I. Einleitung
'Nicht nur Politologen erscheint die Klassifizierung der Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland als Interessengruppen auch heute noch als rechtfertigungsbedürftig. Angeblich sprächen rechtliche Gründe sowie das Selbstverständnis der Kirchen gegen eine solche Einordnung, die gleichwohl aus sozialwissenschaftlicher Sicht geboten sei 1). Zur Verdeutlichung der politologischen Problemsicht i ist zu betonen, daß der Begriff des Interesses I keineswegs auf die materiellen Eigeninteressen einer Person beschränkt ist, sondern eine allgemeine menschliche Handlungsorientierung bezeichnet, die insbesondere im Rahmen der politischen Willensbildung relevant ist . , Es ist dabei unwesentlich, ob die als Interessengruppe handelnde Einheit sich ihrer Wirksamkeit als Interessengruppe bewußt ist oder nicht. Sie kann vielmehr der festen Überzeugung sein, ihre Auffassungen in höchster Gerechtigkeit und orientiert an Wertvorstellungen von axiomatischer Evidenz zu bilden und demgemäß ihre Entscheidungen zu fällen.
Aber selbst wenn es eine objektiv erkennbare Gerechtigkeit gäbe, könnten die altruistischen Diener dieser Wahrheit im politischen Entscheidungsprozeß nicht anders denn als Interessenvertreter (eben dieser Wahrheit)
oder Glieder einer Interessengruppe auftreten."
Unbestritten ist heute die Zugehörigkeit der Kirchen zum Bereich der Gesellschaft die ihrerseits jedoch im pluralistischen Gemeinwesen mit den staatlichen Institutionen durch den Bereich der politischen Öffentlichkeit verbunden ist Andersartige Selbstinterpretationen weichen im gesamtkirchlichen Bereich zunehmend pluralismuskonformen Selbstbeschreibungen Darüber sollten lautstark artikulierte Richtigkeits-und Geltungsansprüche mancher christlicher Gruppen und Teilorganisationen nicht hinwegtäuschen.
Auch der vom Grundgesetz durch Inkorporierung von Artikeln der Weimarer Verfassung den Kirchen eingeräumte Status als Körperschaften des öffentlichen Rechts (Art. 140 GG i. V. m. Art. 136 bis 139, 141 WRV) vermag den Religionsgemeinschaften hinsichtlich ihrer politischen Betätigung keine Vorrangstellung zu geben: „Begeben sich die Kirchen ... in den weltlich-politischen Bereich, so gelten auch für sie die allgemeinen Regeln. Ihre Stellung ist insoweit prinzipiell die gleiche wie die aller sonstigen Gruppen, die versuchen, auf den politischen Prozeß einzuwirken."
II. Historischer Hintergrund
Luthers Schriften über Kauf und Wucher, an den christlichen Adel, über das Schulwesen oder seine Briefe an verschiedene Landesfürsten haben keine kontinuierliche Tradition evangelischer Stellungnahmen zu politischen und sozialen Fragen der Zeit begründen können. Erst nach der Etablierung einer eigenständigen Organisation der evangelischen Kirche aufgrund der Weimarer Verfassung diskutierten nicht mehr nur einzelne kirchliche Gruppen, sondern auch gesamtkirchliche Institutionen über soziale und politische Gegenwartsfragen Um eine kritische Distanz zum Staat zu gewinnen, benötigte der deutsche Protestantismus darüber hinaus die Erfahrungen des nationalsozialistischen Kirchenkampfes. Dieser führte insbesondere zur Verabschiedung der — 1984 wieder kontrovers diskutierten — Theologischen Erklärung von Barmen durch die Synode der Bekennenden Kirche
Die neue Grundhaltung gegenüber dem Staat zeigte sich deutlich an der „Denkschrift der Vorläufigen Leitung der Deutschen Evangelischen Kirche an den Führer und Reichskanzler" vom 28. Mai 1936 In diesem Schreiben protestierte die Bekennende Kirche gegen die nationalsozialistische Prägung aller Lebensbereiche und die damit verbundene „Gefahr der Entchristlichung". Es war somit ein Dokument der Abwehr. Andere Akzente setzte die vom lutherisch geprägten Freiburger „Bonhoeffer-Kreis" verfaßte Studie „Politische Gemeinschaftsordnung" von 1943, in der eine umfassende politische Ordnung neoliberaler Prägung entworfen wurde
Während diese Schrift heute dem Arbeitskreis evangelischer Unternehmer als Bezugs-grundlage dient sind die Barmer Erklärung und die Denkschrift von 1936 Ausgangspunkte für zwei andere Traditionslinien geworden: Zum einen stellen sie historische Vorbilder dar für die heutige politisch-konzeptionelle Tätigkeit der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD); zum anderen begründeten diese Dokumente eine Richtung : prinzipieller Opposition, die sich über die : Nachkriegszeit und die fünfziger Jahre bis in die Gegenwart fortgesetzt hat Nach dem (Zweiten Weltkrieg gab sich die evangelische Kirche mit der Grundordnung der EKD vom 13. Juli 1948 eine — bis 1969 gesamtdeutsche — Verfassung. Die Leitungsorgane sind darin i in wesentlichen Aspekten nach schweizer Muster entworfen. Insbesondere ist der Rat nicht durch die Synode abberufbar, sondern auf sechs Jahre gewählt.
Für die neue gesamtkirchliche Organisation bestanden in der Bundesrepublik Deutschland die für Interessengruppen typischen Einflußmöglichkeiten auf die Politik: „eingebauter" Lobbyismus durch nahestehende Abgeordnete, direktes und indirektes Lobbying. Für die unmittelbare Kommunikation zwischen kirchlichen Stellen und Bonner Politikern richtete der Rat zum 1. Januar 1950 die Stelle des Bevollmächtigten des Rates der EKD am Sitz der Bundesrepublik Deutschland (so die etwas eigentümliche Formulierung) ein Der Teilnahme an der öffentlichen Diskussion politischer Fragen diente in den fünfziger Jahren eine Vielzahl relativ kurzer Erklärungen der Leitungsorgane, teil-weise aufgrund von Empfehlungen beratender Kammern veröffentlicht
Die öffentliche Wirksamkeit dieser häufig in stark kirchlich geprägter Sprache verfaßten „Worte" beruhte primär auf dem Ansehen der kirchlichen Institutionen. Mit der Lockerung religiöser Bindungen und wachsender Zahl der Kundgebungen mußte ihre Wirkung auf die Öffentlichkeit freilich nachlassen Die heftigen Kontroversen der fünfziger Jahre über die Grundzüge der politischen und ökonomischen Neuorientierung der Bundesrepublik veranlaßten die EKD, längere, argumentative Beiträge zu publizieren — als „Denkschrift" erstmals 1962 eine Arbeit zur Eigentumsbildung.
1. Die Eigentumsdenkschrift
Die innere Freiheit des Menschen von seinem Besitz ist eine wesentliche Forderung des Neuen Testaments Soziale Strukturen ließ die evangelische Amtskirche jedoch lange Zeit unbeachtet, so daß sie noch in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren keine wesentlichen Beiträge zur wirtschaftspolitischen Kursbestimmung etwa der CDU liefern konnte
Innerkirchlich entstanden in der Nachkriegszeit Spannungen über die Frage der Eigentumsverteilung. An der Evangelischen Akademie Bad Boll wurde daraufhin ein aus Expertentagungen hervorgegangener Arbeitskreis gebildet, der der Kammer für soziale Ordnung ein „sozialethisches Memorandum" vorlegte, das nach Beratungen in der Kammer dem Rat der EKD als Denkschrift zugeleitet und auf dessen Betreiben am 6. April 1962 veröffentlicht wurde
Die im Vergleich zu heutigen Arbeiten relativ schmale Studie „Eigentumsbildung in sozialer
III. Einzelne Denkschriften
Verantwortung" beginnt mit einer religiösen Aussage: „Die Welt, wir Menschen und alles, was wir haben, sind ein Werk des göttlichen Schöpfers. Jeder Mensch, der Eigentum erstrebt, hat oder darüber verfügt, soll daran denken, daß er und alle Güter Gott zu eigen sind" (Zf. 1).
Bewegt sich die Denkschrift mit dieser Feststellung noch im Bereich herkömmlicher Bibelauslegung, so geht sie mit den nachfolgenden Überlegungen zu Eigentumsfunktionen und dem sozialen Wandel in der Industriegesellschaft darüber hinaus. Sowohl die gesellschaftliche Eingebundenheit des Individuums als auch der Konsensbedarf der sozialen Ordnung seien gewachsen. Eine grob ungleiche Verteilung des Produktivvermögens gefährde den Konsens (Zf. 7— 10). Daher sei die wirtschaftliche Entwicklung der Nachkriegszeit, die einseitig die Inhaber von Produktivvermögen begünstigt habe, durch staatliche Maßnahmen marktwirtschaftskonform zu korrigieren (Zf. 11— 21). Konkret empfiehlt die Denkschrift die Schaffung von Sparanreizen für Arbeitnehmer und die Gewährung eines zusätzlichen Einkommensanteils, „der nicht zum Verbrauch, sondern zur produktiven Eigentumsbildung bestimmt ist und darum besonderen Bindungen unterliegt" (Zf. 23). Am Schluß steht ein Gewissensappell: „Das Eintreten für eine Verbesserung der gesellschaftlichen Ordnung gehört zu den Diensten, über deren rechte Erfüllung wir Gott Rechenschaft schulden."
Das Presseecho auf diese neuartige protestantische Redeweise fiel für die EKD unerwartet stark und positiv aus. Unter den Verbänden reichte die Zustimmung zunächst vom DGB, der seine Kritik an der Vermögensverteilung bestätigt sah, bis zum BDA, in dessen Organ die Studie grundsätzlich ausdrücklich gebilligt wurde. Später setzte sich jedoch auf der Arbeitgeberseite eine schroff ablehnende Haltung durch; auf der Gewerkschaftseite divergierten die Stellungnahmen zwischen der IG Bau (pro) und IG Metall (contra)
Die Parteien stimmten hingegen der Denkschrift einhellig zu: Die Bundesregierung und die Mehrheitsfraktionen sahen ihre Privatisierungspolitik unterstützt, die Opposition fühlte sich in ihrer Kritik bestärkt Die katholische Kirche stellte eine geistige Nähe ihrer Ansichten zu denen der EKD fest so daß ein bikonfessioneller Arbeitskreis gegründet werden konnte, der 1964 politische „Empfehlungen zur Eigentumspolitik" vorlegte Sie wurden — obgleich formell eine private Erklärung — als Stellungnahme der Kirchen angesehen und trugen zu einer wesentlichen Veränderung des 312-DM-Gesetzes bei. Nachdem 1970 die Synode der EKD eine Entschließung zur Vermögensbildung verabschiedet hatte ist dieses Thema durch die Organe der EKD nicht mehr aufgegriffen worden.
Aus heutiger Sicht erscheint die Eigentums-denkschrift angesichts ihrer halbprivaten Entstehungsgeschichte, ihrer relativ begrenzten Thematik und ihres starken Bezugs auf biblische Texte lediglich als ein erster Schritt der Veränderung evangelischer Beiträge zur politischen Diskussion. Auch in verschiedenen Sachfragen setzten spätere Denkschriften andere Akzente.
Hinsichtlich der Argumentationsweise ist zu beachten, daß die empfohlene Eigentumspolitik in der Denkschrift als Verwirklichung einer vorgegebenen, religiös geprägten Gerechtigkeit dargestellt wird: Jede Generation habe zu prüfen, „wie zwischen Recht und Unrecht in der Frage des Eigentums zu unterscheiden ist" (Zif. 6). Infolgedessen kommt der durch Glauben und Vernunft vermittelten Erkenntnis des Guten, nicht aber der kontroversen Auseinandersetzung gesellschaftlicher Gruppen der zentrale Platz in der Politikkonzeption der Studie zu.
2. Die Ostdenkschrift
Die größte publizistische Resonanz und die intensivste wissenschaftliche Analyse hat zweifellos die Denkschrift „Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn" von 1965 gefunden
Auslösendes Ereignis für die Erarbeitung der Vertriebenen-oder Ostdenkschrift war das Bekanntwerden des „Tübinger Memorandums" einiger protestantischer Intellektueller im Februar 1962 Angesichts der Mitwirkung führender Vertreter der Kirche an der Erklärung löste die damals provokante Forderung nach einem Verzicht auf die Wiederherstellung der Grenzen von 1937 Fragen nach der offiziellen Haltung der EKD aus.
Die mit der Klärung der Problematik betraute Kammer für öffentliche Verantwortung erarbeitete daraufhin unter Anhörung, jedoch ohne direkte Einbeziehung der Vertriebenen-Organisationen die Denkschrift. Einleitend verweist der Text auf „den Umfang der menschlichen Seite der Katastrophe des deutschen Ostens"; jedoch wird zugleich an „das menschliche und geschichtliche Schicksal der östlichen Nachbarn Deutschlands" und an die „schwere politische und moralische Schuld" des deutschen Volkes gegenüber seinen Nachbarn erinnert (S. 81).
Zur heutigen Lage der Gebiete jenseits von Oder und Neiße heißt es: „Ohne Zweifel sind hier Interessen entstanden, an denen keine Überlegung vorbeigehen kann" (S. 94). Allerdings sei die polnische Herrschaft über diese Gebiete noch nicht hinreichend legitimiert (S. 104). In der gegebenen Situation werde „das Beharren auf gegensätzlichen Rechtsbehauptungen, mit denen jede Partei nur ihre Interessen verfolgt, unfruchtbar, ja zu einer Gefahr für den Frieden zwischen beiden Völkern. Auf dieser Ebene ist der Konflikt nicht zu lösen" (S. 109). Der erforderliche Interessenausgleich müsse mit zunehmender Zeitdauer verstärkt den Anstrengungen Polens Rechnung tragen, die neu erworbenen Gebiete in seinen Staatsverband einzugliedern.
Die vorzeitig veröffentlichte Denkschrift stieß sofort auf scharf ablehnende Erklärungen der Vertriebenenverbände. Die nachfolgende Diskussion trug Züge höchster Erregtheit. Beteiligte, Befürworter und Gegner fanden sich sowohl in der CDU/CSU-als auch in der SPD-Fraktion des Bundestages
Das öffentliche Echo veranlaßte auch die Synode der EKD, zu der Denkschrift Stellung zu nehmen Die Studie binde nicht die Gewissen nach Art einer Glaubenswahrheit. Der Gedanke einer Kollektivschuld wurde zugunsten der Vorstellung einer Haftungsgemeinschaft des Volkes zurückgewiesen. Vergebung sei im Sinne der Denkschrift nicht einseitiger Verzicht, sondern ein Auftrag zu friedlichem Ausgleich, der vorbereitungsbedürftig sei und im konkreten Fall zugleich der deutschen Wiedervereinigung diene.
Trotz dieses Versuchs der Integration der Kritiker in die kirchliche Gemeinschaft organisierte sich eine Gruppe evangelischer Christen in einer „Notgemeinschaft". Anläßlich der späteren parlamentarischen Beratung der Ostverträge ließen fortbestehende Differenzen kein einmütiges evangelisches Votum zu. Erst 1975 kam auf der Synode der EKD eine mehrheitlich angenommene Erklärung zugunsten der deutsch-polnischen Folgevereinbarungen zustande
Trotz ihres Alters von fast 20 Jahren wird die Ostdenkschrift noch heute von Politikern als Bezugsgrundlage genutzt jedoch sollte ein zentrales argumentatives Problem der Studie nicht übersehen werden: Obgleich die Denkschrift auf die Formulierung eines konkreten politischen Programms verzichtet, läßt sich ihr Inhalt kaum anders als eine Aufforderung zum vertraglich geregelten Verzicht auf die Gebiete jenseits von Oder und Neiße interpretieren. Fragwürdig ist an dieser Forderung nicht ihr materieller Gehalt, sondern ihre Deduktion aus vorgegebenen Wahrheiten: „Die Opfer, die von dem deutschen Volk erwartet werden, leistet es nur, wenn es geschichtlich denkt und sich darin der Einsicht in eine höhere Notwendigkeit beugt."
Politik erscheint hier als Vollzug eines vorgegebenen historischen Planes. Politischen Entscheidungsträgern kommt daher nur die Rolle bloßer Koordinierungstechniker zu: „So wirkt an einer politischen Neuordnung eine Reihe von rechtlichen, politischen und menschlichen Faktoren mit, deren Zusammenspiel zu dirigieren und im rechten Augenblick zu Entscheidungen zu bringen Aufgabe der politischen Führung ist.. " (S. 119).
Ein solches Politikverständnis dürfte mit einem offenen politischen Entscheidungsfindungsprozeß unvereinbar sein und wirkt gegenüber politisch Andersdenkenden auch dann noch als Provokation, wenn ein letzter Schleier fehlender Konkretisierung über den Forderungen liegt. 3. Die Friedensdenkschrift Bereits in den fünfziger Jahren waren in der EKD heftige Diskussionen um Krieg und Frie-den, Wiederbewaffnung und Militärseelsorge geführt worden Während die Synode 1958 unüberbrückbare Gegensätze unter ihren Mitgliedern feststellen mußte, legte eine Kommission der Evangelischen Studiengemeinschaft im folgenden Jahr mit den „Heidelberger Thesen" eine Stellungnahme vor, die zur Grundlage für die weitere Diskussion in der EKD wurde
Während der Friede als „Lebensbedingung des technischen Zeitalters" definiert und die Lehre vom „gerechten Krieg" verworfen wurde, machten die Thesen über den richtigen individuellen Beitrag zur Friedenserhaltung keine verbindliche Aussage. Unter Umständen könnten sowohl Wehrdienst als auch Wehrdienstverweigerung — verstanden als einander ergänzende (komplementäre) Handlungen — christlich vertretbar sein. Die Kammer für öffentliche Verantwortung hob indes 1969 gerade die problematischen Aspekte der Abschreckung, des Pazifismus und der Komplementaritätsthese hervor, die ihres Erachtens allesamt keine umfassenden Antworten auf die Probleme der Zeit geben könnten
Angeregt durch die öffentliche Diskussion und die Initiativen des Weltkirchenrats beauftragte der Rat 1979 die Kammer, sich erneut mit der Friedensproblematik zu befassen. Im November 1981 konnte die Friedens-denkschrift veröffentlicht werden Nachdrücklich betonen die Autoren, daß die Bewahrung des Friedens eine politische Aufgabe sei (S. 49— 54). Entsprechend heißt es: „Sicherheit ist offenbar noch nicht ohne, aber auch keinesfalls mehr allein durch Rüstung herzustellen" (S. 22). In Auseinandersetzung mit den „Heidelberger Thesen" und den Aussagen der Aktion „Ohne Rüstung leben" führt die Kammer aus, daß trotz bislang ausgebliebener Abrüstungserfolge die Grundaussage der Thesen über die Vertretbarkeit des Waffendienstes und seiner Verweigerung vorläufig bestätigt werden muß. Zur Begründung wird auf die Unsicherheiten bei der Einschätzung derjenigen Risiken hingewiesen, die sich aus den politischen Entscheidungen für oder gegen atomare Rüstung ergäben (S. 58).
Der Wehrdienst wird jedoch nur dann als ethisch vertretbar angesehen, wenn alle politischen Anstrengungen auf eine aktive Friedenspolitik gerichtet sind. Falls der gegenwärtig vorhandene Spielraum nicht zu einer Durchbrechung der Rüstungsanstrengungen genutzt werde, „wird der Zeitpunkt kommen, wo Skandal und Risiko der Rüstungsspirale höher veranschlagt werden müssen als der Nutzen des Abschreckungssystems" (S. 72).
Die Denkschrift setzt sich daher ein für den Aufbau einer internationalen Friedensordnung, für vertrauensbildende Maßnahmen und die Vertretung europäischer Interessen gegenüber den Großmächten. Sie empfiehlt die Prüfung eines auf Defensivwaffen gestützten Verteidigungskonzepts und fordert die Kirche in der öffentlichen Meinungsbildung zu einer aktiven Rolle auf (S. 61— 75).
Die Studie fand Zustimmung vor allem bei SPD und FDP. Die CDU hielt sich zurück; die Friedensbewegung reagierte mehr oder weniger ablehnend Innerkirchlich mißriet der Versuch einer Konsensbildung durch die Denkschrift, als im Sommer 1982 das Leitungsgremium des Reformierten Bundes in Anknüpfung an die „Frankfurter Erklärung" der Kirchlichen Bruderschaften von 1958 die Friedensfrage in dem Sinne zur „Bekenntnisfrage" erhob, daß zu Massenvernichtungsmitteln in Besitz und Anwendung ein „bedingungsloses Nein!, ein . Nein ohne jedes Ja'" gesagt werden müsse Damit war eine Iden-tifikationsbasis für die evangelischen Teile der Friedensbewegung geschaffen worden. Nachfolgende Vermittlungsversuche der EKD und der Landeskirchen sind bis heute vergeblich geblieben.
Die erregte Debatte auf der letzten EKD-Synode hat gezeigt, daß die Friedensproblematik innerkirchlich keineswegs ausdiskutiert ist, sondern im vergangenen Jahr durch die Einbeziehung der Barmer Erklärung eine theoretische Vertiefung erfahren hat Das entsprechend einer Empfehlung der Denkschrift in Auftrag gegebene und inzwischen fertiggestellte Friedensgutachten könnte der Diskussion in diesem Jahr einige zusätzliche politikwissenschaftliche Impulse geben Angesichts der Hinwendung der evangelischen Kirchen der DDR zu pazifistischen Positionen bleibt vorerst abzuwarten, ob ein einmütiges Wort von Rat und Kirchenbund anläßlich des vierzigsten Jahrestages des Kriegsendes 1985 zustande kommen wird
Im Vergleich zu den Heidelberger Thesen zeigt die aktuelle Auseinandersetzung eine stärkere Betonung der politischen Aspekte der Friedensproblematik. So spricht die Friedensdenkschrift der Amtskirche eine politisch aktive Rolle zu; 1959 war hier noch Zurückhaltung empfohlen worden. Während indes die Kammer der EKD die politischen Handlungsbedingungen in einer rechtsstaatlich-pluralistischen Demokratie bewußt akzeptiert lehnt es das Moderamen des Reformierten Bundes explizit ab, sich als „eine politische Kraft unter anderen" zu verstehen Die Kammer ist somit gegenüber ihrer Vertriebenendenkschrift einen entscheidenden Schritt zur Anerkennung offener politischer Entscheidungsprozesse weitergegangen; das Moderamen dagegen ist mit seiner einen Verbindlichkeitsanspruch fordernden Deduktion politischer Entscheidungen aus der Bibel hinter die Ostdenkschrift auf Positionen der fünfziger Jahre zurückgefallen. 4. Denkschriften zu ökologischen Fragen, zu Stadt und Land Nachdem sich die Kammer für soziale Ordnung vor der Synodentagung von 1982, die dem Sinn und Wandel der Arbeit gegolten hatte, mit einer Studie zur Arbeitslosigkeit an die Öffentlichkeit gewandt hat sind 1984 zwei Studien publiziert worden, die Bezüge zu einer anderen bedeutenden Gegenwartsthematik — der Ökologie — aufweisen, diese Erörterungen jedoch einbinden in agrarische bzw. urbane Fragen
Schon die erste Landwirtschaftsstudie (1965) hatte festgestellt: „In unserer Welt hängen alle Lebensbereiche und ihre Probleme wie in einem Gewebe zusammen" (Zf. 3) Dementsprechend waren soziale Fragen ebenso wie ökonomische, landschaftspflegerische und seelsorgerische Probleme erörtert worden. Das zentrale Anliegen der Studie war jedoch ein personales: Der soziale Wandel sollte von der Landbevölkerung bei angemessenen Umstellungshilfen ohne Zukunftsangst erlebt werden (Zf. 6)
Der wirtschaftspolitische Optimismus der ersten Landwirtschaftsstudie kann von der zweiten nicht mehr geteilt werden (Zf. 4, 21— 31). Die 1965 noch stärker gegebenen individuellen Anpassungsmöglichkeiten an veränderte ökonomische Rahmenbedingungen sind heute eng begrenzt. Eine Reform des EG-Agrarmarktes ist nach Ansicht der Autoren unausweichlich (Zf. 63, 144). Darüber hinaus aber stellen sich heute umweit-und entwicklungspolitische Fragen, so daß sich ein Lösungssystem aus den vier Prinzipien der Natur-und Sozialverträglichkeit, der genera-tiven und internationalen Verträglichkeit ergeben muß (Zf. 44).
Entsprechend fordert die Denkschrift die Erhaltung einer bäuerlich geprägten Landwirtschaft (Zf. 46 ff., 145), die Betonung der Solidarität unter den Landwirten, zwischen den Erzeugern und Verbrauchern, den lebenden und nachfolgenden Generationen sowie zwischen Mensch und Kreatur (Zf. 69). Zu einem Export der agrarsozialen Probleme durch permanente Nahrungsmittellieferungen in die Dritte Welt zwecks Überschußabbaus dürfe es nicht kommen (Zf. 34, 119ff.).
Die Weiterentwicklung der Landwirtschaft soll nach Ansicht der Kammer insbesondere unter Beachtung der Natur als „vielfältiges Gefüge" erfolgen. Gewarnt wird indes vor einer religiösen Idealisierung der Natur als Inbegriff einer heilen Welt (Zf. 74). Vielmehr habe der Mensch als Handelnder und zugleich Mitbetroffener eine „fürsorgliche Verantwortung“ für die Schöpfung (Zf. 73, 76). So fordert die Studie einen sparsamen, umweltschonenden Umgang mit den Ressourcen, eine artgerechte Tierhaltung, einen möglichst geringen chemischen Pflanzenschutz und die Einbindung der Landwirtschaft in den Landschaftsschutz (Zf. 85, 98 ff., 100 ff., 145 ff.). Besondere öffentliche Beachtung fand der Satz: „Im Zweifelsfall sollten heute ökologische Forderungen Vorrang vor ökonomischen Erwägungen haben, zumal langfristig nur das ökonomisch sinnvoll ist, was auch ökologisch verantwortet werden kann" (Zf. 146)
Die andere oben genannte, primär an die interessierte Fachöffentlichkeit gerichtete Studie gilt den Problemen der städtischen Bevölkerungsmehrheit in der Bundesrepublik: Soziale Desintegration, Wohnraumprobleme, wachsende Umweltbeeinträchtigungen, Partizipationsmöglichkeiten der Bürger, die Er-fahrbarkeit der Stadt als persönlicher Lebensraum sowie finanz-und wirtschaftspolitische Probleme der Kommunen werden erörtert. Um zu erreichen, daß die Stadt von ihren Bürgern als „Heimat" erlebt werden kann (Zf. 16), empfiehlt die Denkschrift die offene Gliederung der Stadt unter besonderer Beachtung des „Quartiers", in dem die verschiedenen Lebensfunktionen möglichst weitgehend integriert werden sollen (Zf. 64 ff.), um eine zu weit gehende Trennung der Lebensbereiche — wie Arbeit, Versorgung und soziale Kontakte — zu verhindern.
In ökologischer Hinsicht setzt sich die Kammer für eine nachhaltige Senkung der Schadstoffbelastung der Städte ein. Sie fordert eine Minderung der Lärmemissionen sowie die Sicherung natürlicher Ausgleichsräume und des Wasserbedarfs und empfiehlt eine Neuorientierung der Stadt-und Verkehrsplanung (Zf. 79 ff.). Für die Erweiterung und Neuansiedlung von Industriebetrieben sollen Luftreinhaltepläne und Emissionskataster eingeführt werden. Dazu heißt es: „Hierbei müßten Kosten und Nutzen verschärfter Bestimmungen im Zielkonflikt zwischen Umweltschonung und Erhaltung von Arbeitsplätzen in der Stadt sorgfältig abgewogen werden" (Zf. 86). Einen generellen Vorrang für ökologische Belange wird man aus diesem Zitat nicht herauslesen können.
Umweltpolitische Bezüge weisen weiterhin die Ausführungen zur Energiepolitik auf, die einen sparsamen Umgang mit Energiequellen empfehlen (Zf. 116 ff.) über diesen Fragenkreis hinaus gehen die Erörterungen der Partizipationsrechte der Bürger im Rahmen kommunaler Selbstverwaltung und örtlicher Planungsentscheidungen (Zf. 121 ff.).
Eine Gesamtdarstellung ökologischer Fragen liegt somit nicht vor. Während die Landwirtschaftsstudie mehr einschlägige Detailforderungen enthält, erscheint an der zweiten Denkschrift bemerkenswert, daß sie der „ökologischen Verantwortung" den gleichen normativen Rang gibt wie der Freiheit, Gleichheit, Mitmenschlichkeit und dem Frieden. Damit wird die Existenz von fünf Grundwerten angenommen. 1968 hatte die Kammer für öffentliche Verantwortung noch vier Grundwerte genannt (Frieden, Freiheit, Gleichheit, Solidarität) Die Verlängerung des Katalogs legt die Vermutung nahe, daß die Grundwerteproblematik noch keineswegs ausdiskutiert ist.
Politiktheoretisch interessant sind auch die in der Stadt-Studie angestellten Überlegungen zur Mitwirkung der Kirchen in der Kommunalpolitik. So sieht die Kammer gute Möglichkeiten für eine Identifikation der Kirchen mit den Problemen entscheidungsbetroffener Bürger (Zf. 131). Damit bekennt sich die Denkschrift zu einer Rolle der Gemeinden als advokatorische Interessengruppen. Die Autoren müssen sich dann allerdings darüber klar sein, daß hierfür besondere institutionelle Garantien, wie sie etwa für religiöse Belange das Bundesbaugesetz bei der Bauleitplanung vorsieht (§ 1 Abs. 6), nicht in Anspruch genommen werden können. Die Berufung auf das allein theologisch, nicht aber rechtlich als solches legitimierte „Wächteramt" der Kirche (Zf. 164) setzt andere Akzente als die Betonung des politischen Amtes durch die Kammer für öffentliche Verantwortung und gibt zu einigen Bedenken Anlaß: Wenn die Kirche „im Prozeß der Stadt zur Parteinahme aufgerufen" sein soll, „ohne deshalb Partei zu werden", so ist dies nur dann richtig, wenn „Partei" als politische Partei verstanden wird. Die Kirche ist und bleibt jedoch Teil (pars) unter anderen Teilen der Gesellschaft
IV. Folgerungen
Aus der Betrachtung der vorgestellten kleinen Auswahl an Denkschriften sind einige Eigenheiten und Entwicklungstrends der kirchlichen Beiträge zur politischen Diskussion ableitbar. Zunächst ist festzustellen, daß typischerweise evangelische Denkschriften Antworten auf eine gesellschaftliche und innerkirchliche Spannungssituation darstellen. Erwartungshaltungen unterschiedlichster Art werden von einzelnen Gruppen an die Kirche herangetragen, die ihrerseits bestrebt ist, die divergierenden Positionen einander anzunähern und dadurch einen neuen Konsens herbeizuführen Ist die Kirche aufgrund ihrer star-ken institutioneilen Ausdifferenzierungen heute strukturell an einem Rückfall in politische Apathie gehindert, so erlangen ihre Beiträge zur politischen Diskussion eine besondere gesamtgesellschaftliche Bedeutung durch die extrem große Weite der zu integrierenden Interessen und Meinungen: Die Probleme der Kirche erscheinen als ein Abbild der gesellschaftlichen Fragen
Auffällig ist die zunehmende Länge der Studien, verbunden mit wachsender inhaltlicher Komplexität. War es 1962 noch möglich, den Text der ersten Denkschrift im vollen Wortlaut in einer Zeitung abzudrucken so erreichen die neuerem Arbeiten den Umfang normaler Taschenbücher. Sie sind daher nicht geeignet, Positionen zu aktuellen Tagesfragen zu verdeutlichen. Daher haben die Denkschriften kürzere Erklärungen des Rates, seines Vorsitzenden oder der Synode der EKD nicht ersetzen können; vielmehr haben sich die Stellungnahmen der EKD formal zunehmend differenziert
Mit der Erarbeitung von Denkschriften ist eine Verschiebung des Laienelements in der Kirche einhergegangenen: Einerseits nimmt die öffentlich sichtbare Bedeutung theologischer Laien für kirchliche Erklärungen zu andererseits tritt der allgemeine Laienverstand gegenüber dem fachlich besonders qualifizierten Sachverstand in den beratenden Kammern zurück
Für die öffentliche Beachtung einer Denkschrift scheint die Reaktion anderer Interessenverbände von besonderer Bedeutung zu sein So haben erst die Proteste der Vertriebenenverbände die Ostdenkschrift bekannt gemacht. 1962 reagierten Parteien und Verbände zunächst deutlich positiv. 1981 fielen die Stellungnahmen zur Friedensdenkschrift unterschiedlich, aber ebenfalls lebhaft aus.
Die Aktualität einer erörterten Frage ist sicherlich für das öffentliche Interesse an einer Studie von Bedeutung, doch zeigt die geringe Beachtung der Mitbestimmungsstudie (1968) daß nicht die Aktualität allein, sondern die — im Falle der Mitbestimmungsstudie seitens des DGB ausgebliebene — Kommentierung einer Denkschrift durch andere Organisationen mit entscheidend sein dürfte: Denkschriften brauchen einen gesellschaftlichen „Resonanzboden". Dieser scheint um so vernehmlicher zu tönen, je stärker sich eine Gruppe durch eine Vorlage herausgefordert fühlt. Daraus ergibt sich für die EKD das Problem, daß ihre Studien einerseits das Ziel verfolgen, die Diskussionen politischer Streitfragen zu versachlichen und weiterzuführen, andererseits aber gerade schroff ablehnende Reaktionen und polarisierte Stellungnahmen das öffentliche Interesse an einem Beitrag erheblich steigern, das Ziel der Versachlichung jedoch damit verfehlen können. Die sorgfältige Unterscheidung zwischen publizistischem Erfolg, politischen Wirkungen und kirchlicher sowie gesellschaftlicher Bedeutung erscheint daher dringend geboten Auch die oft als „Schulbeispiel" kirchlichen Redens hingestellte Ostdenkschrift ist daraufhin zu befragen, ob ihr Erfolg nicht zu einem Gutteil auf ihrer pluralismusinadäquaten Argumentationsstruktur beruht.
Inhaltlich läßt sich feststellen, daß im Vergleich zu 1962 in neueren Studien mit wirtschaftspolitischem Bezug auf die Bindungen des Eigentums größerer Nachdruck gelegt wird. Hatte die Eigentumsstudie noch stark marktwirtschaftlichen Kräften vertraut und eine gleichmäßigere Teilhabe am Eigentum sichern wollen, so bejahte die Mitbestimmungsstudie ein Mitwirkungsrecht der Arbeitnehmer, sofern die regulative Kraft des Marktes erhalten bliebe. Die Studie zur Arbeitslosigkeit (1982) hält hingegen einen Ausgleich zwischen marktwirtschaftlichen und interventionistischen Ansätzen für erforderlich; die Landwirtschaftsdenkschrift kann sich bezüglich der Sanierung des EG-Agrarmarktes für keine der beiden Strategien entscheiden und fordert über starke soziale Komponenten hinaus auch ökologische Korrekturen der Marktwirtschaft. Dabei ist auffällig, daß in strittigen Fragen heute — anders als in der Mitbestimmungsstudie — eine mehrheitliche Entscheidung unterbleibt. Einer prinzipiellen gesellschaftlichen Strukturveränderung redet die EKD nicht das Wort. Sie orientiert sich vielmehr am umfassend verstandenen Grundsatz der Solidarität. Dieser — insbesondere in der Arbeitslosigkeitsstudie ausgeführte — Grundsatz deutet eine weitere Entwicklung in den Denkschriften an: Durch ihre fortgesetzte Erarbeitung entstehen Bezüge zwischen verschiedenen Studien, die zur Herausbildung von gefestigten, nur punktuell zu ändernden und zu ergänzenden politischen Ansichten führen. So finden sich in der Friedensdenkschrift Hinweise auf frühere Thesen, Formeln, Studien und Berichte, und ebenso wird in der zweiten Landwirtschaftsdenkschrift auf vier andere kirchliche Dokumente Bezug genommen. Der in der zweiten Landwirtschaftsstudie aufgegriffene Gedanke der Solidargemeinschaft erscheint an einer Stelle bereits zum „Solidaritätsprinzip" verdichtet (Zf. 63). In der Außenpolitik scheint der Begriff der „Versöhnung" eine ähnliche Entwicklung zu machen.
In diesem Zusammenhang ist auf eine Parallele zwischen der Denkschriftenformulierung und der Rechtsprechung zu verweisen: Eine der Besonderheiten der Interessengruppe EKD liegt darin, daß sich die interne Legitimation ihrer Stellungnahmen nicht aus Mehrheitsbeschlüssen, sondern aus der Bindung an das Gemeingut, die Bibel, ergibt. Aus dieser — interpretationsbedürftigen — „Grundlegung einer Lebensanschauung" durch die Bibel ergeben sich im Vergleich mit den Beschlüssen anderer gesellschaftlicher Organisationen wesentlich stärkere materielle Bindungen. Dieser inhaltliche Bezug auf das Evangelium bedeutet zugleich die Angabe eines Geltungsgrundes der Aussagen jenseits von Mehrheitsentscheidungen. Die Freiheit des einzelnen bleibt trotz dieses Anspruchs so lange gewahrt, wie es dem Individuum in Gemeinwesen und Kirche freigestellt ist, nach seinem eigenen Gewissen über die subjektive Verbindlichkeit des Anspruchs zu entscheiden. Dennoch besteht für diejenigen gesellschaftlichen Gruppen, die besonders weitgehende politische oder soziale Änderungen anstreben, eine typische Verführungssituation: Da radikale Veränderungen regelmäßig schwerer durchsetzbar sind als graduelle Reformen, besteht für sie ein Interesse daran, alle Institutionen mit einiger Reputation für derartige, regelmäßig von kleineren Gruppen befürwortete Wechsel in Anspruch zu nehmen. Die „Volkskirche" sieht sich in dieser Hinsicht ähnlichen Vereinnahmungsversuchen ausgesetzt wie die Einheitsgewerkschaft und die Verfaßten Studentenschaften
Die EKD wird ihrem Anspruch, „Kirche" zu sein, jedoch nur dann gerecht, wenn sie die sich aus ihrer religiösen Basis ergebenden Grenzen des Geltungsanspruches ihres Redens beachtet und an dem Punkt zu unverbindlichen Vorschlägen übergeht, an dem der Konsens über das Gemeingut endet. Die mehrheitlich befürwortete, von einigen kritisierte Beteiligung eines breiten Meinungsspektrums an den politischen Äußerungen der EKD ist daher — soweit nicht die spezifisch christliche Grundorientierung in Frage gestellt wird — keineswegs ein Zeichen opportunistischer Anpassung der Kirche an vorgefaßte Ansichten, sondern ein Ausdruck für ihre Laienhaftigkeit in profanen Fragen.
Die Friedensdiskussion hat gezeigt, daß die Organe der EKD mehrheitlich die Bedingtheit der Möglichkeit kirchlicher Stellungnahmen zur Politik durch die pluralistische Organisation des Gemeinwesens erkannt haben Zugleich ist jedoch deutlich geworden, daß die Akzeptanz der pluralistischen Demokratie unter den Protestanten keineswegs unumstritten ist Aufgrund ihres volkskirchlichen Selbstverständnisses kann die EKD nicht darauf verzichten, mit den innerkirchlichen, dem System ablehnend gegenüberstehenden Gruppen im Dialog zu bleiben. Damit leistet sie zugleich einen wertvollen integrativen Dienst für das Gemeinwesen.