Die Katholische Kirche gehört zu den, wie man sagt, gesellschaftlich relevanten Kräften in der Bundesrepublik Deutschland. Das zeigt sich u. a. daran, daß kirchliche Ereignisse und Vorgänge in den Massenmedien beachtet werden oder daß andere Gruppen — von den Gewerkschaften über die politischen Parteien bis hin zu den Regierungen — das Gespräch mit der Kirche über wichtige Fragen der Gestaltung des kulturellen, wirtschaftlichen, sozialen und politischen Lebens suchen.
Dies wird auch deutlich an der öffentlichen Resonanz, die die Äußerungen des Papstes, der Deutschen Bischofskonferenz oder des Zentralkomitees der deutschen Katholiken zu Ordnungsproblemen in Gesellschaft und Politik finden, die Ereignisse und Vorgänge im Leben der Kirche hier und in anderen Ländern auslösen. Man braucht nur an die Reisen des gegenwärtigen Papstes zu denken, der in den Spannungsfeldern von Kirche, Gesellschaft und Politik etwa in Lateinamerika, in verschiedenen Ländern Afrikas und Asiens, um nur diese zu nennen, tätig wird; an die Vorgänge in Polen, wo mit der Gründung der Gewerkschaft der Solidarnosc erneut die weitgehende Identität zwischen Kirche und Nation hervorgetreten ist, welche die kommunistische Herrschaft, Propaganda und Erziehung nicht aufzulösen in der Lage waren; an die Erklärungen der deutschen, nordamerikanischen und französischen Bischofskonferenzen zu Fragen der Sicherung des Friedens und der Abrüstung; an die Bedeutung, welche die Probleme der Abtreibung oder der Wiedereinführung des Schulgebetes in den staatlichen Schulen im Wahlkampf in den Vereinigten Staaten von Amerika erlangt haben; an die Massendemonstration in Paris zur Erhaltung des freien kirchlichen Schulwesens, an der sich mehr als 1, 5 Millionen (!) Bürger aus allen Regionen Frankreichs beteiligt haben.
Das äußere Erscheinungsbild der Katholischen Kirche darf freilich nicht über die tief-greifenden Veränderungen hinwegtäuschen, die in den zurückliegenden Jahrzehnten im Bewußtsein und in den Verhaltensweisen der Katholiken eingetreten sind und die auch die innere Kraft und Struktur der Kirche erfaßt haben. Auf der anderen Seite haben sich aber auch jene Erwartungen nicht erfüllt, daß der Einfluß von Religion und Glauben, mithin auch der Einfluß der Kirche auf die Gesellschaft immer weiter zurückgehen würde; daß die von der Kirche verbürgten Werte und Normen immer weniger einen öffentlichen Anspruch, sondern nur noch private Geltung hätten-, daß die Kirche in einer säkularen Gesellschaft über kurz oder lang jene Positionen, die ihr im Laufe der Geschichte zugewachsen waren, räumen und sich mit einer „privaten" Randexistenz begnügen müsse. Die Vision einer rein säkularen Gesellschaft, von den einen befürchtet, von den anderen herbeigewünscht, ist nicht Wirklichkeit geworden.
Die folgenden Überlegungen wollen einige wichtige Elemente und Linien aufzeigen, die für die gesellschaftliche Präsenz der Katholischen Kirche in der Bundesrepublik Deutschland wichtig sind. Neben einer kurzen Rückblende auf die Situation nach 1945 sind es zum einen die Veränderungen in der Gesellschaft und in der Kirche nach dem Abschluß der Wiederaufbauphase, zum andern die Entwicklungen, die Stärken und Schwächen der Kirche in der Gegenwart. Notgedrungen kann dies nur ein „Aufriß" sein, bei dem viele Bereiche und Aspekte außer acht bleiben müssen.
I. Die gesellschaftliche Präsenz der Kirche nach 1945
Die Katholische Kirche hat trotz aller Ein-und Übergriffe die nationalsozialistische Herrschaft in ihrer Seelsorgeorganisation und in ihren sozial-caritativen Wirkmöglichkeiten am wenigsten beschädigt überlebt. Was ihre gesellschaftlich-politische Präsenz in der Nachkriegszeit betrifft, so kann man, wie Karl Forster feststellte, in manchem eine Vorwegnahme jenes Grundmodells erkennen, das später in der Pastoralkonstitution „Gaudium et Spes" des Zweiten Vatikanischen Konzils entwickelt wurde: „Es präsentierte sich damals eine Kirche des Dienstes für die mannigfachen Sorgen und Nöte der Menschen, des Eintretens für Gerechtigkeit und menschliche Würde. Sobald es der Aufbau kommunaler und staatlicher Verantwortlichkeiten zuließ, zog sich die Kirche aus dem unmittelbaren gesellschaftlich und weltlichen Verantwortungsbereich zurück. Sie unterstützte das solidarische Handeln der Katholiken zusammen mit nichtkatholischen Christen und mit religiös nicht klar gebundenen Menschen guten Willens. Sie selbst wollte sich öffnen für einen möglichen Pluralismus politischer Zielsetzungen unter den Katholiken, soweit diesen nicht ein politisches Handeln gegen ihr gläubiges Gewissen zugemutet wird.“ Diese Einschätzung stützt sich darauf, daß die Kirche an einem Wiederaufleben der Zentrumspartei, die zwar überkonfessionell gedacht, de facto aber eine „katholische" Partei geblieben war, kein sonderliches Interesse mehr zeigte und auch den überall entstehenden christlichen Unionsparteien zunächst eher distanziert gegenüberstand daß Prälaten und Priester, von wenigen Ausnahmen abgesehen, kein politisches Mandat mehr übernehmen durften — im Unterschied zur Evangelischen Kirche; daß die Christlichen* Gewerkschaften nicht wiederkehrten und große Hoffnungen auf die „Einheitsgewerkschaft" gesetzt wurden; daß viele Bischöfe nicht auf den Wiederaufbau des vor 1933 reich gegliederten katholischen Verbandswesens drängten.
Die Bischöfe wollten mit Politik möglichst wenig zu tun haben, wie ja damals allenthalben ein politisches Desinteresse zu verzeichnen war. Die Hirtenbriefe der ersten Nachkriegsjahre beschäftigten sich kaum mit „politischen" Fragen, vielmehr mit den seelischen und materiellen Nöten der Menschen, vor allem mit der Sorge um die „christliche Familie“.
Die Bischöfe gingen freilich davon aus, daß nach dem Zusammenbruch des antichristlichen Totalitarismus ein gesellschaftlicher Wertkonsens auf der Grundlage der christlichen Wertüberlieferungen zustande komme. Diese Auffassung war ein Reflex der Erneuerung des religiösen und kirchlichen Lebens, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg in den drei Westzonen einsetzte. Überraschend kam die Erklärung der deutschen Bischöfe, daß sie das Grundgesetz nur als „vorläufig" betrachten könnten, da es nicht gelungen war, darin das Elternrecht für die Bestimmung des weltanschaulichen Charakters der Schule für ihre Kinder zu verankern. Wörtlich heißt es dann: „Wir dürfen uns dadurch (gemeint ist die Berücksichtigung einzelner Anliegen, die besonders von katholischer Seite vertreten wurden: die Anrufung Gottes in der Präambel, das Recht auf Leben und die Unversehrtheit des Körpers, der Bezug auf das Sittengesetz, der Schutz für Ehe und Familie, die Sicherung des Religionsunterrichtes, das Recht auf Privatschulen, die öffentlich-rechtliche Stellung der Kirche, die indirekte Anerkennung der Fort-geltung des Reichskonkordats wie der Länderkonkordate) aber nicht täuschen lassen, daß es nicht gelungen ist, dem ganzen Grundgesetz die tiefere religiöse Begründung zu geben, um deren Verankerung christlich denkende Abgeordnete sich so sehr bemüht hatten. Auch die Anrufung Gottes als solche allein ändert an diesem Grundcharakter noch nichts. Dieses Bedenken ist um so ernster, als die Mehrheit des Parlamentarischen Rates es abgelehnt hat, von gottgegebenen’ Menschenrechten zu sprechen, welcher Antrag ausdrücklich gestellt war."
Diese massiven Vorbehalte der Bischöfe bewirkten jedoch keine kritische Distanz zum neuen Staat, zumal das Grundgesetz der Kirche und der Verwirklichung ihrer Sendung und darüber hinaus den Katholiken als Staatsbürgern bei der Ordnung und Gestaltung der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse große Möglichkeiten eröffnete Was das Wahlverhalten der Katholiken betrifft, so entschied sich eine große Mehrheit für die Christlichen Unionsparteien, deren Anhängerschaft zu zwei Dritteln aus Katholiken und nur zu einem Drittel aus Protestanten bestand Die Spannungen und Gegensätze zur SPD, die an die Positionen des Heidelberger Programms von 1925 wieder anknüpfte und sich für christliche Wertpositionen nicht öffnen wollte, nahmen zu. In einem gemeinsamen Hirtenbrief vom 14. Juli 1949 nannten die Bischöfe diejenigen politischen Kräfte beim Namen, die kein Verständnis für „wesentliche christliche Forderungen" gehabt hätten, nämlich Abgeordnete der „sozialistischen und liberalistischen Weltanschauungen“ Zugleich wurde der Angriff des SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher zurückgewiesen, der die Kirche als „fünfte Besatzungsmacht" bezeichnet hatte. Auch die Schulpolitik in einigen von der SPD regierten Ländern verfolgte ausgesprochen ideologische Ziele und trug nicht zu einer Entkrampfung bei. Schließlich hielten sich auch die Einheitsgewerkschaften nicht an die bei ihrer Gründung akzeptierten Regeln der weltanschaulichen und politischen Neutralität. Bei der Bundestagswahl 1953 traten sie offen für einen politischen Wechsel ein und provozierten die Katholiken im DGB, was zur Wiederbegründung der Christlichen Gewerkschaften führte.
II. Die Kirche in der pluralistischen Gesellschaft
Die Katholische Kirche hatte im ersten Nachkriegsjahrzehnt in der Gesellschaft und im politischen System eine Stellung erlangt, wie dies kaum jemand für möglich gehalten hätte. Gerhard Schmidtchen gelangt zu dem Urteil: „Die Katholiken sind die eigentlichen Entdekker der Bundesrepublik. Früher als die Protestanten haben sie im ersten Jahrzehnt der Existenz der Bundesrepublik ein politisches Heimatgefühl entwickelt, während die Protestanten noch länger den Farben Schwarz
Weiß-Rot nachtrauerten und unter der Teilung litten."
Die Änderungen, die sich seit Mitte der fünfziger Jahre allmählich anbahnten und die sich dann in den sechziger Jahren durchsetzen konnten, kamen nicht so sehr von außen, von politischen oder weltanschaulichen Gegenkräften, sie kamen vielmehr von innen. Die im Zuge des Wirtschaftswunders sich breit machende „Entideologisierung" und die Attraktivität dessen, was als „pluralistische Gesellschaft" verstanden wurde, wirkten sich in wachsendem Maße auf das Bewußtsein, das Denken und die Verhaltensweisen vieler Katholiken aus und veränderten die Stellung der Kirche im Bezugsfeld von Gesellschaft und Politik. Der Verlust der Konfessionsschule Verhältnismäßig früh wurde von diesem Wandlungsprozeß die Konfessionsschule betroffen, jedenfalls in denjenigen Bundesländern, in denen sie nach 1945 eingerichtet worden war. Von verschiedenen Seiten gingen die Bestrebungen nach „Entkonfessionalisierung" der Schulen aus. Die Bischöfe setzten sich in einer Reihe von Stellungnahmen und Erklärungen mit Nachdruck für das Elternrecht ein, das den Eckstein für die freie Wahl der bekenntnismäßigen Art der Schule bildete. Nachdem aber die konfessionelle Lehrer-bildung aufgegeben werden mußte, war auch die Konfessionsschule nicht mehr zu halten. Letzten Endes waren freilich nicht die politischen Gegenkräfte — vor allem war es die SPD, die auf die Beseitigung der Konfessionsschulen drängte —, sondern „die innerkatholische Pluralisierung seit Beginn der sechziger Jahre" für diese Entwicklung verantwortlich, wie Bischof Pohlschneider auf dem Stuttgarter Katholikentag 1964 feststellte Bei Eltern und bei katholischen Verbänden war der Sinn für die Notwendigkeit einer weltanschaulich und religiös geschlossenen Erziehung der Kinder verloren gegangen. Und es fehlten zunehmend jene Lehrerinnen und Lehrer, die Geist und Gehalt der konfessionellen Schule prägen können.
Der Verlust der Konfessionsschule wirkte sich in der Bundesrepublik Deutschland gravierend aus. Die geschichtliche Entwicklung ist hier ja anders verlaufen als etwa in den USA oder in den romanischen Ländern, in denen neben dem staatlichen ein breit ausgebautes freies kirchliches Schulsystem besteht. Die Gefahr war nicht von der Hand zu weisen, daß die Erziehung selbst als eine bloße Wissens-und Informationsvermittlung angesehen wurde und daß an die Stelle der christlichen Orientierung andere, innerweltliche Sinngebungen treten würden.
Die Stellung zu den politischen Parteien Im Frühjahr 1969 — es war noch die Zeit der Großen Koalition — veröffentlichten die* deutschen Bischöfe das Schreiben „Über die Kirche in der pluralistischen Gesellschaft und im demokratischen Staat der Gegenwart", mit dem die Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils auf die deutsche Situation angewendet werden sollte. Darin hieß es: „Nicht nur die Programme der politischen Parteien haben sich gewandelt. Heute spricht man nicht selten von einer Entideologisierung der Parteien. Man fordert die parteipolitische Neutralität von Christentum und Kirche und ruft zum Dialog und zur Solidarität mit allen Gruppierungen auf. Hinter diesen Thesen und Forderungen darf sich freilich nicht eine Absage an alle tieferen Fragen der politischen und gesellschaftlichen Ordnung zu Gunsten einer Technokratie des Politischen verbergen. Vielmehr muß gefordert werden, daß die politischen Parteien für das christliche Leitbild vom Menschen und von der Gesellschaft offen sind" (Nr. 48).
Diese Äußerung markiert eine Entwicklung, die mit der Aufsehen erregenden Tagung der Katholischen Akademie in Bayern über Christentum und Sozialismus im Januar 1958 begonnen hatte. Karl Forster wollte die Möglichkeiten ausloten, die Beziehungen zwischen der Katholischen Kirche und den politischen Parteien in einer ähnlichen Weise zu gestalten, wie dies in den USA der Fall war Im Katholizismus mehrten sich die Stimmen, die das gute Verhältnis der Kirche zu den regierenden Christlichen Unionsparteien als einseitig empfanden und für eine „Öffnung", für den Dialog mit der SPD eintraten. Das Godesberger Programm (1959), mit dem die SPD ihre marxistischen Traditionen abstreifte, begünstigte den Wunsch nach „Entideologisierung". In diesem Programm entwickelte die SPD erstmals eine positive Einstellung zu Religion, Christentum und Kirche, auch in ihrer Bedeutung für das gesellschaftliche und politische Leben. Sie rückte ab von der Kampfparole „Religion ist Privatsache". Allerdings hatte Gustav Gundlach das für die Kirche entscheidende Kriterium nicht -bei der Absage an den Marxismus, sondern bei der Überwindung der anderen Tradition in der SPD gesehen, nämlich des liberalistischen Wurzelgrundes, was sich vor allem im Bereich der Kultur-und Rechtspolitik auswirkte
Auf katholischer Seite wuchs die Hoffnung, die SPD würde sich weiter wandeln und für das in der Katholischen Soziallehre festgehaltene christliche Menschen-und Gesellschaftsverständnis öffnen. 1964 erklärte Kardinal Döpfner: „Im Godesberger Programm hat die Partei des demokratischen Sozialismus zweifellos eine Brücke über den Abgrund zu bauen begonnen, der Kirche und Sozialdemokratie seit je getrennt hat. Wenn ein Bild erlaubt ist, so kann man sagen, die Spannbetonbrücke ist in einem Ausmaß gewachsen, wie man es vor wenigen Jahrzehnten noch für unmöglich gehalten hätte. Aber, ohne auf Einzelheiten einzugehen, glaube ich doch, nach reiflicher Überlegung sagen zu müssen, die Brücke ist nicht befahrbar, der Abgrund ist zur Stunde nicht geschlossen."
Die neue Offenheit fand auch in den Hirten-worten der Bischöfe zu den Bundestagswahlen von 1961 und 1965 ihren Niederschlag. Man beschränkte sich auf mehr formale Gesichtspunkte, auf die Betonung der sittlichen Verantwortung in der Politik und in der Wahlpflicht, auf das Recht der christlichen Staatsbürger, nach ihrem Glauben und Gewissen an der Gestaltung des gesellschaftlichen und staatlichen Lebens mitzuwirken, auf den Aufruf, Männer und Frauen zu wählen, die aus gläubiger Haltung politische Verantwortung auf sich nehmen.
Der „Pluralisierungsprozeß" in Kirche und Katholizismus Bernhard Hanssler, der langjährige geistliche Direktor des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, hat diesen Begriff geprägt Der neue „pluralistische Wille" sei schon vor dem Konzil am Werk gewesen in den 1960 aufgeflammten Kontroversen um die „katholische Geschlossenheit", in den Angriffen auf den überlebten Verbandskatholizismus, in kritischen Schriften wie Carl Amerys „Die Kapitulation oder Deutscher Katholizismus heute". Richtig in Schwung gekommen sei der Pluralisierungsprozeß durch das Zweite Vatikanische Konzil (1962— 1965). „Apertura" (Öffnung) und „aggiornamento" im Sinne der Anpassung der Kirche an die moderne Welt (nicht im Sinne des Heutigwerdens der Kirche) seien die Schlüsselbegriffe geworden, unter denen das Konzil in Deutschland rezipiert worden sei. Daneben tauchten nach und nach die Begriffe Demokratisierung, Pluralismus, Dialog, kritischer Katholizismus auf. In der Theologie wurde es schick, an der Autorität der Bischöfe zu rütteln, die Strukturen der Kirche, aber auch die Glaubenswahrheiten selbst zu „hinterfragen" bzw. sie in Frage zu stellen.
Diese Entwicklung in der Kirche bildete das Pendant zu den geistig-kulturellen Vorgängen in der Gesellschaft. Nach der Wiederaufbauphase konnte sich die sogenannte Zweite Aufklärung voll entfalten. Sie war bestimmt von einem lange Jahre ungebrochenen Fortschrittsglauben, der nicht nur ein unaufhörliches Wachstum der Wirtschaft und des materiellen Wohlstandes prognostizierte, sondern vielmehr von der Erwartung lebte, es sei nur noch eine Frage der Zeit, bis die Gesellschaft alle Probleme lösen könne.
Kein Wunder, daß unter diesen Umständen der Versuch unternommen wurde, die Offenbarung und den Glauben neu zu verstehen und auch die Aufgabe der Kirche als gesellschaftskritische Instanz zu umschreiben Das Anliegen der „politischen Theologie" von Johann Baptist Metz war aus der Sorge geboren, der christliche Glaube und die Kirche könnten von den Wogen des neuen Säkularismus und des Fortschrittsoptimismus zu einer bloß noch „privaten" Angelegenheit reduziert werden. Man wollte sich also gleichsam an die Spitze der Veränderung in der Welt setzen. Die horizontale Ausrichtung des Glaubens und der Kirche begünstigte die verschie-denen Gruppen des kritischen Katholizismus, die, ähnlich wie die Außerparlamentarische Opposition (APO) in der Gesellschaft, wenn auch mit zeitlicher Verzögerung, sich zu Wort meldeten. Nicht umsonst ging das Wort von einer Politisierung der Kirche „nach links" um, wie dies vornehmlich in katholischen Studentengemeinden zu beobachten war.
Was die Bischöfe mit Sorge erfüllte, war der Rückgang der Bindungen an die Kirche (zurückgehender Kirchenbesuch und Sakramentenempfang) und an die von der Kirche verbürgten christlichen Werte, vor allem im Bereich von Ehe und Familie (Enthaltsamkeit vor der Ehe, Ehescheidung), aber auch in anderen kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Orientierungen. Die öffentliche Meinung erging sich mit steigender Begeisterung im Abbau von „Tabus", von überkommenen sittlichen Wertorientierungen. Dies färbte auf viele Katholiken ab, die sich dem Sog des Zeitgeistes nicht entziehen konnten. Ein weiterer Einbruch erfolgte auf dem Gebiet des Religionsunterrichts, der bisweilen eher einem Sozialkundeunterricht glich, als daß er den jungen Menschen den Zugang zu den religiösen und sittlichen Werten erschlossen hätte.
Die Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland sollte dazu dienen, das aus dem Ruder gelaufene Schiff der Kirche wieder auf einen Kurs zu bringen, der einerseits den eingetretenen Wandlungen Rechnung tragen, der andererseits die religiöse und sittliche Substanz in einer so geänderten Landschaft wieder zur Geltung bringen könnte. Der Forschungsbericht über die von der Deutschen Bischofskonferenz zur Vorbereitung der Würzburger Synode veranlaßten Umfragen spiegelte die Einstellung der Katholiken zu ihrer Kirche wider. Deutlich trat die Diskrepanz zwischen dem in der Gesellschaft akzeptierten Wertsystem zu jenem von der Kirche vertretenen Wertsystem zutage Auffallend waren die Befunde über die Zusammenhänge zwischen der Befürwortung stärkerer kirchlicher Veränderungen und dem Eintreten für eine Veränderung der Gesellschaftsordnung
Die Veränderungen in Gesellschaft und Kirche, die hier nur skizzenhaft angedeutet werden konnten, haben den in Deutschland historisch gewachsenen Katholizismus („politischer und sozialer Katholizismus") erschüttert und die Kirche verunsichert, auch hinsichtlich ihrer Aufgabe im Kräftefeld von Gesellschaft und Politik.
III. Das Ringen um die Grundwerte
Eine Wende trat erst ein, als die 1969 gebildete sozialliberale Koalition unter dem Stichwort der „inneren Reformen" daran ging, die Wertgrundlagen des Zusammenlebens, zu denen sich das Grundgesetz bekennt, durch vielfältige rechtspolitische Eingriffe zu verändern. Sowohl bei der SPD als auch bei der FDP waren alte ideologische Zielsetzungen wieder hervorgekommen. Die moderne Katholische Soziallehre hat seit Bischof Ketteier dem Liberalismus wie dem „bürgerlichen" Sozialismus (gemeint ist der „demokratische" Sozialismus) eine utilitaristische individualistische Gesellschaftsauffassung vorgeworfen, die keine vorgegebenen Werte und Bindungen kenne. Das Bild vom autonomen Menschen, der aus allen Zwängen und Bindungen, die er nicht selbst eingegangen ist, „befreit" werden müsse, und der sich selbst die oberste Instanz für sein Handeln ist, dieses emanzipatorische Menschenverständnis war die Bezugsbasis der sogenannten Reformpolitik.
Bei der Reformpolitik ging es nicht, wie der Begriff es nahezulegen schien, nur darum, die infolge der langen Regierungszeit der Unions-Parteien eingetretenen Verkrustungen abzubauen und neue ungelöste Aufgaben anzugehen, sondern um eine „neue Gesellschaft", was die Jusos und Judos damals auch klar ausgesprochen haben. Auf kirchlicher Seite sperrte man sich keineswegs gegen die Reformbedürftigkeit von Einrichtungen und Regelungen, die veraltet und nicht mehr zeitgerecht waren. Wo aber sittliche Grundwerte angetastet wurden, mußte dies den Widerstand herausfordern. fen eine dem christlichen Gewissen und der Wertnorm des Grundgesetzes verpflichtete Haltung ein, so daß auch alle Versuche scheitern mußten, einen Keil zwischen die angeblich „konservative" Kirchenführung und das „fortschrittliche" Kirchenvolk zu treiben. Wenn der von den Bischöfen vertretene Standpunkt breite Zustimmung fand, so auch deshalb, weil er nicht als eine Art parteipolitischer Option mißverstanden werden konnte. Allen Beteiligten, selbst jenen, die anders urteilten, war klar, daß die Kirche hier den unantastbaren Wert jedes Menschenlebens verteidigte.
Um das Lebensrecht der ungeborenen Kinder
Im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen stand die strafrechtliche Freigabe der Tötung ungeborenen Lebens (§ 218 StGB). Die Deutsche Bischofskonferenz, die Bischöfe, das Zentralkomitee der deutschen Katholiken, viele katholische Verbände und prominente Katholiken haben sich massiv gegen die Absicht gewandt, den Schutz für die ungeborenen Kinder zu mindern oder aufzuheben. Nachdem das Bundesverfassungsgericht die Unvereinbarkeit der Fristenregelung mit dem Grundgesetz festgestellt hatte, rückten die Regierungsparteien zwar formell von dieser Regelung ab, verwirklichten jedoch mit Hilfe der weitgefaßten sozialen Indikation ihr ursprüngliches Vorhaben. Im „Pastoralen Wort der deutschen Bischöfe" vom 7. Mai 1976 heißt es: „Der Deutsche Bundestag hat durch Änderung des § 218 StGB den umfassenden Rechtsschutz für das ungeborene Leben aufgehoben ... Der Staat hält sich nicht mehr für verpflichtet, Leben und Würde des Menschen im notwendigen Umfang auch strafrechtlich zu schützen. Diese Regelung erschüttert das Fundament unseres Rechtsstaats, sie zerstört das sittliche Bewußtsein der Bürger und macht die Gesellschaft nicht menschlicher, sondern unmenschlicher."
Es hat vereinzelt Theologen und kleine Gruppen von Katholiken gegeben, die die vordergründige Argumentation der Koalitionsparteien sich zu eigen machten, man wolle durch die Änderung des § 218 StGB das ungeborene Leben besser schützen. Auch gab es Vorstöße, die verschiedenen Bereiche des Sittengesetzes und des Strafrechts stärker voneinander abzuheben. Die große Mehrheit der Katholiken jedoch nahm zusammen mit ihren Bischö
Die Grundwerte von Ehe und Familie
Ein weiteres Spannungsfeld zwischen Kirche, Gesellschaft und Politik war die Reform des Ehescheidungsrechtes und des elterlichen Sorgerechtes. Es war weniger der Übergang vom Verschuldens-zum Zerrüttungsprinzip, der den Widerstand der Kirche herausforderte. Zum Problem wurde die „Reform", weil der auch im Grundgesetz verbürgte Charakter der Ehe als einer Gemeinschaft auf Lebenszeit in Frage gestellt wurde und weil das beabsichtigte Fristenprinzip bei der Ehescheidung auch den Ehegatten, der sich nichts hatte zuschulden kommen lassen, nicht vor Betrug und Ausbeutung schützte
Nicht minder problematisch war die beabsichtigte Reform des elterlichen Sorgerechts. Die Kritik entzündete sich auch hier nicht an der Ersetzung des Begriffs der „elterlichen Gewalt" durch den der „elterlichen Sorge". Die Kritik richtete sich vielmehr gegen das Mißtrauen, das den Eltern und der Familie entgegengebracht wurde. Man sprach davon, daß das Kind „nach heutigem Rechtsbewußtsein nicht als Objekt elterlicher Fremdbestimmung" angesehen werden dürfe und deshalb dem Staat entsprechende Kontroll-und Eingriffsmöglichkeiten an die Hand gegeben werden müßten. Darüber hinaus sollten Kindern und Jugendlichen eine Reihe von Rechtsansprüchen an den Eltern vorbei ein-geräumt werden Dies lag ganz auf der ideologischen Linie des Zweiten Familienberichts der Bundesregierung (1975), der im Grunde davon ausging, daß die Familie eine überholte, autoritäre Einrichtung sei, die nicht mehr in die „demokratische" Landschaft passe Die Familie wurde verdächtigt, die eigenen Kinder zu unterdrücken, ihnen, anstatt die Freiheit zu geben, gesellschaftlich festgelegte Werte und Normen aufzuzwingen, sie für bestimmte Rollen und Verhaltensweisen in der Gesellschaft zu präparieren und auf diese Weise dafür zu sorgen, daß „willige" und „folgsame" Staatsbürger heranwachsen. Natürlich sind die politischen Vorstöße für eine Neuordnung des elterlichen Sorgerechts nur verständlich, wenn man den damaligen gesellschaftlichen Hintergrund mitberücksichtigt. Die sozialistische Ideologie hatte in der Familie stets ein-Hemmnis zur Durchsetzung der radikalen Gleichheit gesehen. Hinzu kam jetzt die Ideologie der Emanzipation, die dem Erziehungsauftrag der Eltern mißtraut und ihn, wenn sie ihn überhaupt noch gelten läßt, völlig uminterpretiert. Um die Familie ins gesellschaftliche Abseits zu rücken, wurde so getan, als ob die Familien schlechthin „versagen" und gar nicht mehr ihren Auftrag erfüllen können. Die Massenmedien überschlugen sich in der Kritik an der versagenden Familie.
Unter diesen Umständen war es für die Kirche nicht leicht, die Werte von Ehe und Familie, und zwar auch in ihrer unersetzlichen Bedeutung für die Gesellschaft, hochzuhalten.
Erschwert wurde diese Aufgabe dadurch, daß die Kirche in den Geruch geriet, sie wolle nicht nur diese Werte in ihrem bleibenden Gehalt verteidigen, sondern auch frühere zeit-und kulturbedingte Formen des Zusammenlebens und der Rollenverteilung zwisehen Mann und Frau, zwischen Eltern und Kindern aufrechterhalten. Fragen der Familie und der Familienpolitik kamen erst wieder stärker ins Blickfeld, als die Diskussion über die Folgen einsetzte, die der starke Geburtenrückgang bei der deutschen Bevölkerung für die soziale Sicherheit in der Zukunft mit sich bringen werde.
Es gab noch andere Felder, auf denen Wert-positionen, die für das christliche Verständnis vom Menschen und der Gesellschaft wichtig sind, aufgeweicht oder in Frage gestellt wurden: Jugendschutz; Erziehungsziele im Schulwesen; Stellung der Freien Träger im Sozial-und Jugendbereich; die immer schneller zunehmende Staatsverschuldung, die die Lebenschancen der nachwachsenden Generation in unverantwortlicher Weise beeinträchtigt und die gesellschaftliche Ordnung auf die Dauer zerrüttet.
Wer bestimmt die Grundwerte?
Von Seiten derjenigen gesellschaftlichen und politischen Kräfte, die die „Reformpolitik" befürworteten, wurde der Katholischen Kirche gerne vorgehalten, sie versuche, die von ihr vertretenen Normen nicht nur für die Katholiken, sondern auch für die Nicht-Katholiken aufzustellen und sie mit Hilfe des Staates durchzusetzen. Damit überschreite aber die Kirche ihre Kompetenz in einer pluralistischen Gesellschaft und in einem weltanschaulich neutralen Staat. Diese Argumentation ist im Kern irreführend. Die Kirche will keineswegs die „katholische Moral" zum MaßStab des staatlichen Rechts machen. Jedoch handelt es sich bei den Grundwerten eben nicht um „katholische" oder „christliche" Werte. Die Anerkennung und der Schutz des Lebensrechtes eines jeden Menschen, auch des ungeborenen, der Ehe als Gemeinschaft auf Lebenszeit, der Familie als der Lebensgemeinschaft der Eltern mit ihren Kindern, diese Grundwerte und Grundrechte besitzen einen allgemeinen Geltungsanspruch, weil sie im Wesen des Menschen grundgelegt sind. Deshalb sind sie auch im Grundgesetz anerkannt, ebenso in vielen Verfassungen anderer Staaten, die die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen nach dem Zweiten Weltkrieg aufgenommen haben.
Wenige Wochen, nachdem die deutschen Bischöfe die im Bundestag durchgesetzte Änderung des § 218 StGB zurückgewiesen hatten, versuchte Bundeskanzler Helmut Schmidt, die aufgerissene Kluft zur Katholischen Kirche zu überbrücken. In einem vielbeachteten Vortrag vor der Katholischen Akademie in Hamburg am 23. Mai 1976 erklärte er, daß das Grundgesetz aller staatlichen Gewalt die Verpflichtung auferlege, die Unantastbarkeit der Menschenwürde zu achten und zu schützen, aber es sage nichts darüber, wie dies zu geschehen habe Und was die Grundrechte des Grundgesetzes anbelangt, so sei es falsch, sie mit transzendent orientierten, mit religiösen oder sittlichen Grundwerten gleichzusetzen. Die Grundrechte würden keine Garantie ganz bestimmter Auffassungen, Überzeugungen, Werthaltungen oder eines bestimmten Glaubens oder Bekenntnisses enthalten. Welche Wertgehalte und Auffassungen mit den Grundrechten verbunden werden, dies würden in einer pluralen Gesellschaft und in einer Demokratie die Bürger selbst oder, richtiger gesagt, die jeweilige Mehrheit der Bürger entscheiden. „Wenn bestimmte ethische Auffassungen in der Gesellschaft nicht mehr vorhanden sind, dann verliert das Recht seine demokratische Legitimation." Es hänge von den Kirchen und Religionsgemeinschaften ab, ob und welche sittliche Auffassungen in der Gesellschaft lebendig sind und ob sie den Konsens der Mehrheit finden.
Diese Rede löste eine langanhaltende, heftige Diskussion aus. Von katholischer Seite wurde die Vorstellung, man könne die Grundwerte und die Grundrechte in dieser Weise voneinander trennen, als unhaltbar abgewiesen. Wer den Staat auf die Aufgabe beschränken wolle, nur „Grundrechte" zu schützen, deren Grundwertgehalt je nach der Mehrheitsmeinung der im Parlament vertretenen Kräfte bestimmbar sei, der degradiere den Staat zum Notar der in der Gesellschaft vorhandenen Meinungen Sicherlich sind die Bürger, auch die Kirche, für die Grundwerte mitverantwortlich, und der Staat kann Werte und Normen des Zusammenlebens mit Hilfe des Rechts auf die Dauer nur schützen, wenn er dafür entsprechenden Rückhalt im Volk und in den politischen Parteien findet. Aber der Staat muß auch selbst nicht nur für die Grundrechte, sondern auch für die zugrundeliegenden Grundwerte eintreten. Er darf nicht aus seiner besonderen Verpflichtung für die Grundwerte entlassen werden. Man kann nicht die Grundwerte und damit den Inhalt der Grundrechte in einem „demokratischen" Verfahren „bestimmen".
Auch die Kirchen und Religionsgemeinschaften würden unter solchen Umständen ihre Aufgabe der Wertbegründung nicht mehr erfüllen können. Nicht nur würden sie zu geistig-sittlichen „Pressure-groups", die Grundwerte selbst würden zum Spielball der je mächtigeren und einflußreicheren Gruppen. Sie würden ihre sittliche Verbindlichkeit verlieren und dafür eine plurale Beliebigkeit eintauschen. Die Grundwerte würden wertlos.
IV. Das Verhältnis von Glaube und Welt
Das Verhältnis von Glaube und Welt, von Kirche und Gesellschaft ist wie jeder geistig-sittlich-politische Sachverhalt Mißverständnissen und Fehldeutungen ausgesetzt. Es sind vor allem zwei Ansätze, die hier problematisch sind und die nicht nur heute, sondern im Laufe der Geschichte in immer neuen Varianten hervorgetreten sind.
Fehldeutungen: Spiritualisierung oder Politisierung von Glaube und Kirche
Auf der einen Seite sind hier die Bestrebungen zu nennen, sich auf das „Eigentliche" des Christentums zu besinnen. Das Evangelium richte sich an den Menschen, an sein persönliches Heil, an sein Gewissen, nicht aber auf die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Verhältnisse und Strukturen dieser Welt. Folglich würde auch die Kirche ihre Aufgabe, die Frohe Botschaft den Menschen zu verkünden und sie zu ihrem Heil zu führen, verfehlen, wenn sie sich auf „weltliche" Angelegenheiten einlasse.
Bei diesen Bestrebungen, das Evangelium und den Glauben als Angelegenheit einer „privatinnerlichen" Sphäre zu begreifen, können sehr verschiedene Beweggründe am Werk sein. Sie können gespeist sein aus der Sorge um eine Veräußerlichung des Evangeliums und des Glaubens, um eine Verweltlichung der Heilsbotschaft und der Kirche. Man leugnet nicht die Verantwortung der Christen und der Kirche, sich für die Gerechtigkeit und die Liebe einzusetzen, aber man neigt dazu, diesen ganzen Bereich zu relativieren, weil die vollkommene Gerechtigkeit und Liebe sowieso nur im Reich Gottes dereinst herrschen werden.
Ganz andere Wurzeln haben jene Überlegungen, die in der Regel von politischer Seite herkommen und die in der Weltverantwortung aus dem Glauben eine Gefahr für die Eigenständigkeit der Politik oder der Wirtschaft erblicken. Man sieht in Erklärungen der Kirche zu Ordnungsfragen in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik, jedenfalls wenn sie sich nicht mit der eigenen Ansicht decken, eine „Einmischung" in fremde Zuständigkeiten. Die Kirche solle sich aus dem politischen Bereich heraushalten und nicht Einfluß auf die Entscheidungen souveräner Bürger zu nehmen suchen. Und was das gesellschaftliche Wirken der Katholiken angeht, so hätten sie zwar dieselben Freiheiten und Pflichten wie alle anderen Bürger auch; aber z. B. die Berufung auf Werte, insoweit sie im christlichen Menschen-und Gesellschaftsverständnis begründet sind, könne keinen allgemeinen Geltungsanspruch erheben. Die Katholiken befänden sich in der pluralistischen Gesellschaft eben in Konkurrenz zu anderen Wertsystemen und Überzeugungen.
Auf der anderen Seite gab und gibt es Versuche, das Evangelium „politisch" zu lesen und zu verstehen, Glaube und Kirche für den politischen Kampf um Gerechtigkeit und Solidarität in der Welt einzusetzen. Hierher gehören jene Bestrebungen, die den Christen die Rolle zuweisen, an der Spitze der Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu marschieren, und die der Kirche die Aufgabe einer institutionellen Gesellschaftskritik aufdrängen möchten. In welche Richtung diese „Veränderung" und die „Revolution" zur Durchsetzung von Gerechtigkeit und Solidarität gehen sollen, dies entscheidet sich meist danach, von welchen geistigen und begrifflichen Voraussetzungen her gedacht wird. Wie es in der Weimarer und nationalsozialistischen Zeit vereinzelt Vorstöße gab für eine Politisierung von Glaube und Kirche „nach rechts", so gibt es heute nicht wenige Versuche einer Politisierung nach links, wobei Denk-und Begriffsmuster wie die sogenannte „marxistische Analyse", eine klassenkämpferische Deutung der „Armen" im Evangelium oder auch die „Basis-Kirche" im Gegensatz zur hierarchisch verfaßten Kirche verwendet werden.
Die Auseinandersetzungen zwischen der Deutschen Bischofskonferenz und den Führungen mancher katholischer Jugendorganisationen spiegeln diese Problematik ebenso wie die jüngst erschienene Instruktion der Glaubenskongregation, die sich kritisch mit einigen Aspekten der vor allem in Lateinamerika verbreiteten „Theologie der Befreiung" befaßt
Christliche Weltverantwortung Sowohl eine Spiritualisierung als auch eine Politisierung verfehlen das Wesentliche dessen, was mit christlicher Weltverantwortung gemeint ist. Diese hängt natürlich eng zusammen mit der Frage der Zuordnung von Welt und Heil, von Kirche, Gesellschaft und Politik. Das Zweite Vatikanische Konzil sagt diesbezüglich: „Die ihr eigene Sendung, die Christus der Kirche übertragen hat, bezieht sich zwar nicht auf den politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Bereich: das Ziel, das Christus ihr gesetzt hat, gehört ja der religiösen Ordnung an. Doch fließen aus eben dieser religiösen Sendung Auftrag, Licht und Kraft, um der menschlichen Gemeinschaft zu Aufbau und Festigung nach göttlichem Gesetz behilflich zu sein."
Mit der Betonung der religiösen Sendung der Kirche hat das Konzil eine Politisierung des Glaubens zurückgewiesen. Wo immer versucht würde, aus Texten der Heiligen Schrift politische Rezepte und Lösungen abzuleiten oder sie dafür zu gebrauchen, wäre dies nicht nur ein „Mißverständnis", sondern ein Verstoß gegen die christliche Botschaft und gegen die Sendung der Kirche. Eine Theologisierung der Politik, der Wirtschaft, der Wissenschaft in diesem Sinne ginge an der christlichen Weltverantwortung vorbei, an der grundsätzlichen Unterscheidung der beiden Bereiche vom religiösen Heil und der Welt, von Kirche und Gesellschaft und auch an der Autonomie der gesellschaftlichen Lebensbereiche. Dies ist auch der Grund dafür, warum es keinen „christlichen Staat" und keine „christliche Wirtschaft" gibt, auch wenn bisweilen die Verwendung dieser Begriffe zur Verwirrung beigetragen hat.
Aber diese Grenzziehung gegen eine Politisierung darf nicht so ausgelegt werden, als ob der Glaube nur im privaten Kämmerlein gelebt werden könne und nicht für die gesellschaftlichen Verhältnisse von Bedeutung sei. Aus der religiösen Sendung erwachsen nämlich, wie das Konzil sagt, „Auftrag, Licht und Kraft, um der menschlichen Gemeinschaft zu Aufbau und Festigung nach göttlichem Gesetz behilflich zu sein". Es geht um die geistig-sittliche Orientierung, die bei allen Ordnungsfragen der Gesellschaft nicht ausgeklammert werden kann. Die Kirche hat in ihrer Sozialverkündigung diejenigen Grundwerte aufzuzeigen, die für eine Gesellschaft, die den Anforderungen der Gerechtigkeit und der Solidarität genügen will, unverzichtbar sind und die auch das christliche Menschen-und Gesellschaftsverhältnis bestimmen. Und während die Katholische Sozial-lehre wissenschaftlich diese Werte und die Zusammenhänge reflektiert, sind die Christen gehalten, diese Werte in der Praxis, im konkreten Vollzug des gesellschaftlichen Lebens zur Geltung zu bringen, nicht einfach, um die Gesellschaft „christlich" zu machen, sondern um sie „gerecht" und „solidarisch" zu gestalten. Weil es bei der christlichen Weltverantwortung nicht um die Durchsetzung kirchlicher Interessen geht, deshalb wäre es abwegig, die Kirche als „Pressure-group" zu sehen, sie auf dieselbe Linie wie die anderen sozialen Gruppen und Interessenorganisationen zu stellen und ihre Legitimation darin zu suchen, ob sie in der Lage ist, die Mehrheit der Bürger für die von ihr vertretenen Positionen zu gewinnen oder wenigstens lautstark und effektvoll ihre „Macht" auszuspielen. Auftrag und Legitimation der Kirche im Spannungsfeld von Gesellschaft und Politik sind anderer Art. Die Kirche wird im eigenen Interesse auf die Grenze ihrer moralischen Autorität achten müssen.