte bedeuten, ihnen auf allen Ebenen der parlamentarischen Beratung die Möglichkeit zu geben, ihren Sachverhalt und ihre Betroffenheit einzubringen, aber auch, mit wissenschaftlichen Gegengutachten ihre Einwände, Bedenken und Vorbehalte zu artikulieren. Dies kostet nicht nur Zeit, sondern auch Geld.
Plenum und Ausschüsse sollten für Redebeiträge von Betroffenen offen sein, sofern eine Fraktion dies wünscht und auf ihr Redekontingent anrechnen läßt. Wir hatten z. B. zu einer Parlamentsdebatte zum Thema „Werftenkrise" einen Sprecher von Bremer Werftarbeitern eingeladen und ihm die Redezeit der GRÜNEN-Fraktion angeboten. Leider wurde dies durch die Intervention der anderen Fraktionen verhindert.
Es genügt aber nicht, bei politischen Entscheidungen Betroffene anzuhören oder zu Wort kommen zu lassen. Wichtig ist es, das Votum von Betroffenen so ernst zu nehmen, daß ihr Nein zu einem Vorhaben den Gesetzgeber bindet. Wir halten hier in bestimmten Fällen ein Vetorecht für das richtige Mittel (Beispiel: Regionales Vetorecht der Region rund um die Startbahn West). Aber es wäre auch schon ein Schritt in die richtige Richtung, wenn es zu einem eingeschränkten Vetorecht der Bevölkerung vor Ort käme, das aufschiebende Wirkung für Gesetzesvorhaben oder Regierungsmaßnahmen hätte. Eine solche Regelung könnte den Konflikt zwischen den Menschen vor Ort und einem zentralen Parlament im Sinne demokratischer Beteiligung neu regeln.
Die Anmaßung, daß der Deutsche Bundestag es besser als die Betroffenen weiß, was gut und richtig ist, wäre so ein Stück weit zurückgewiesen, ohne daß ein absolutes Vetorecht der Betroffenen jede gesetzgeberische Initiative verhindern würde. Doch die aufschiebende Wirkung wäre eine angemessene „Denkpause" — und die Vermutung ist berechtigt, daß eine solche Denkpause manche Fehlentscheidung der vergangenen Jahre (z. B. Schneller Brüter, Kalkar; Endlagerung Gorleben) vielleicht verhindert hätte.
Eine Beteiligung von Bürgern und Betroffenen verlangt darüber hinaus vor allem Transparenz, d. h. offene und öffentliche Diskussion der Vorhaben mit dem Ziel einer breiten Diskussion der interessierten Bevölkerung. Bürgerinitiativen, Organisationen der Betroffenen, Umweltverbände etc. müssen rechtzeitig und ausführlich informiert werden; sie müssen Gelegenheit haben, Stellung zu beziehen, vor allem aber, wissenschaftliche (Gegen-) Gutachten zu bestellen, die einen Kontrapunkt zu den Regierungspositionen bedeuten. Für diesen Zweck müssen auch Haushaltsmittel bereitgestellt werden. Es ist nicht hinnehmbar, wenn die Fachkompetenz von der Regierung monopolisiert wird und Betroffenengruppen keine adäquate Möglichkeit haben, ihre Einwände entsprechend abgesichert einzubringen. b) Öffentlichkeit aller Parlamentsgremien Grundsätzlich sollen auch die Ausschüsse öffentlich tagen. Es ist ein Unding, daß der wesentliche (ausführlichste) Teil der Beratungen systematisch unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattfindet. Die Anhörung, aber auch die Präsenz der Betroffenen muß selbstverständlicher Teil unserer Ausschußarbeit werden. Ich halte die Vorteile aus einer solchen, offenen Regelung für gewichtiger als die Nachteile, die sich z. B. durch den damit verbundenen erhöhten Profilierungszwang ergeben. Eine Öffentlichkeit der Fraktionssitzungen wäre ebenfalls sehr wichtig. c) Dezentralisierung Was von lokalem oder spezifischem Belang ist, sollte auch dezentral, Standort-und basis-nah entschieden werden. Weil eine Dezentralisierung oft eine bessere Beteiligung der Bürger an politischen Entscheidungsprozessen ermöglicht, sind alle Zuständigkeiten des Bundestages daraufhin zu überprüfen, ob sie tatsächlich auf nationaler (zentraler) Ebene entschieden werden müssen. Was immer in kleinen Einheiten auf der unteren Ebene sinnvoll zu planen und zu entscheiden ist, sollte auch dorthin (zurück-) verlagert werden. Es gibt keinen Grund, warum der Deutsche
Bundestag beispielsweise über den Fernstraßenbau im Bayerischen Wald entscheiden sollte. Im Gegenteil: Gerade das System der Mischfinanzierung, bei dem einzelne Projekte von Bund, Land und Kommune finanziert werden, hat dazu geführt, daß die Verlockungen von Bundes-und Landeszuschüssen manche Investitionsentscheidung bestimmt haben — auch über die Interessen der lokalen Bevölkerung hinweg. Manches Großprojekt (wie Straßen oder Krankenhaus) wäre nicht oder so nicht entstanden, wenn nicht die Zuschüsse von oben derartige Entscheidungen quasi „aufgezwungen" hätten. Welche Kommune verzichtet schon auf Zuschüsse in Millionenhöhe? Hier wäre eine Verantwortung (und Finanzierungshoheit) der untersten Ebene (Kommune) allemal sinnvoller, menschlicher und demokratischer als das momentane System der Finanzierung und Lenkung von oben. Hier Kompetenzen zurückzugeben wäre ein guter, souveräner Schritt des Bundestages. 2. Verbesserung der Kontrollrechte des Parlamentes Wenn von der „Krise des Parlamentarismus"
die Rede ist, müssen wir auch von dem sprechen, was fehlt, obwohl es nach dem Selbstverständnis aller Parteien da sein müßte: Die umfassende Möglichkeit der Legislative, die Regierung zu kontrollieren und ihre Entscheidungen nötigenfalls zu korrigieren.
Wenn ich es recht sehe, besteht unter vielen Abgeordneten aus allen Fraktionen Einigkeit darüber, daß sich das Kräftefeld zwischen Parlament und Regierung zuungunsten des Parlamentes verschoben hat und weiter verschiebt. Der einzelne Abgeordnete, aber auch die Fraktionen als Ganzes — selbst wenn sie viele MdBs umfassen — sind grundsätzlich gegenüber dem spezialisierten Regierungsapparat im Nachteil. Die Arbeitsbelastung der einzelnen Abgeordneten und ihrer Mitarbeiter, die Schwierigkeiten der Informationsbeschaffung, die Kurzfristigkeit der in Ausschuß oder Plenum zu verabschiedenden Gesetzes, Vorhaben und Vorlagen machen es praktisch unmöglich, sich ausführlich und umfassend genug mit den einzelnen Punkten zu befassen, um z. B. gegenüber ministerialen Spezialisten argumentativ bestehen zu können. Selbst wenn der Fraktionszwang aufgehoben wäre, der mit erschreckender Regelmäßigkeit Koalitionsabgeordnete zur Verteidigung der Regierungsentwürfe und die Opposition zur Ablehnung derselben veranlaßt, wäre die Regierung wohl kaum durch die Parlamentarier zu gefährden. Hier müßten die Befugnisse der Legislative deutlich erweitert werden, um effektive Kontrolle erst möglich zu machen. a) Verankerung des Wesentlichkeitsgrundsatzes in der Verfassung Das Kontrollrecht des Parlaments muß beinhalten, daß alle wesentlichen politischen Entscheidungen tatsächlich auch vom Parlament entschieden werden, statt sie auf administrativer Ebene zu „erledigen".
Was soll eigentlich noch ein Parlament als Kontrollinstanz, wenn z. B.der „NATO-Doppelbeschluß" durch Kabinettsbeschluß und NATO-Vertrag hinreichend legitimiert ist und es einer Zustimmung des Parlamentes gar nicht bedurfte? Was ist ferner von der Praxis der Berufsverbote zu halten, die auf der Basis eines Beschlusses der Ministerpräsidentenkonferenz seit 1972 die politische Wirklichkeit in unserem Lande so nachhaltig verändert hat, ohne daß je parlamentarische Gremien dies beschlossen hätten? Die Reihe derjenigen Regierungsentscheidungen wäre weiter aufzuzählen, die mit großer Tragweite, aber ohne parlamentarische Beratung und Kontrolle durchgesetzt wurden.
Zusätzlich erschwert wird die Aushöhlung des Kontrollrechtes noch durch die Existenz unterschiedlicher politischer Ebenen, wodurch eine effektive Kontrolle praktisch unmöglich wird. Wenn die Bundsregierung z. B. auf EG-Kompetenzen verweisen kann, braucht sie sich um parlamentarische Kontrolle (abgesehen von dem weithin rechtlosen Europaparlament) nicht mehr zu sorgen. Auch hier wäre im Sinne eines echten Kontrollrechtes eine klare, unumgehbare Kompetenz der Parlamente zu fordern. b) Das Recht des Parlaments auf selbstbestellten Sachverstand Kontrolle der Parlamente bedeutet ferner, Entscheidung auf der Basis möglichst umfangreicher Kenntnisse zu treffen oder zu revidieren. Viele Beschlüsse (im Forschungsbereich, bei der Gen-oder Atomtechnologie, im Bereich der Militärpolitik) sind von schwer übersehbarer Tragweite. Wissenschaftliche, fachliche, gutachterliche Zuarbeit ist für die Parlamentarier erforderlich, um einigermaßen verantwortlich entscheiden zu können. In der Regel verfügt nur die Regierung über die notwendige Fachkompetenz. Anträge und Vorhaben werden von ihr lange vorbereitet und dann mit „wissenschaftlicher Untermauerung" den Parlamentariern zur schnellen Zustimmung vorgelegt. Tatsächlich haben die parlamentarischen Entscheidungsträger oft keine Chance, die Fundiertheit des Vorhabens zu überprüfen, geschweige denn, grundlegende Alternativen zu suchen und wissenschaftlich überprüfen zu lassen.
So kommt es, daß die „Sachzwänge" parlamentarische Entscheidungen praktisch vorweg-nehmen. Von einem effektiven Kontrollrecht des Parlamentes wäre nur zu sprechen, wenn der wissenschaftliche Sachverstand auch den Abgeordneten, vor allem der Opposition, für das Suchen nach Alternativen, für Kosten-Nutzen-Analysen oder für Gefährlichkeits-/Schädlichkeitsberechnungen ausreichend zur Verfügung stünde. Ansonsten wird es dabei bleiben, daß Parlamentariern nichts anderes übrig bleibt als auf unzureichender Basis Entscheidungen zu fällen, deren Auswirkungen vielleicht erst in Jahrzehnten sichtbar werden. c) Sicherung und Ausbau der Informationsrechte Wir GRÜNEN haben bei unseren Kleinen und Großen Anfragen festgestellt, daß das Frage-recht des Parlamentes von der Regierung dadurch unterlaufen wird, daß Fragen unpräzise oder auch gar nicht beantwortet werden.
Das Fragerecht ist ein altes und unverzichtbares parlamentarisches Recht, dessen Unter-höhlung keinem Demokraten gleichgültig sein darf. Deshalb halte ich es für wichtig, daß der Bundestag einen interfraktionellen Ausschuß bildet, der dieses Fragerecht nach für alle Parlamentarier einheitlichen Grundsätzen gegenüber der Regierung durchsetzt.
Die heutigen Informationsrechte müssen aber nicht nur gesichert, sondern auch erweitert werden; denn über viele entscheidungsrelevante Informationen verfügt nicht einmal die Regierung.
Es ist z. B. zu überlegen, wie gesichert werden kann, daß entscheidungsrelevante Daten aus den Industriebetrieben dem Bundestag vorliegen. Es ist ein Unding, daß z. B. das Ausmaß der Gesundheitsbelastung durch Chemiebetriebe vom Parlament nicht sachgerecht beurteilt werden kann, weil der Schutz von Betriebsgeheimnissen, der Datenschutz, aber auch unzureichende Messungen und Statistiken dem entgegenstehen. In diesem Zusammenhang muß daran erinnert werden, daß es in den USA den „Freedom of Information-Act" gibt, der sogar dem einzelnen Bürger weitergehende Informationsrechte sichert, als sie bei uns ein Parlamentarier hat.
Hier muß schnellstens geprüft werden, auf welchem Wege das Parlament unmittelbare Informationsrechte bekommen kann, die bis hin zum Akteneinsichtsrecht bei Behörden und Betrieben gehen sollten. d) Erweiterungen der Rechte von Untersuchungs-und Enqu^tekommissionen Die technologische Entwicklung gibt der heutigen Generation erstmals in der Geschichte der Menschheit die Möglichkeit, sich selbst militärisch oder ökologisch auszurotten. Mit anderen Worten: Die Tragweite von politischen Entscheidungen für die Generationen von morgen und übermorgen ist heute enorm; um so mehr muß der Deutsche Bundestag in die Lage versetzt werden, sich mit diesen Problemen ausführlich und fachlich kompetent zu befassen. Die verstärkte Einsetzung von Untersuchungsausschüssen und Enqutekommissionen wäre ein Schritt, dieser Aufgabe mehr gerecht zu werden.
Allerdings müßte der Status dieser Gremien deutlich verbessert werden. Notwendige Maßnahmen wären u. a. die gesetzliche Aufwertung von Enqu^tekommissionen, das Recht der Untersuchungsausschüsse, Beamte als Zeugen zu vernehmen, ohne von der Aussagegenehmigung der Behördenleitung abhängig zu sein, und Möglichkeiten, Zeugen gegen Sanktionen (sei es von Firmen oder von Behörden) zu schützen.
Grundsätzlich darf die Einsetzung und die Zielsetzung von Untersuchungs-und Enquötekommissionen nicht von der Zustimmung der Parlamentsmehrheit abhängen. Es wäre sehr wichtig, daß sie schon auf Ersuchen einer einzelnen Fraktion oder einer Minderheit von Abgeordneten (10 %) in Gang gesetzt werden können. Dabei sollten diese Gremien nicht nur zur Aufklärung festgestellter Mängel oder Fehler eingesetzt werden, sondern gerade auch für eine nach vorne gerichtete Positionsfindung des Parlamentes in Grundsatzfragen genutzt werden. 3. Sicherung der Unabhängigkeit der Abgeordneten Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages sind laut Grundgesetz „an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen".
Wer das Abstimmungsverhalten des Bundestages aufmerksam beobachtet, der kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß gerade in diesem Punkte Verfassungsauftrag und Verfassungswirklichkeit besonders weit auseinanderklaffen. Zyniker haben angesichts der Flick-Affäre den Satz geprägt: „Abgeordnete sind an Weisungen nicht gebunden, aber an Überweisungen." Dieses Problem der direkten oder indirekten finanziellen Zuwendungen ist sicherlich nicht gering einzuschätzen, aber es ist nicht das einzige und vielleicht nicht einmal das größte, denn die Freiheit des Parlamentariers ist in der Regel durch mehr indirekte und schwerer durchschaubare Abhängigkeiten gefährdet.
Auf die strukturelle Abhängigkeit von Experten und wie man ihr begegnen könnte, bin ich schon eingegangen, so daß ich in diesem Abschnitt darauf verzichten kann. a) Freiheit von Reichen und Mächtigen Im Bonner Parlamentsviertel begegnet man auf Schritt und Tritt den Büros der Lobby-Verbände. Wie gefährlich die mächtigsten dieser Organisation für die Demokratie werden können, hat die Flick-Affäre gezeigt. Mindestens ebenso wichtig sind aber die täglichen, sozusagen honorigen und überhaupt nicht illegalen Beeinflussungen.
Dies betrifft einmal konkrete Entscheidungen, bei denen die . Argumente" der Mächtigen mit sehr viel Nachdruck vorgetragen werden, das betrifft aber auch ganz grundsätzliche Sichtweisen, wie z. B. die Einstellung zur Großtechnologie, zum wirtschaftlichen Wachstum, zum Umweltschutz überhaupt. In solchen generellen Fragestellungen ist sich nahezu die gesamte Lobby in Bonn einig. Wenn dann noch dazukommt, daß die Abgeordneten selbst in finanzieller Abhängigkeit zu solchen Organisationen stehen, d. h. dort Vorstands-, Aufsichtsrats oder sonstige Spitzenfunktionen wahrnehmen, dann ist es mit der Freiheit des Abgeordneten schon sehr sehr schwierig, um es vorsichtig auszudrücken. An konkreten Maßnahmen scheinen mir erforderlich: a) Erstens sollte das Abgeordnetenmandat (bis auf wenige Ausnahmen) unvereinbar sein mit einer weiteren Führungsfunktion in anderen Bereichen. Dies sollte für alle Spitzen-bzw. Vorstandsämter in Parteien, Firmen, Verbänden, Gewerkschaften, Kirchen etc. gelten.
b) Zweitens sollte von den Abgeordneten eine Offenlegung aller Nebeneinkommen verlangt werden, damit sich der Bürger ein Bild von möglichen Interessenkollisionen seines Repräsentanten machen kann.
c) Da die Abhängigkeit des Parlaments teilweise über den Weg der Abhängigkeit der Parteien hergestellt wird, ist drittens eine Zuwiderhandlung gegen die Offenlegungspflicht für Parteispenden nicht nur — wie bisher schon — von Gesetz und Verfassung zu fordern, sondern auch mit empfindlichen Strafen zu belegen. b) Freiheit von Fraktionsund Parteioligarchien Daß die eigene Überzeugung der Abgeordneten so selten zum Ausdruck kommt, liegt zu einem großen Teil an ihrer Abhängigkeit von mächtigen Oligarchien in Partei und Fraktion.
Die Geschlossenheit der Fraktionen, z. B. beim Stationierungsbeschluß oder bei der Entscheidung zu Buschhaus — erst geschlossen dagegen, ein paar Wochen später geschlossen dafür — ist ohne Fraktionszwang nicht vorstellbar.
Die Fraktionsspitze hat vielfältige Sanktionsmöglichkeiten. Sie entscheidet weitgehend über die Redezeiten im Parlament und damit über die Außenwirkung des Abgeordneten, über den Zugang zu wichtigen Informationen, über die Ausstattung mit Mitarbeitern und oft auch über die Wiederwahlmöglichkeiten.
Dies liegt in erster Linie daran, daß sich im Parlament und in den Parteien dauerhafte Gruppen bilden können, in denen der eine auf den anderen langfristig angewiesen ist. Mächtige Ämter in Partei und Fraktion bzw. Regierung werden über viele Jahre hinweg von wenigen Personen wahrgenommen. Der Einfluß der Partei-und Fraktionsspitzen ist also sehr hoch. Durch die Dauerhaftigkeit ihrer Mandate bilden sich relativ geschlossene Kreise, die sich in ihren Meinungen und Vorurteilen immer wieder gegenseitig bestätigen und sich damit in einem Teufelskreis der Kommunikation befinden. Wenn solche Oligarchien dann noch in hohem Maße von starken gesellschaftlichen Gruppen abhängig oder mit ihnen in ständigem Gespräch sind, so wird die Abschottung gegenüber dem Souverän des Parlaments, dem Volk, nahezu undurchlässig. Um dies zu vermeiden, halte ich folgende Regelungen für notwendig:
— Mitgliederöffentlichkeit der Vorstandssitzungen in Partei und Fraktion;
— Verbot der Ämterhäufung (s. o.);
— Rotation in sämtlichen Partei-und Fraktionsämtern (über den Zeitraum kann man streiten);
— Stärkung der parlamentarischen Rechte des einzelnen Abgeordneten sowie von Fraktionsminderheiten; — Abbau der Überprivilegierung der Fraktionsspitze mit Mitarbeitern und Ressourcen. Ein grobes Mißverständnis wäre es, wenn man die Forderung nach Schwächung der Fraktions-und Parteioligarchien verwechseln würde mit einem individualistischen oder gar privatistischen Mandatsverständnis. Die Abgeordneten haben ihr Mandat vom Wähler und bleiben auf den Willen der Wähler verpflichtet. Der Bruch eines Wahlversprechens ist daher Wählerbetrug.
Das Mandat ist kein Privateigentum, sondern ist auch an die Partei bzw. Fraktion gebunden, solange Partei und Fraktion sich an ihre Wahlaussagen halten. Diese freiwillige Rückverpflichtung des Abgeordneten gegenüber seiner Basis sollte ein selbstverständliches Element der politischen Kultur einer repräsentativen Demokratie sein.