Ein Beitrag zu den Grenzen der Forschungsfreiheit
Nach Jahren einer euphorischen Stimmung, in der Forschung betrieben wurde, steht sie — beginnend mit dem Übergang des sechsten in das siebte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts — zunehmend unter Legitimationsdruck. Die Vertrauenskrise, in die die Forschung gestürzt ist, dürfte sich über vordergründige Anlässe hinausgehend auf die Frage der Zeitgenossen nach der Sinnhaftigkeit der Forschung gründen. Gegenüber einer Wissenschaftsgläubigkeit — wie sie in gänzlich ungebrochener Kraft beispielsweise ihren Ausdruck in dem Ciba-Symposium 1962 der Biogenetiker fand — wächst die Befürchtung, daß die Segnungen des mittels der Naturwissenschaften bewirkten Fortschritts sich manchmal als Plage erweisen könnten, indem die Forschung die fatale Rolle des „Vaters aller Dinge“ übernimmt
Eine solche Sicht, die sich in der virulenten Endzeitpsychose bei bestimmten Gruppierungen leicht zu Untergangserwartungen verdichtet, ist nun allerdings nicht neu; schon immer gab es eine Kluft zwischen wissen-
Der vorliegende Beitrag enthält den um Anmerkungen ergänzten ersten Teil der Ausführungen zu meiner Antrittsvorlesung über„Die genetische Manipulation des Menschen — Ein Beitrag zu den Grenzen der Forschungsfreiheit", die am 18. Mai 1984 vor dem Fachbereich Rechtswissenschaften der Philipps-Universität Marburg stattgefunden hat. Das vollständige, die verfassungsrechtliche Bewertung enthaltene und mit einem umfangreichen Anmerkungsapparat versehene Manuskript der Antrittsvorlesung wird in der Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden, veröffentlicht.
I. Einleitung
schaftlicher Erkenntnis und Macht auf der einen Seite und der geistigen und moralischen Verarbeitung überdimensionierter Technologien auf der anderen Seite. Die Auffassung von der Wissenschaft „als schönes Mittel zum Untergang", die Friedrich Nietzsche in „Der Wille zur Macht" mit kräftigen Worten gezeichnet hat, galt insbesondere der „diktatorischen, arbeitenden, die Erde neugestaltenden Naturwissenschaft" Die Einsicht in die Zweischneidigkeit des Fortschritts („Ambivalenz") hat nicht nur zu mitunter in pathologischen Formen sich abspielenden Reaktionen bei einigen Wortführern der Kulturkritik mit ihrem Hang zu Sündenbocktheorien geführt. Die Seuche des Unbehagens am Nutzen der Forschung hat auch diejenigen befallen, die bei aller Reserve gegenüber einem ungehemmten Wirtschaftswachstum als Symptom menschlicher Aufblähung es eigentlich doch wissen müßten, daß mit Nostalgie und Erinnerungsexzessen. vor allem mit einer modernen Maschinenstürmerei — erinnert sei nur an die Forderung von Ivan Illich nach „Entindustrialisierung", der sich Robert Jungk mit einer „Industrieverweigerung aus Gewissens-gründen" schnell angeschlossen hat — eine Lösung det von der Forschung aufgeworfenen Probleme nicht möglich ist.
Die „Kassandrarufe" der Träger der allgemeinen Kulturkritik in der besonderen Ausprägung des „anti-science-movement" haben allerdings ihre Wirkung nicht verfehlt. Bei vielen Bürgern in unserem Lande ist der Eindruck entstanden, daß „die Naturwissenschaft und ihr Produkt — die Technik —, einmal in Gang gesetzt, eine gewisse Eigendynamik entfalten, die sich dem Steuerungsvermögen, der Verfügungskraft des Menschen weitgehend entzieht" Viele Menschen beschleicht die Sorge: Die Dienerin „naturwissenschaftlicher Forschung" ist ihnen über den Kopf gewachsen; sie beginnt zur Herrin zu werden
Deshalb haben selbst Träger höchster Staatsämter den Forderungen nach einer Reglementierung der Forschung — sei es in Gestalt ihrer Begrenzung, sei es hinsichtlich deren Steuerung — Verständnis entgegengebracht so hat Alt-Bundeskanzler Schmidt angesichts der wachsenden Empfindlichkeit für die Nebenfolgenlasten des wissenschaftlichen Fortschritts den Wissenschaftlern eine „Bringschuld" gegenüber der Gesellschaft auferlegt, diese über die möglichen negativen Auswirkungen von Forschungsergebnissen aufzuklären
So war es auch nicht verwunderlich, daß sich der Ruf nach Reglementierung der Forschung in gesetzgeberischen Beschlüssen und (vor-) parlamentarischen Initiativen niedergeschlagen hat. Für den Bereich der Hochschulforschung legt § 6 des Gesetzes über die Universitäten des Landes Hessen vom 6. Juni 1978 allen „an Forschung und Lehre beteiligten Mitgliedern und Angehörigen der Universitäten" die Verpflichtung auf, „die gesellschaftlichen Folgen wissenschaftlicher Erkenntis mitzubedenken"; darüber hinaus sollen die Hochschulangehörigen den zuständigen Fachbereichsrat oder ein zentrales Organ der Universität dann unterrichten, wenn „ihnen Ergebnisse der Forschung, vor allem in ihrem Fachgebiet, bekannt werden, die bei verantwortungsloser Verwendung erhebliche Gefahr für die Gesundheit, das Leben oder das friedliche Zusammenleben der Menschen herbeiführen können". Ganz besonders deutlich zeigt sich der Trend einer Forschungsreglementierung in der seit Jahren im parlamentarischen Raum geführten Diskussion über die Notwendigkeit gesetzlicher Regelungen auf dem Gebiet der Gen-Forschung. Erst jüngst hat die SPD-Bundestagsfraktion vor den Risiken der Gentechnologie und deren gesellschaftlichen Folgen gewarnt und die Einsetzung einer Enquöte-Kommission „Gentechnologie" beantragt
In der Tat gibt es keinen anderen Bereich forschenden Bemühens, in dem sich die Frage nach den Grenzen der Forschungsfreiheit in einer solchen Schärfe stellt, wie dies bei Arbeiten zur Neukombination genetischen Materials der Fall ist. Zwar gehört es zum verfassungsrechtlichen Allgemeingut, daß jeder, der in der Forschung tätig ist, gern. Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG ein Recht auf Abwehr jeder staatlichen Einwirkung auf den Prozeß der Gewinnung und Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse hat. Die Wissenschaft sei — so das Bundesverfassungsgericht — in der Verfassung „zu einem von staatlicher Fremdbestimmung freien Bereich persönlicher und autonomer Verantwortung des einzelnen Wissenschaftlers erklärt worden", „damit sich Forschung ... ungehindert an dem Bemühen um Wahrheit ausrichten" kann Zu den verfassungsrechtlichen Standards gehöre es auch, daß die in Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG geschützte Freiheit der Forschung nicht isoliert stehe, sondern in den Gesamtzusammenhang von Grundrechten und verfassungsrechtlichen Grundprinzipien einzuordnen sei.
Vor diesem allgemeinen Hintergrund besteht weitgehend auch Einigkeit, daß die vorbehaltlos, aber nicht schrankenlos geschützte Forschungsfreiheit nur den immanenten oder verfassungssystematischen Beschränkungen unterliegen dürfe Keine gesicherte verfassungsrechtliche Erkenntnis besteht jedoch über die Tragweite der — wie das Bundesverfassungsgericht es formuliert hat — „aus der Verfassung selbst" herzuleitenden Grenzen der Forschungsfreiheit Können also spezifisch auf die Gen-Forschung bezogene gesetzliche Einschränkungen aus der Verfassung legitimiert werden? Kann sich zum Schutz anderer, gleichfalls von der Verfassung geschützter Rechtsgüter sogar eine Pflicht des Gesetzgebers ergeben, die Gen-Forschung zu verbieten? Diese Fragen stellen sich vor dem Hintergrund des durch Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG dem einzelnen Wissenschaftler gewährleisteten prinzipiellen Freiraums der Erkenntnissuche und Erkenntnisgewinnung, in dem „absolute Freiheit vor jeder Ingerenz öffentlicher Gewalt herrscht"
Die noch offene Frage, welche verfassungsimmanenten Schranken der Forschungsfreiheit gegenüber wirksam sind, bietet nicht den einzigen Anlaß, das Thema der genetischen Manipulation des Menschen zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Untersuchung zu machen. Das Thema weist zweifelsohne eine Fülle anderer, über das Verfassungsrecht i. e. S. hinausreichende rechtliche Probleme auf. Besondere rechtliche Fragen wirft allein schon der Personenstands-, Unterhalts-und erbrechtliche Standort „künstlich erzeugter Menschen" auf Für den Fall der Beteiligung einer biologischen (Gast-) Mutter an dem Prozeß der Menschenzüchtung stellt sich im Verhältnis zu den genetischen Eltern und zu dem Kinde die Frage nach ihrer familien-rechtlichen Einordnung. Auch die Begründung einer Vormundschaft aus Anlaß eines mit genetischem Material experimentierenden Wissenschaftlers ist nicht nur eine Frage von akademischer Provenienz. Vor allem bei Abbruch eines Experiments kann sich die Frage nach Schadensersatzansprüchen, nach dem Überschreiten der (straf-) rechtsfreien Präimplantationsphase sogar die nach einer strafrechtlichen Verantwortung wegen § 218 StGB stellen. Schließlich zwingt die Vorstellung der durch Defekte gezeichneten künstlich erzeugten Kinder, die im Schrifttum, nicht etwa in der Katastrophenpublizistik als „Nieten" bezeichnet werden schon jetzt zu rechtlich abgesicherten Antworten.
Die aufgezeigten rechtlichen Probleme erhellen schlagartig die Brisanz des Themas als einer staatsbürgerlichen Grundsatzfrage. Zweifelsohne ist die genetische Manipulation des Menschen ein zentraler Eingriff in die Einheit von Vater, Mutter und Kind, in die Ehe und Familie — „den letzten symbiotisch intakt gebliebenen Institutionen" Zweifelsohne kann die mittels Gen-Chirurgie bewirkte „Zeugung" von „Monstern" Macht-und Herrschaftsprobleme auslösen, und zweifelsohne kann das dem naturwissenschaftlichen Fortschritt dienende „Herumexperimentieren" mit der Natur — unter moralischen Kategorien gesehen — als ein Rückschritt, ein Verfall des Humanen bewertet werden und zu heftigen Auseinandersetzungen über die Freiheit der Forschung und die Freiheit der Verwertung wissenschaftlicher Ergebnisse führen. Immerhin hat schon 1976 der renommierte schweizerische Nationalökonom Emil Küng angesichts des damaligen Standes der Gen-Forschung die These verfochten, „die Forschungsfreiheit in den Naturwissenschaften müsse eingeschränkt werden"
Damit erhält das Thema „Die genetische Manipulation des Menschen" für den Verfassungsrechtler eine über die Frage der Forschungsfreiheit hinausgehende Dimension. Denn unserer Verfassung liegt ein ganz bestimmtes Bild vom Menschen zugrunde. Wenn — so vom Bundesverfassungsgericht zuletzt wieder im sogenannten Volkszählungsurteil herausgestellt — „im Mittelpunkt der grundgesetzlichen Ordnung ... Wert und Würde der Person (stehen), die in freier Selbstbestimmung als Glied einer freien Gesellschaft wirkt" dann ist das Menschenbild der Verfassung — vereinfacht ausgedrückt — durch das prinzipielle Verbot jedweder Manipulation des Menschen bestimmt. Daher stellt sich letztlich — vor allem vor dem Hintergrund einer für Manipulierungspsychosen anfälligen Bürgerschaft — die Frage nach der (Rück-) Wirkung der genetischen Manipulation des Menschen auf das Menschenbild unserer Verfassung
II. Multiplexe Anstöße zur Menschenzüchtung
Die dem Thema damit gegebene Dimensionierung zwingt — bevor der gegenwärtige Stand biogenetischer Forschung aufgezeigt wird und eine verfassungsrechtliche Bewertung vorgenommen werden kann —, die multiplexen Anlässe für eine genetische Manipu-lation des Menschen auszubreiten. Ein Blick in die Wissenschaftsgeschichte schärft nicht nur unser Bewußtsein für das von der Molekularbiologie ausgehende Gefährdungspotential; der Einblick in die sich zwischen 1930 und 1970 abspielende wissenschaftliche Revolution erlaubt sicherlich auch eine angemessene verfassungsrechtliche Bewertung der Gen-Forschung und deren wissenschaftlicher Ergebnisse.
1. Herausforderung der Genetik durch die Kybernetik
Ausgangspunkt der Idee einer genetischen Manipulierung des Menschen ist die „kybernetische Utopie". Die von N. Wiener begründete Utopie einer „Menschenmaschine", die den bisherigen Menschen ersetzen, überflügeln und schließlich verdrängen sollte, entsprang der Überlegung, „daß zwar die Menschenmaschine im Sinne und in der Richtung der technischen Evolution . entwickelbar'sei, nicht aber der Mensch." Die nur der Menschenmaschine, nicht aber dem Menschen selbst eine Entwicklungsfähigkeit zuerkennende Kybernetik forderte damit die für den Menschen „zuständige" Genetik heraus, „die — durch . exakte’ Eingriffe in seinen Keimbereich — seine Gestalt und seine Organe selbst zu verändern strebt". Die Idee eines Menschenersatzes durch Schaffung eines künstlichen Menschen ist allerdings von gänzlich anderer Qualität als die einer Menschenmaschine. Denn die durch den Einsatz von Robotern, die mittels mikroelektronischer Steuerung „menschliche" Handhabungen ausführen, nunmehr verwirklichte Automationsutopie läßt den Menschen selbst in seinen biologischen Formen und Grenzen bestehen. Somit würde erst eine verwirklichte „genetische Utopie" den Menschen von seinen biologischen Schranken befreien
2. „Von Platon bis Darwin“
Für die Idee der Menschenzüchtung gibt es über die kybernetische Utopie hinaus tiefer liegende Anstöße. Der in jedem Menschen mehr oder minder vorhandene Urtrieb, sich selbst zu übersteigen, spricht schon aus den Mythen des Altertums und aus der Schöpfungsgeschichte der Bibel („Und Gott schuf den Menschen ihm zu Bilde" Aber darin wird zugleich die Schranke sichtbar, die Gott und Götter vom Menschen trennt, indem die menschliche Norm als Gegebenheit, begrenzt und geheiligt durch das Schöpfungsgeheimnis oder die Scheu vor den Mächtigen, hingenommen wurde
Zu jener Zeit kam erstmals die Idee einer biologischen Züchtung des Menschen auf. Platon glaubte, daß die instinktiv-normative Zuchtwahl nicht mehr intakt wäre und propagierte, der Adels-und Kriegerstand solle durch Eugenik versuchen, seine Art zu erhalten, indem er die Besten in ihrer Fortpflanzung fördere und die „Entarteten" darin hemme: „jeder Trefflichste (sollte) der Trefflichsten am meisten beiwohnen, die Schlechtesten aber den ebensolchen umgekehrt; und die Sprößlinge jener sollten aufgezogen werden, dieser aber nicht, wenn uns die Herde recht edel bleiben soll”
Einen neuen Anstoß erhielt diese Idee erst durch die im Zuge der industriellen Revolution auftretende Bedrohung der biologischen Grundbestände des Menschen, seiner Fortpflanzungsfähigkeit, seiner Erbsubstanzen. Diese von der Menschheit selbst verschuldete Entwicklung führte um 1900 zur Theorie des Sozialdarwinismus. Ausgehend von der These Darwins, daß sich die Bevölkerung in jeder Generation in stärkerem Maße aus den unteren als aus den mittleren und oberen Klassen erneuere, sollte durch bewußte Menschenzüchtung und staatlich gelenkte „Bevölkerungspolitik" den Entartungserscheinungen der Industriegesellschaft entgegengewirkt werden. Die mehr „humane" Gruppe unter den „Darwinisten" forderte Geburtenförderung für Gesunde und Erschwerung der Fortpflanzung für Asoziale und Geisteskranke. Die „inhumane" Gruppe zielte auf . Ausrottung" unwerter Erbträger und Vermehrung des eigenen Volkes durch Aussiedlung oder Ausrottung seiner Nachbarn — Ideen, die eine Generation später, u. a. mittels des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933 (Reichsgesetzblatt I, 529), in die Tat umgesetzt worden sind
3. Wissenschaftlicher Anstoß zur genetischen Manipulation des Menschen
Hoffnung der Strahlengenetik Der wissenschaftliche Anstoß zu einer Umbildung oder Neuschaffung lebender Organismen durch künstliche Mutation (= Erbänderung) oder Selektion geht auf die um 1907 entstandene Erkenntnis zurück, daß energiereiche Strahlen künstliche Mutationen hervorrufen können Hieraus schöpfte insbesondere die im Gefolge der Strahlenphysik auftretende Strahlengenetik ihre wissenschaftlichen Hoffnungen, indem sie versuchte, die Keimzellkerne, die Nukleotiden, zu treffen und deren „Teilchen", die Gene, durch Kernumwandlung (= Mutation) zu verändern (= manipulieren). Die Möglichkeit, durch energiereiche Strahlen Erbänderungen „willkürlich" auslösen zu können, erweckte in den Strahlengenetikern die Hoffnung, „einen neuen Menschen durch Isolierungs-und Manipülierungsexperimente zu schaffen, um durch diesen Akt den Schöpfungsakt zu usurpieren und schließlich zu überbieten
Literarische Zeugnisse genetischer Utopie Das früheste Zeugnis genetischer Utopie ist das 1935 erschienene Werk „Out of Night" des 1946 — wegen des Nachweises mutagener Wirkung von Röntgenstrahlen durch Bestrahlung von Männchen der Taufliege Drosophila — mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Biologen Hermann J. Muller Dieses Buch, das den bezeichnenden Untertitel „Die Sicht eines Biologen von der Zukunft" trägt, ist in den USA auch heute noch die heimliche Bibel aller fortschrittsgläubigen Molekularbiologen. Ausgangspunkt der Gedankengänge von H. J. Muller ist die Erkenntnis vom verderblichen Einfluß der technischen Revolution auf den Menschen, „den seine . Fehlanpassung'an diese Umwälzung in die gefährliche Spannung zu seinem Wissens-und Machtzuwachs gebracht hat, die ihn mit dem Chaos bedroht" Mit kräftigen Worten beschreibt er die . Apokalypse" des muskroom growth (= Treibhauswachstum): „ein . letzter Krieg'wird dem anderen folgen wie eine Wirtschaftskatastrophe der anderen, und jeder Kampf und jede Krise wird nur der Weg für noch schlimmere Kämpfe und Krisen sein, im Maße des immer schnelleren Fortschritts der technischen Welt"
In dieses Bild einer globalen Katastrophe führt H. J. Muller noch die immer stärker werdende Artverschlechterung ein, durch die der Fortschrittsprozeß den Bios des Menschen unterminiere, indem er „die Schwachen, die Stumpfsinnigen und Verderbten" am Leben erhalte, ja erst im Leben erzeuge So sieht H. J. Muller im Fortschrittsprozeß, der durch die Verhinderung der natürlichen Selektion — d. h.der Ausmerzung der biologisch Erbschwachen durch deren Krankheit,'Unfruchtbarkeit und Tod — auch Neumutationen und mit ihnen neue Erbschwächen erzeugt, die eigentliche Gefahr für den Menschen „Die Vervielfachung der Mutationen und die Beschränkung der Selektion durch Sozialhygiene und Medizin erfüllt seinen Geist mit dem Schreckensbild einer Menschheit, die diesem rasanten Prozeß mit einer . Erbmasse'gegenübertritt, deren Wert durch den Rückschlag des Technisierungsprozesses dauernd vermindert wird."
Diese Befürchtungen eines genetisch bedingten Kollapses werden im übrigen bis in die heutige Zeit hinein geteilt; der durch zunehmende Mutations-und abnehmende Eliminationsrate zu diagnostizierende Anstieg der Erbbelastung wird insbesondere der Medizin angelastet; die von ihr „betriebene Selektion arbeitet... genau umgekehrt wie die natürliche Selektion, die laufend schädliche Gene aus dem Genschatz der Bevölkerung" entfernt hat
Die Chance des Menschen, dem Schicksal einer genetischen Katastrophe zu entrinnen, sieht H. J. Muller in der Erforschung und Kontrolle des Zellenkosmos. Dies böte die Gewähr für den Menschen zur „Weiterentwicklung seines Vermögens zur Weltbeherrschung, die weit über seine bisherige Kräfte-kontrolle hinaus auch den Menschen selbst, sein Befinden und seine Substanz einbegreift" Deshalb gibt H. J. Muller der Genetik den Auftrag, „das ganze menschliche Protoplasma so radikal umzuformen, daß im Prinzip die Herstellung eines künstlichen Menschen damit gegeben ist" Das genetische Endziel, durch künstliche Mutationen den Über-Menschen zu schaffen, verleitet ihn zu emphatischen Bekenntnissen: Wenn der Mensch seine Evolution erst selber manipuliert, wird eine exakte Genetik, die Gottes Schöpferkraft usurpiert, ein gottgleiches Wesen nach ihrem Bilde erschaffen, vor dem „die mythischen Gottheiten der Vergangenheit mehr und mehr lächerlich werden". „Die besten Geister der Menschheit werden ... genetische Methoden entwickeln, die neue Eigenschaften, Organe und Biosysteme erfinden, die den Interessen, dem Glück und der Herrlichkeit jener gottgleichen Wesen dienen, deren dürftige Vorahnung wir elende Kreaturen von heute sind"
Die Vorstellung vom Über-Menschen soll nicht weiter vertieft werden, obwohl es sehr reizvoll wäre, parallel laufende Vorstellungsbilder darzustellen Erinnert sei aber an die Verweltlichung der Übermenschidee am Beispiel Napoleons: „Gott Vater hat einen Sohn und der heißt Napoleon". Verwiesen sei auch auf Nietzsches Übermenschvision, in der sich christliche, hellenistische und darwinistische Züge mit dem Ziel verschmelzen, nach dem „Tod Gottes" den untermenschlich gewordenen Fortschrittsmenschen zur Umkehr zu bringen Erinnert sei schließlich an die progressive Evolutionstheorie mit den Stufen Tier, Übertier (= Mensch) und Über-Mensch, die sich mit der christlich gefärbten Vorstellung Teilhard de Chardins, der Hominisation, der Menschwerdung aus dem Tier und dem Aufstieg in das Transhumane verbindet und bei der sich besonders deutlich das Zusammenfließen von genetischer Endutopie und christlicher Eschatologie zeigt
Gefährdungstatbestände des Technisierungsprozesses als schicksalhaftes Motivfür die genetische Manipulation Die genutopischen Vorstellungen H. J. Mullers stießen schon seinerzeit — zumindest außerhalb des Fachgebiets der Biogenetik — auf Ablehnung. Indes glaubten die Gen-Utopisten auf, lange Sicht an die Verwirklichung ihrer Ziele. In Kenntnis dessen, daß der Mensch das wahnsinnige „Tier" sei, das keine eingebaute Hemmung gegen die Tötung von Artgenossen habe, vielmehr die Erfindung gemacht habe, Artgenossen systematisch zu töten, erwarteten die Gen-Utopisten einen totalen Atomkrieg und in dessen Folge zur Verhinderung eines Kulturkollapses einen planetarischen genetischen Zwangsversuch. Der Atomkrieg war sozusagen das schicksalshaft zwingende Motiv für das eigene Manipulierungsprogramm („genetische Prophylaxe"). Vor allem gab die langsamere, im biologischen Zeitmaß aber vielleicht doch wirksamere Mutationsauslösung des Technisierungsprozesses, vor allem der Strahlentechnik, Anlaß zu der Hoffnung, biologische Mutationstechniken auf den Menschen selbst anzuwenden. Als Beleg dafür, daß „die sehr langsame biologische Evolution dieses Bauplanes Mensch ...der sehr viel schnelleren kulturell-zivilisatorischen Evolution nicht folgen" konnte können viele Gefahrentatbestände aufgeführt werden, so in erster Linie die aus der friedlichen und militärischen Verwendung der Kernenergie resultierenden Gefahren (Reaktorunfall von Harrisburgh; Atombombenunfall von Palomares). Verwiesen sei weiterhin auf die sich aus der Einnahme von Medikamenten ergebenden Gefahren. Schließlich sei noch auf die aus Eingriffen in das „Klima" resultierenden Gefahren verwiesen. Übergang von der biogenetischen Grundlagenforschung in die Anwendungsforschung Die Hoffnung der Gen-Utopisten, einen neuen Menschen durch Genmanipulation zu schaffen, erhielt in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg Nahrung durch bemerkenswerte wissenschaftliche Erkenntnisse. In jener Zeit nahmen insbesondere amerikani-sehe Biologen das Ziel eines Über-Menschen ins Visier, der der kernstrategischen Über-waffe anthropologisch entsprechen sollte. Diese Vorstellung hat am deutlichsten Jean Rostand, ein führender französischer Biologe, in dem 1952 erschienenen programmatischen Beitrag „Die Biologie und die Bürde unserer Zeit" mit der Frage zum Ausdruck gebracht: „Why should we not succeed in creating a man superior to the present species — a , Superman'“. Für ihn ist es unmöglich, nicht von dem Gedanken verführt zu sein, ein Geschöpf schaffen zu können, „das den gegenwärtigen Menschen derart an Macht und Intelligenz überragt, daß es auch dessen unlösbar scheinende Lebensprobleme zu lösen versteht"
Hinter solchen Aussagen verbirgt sich im übrigen auch der Machttrieb der Wissenschaft im Kampf um die Verteilung der Forschungsgelder. Die Äußerung von W. M. Stanley beim Lindauer Treffen der Nobelpreisträger von 1955 — „Die Entwicklung könnte das Keim-plasma der Welt in die Hand des Chemikers geben und damit könnte die Macht vom Atomphysiker auf den Chemiker übergehen" — ist wohl nur vor dem Hintergrund der Besonderheiten der Forschungsfinanzierung in den USA verständlich.
Freilich steht der Demiurgie der Biogenetiker noch die Schranke im Wege, daß der humane Keimzellkern offenkundig von feiner organisierten und schwerer faßbaren Aufbaugesetzen als der Atomkern etwa des Urans gesteuert wird. Der (natur-) wissenschaftliche Fortschritt war indes nicht mehr anzuhalten. Nachdem schon 1944 eine amerikanische Arbeitsgruppe unter Leitung von O. Avery an dem Bakterium Pneumoecocus entdeckt hatte, daß seine Erbsubstanz die DNS (= Desoxyribonukleinsäure) in den Chromosomen ist 1953 das Doppelhelix-Strukturmodell der DNS durch J. Watson, H. C. Crick und M. Wilkins aufgestellt werden konnte gelang 1961 der „Bruch des genetischen Codes" Damit hatte man das Übersetzungslexikon für die Übertragung der genetischen Information (des Genotyps) in den Händen.
Nach der Watson-Crick-Theorie ist die gesamte Spezifität eines Organismus in der Spezifität seiner Desoxyribonukleinsäure (DNS) begründet. Der als Anordnung der vier DNS-Bausteine im linearen Kettenmolekül ausgebildete Informationsgehalt determiniert — kurz gesagt — die gesamte biologische Spezifität des Organismus. Für die Übertragung der genetischen Information von einer Generation auf die nächste und für die Ausbreitung derselben über alle Zellen eines Organismus ist die Autoreduplikation der DNS verantwortlich. Das Hervorstechendste an der Watson-Crick-Theorie ist, daß sie sämtliche Phänomene biologischer Spezifität — insbesondere auch die Vererbung derselben — auf eine einzige Ursache zurückführt. Sie vermittelt daher ein biologisches Weltbild von zweifelsohne großartiger Geschlossenheit und Durchsichtigkeit.
Propagierung der Menschenzüchtung anläßlich des Ciba-Symposions 1962
Nach dem „Bruch des genetischen Codes" kam es 1962 zu einem tiefen Einschnitt in der Propagierung einer genetischen Manipulation des Menschen. Anläßlich des Symposions der Ciba Foundation traten die Genforscher aus der Fachdiskussion heraus vor die Öffentlichkeit und forderten — so nach dem Vorwort von G. Wolstenholme zur englischen Originalausgabe des Tagungsberichts — „Männer und Frauen jeder Rasse, Hautfarbe und Weltanschauung" auf, die „gegenwärtigen und ... zukünftigen Möglichkeiten der Biogenetik aufzugreifen" und „die gewaltigen schöpferischen Möglichkeiten für eine glücklichere und gesündere Welt zu nutzen" Ausgangspunkt der Tagung, an der die Elite der englischen und amerikanischen Biologen — darunter Träger höchster internationaler Ehrungen — teilnahm, war die insbesondere von H. J. Muller bekundete — von anderen, wie J. Huxley und J. Lederberg, geteilte — Feststellung: „Wahrscheinlich haben etwa 20 v. H.der menschlichen Bevölkerung, wenn nicht mehr, einen durch Mutation in der unmittelbar vorhergehenden Generation entstandenen genetischen Fehler mitbekommen, zusätzlich zu der weit größeren Zahl von Fehlern, die aus früheren Generationen vererbt wurden. Wenn das richtig ist, man aber genetische Verschlechterungen vermeiden will, dann dürfen in jeder Generation zu etwa 20 v. H.der Bevölkerung, die schwerer als der Durchschnitt mit genetischen Fehlern belastet sind, entweder nicht bis zur Geschlechts-reife gelangen; wenn sie aber leben, so dürfen sie sich nicht fortpflanzen. Sonst muß die Belastung durch genetische Fehler, die diese Population aufweist, zwangsläufig größer werden" Deshalb ist nach Auffassung der Teilnehmer an dem Symposion die humanitäre Heilkunst der falsche Weg zur Rettung des Menschen.
Zur Erhaltung des menschlichen Genotyps habe die Genetik einen weltgeschichtlichen Auftrag, den es — was insbesondere der Nobelpreisträger des Jahres 1958, J. Lederberg, als Verpflichtung ansieht — zu verwirklichen gelte: „Die Umstände menschlicher Fortpflanzung sind dunkel: die Beeinflussung der Fruchtbarkeit durch wissenschaftliche Faktoren, die neuen Umweltangriffe auf unsere Gene, der medizinische Schutz gegenüber früher tödlichen Defekten. Aber selbst wenn diese Mängel erträglich oder neutralisiert oder wenn sie auch nur falsch dargestellt wären, verschwenden wir nicht trotzdem auf sündhafte Weise einen Schatz des Wissens, wenn wir die schöpferischen Möglichkeiten genetischer Verbesserungen vernachlässigen? Muß nicht die gleiche Kultur, die auf einmalige Weise die Möglichkeit globaler Vernichtung geschaffen hat, auch ein Höchstmaß an intellektueller und sozialer Einsicht schaffen, um ihr eigenes überleben zu sichern?"
Den eigentlichen Antrieb der Biogenetiker enthüllt die immer wieder gestellte Frage, „wozu sind die Menschen da?" und die Quantisierung des Menschen als „Biomasse" dementsprechend qualifizieren sie die Biologie als „biologische Konstruktionstechnik" oder sogar als „Chromosomenchirurgie" Diese frivolen Kennzeichnungen gipfeln in der zynischen Bemerkung eines Fortpflanzungsphysiologen: „Sicher ist die zahlenmäßige Gleichheit der Geschlechter ein erbmäßiges Überbleibsel von den niederen Wirbeltieren, bei denen das Fortpflanzungspotential der beiden Geschlechter nahezu gleich war und bei denen deshalb zur maximalen
Fortpflanzung gleiche Zahlen für beide Geschlechter erforderlich waren. So besehen, ist das Verhältnis von 1: 1 bei Säugetieren eine Art biologischer Anachronismus; es stellt angesichts des großen Unterschieds im Fortpflanzungspotential der beiden Geschlechter einfach eine Verschwendung männlicher biologischer Masse dar, wenn man es einmal im Hinblick auf maximale Fortpflanzung betrachtet, man könnte sagen, daß es allein hier in England etwa eine Million Tonnen überflüssiger Männer gibt."
Bei allem Mut sehen doch die Genetiker die „direkte mutagene Behandlung des genetischen Materials" technisch noch für verfrüht an. H. J. Muller hegt zwar Verständnis für diejenigen, die „von den Begrenzungen und dem Flickwerk aller natürlichen Organismen" enttäuscht sind und die deshalb fordern, „es müßten völlig künstliche Wesen geschaffen werden, die den Menschen ersetzen" sollten. Er fordert daher die Enttäuschten sogar auf: „Mögen sie ihre Kunststücke ausprobieren, je mehr, desto besser". Aber — so fährt er fort — „ich bin in dieser Hinsicht sehr konservativ. Mir scheint, daß auch in Zukunft noch auf lange Sicht...der Mensch in seiner gegenwärtigen besten Form ... wahrscheinlich nicht durch künstliche Wesen übertroffen werden kann" Deshalb bietet H. J. Muller zur Verbesserung der genetischen Konstitution als Ausweg an, in der Zwischenzeit die „gegenwärtig zur Verfügung" stehenden „gröberen Methoden" anzuwenden: zunächst Selektion der Fortpflanzungsträger durch künstliche Befruchtung mit Samen „von Spendern hervorragender Fähigkeiten und Anlagen", „des Herzens, des Geistes und des Körpers"; die Samenauswahl soll aus tiefgefrorenen Spermabänken, die später durch Ovarien-Bänke ergänzt werden sollten, erfolgen — dies alles mit dem Ziel der „Ausarbeitung von Verfahren einer normalen Entwicklung von Keimzellen außerhalb des Körpers"
Eine wesentlich fortschrittlichere Einstellung legt die auch schon bei diesem Symposion auftretende zweite Genetikergeneration an den Tag. Für sie gilt der Erbmechanismus schon als enträtselt; der Mensch ist definierbar geworden. Von keinem Geringeren als dem Nobelpreisträger des Jahres 1958 stammt die berühmte Definition des Menschen: „Genotypisch besteht er jedenfalls aus einer 180 Zentimeter langen, bestimmten molekularen Folge von Kohlenstoff-, Wasserstoff-, Sauerstoff-, Stickstoff-und Phosphor-atomen — das ist die Länge der DNS, die im Kern des Ursprungseies und im Kern jeder reifen Zelle zu einer dichten Spirale gedreht ist, die fünf Milliarden gepaarte Nukleotide lang ist."
Ausgestattet mit diesem Wissen und einem ungezügelten Fortschrittsglauben hält J. Lederberg in unmittelbarer Zukunft die „technische Lenkung der menschlichen Entwicklung" für möglich: „Ich könnte mir vorstellen, daß wir ...sehr bald die Grundlagen besitzen werden, eine Technik zu entwickeln, um beispielsweise die Größe des menschlichen Gehirns durch vorgeburtliche oder frühe nachgeburtliche Eingriffe zu regulieren.“
Die hinter allen geäußerten Vorstellungen sich ergebende Sinn-und Wertfrage einer Genetik stürzte die Tagungsteilnehmer in Schwierigkeiten. So räumte J. Huxley zwar ein, daß es „ein fixiertes eugenisches Ideal" nicht gebe Gleichwohl wurden von J. B. S. Haldane — einem mit internationalen Preisen ausgezeichneten Professor für Genetik — in seinem programmatischen Beitrag „Biologische Möglichkeiten für die menschliche Rasse in den nächsten zehntausend Jahren" neue „genetische" Wertvorstellungen entwikkelt. Für ihn zwingt die angesichts von Atomkrieg und Weltraumfahrt unausweichliche Forderung nach Strahlenresistenz und Keim-freiheit zu Änderungen des menschlichen Genotyps; dieser neue Mensch könnte erreicht werden durch Synthetisierung neuer Gene und deren Einfügung in menschliche Chromosome Darüber hinaus geben ihm die Versuche von H. J. Muller und Pontecorvo, Bruchstücke der Genome einer Fliegenart in eine andere einzufügen, Anlaß zu der Hoffnung, daß „mit Hilfe solcher Pfropfprozesse im Zellkern ... unsere Nachkommen viele wertvolle Eigenschaften anderer Arten übernehmen, ohne ihre spezifisch menschlichen Eigenschaften zu verlieren." Nach J. B. S. Haldane's systematischer Spekulation könnten der menschlichen Rasse durch Pfropfen von Affengenen — er bevorzugt dabei „Affen mit Greifschwänzen" — Eigenschaften angezüchtet werden, die dem Menschen ein Leben in einem schwächeren Schwerefeld, wie beispielsweise in einem Raumschiff, erlauben würden. Er sieht sogar in „Menschen, die ihre Beine durch Unfall oder Mutation verloren haben,... besonders geeignete Astronauten, denn die Beine des Menschen und ein großer Teil des Beckens sind in diesem Fall nicht nötig. Wenn man ein Medikament entdeckte, ähnlich dem Thalidomid (siel), aber nur auf die Beine und nicht auf die Arme wirkend, könnte man die Mannschaft des ersten Raumschiffes zum Alpha Centauri damit behandeln. Das Gewicht und der Bedarf an Nahrung und Sauerstoff würde dadurch vermindert. Besser noch wäre eine regressive Mutation zur Gestalt unserer Vorvorfahren im mittleren Pliozän mit Greiffüßen und einem affenähnlichen Becken. In nächster Zukunft wird der Mensch schwerlich hohen Gravitationsfeldern ausgesetzt sein, wie sie auf der festen oder flüssigen Oberfläche des Jupiters bestehen. Wahrscheinlich wäre es unter solchen Bedingungen gut, vier Beine oder wenigstens sehr kurze Beine zu haben. Ich würde auf dem Jupiter einen achondroplastisehen einem normalen Menschen vorziehen."
Diese „spekulativen Erwartungen" stießen — das muß hinzugefügt werden — bei einigen wenigen Tagungsteilnehmern auf Widerspruch. Insbesondere C. G. Clark erschreckte die Ein-und Aussichten der Biogenetik: „Offenbar beginnt eine zweite Periode eugenischer Doktrinen, die von einigen glänzenden, aber irregeleiteten Wissenschaftlern gefördert wird und die, wie ich fürchte, ebenfalls ihre Scharlatane erzeugen wird." Und selbst der fortschrittsgläubige Nobelpreisträger F. H. C. Crick befürchtete, daß die Biologie im Begriff sei, „die traditionellen Grundlagen unserer ethischen Anschauungen zu zerstören" Die neue „Bio-Wissenschaft" wurde von nicht wenigen Tagungsbeobachtern mit Kritik bedacht. So hat bei einem Symposion über „Das beschädigte Leben" in München im Jahre 1969 der Biologe Ä Portmann unter Zitation des Ciba-Symposions* ausgesprochen, „wir stünden in der finsteren Neuzeit, die unter vielen schrecklichen Projekten biotechnische Menschenzüchtung plane"
III. Zum gegenwärtigen Stand genetischer Manipulation des Menschen
Nach diesem für eine verfassungsrechtliche Würdigung der genetischen Manipulation des Menschen notwendigen Gang durch die kurze Wissenschaftsgeschichte der Biogenetik müssen wir uns die Frage stellen: Wo stehen wir heute im Hinblick auf das ins Auge gefaßte Ziel der Molekularbiologen, ein gott-gleiches Wesen nach ihrem Bilde zu erschaffen, vor dem „the mythical divinities of the past will be seen more and more ridiculous"? Zunächst fragen wir uns, was an gelenkter Vererbung bislang möglich ist, wieweit also H. J. Mullers Stufenplan realisiert worden ist. 1. Gelenkte Vererbung bei natürlich gegebenem Keimmaterial Weit verbreitet ist die artifizielle heterologe Insemination bei Frauen, deren Befruchtung mit Samen fremder, meist anonymer Herkunft erfolgt. Hierbei geschieht die Spender-auswahl im Hinblick auf höchst spezielle Leistungserwartungen und mit Hilfe von Tiefkühlsamenbanken über die Lebenszeit des Spenders hinaus; ein Gynäkologe qualifiziert mit kaum mehr zu überbietender Naivität die Samenspender als durchwegs einer „guten Intelligenz" angehörend, sie „sehen akzeptabel aus und sollen auch positive charakterliche Eigenschaften haben" In den USA werden auf diesem Wege jährlich 5 000 bis 10 000 Kinder hervorgebracht. In der Bundesrepublik Deutschland hat die heterologe Insemination, obwohl deren rechtliche Voraussetzungen immer noch zweifelhaft sind > in den letzten Jahren deutlich zugenommen.
Auch die Befruchtung des menschlichen Eies in vitro und dessen Aufzucht in vitro für etwa zehn Tage war und ist auch weiterhin Gegenstand wissenschaftlicher Experimente. Derartige Versuche mit dem Ziel, mehr Aufschluß über die Schwierigkeiten bei der sogenannten Reagenzglasbefruchtung zu erhalten oder die Entstehung des Mongolismus zu studieren, hat der englische Physiologe R. Edwards schon gegen Ende der sechziger Jahre durchgeführt und bis in die heutige Zeit fortgeführt.
Diese Experimente werden durchwegs für ethisch unverantwortbar gehalten. In Dänemark hat allerdings das „Wissenschaftsethische Komittee" ausdrücklich das Experiment mit einem in vitro befruchteten menschlichen Ei gutgeheißen; auch in Großbritannien hat eine Regierungskommission empfohlen, daß Embryos in den ersten 14 Tagen nach der Zeugung für Forschungszwecke benutzt werden dürfen.
Die dritte Phase gelenkten Vererbungsgeschehens,
das Einsetzen bzw. Einpflanzen des in vitro befruchteten Eies in die Mutter,
wurde im Jahre 1970 durch Versuche des Gynäkologen P. C. Steptoe und des Physiologen R. J. Edwards eingeleitet. Am 25. Juli 1978 um 23. 47 Uhr war es soweit; das Mädchen Louise Brown wurde als erstes in der Geschichte der Medizin außerhalb des Mutterleibes empfangene Kind in Oldham/Nordengland geboren. Nach dem von Steptoe und Edwards gegebenen Bericht in der Zeitschrift „The Lancet" entnahmen sie das Ei aus den Eierstöcken, befruchteten es außerhalb des Mutterleibes mit dem Sperma des Ehemannes, ließen es im Brutschrank zum Embryo entwickeln und pflanzten es schließlich nach drei Tagen in die Gebärmutter ein Bald konnten die Gazetten, die darüber wie bei der ersten Herztransplantation im Jahre 1968 in Form einer Sportreportage berichteten, die Geburt des zweiten „Retortenbabys" melden: Es wurde am 2. Oktober 1978 in Kalkutta geboren. Nach Zeitungsberichten hat man die Namen der Eltern des zweiten Retortenbabys verschwiegen, um deren Heiratsaussichten in der konservativen Hindu-Gesellschaft Indiens nicht zu gefährden. Das dritte Baby „aus der Retorte" kam am 15. Januar 1979 in Glasgow zur Welt. Am 23. Juni 1980 gelang es dem Fortpflanzungsphysiologen A Lopata, in Melbourne das vierte „Retortenbaby" zur Welt zu bringen. Dieser Erfolg gab bald Anlaß, in Norfolk im amerikanischen Bundesstaat Virginia eine Klinik für sogenannte Retortenbabys zu eröffnen; sie brauchte sich über einen mangelnden Zuspruch nicht zu beklagen, haben sich doch sofort 500 Frauen in die Warteliste eintragen lassen. Immerhin haben bis April 1982 auf dem Wege des sogenannten Embryo-Transfers schon insgesamt 26 Kinder das Licht der Welt erblickt.
Am 17. April 1982 konnte die Presse schließlich auch die Geburt des ersten deutschen „Retortenbabys" melden. Aus Anlaß dieses Ereignisses hat der hierfür verantwortliche Chefarzt der Universitätsklinik Erlangen-Nürnberg bekundet, daß es bei bisher 40 Versuchen in Erlangen nur in 18 Fällen gelungen sei, einen in vitro gezeugten Zellembryo in die Gebärmutter zu verbringen, wobei es nur bei vier Frauen im Alter zwischen 20 und 30 Jahren zu Schwangerschaften kam Auch dieser Erfolg hat — unbeschadet einer noch nicht gegebenen rechtlichen Absicherung — der Erlanger Universitätsfrauenklinik eine Warteliste beschert, auf der bereits mehr als 1 500 Frauen für ein Retortenbaby vorgemerkt sein sollen.
Inzwischen sind vor allem in Australien bei der künstlichen Befruchtung in vitro und bei der Übertragung der so gezeugten Embryonen weitere „Fortschritte“ erzielt worden So werden, um die Chancen der Schwangerschaft zu erhöhen, nicht selten nach der künstlichen Befruchtung den Müttern mehrere (in einem Fall bis zu vier) Embryos eingepflanzt; so sind im Januar 1984 zum ersten Mal sogenannte Retorten-Vierlinge in Melbourne geboren worden. Zudem versuchen — in einem vorschnellen Analogieschluß von der Zoologie auf die Anthropologie (!) — der aus der Veterinärmedizin kommende A. Tronnson und der Gynäkologe J. Wood die bei den Tieren angewandte Superovulation auch für die menschliche Fortpflanzung nutzbar zu machen. Diese Methode hätte den Vorteil, Embryonen vorübergehend einzufrieren und sie dann als aufgetaute menschliche Embryonen zu implantieren, falls der erste Embryonentransfer scheitert. Nach einem Bericht der FAZ vom 1. April 1981 sind zwei der nach dem Auftauen äußerlich-nicht wesentlich (!) veränderten Embryonen übertragen worden, sie wurden allerdings von den „Müttern" nicht akzeptiert; inzwischen soll aber auch dieses Experiment geglückt sein
Von alters her hat in diesem Zusammenhang ein Gedanke den menschlichen Geist beschäftigt, nämlich die Möglichkeit, einen Embryo aus dem Mutterleib herauszunehmen und in eine „Stiefmutter" einzupflanzen. In zahlreichen indischen Legenden wird erzählt, wie ungeborene Kinder — um sie vor Nach-stellungen zu schützen oder um ihnen eine vornehme Geburt zu sichern — in andere Frauen verpflanzt wurden. Auch in der griechischen Mythologie wird von Dionysos, dem Sohn des Zeus und der Senele, berichtet, er sei nach dem vorzeitigen Tod der Mutter im Oberschenkel des Zeus ausgetragen worden. Dieses Wunschbild einer Verpflanzung von menschlichen Embryos ist nunmehr Wirklichkeit geworden. Allein in den USA sind bis Mitte 1983 75 Kinder von sogenannten Surrogate Mothers (Ersatzmütter) geboren worden. Das in vitro befruchtete Ei wird nicht in die Mutter, von der das Ei stammt, sondern in eine Gast-oder Wirtsmutter implantiert. Dieser den Familienbegriff völlig deformierende Embryo-Transfer hat in den USA sehr schnell eine kommerzielle Verbreitung erfahren. Landesweit bieten inzwischen insgesamt 17 Agenturen die Vermittlung von Leihmüttern an. Die Summen, die an Ersatzmütter für ihre Dienste bezahlt werden, schwanken zwischen 1 000 und 35 000 Dollar Auch in der Bundesrepublik soll das „Mütter-Leasing-Verfahren" praktiziert werden; so berichtete „Der Spiegel" am 7. Februar 1983 — allerdings ohne Quellenangabe —, daß es „schätzungsweise schon ein Dutzend Leihmütter-Kinder" in der Bundesrepublik Deutschland gäbe
Über die letzte Stufe gelenkten Vererbungsgeschehens — die Befruchtung des Eies in vitro sowie deren Aufzucht in vitro (somit ohne Beteiligung einer weiblichen Person!) — liegen keine gesicherten Erkenntnisse vor. Indes wird selbst in seriösen Zeitschriften über einen vor Jahren von dem Italiener D. Petrucci (Universität Bologna) durchgeführten Versuch berichtet: Ihm sei es 1961 gelungen, menschliche Eizellen zu befruchten und sie in Kunststoffbehältern zu fünfwöchigen Embryonen (Gliederung bis zu 64 Zellen) aufzuziehen Von einem Biologenteam des Aka-demischen Instituts für experimentelle Biologie in Moskau wird kolportiert, daß es ihm gelungen sei, 250 in vitro befruchtete menschliche Eier in der Brutschale über zwei Monate am Leben zu erhalten, einen Fötus sogar bis zu sechs Monaten. Selbstverständlich hat sich auch die Regenbogenpresse dieser „Vision" bemächtigt und vom Utilitarismus durchdrungenen Medizinern die Äußerung in den Mund gelegt, daß „Hunderttausende von Geburtsfehlern verhindert werden (könnten), wenn die Entwicklung des Embryos statt im Mutterleib in einem Glaskasten vor sich ginge". Den altmodischen Menschen, die eine Retortengeburt als Erniedrigung betrachten, stellte ein Blatt nachfragestimulierend sogar die Frage: „Hand aufs Herz: Wie viele Frauen gibt es heute noch, die den Gebrauch von arbeitserleichternden Haushaltsgeräten ablehnen?" In medizinischen Kreisen werden in der Tat ethische Bedenken regelmäßig durch das Argument konterkariert, daß der dringende Wunsch nach einem Kind die Entscheidung für das gelenkte Vererbungsgeschehen rechtfertige
2. Veränderung des Keimmaterials in seiner Struktur
Schon anläßlich des Ciba-Symposions im Jahre 1962 zeigte sich deutlich, daß sich die „zweite Generation" der Biogenetiker die Schaffung des „neuen Menschen", des Über-Menschen, nicht von einer mehr oder weniger gelenkten Paarung von natürlich vorgegebenem Keimmaterial verspricht. Die Möglichkeit, dieses Ziel zu erreichen, sehen die fortschrittsgläubigen Biogenetiker vielmehr in der Veränderung der Struktur des Keimmaterials. Daher stellt sich die Frage, wieweit inzwischen die Experimente mit und an dem genetischen Material gediehen sind. Ist es möglich, Gene umzuwandeln, Gene auszutauschen, ja sogar Gene zu konstruieren? Wie weit sind wir noch entfernt von der Realisierung des von J. Lederberg in einer Wochen-zeitschrift für das breite Publikum angeführten Beispiels einer gezielten genetischen Veränderung eines Kindes mit vier Armen und Händen und einem Gehirn, das diese absolut zu beherrschen vermag?
Daß es in Reichweite gerückt ist, das — um mit W. Heisenberg zu sprechen — Unteilbare teilbar zu machen, belegen die seit Anfang der siebziger Jahre gemachten Fortschritte in der künstlichen Herstellung von Genen. Vor dem Hintergrund der Watson-Crick-Theorie, die eine neue Dimension, ein tieferes Verständnis der Gesetze des Lebens eröffnet hat, war es nur noch eine Frage der Zeit, wann es gelingen würde, ein Gen künstlich herzustellen. Im Jahre 1970 war es dann soweit: Unter der Leitung des 1968 für seine Arbeiten zur Interpretation des genetischen Codes mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Biochemikers H. G. Khorana schaffte eine Arbeitsgruppe der Universität von Wisconsin in Madison — fußend auf einer Arbeit von R. Holley — das Un-Glaubliche: Nach siebenjähriger Arbeit hat dieses Forschungsteam einzelne Nukleotide eines 77teiligen Gens hergestellt und diese dann mit Hilfe eines natürlichen Enzyms (DNA-Ligase) zu einer Kette vereinigt somit im Labor ein Gen hergestellt, das nach Übertragung in eine Bakterienzelle auch die erwartete biologische Aktivität entfaltete. Damit war der entscheidende Schritt getan, die Erbträger des Organismus, von denen alle Lebensprozesse gesteuert werden, vollständig aus einfachen chemischen Grundsubstanzen herzustellen.
H. G. Khorana schwebte die Idee vor, die gebräuchlichsten Gene künstlich zu erzeugen (und zu lagern) und in Fällen von Erbkrankheiten einzusetzen, im Wege einer noch zu (er-) findenden Slip-in-Methode. Allzu große Hoffnungen hat er jedoch mit den Worten gedämpft, „es lassen sich vorläufig noch keine menschlichen Gene herstellen"; mit dem Experiment sei lediglich der Beweis geliefert, daß die DNS tatsächlich der Träger der Erbin-formation ist. Es ist allerdings derselbe H. G. Khorana, der am 3. Juni 1970 vor Reportern der „Hindustan Times" die Botschaft verkündete: „In fernerer Zukunft könnte diese Kenntnis uns erlauben, Individuen genetisch zu planen — das heißt, Leute zu produzieren, die Mustern entsprechen: Athleten oder Intellektuelle .. ."
Neben diese schrittweise, außerordentlich schwierige chemische Synthese von Genen, wie sie H. G. Khorana versucht hat, trat schon im Jahre 1972 die enzymatische Gensynthese, bei der die Gen-Produktion mittels neu entdeckter Enzyme (Biokatalysatoren) erfolgt. Auf diese Weise gelang es Phil Leder von den National Institutes of Health in Bethesda/USA ein Gen im Reagenzglas aufzubauen. Neben Leder haben in jener Zeit auch S. Spiegel-mann von der Columbia University und D. Baltimore vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) enzymatisch einzelne Gene synthetisiert. Einer Arbeitsgruppe vom Institut für Organische Chemie und Biochemie der Universität Hamburg gelang 1975 der Aufbau eines Gens für die Synthese eines blutdruckregelnden Hormons. Auch in diesem Fall war die Synthese des Gens mit chemischen Mitteln allein nicht zu lösen; die Verschweißung der Nukleotide war nur biochemisch mit Enzymen möglich.
Inzwischen ist der „chemische Zweig" der genetischen Manipulation völlig in den Hintergrund getreten. Durch die Verwendung neu entdeckter Enzyme ist es prinzipiell möglich geworden, jedwede Erbsubstanz beliebig miteinander zu kombinieren. Die Voraussetzungen für die nunmehr Wirklichkeit gewordene , Gen-Chirurgie'wurden mit der Entdeckung der sogenannten Restriktions-Enzyme geschaffen. Den Nachweis, daß die Restriktions-Enzyme das physiologische Skalpell in der Hand der Gen-Chirurgen darstellen, lieferte schon gegen Ende der siebziger Jahre der Schweizer W. Arber. Hierfür erhielt er zusammen mit H. Smith, der den Wirkungsmechanismus der Restriktions-Enzyme vollkommen aufklärte, und D. Nathans, der die Erkenntnis von Arber und Smith erstmals anwendete, im Jahre 1978 den Nobelpreis
Die Restriktions-Enzyme werden von den verschiedensten Bakterien produziert. Sie können die DNS des Erbmaterials erkennen und so spalten, daß die von den verschiedenen Organismen stammenden DNS-Stücke wie genormte Bausteine oder vorfabrizierte Fertigteile genau aufeinanderpassen. Mit anderen Enzymen, den Ligasen, können diese Bruchstücke auf einfache Weise fest und dauerhaft miteinander verbunden werden. Diese Eigenschaften der Restriktions-Enzyme nutzend ist es beispielsweise gelungen, die DNS von Fröschen und Fruchtfliegen auf Bakterien-DNS zu übertragen
Damit ist der Traum vieler Biogenetiker Wirklichkeit geworden: Die Erbinformationen der verschiedensten Lebewesen können beliebig miteinander gekoppelt werden. Es lassen sich, zumindest in einzelne Zellen — seien es nun einfache Bakterien oder auch Säugetierzellen — zusätzliche Erbanlagen einschleusen. Durch die Kombination der Erbsubstanz, der DNS, können somit Baupläne für völlig neue Kreuzungen von soge-nannten Chimären oder Hybriden im Reagenzglas konstruiert werden. Die jüngsten Fortschritte in der Mikrobiologie haben damit die Vorstellung zerstört, daß die biologische Evolution nur durch die „Lebenskräfte" in lebender Substanz, allein durch die in der Natur ablaufenden Prozesse bestimmt werde. Evolution ist von nun an auch im Reagenzglas möglich.
Die Mikrobiologie hält damit den Schlüssel zu einem offenen System, das die zwischen den Arten bestehende (Fortpflanzungs-) Barriere überwindet, in der Hand. Der hin und wieder von Biogenetikern gespendete Trost, vorläufig sei es noch nicht möglich, fremdes Erbmaterial in die komplizierten Chromosomen höherer Lebewesen, insbesondere des Menschen, einzubauen, hilft nicht mehr. Schon im Jahre 1980 ist — und damit wurde das Tabu gebrochen — erstmals mit genchirurgischen Verfahren am Menschen experimentiert worden. Der amerikanische Internist und Molekularbiologe M. J. Cline von der Universtity of Los Angeles hat am Hadassa-Krankenhaus in Jerusalem und an der Universitätspoliklinik in Neapel bei zwei Patienten— wohl allerdings erfolglos — versucht, eine schwere Blutkrankheit, die Thalassämie, durch die Übertragung von synthetisch gewonnener menschlicher Erbsubstanz zu beheben
Angesichts dieser „Fortschritte" scheint prinzipiell der Weg zur genetischen Vervielfältigung eines Menschen frei zu sein, zumal schon vor der Entdeckung der Restriktions-Enzyme mit Kerntransplantationen experimentiert wurde. Bei diesem Verfahren wird der Kern einer unbefruchteten Eizelle mikrochirurgisch durch eine Pipette entfernt oder durch ultraviolettes Licht abgetötet. In diese Eizelle wird dann der Kern einer normalen Körperzelle eingesetzt, der einen vollständigen diploiden Chromosomensatz enthält. Aus Froscheiern, in die die Kerne der Darmzellen von Fröschen implantiert werden, entwickeln sich normale, geschlechtsreife Frösche. Diese Experimente — zuerst von den Amerikanern R. Briggs und Th. J. King, später von dem Oxforder Biologen J. B. Gurdon ausgeführt — haben erstmals gezeigt, daß in jeder Körper-zelle die gesamte genetische Information enthalten ist und nötigenfalls aktiviert werden kann Damit kann eine genetisch absolut identische Reproduktion eines lebenden oder sogar eines bereits verstorbenen Wesens — falls davon noch intakte Zellen aufzutreiben sind — vorgenommen werden.
Das Beunruhigende dieser Experimente, die mit Rücksicht auf den Einsatz von Restriktions-Enzymen wesentlich effizienter gestaltet werden können liegt darin, daß sie es ermöglichen, unzählige identische Kopien eines Lebewesens hervorzubringen. Weil alle diese Organismen von einer einzigen Zellpopulation oder einem Klon abstammen, bezeichnet man diese Multiplikation von Individuen ein und derselben genetischen Konstitution auch als Kloning. Ob dieses Kloning auch einmal beim Menschen möglich sein wird, kann derzeit nicht abschließend beurteilt werden — regelmäßig spricht man von Schwierigkeiten vorwiegend technischer Art, theoretisch sei dies aber durchaus möglich! Doch die Utopie gewinnt zunehmend Gestalt. Einer in diese Richtung gehenden Phantasie sind schon deshalb keine Grenzen gesetzt, weil gegen Ende der siebziger Jahre die Story von einem kopierten amerikanischen Millionär den Blätterwald erschütterte Angeblich soll es Forschern in den USA gelungen sein, durch Klonen die Kopie eines Mannes zu erzeugen. Das Wunder soll in Kalifornien geschehen sein: Ohne Zeugung sei ein Homunculus, ein erbidentischer Menschenmehrling entstanden, die genaue Kopie seines Vaters, der für das Wunschkind nichts als eine Zelle seines Körpers gespendet habe.
Ob der uns von D. Rorvik übermittelte Bericht — der New Yorker Verlag Lippincott qualifiziert ihn als die Geschichte des aufregendsten biologischen „Experiments des 20. Jahrhunderts" — wahr oder nicht wahr ist, ob die Hinweise auf erfolgreiche Klonierungsversuche an Menschen in dem Beitrag „Diploid Nuclear Replacemen in Mature Human over with Cleavage", veröffentlicht im American Journal of Obstetrics and Gynecology 1979 belegt sind oder nicht, ist nicht von Bedeutung. Entscheidend ist vielmehr, daß D. Rorvik mit seinem Buch auf eine für das Kloning von Menschen empfängliche Gesellschaft trifft 3. Industrielle Verwertung der Gentechnologie Mit der Entdeckung der Restriktions-Enzyme ist die Molekularbiologie inzwischen weltweit aus dem Stadium der experimentellen Forschung herausgetreten. Insbesondere in den USA, aber auch in Japan bemächtigt sich die chemische Industrie — in der Nachfolge der sogenannten klassischen Biotechnologie — der sogenannten Gentechnologie Im Vordergrund industrieller Bemühungen steht dabei keineswegs der Gedanke, daß genetische Defekte — z. B. das Fehlen eines lebenswichtigen Enzyms oder eine Erbkrankheit — durch Einfügen eines künstlich hergestellten Gens geheilt werden könnten. Auf der einen Seite glaubt die Industrie, mit Hilfe der Molekularbiologie im Bereich der Landwirtschaft — ungeachtet der Frage, ob dadurch Un-gleichgewichte im Ökosystem „Boden" auftreten können — eine bessere Nährstoffausnutzung sowie einen besseren Schutz gegen Schädlingsbefall erreichen zu können. Auf der anderen Seite sieht die Industrie mittels des sogenannten genetic-engineering insbesondere die Chance, heute noch sehr teure Medikamente herstellen zu können. In diesem Zusammenhang sind insbesondere zu nennen das Insulin (Hormon zur Behandlung der Zuckerkrankheit, das bisher aus tierischen Bauchspeicheldrüsen gewonnen wurde), der Wirkstoff Interferon (= menschliche Eiweißstoffe, die in der Bekämpfung von Viruskrankheiten eingesetzt werden können) sowie neuartige Antibiotika und bestimmte Hormone. Besonders viel (gewinnmaximie-rende) Phantasie rankt sich dabei um den Wirkstoff Interferon als Krebsheilmittel Insoweit ist es nicht verwunderlich, daß seit 1978 in den USA etwa bis zu 200 Unternehmen — regelmäßig unter Beteiligung von Wissenschaftlern, die ihr biotechnisches Know-how in der Produktion anwenden wollen und somit das wissenschaftliche Standes-gebot, Erkenntnisse zu publizieren und zum öffentlichen Besitz zu machen, umgehen — gegründet worden sind, die sich ganz oder zumindest zu einem bedeutenden Teil mit Gentechnologie beschäftigen.
Daß die Aussichten der Gentechnologie von den großen Chemiekonzernen als glänzend eingeschätzt werden, zeigen die Engagements vieler renommierter Unternehmen der Branche, vor allem aber die Bemühungen um Patentschutz für genchirurgische Verfahren. Der Biotechnik wird sogar die Schrittmacher-funktion für die hochtechnologische Revolution, die die USA und Japan noch stärker zu Zentren der politischen und ökonomischen Macht werden lassen wird, zuerkannt, demgegenüber die Bundesrepublik abzustürzen drohe
Ob dies zutrifft, sei dahingestellt; mit dem üblichen Time-Lag hat die chemische Industrie in der Bundesrepublik nachgezogen Am 15. Mai 1981 kaufte sich die Hoechst AG über einen Vertrag mit der medizinischen Fakultät der Harvard University in die amerikanische Gentechnologie ein — im übrigen ein Zeichen mit Signalwirkung für das Forschungsklima in der Bundesrepublik Deutschland Die BASF engagierte sich hingegen mit einem Finanzbeitrag an den Genforschungsarbeiten der Universität Heidelberg — auch dies ein Engagement mit erheblicher Multiplikatorwirkung Das Land Berlin und die Schering AG sind sogar übereingekommen, ein gemeinsames Institut zu gründen, das sich mit der Forschung im Bereich der Mikrobiologie, der Biochemie und der molekularen Genetik befaßt. Dem für die Hochschulforschung zuständigen Wissenschaftssenator geht es dabei auch darum, im Bereich der Gentechnologie vorhandene „Berührungsängste" abzubauen Auch mittelständische Pharmaunternehmen engagieren sich heute bereits in zunehmendem Maße im Bereich der Gentechnologie.
Schlußbemerkung
Angesichts der aufgezeigten Manipulationsprogramme und -prognosen, insbesondere aber in Kenntnis des rasanten Fortschritts in der Molekularbiologie ist es nicht verwunderlich, daß wiederholt die Forderung aufgestellt worden ist, die Gen-Forschung mit einem generellen Verbot zu belegen. Gegenüber dem aus dem Gefühl moralischer Entrüstung geborenen Ratschlag an den Gesetzgeber, der Gen-Forschung rechtzeitig ein „Nein" entgegenzusetzen, ist gerade aus der Sicht des Verfassungsrechts Vorsicht geboten