Vorbemerkung
Politische Bildung dient der Aufgabe, Herausforderungen und existenzbedrohende Gefahren nicht nur in der eigenen Gesellschaft, sondern auch in der internationalen Politik zu erkennen und im Bewußtsein der Bürger zu verankern. Gerade heute ist es nötig, grundlegende, uns alle berührende Probleme zu analysieren und neue Ideen und Initiativen für ihre Lösung zu erörtern. Ein Ziel politischer Bildung ist es, dem Bürger auch Politikfelder zu erschließen, die nicht unmittelbar in seinem Erfahrungshorizont liegen, deren Prozesse und Strukturen ein Umdenken und unvermeidbare Veränderungen erfordern, wenn der allgemeine und soziale Frieden in der Welt bewahrt werden soll. Das setzt die Vermittlung zahlreicher Fakten voraus, welche die Konflikte und Ungleichgewichte darstellen, die den Frieden bedrohen und den sozialen Ausgleich gefährden. Nur der wissende und orientierte Bürger kann sich für problemlösende Veränderungen engagieren und eine praktische Politik unterstützen, die Wege für gangbare Lösungen aufzeigt.
Entwicklungspolitik hat als neueres Aufgabenfeld ihre Bewährungsprobe im Nord-Süd-Verhältnis noch zu bestehen. „Zivilisiertes überleben" wird es in der zukünftigen Welt nur dann geben, wenn die Probleme unter Kontrolle bleiben, das heißt angemessene Antworten zu finden, die nicht mehr bilateral, sondern durch weltweite Kooperation zu lösen sind. Das Nord-Süd-Problem erfordert tatkräftige Hilfe zur Selbsthilfe. Die Erfahrung der „globalen Interdependenz“ verbietet es, eine Politik des einseitigen Vorteils und des kurzsichtigen Egoismus zu betreiben. Entwicklungspolitik verlangt heute die Lernfähigkeit der ganzen Gesellschaft und den Einsatzwillen der jungen Generation, um mangelndes Wissen und Gleichgültigkeit mit dem Lebensschicksal der Unterentwickelten durch politischen Einsatz zu überwinden und unwürdige Lebensumstände zu beseitigen. Die Veränderung der Nord-Süd-Beziehungen ist eine Hauptaufgabe der heutigen Politik, die den gleichen Stellenwert zu beanspruchen hat wie die Vermeidung des Wettrüstens im Interesse des Weltfriedens.
I. Über die Bewegung der Blockfreien
Nach dem Zweiten Weltkrieg überschattete der Ost-West-Gegensatz die internationale Politik; denn der machtpolitische und ideologische Zwiespalt prägte das politische Denken in den feindlichen Blocksystemen. Gegen die Tendenz einer „Verzweiheitlichung“ der Welt setzten sich bald jene Länder zur Wehr, die nicht bereit waren, sich dem westlichen oder dem östlichen Lager einzuordnen. Die Anfänge dieser Politik gehen auf den „Colombo-Plan“ zurück, auf den sich die Außenminister der Commonwealth-Staaten im Januar 1950 einigten. Ziel des Colombo-Planes, der im Juli 1951 in Kraft trat, war es, die wirtschaftliche und technische Entwicklung in Südostasien zu fördern. Die Regierungschefs der jungen Staaten (so Indien, Indonesien u. a.) erhoben ihre kritische Stimme gegen den bestehenden Kolonial-Status, den sie als Verletzung grundlegender Menschenrechte und als Bedrohung des Weltfriedens bezeichneten -Diese Staatengruppe regte eine Solidaritätskonferenz an, um Fragen der Zusammenarbeit zu klären und Probleme der nationalen Souveränität, der Rassenfrage und des Kolonialismus zu diskutieren. Ihre Aktivitäten führten im Jahre 1954 zur Einberufung der Konferenz von Bandung auf Java in Indonesien. In Bandung trafen sich 23 asiatische und sechs afrikanische Staaten, die bereit waren, eine eigenständige Rolle in der Weltpolitik zu spielen und eine „Philosophie" der Blockfreiheit nach den von Indien vertretenen fünf Prinzipien zu entwickeln:
1. Gegenseitige Achtung von Integrität und Unabhängigkeit, Verzicht auf alle Aggressionsakte, Nichteinmischung in innere Angelegenheiten, Gleichberechtigung und Streben nach gemeinsamen Vorteilen, 5. Regelung aller Streitfragen mit friedlichen Mitteln.
Die Teilnehmer verstanden sich als Solidaritäts-und Protestbewegung, die den Kolonialismus, Imperialismus und Rassismus verurteilte und sich für die Unabhängigkeit unterdrückter Länder engagierte. Ihre Ziele richteten sich auf ökonomische Reform und auf eine Veränderung des Weltwirtschaftssystems. Die politische und organisatorische Führung fiel einem Triumvirat zu, welches Nehru, Nasser und Tito mit ihren Ländern Indien, Ägypten und Jugoslawien bildeten. Die Anwesenheit der Volksrepublik China, vertreten durch Tschou En-lai, verlieh der Konferenz ein besonderes Gewicht.
Ermutigt durch die erfolgreiche Bandung-Konferenz riefen ihre Wortführer auf der Adria-Insel Brioni die „Dritte-Welt-Bewegung" ins Leben und verurteilten zugleich die Militärallianzen mit den antagonistischen Machtblöcken. Durch den Zustrom der jungen Staaten erlebte die Bewegung der Blockfreien in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre einen beachtlichen Aufstieg 2). Die neue Staaten-gruppe war sich ihrer militärischen Schwäche, ihrer politischen Instabilität und ihrer ökonomischen Unterentwicklung bewußt und bemühte sich daher verstärkt um mehr Einfluß und um die Durchsetzung ihrer Interessen. Das Konzept der Blockfreiheit, welches man nicht mit „Neutralität" gleichsetzen kann, schloß dabei die Parteinahme für die eine oder andere Seite grundsätzlich nicht aus. Eine passive und indifferente Haltung wollte man durch eine aktive und dynamische Einstellung und durch eine kritische Beurteilung der Politik der gegnerischen Blöcke vermeiden. Eine statische Politik, welche sich auf „Äquidistanz" einstellte, widersprach diesem Konzept, denn die eigene Kritik richtete sich gegen die amerikanische Eindämmungs-und Bündnispolitik, die unter der Ägide von John Foster Dulles jeden Neutralismus als amoralisch verurteilte. Die neue Bewegung verfügte über keinen kodifizierten Vertragstext, auch nicht über eine Gründungscharta, d. h., man verstand sie als lockeres Zweckbündnis, welches einen flexiblen Charakter besaß 3).
Als Zielvorstellung strebte man die größtmögliche politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit, die Festigung der eigenen politischen Souveränität und die Schaffung eines neuen Systems internationaler Beziehungen an, welche die Grundsätze friedlicher Koexistenz beachtete. Man forderte die Auflösung der Militärblöcke, die Aufnahme von Abrüstungsgesprächen, die friedliche Regelung der Konflikte und die Errichtung von „Zonen des Friedens“. Ihr Widerstand richtete sich gegen alle Formen der Unterdrückung, Fremdherrschaft und Fremdbestimmung (ob imperialistisch, rassistisch, hegemonistisch etc.), um die eigene nationale Unabhängigkeit zu stärken. Als Schwerpunkte verfolgte man die soziale und wirtschaftliche Entwicklung (Minderung des Entwicklungsgefälles) und die Demokratisierung der internationalen Beziehungen (verstärkte Partizipation der unterrepräsentierten Länder).
Bereits anläßlich der Vollversammlung der UNO 1960 starteten die Blockfreien ihre erste Friedensinitiative, indem sie Eisenhower und Chruschtschow aufforderten, eine konstruktive Politik zu betreiben. Auf ihrer ersten offiziellen Konferenz in Belgrad, im September 1961, bezeichneten sie sodann die Friedens-frage als gleichrangig mit den Entwicklungsproblemen. Auf Grund der Befürchtung, in die Gegensätze der antagonistischen Blöcke mit hineingezogen zu werden, legten sie den Akzent in den sechziger Jahren besonders auf die sicherheitspolitischen Probleme. Die Integrationsabsichten der Blockfreien wurde durch die fortschreitende Entkolonialisierungsbewegung verstärkt, denn es gelang ihnen, die jungen Staaten in ihre Front einzugliedern 4). Nicht zuletzt der Ost-West-Konflikt trug dazu bei, diese Non-Alignment-Front zu vergrößern. Mit 47 Delegationen zeigte die Konferenz der Blockfreien in Kairo 1964 eine ansteigende Tendenz. Ihre Option für politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit und ein neues System internationaler Beziehungen gab der Bewegung raschen Auftrieb Zugleich stärkte die Erkenntnis, von den Industrieländern abhängig zu sein, den Willen, ökonomische Forderungen gemeinsam zu vertreten. Auf diese Weise entwikkelte sich eine breite „Dritte-Welt-Front", die in den siebziger Jahren — im Zeichen der Entspannung — in eine mehr ökonomische und entwicklungspolitische Etappe überging. Die politische Unabhängigkeit blockfreier Staaten machte mit der inneren Konsolidierung Fortschritte, so daß man nun die ökonomische Unabhängigkeit als Forderung in den Vordergrund rückte
Die gemäßigteren Mitglieder (Indien, Ceylon, Kenia, Nigeria) sorgten dafür, daß man in Kairo (1964) und auch in Lusaka (1970) die Folgen des Kalten Krieges, die Abrüstungsfrage und die Stärkung der Vereinten Nationen behandelte, während die radikaleren Mitglieder (Ägypten, Ghana, Algerien, Kuba etc.) dazu drängten, vor allem ökonomische Probleme zu erörtern, um antikoloniale Positionen durchzusetzen. Schon in Kairo und auf der von der UNO 1964 gegründeten UNCTAD-Konferenz in Genf wurde die Forderung nach grundlegender Umgestaltung der Weltwirtschaft diskutiert. Sie wurde besonders von der aktiven „Gruppe 77" mit der Erklärung vertreten, „eine neue internationale Arbeitsteilung, die auf die beschleunigte Industrialisierung der Entwicklungsländer gerichtet ist", zu empfehlen. Die Gruppe ging davon aus, daß „der Beginn eines neuen Zeitabschnitts in der Entwicklung“ beginne und daß Zusammenarbeit das entscheidende Instrument sei, um „die Teilung der Welt in Gebiete des Reichtums und in Gebiete unerträglicher Armut zu beenden. Diese Aufgabe ist die größte Herausforderung unserer Zeit“
Während die ersten Konferenzen der UNCTAD noch wenig Beachtung fanden, stießen sie mit Beginn der siebziger Jahre auf weltweites Interesse. Dies zeigte sich auf der Konferenz in Santiago de Chile 1972, als sich die Gruppe der 25 „least developed countries“ (LLDC) formierte und sich damit eine Zersplitterung unter den Blockfreien andeutete. Auf Grund der Erdölpreiserhöhung kam es zur Teilung der Blockfreien in eine Dritte und Vierte Welt; man bildete die Gruppe der „most seriously affected countries" (MSAC), die unter der Preiserhöhung besonders litt. Die Aufteilung in fortgeschrittene Entwicklungsländer (Schwellenländer, wie z. B. Brasilien, Süd-Korea etc.) und in benachteiligte und hilfsbedürftige Länder (vor allem afrikanische Staaten, Madagaskar, Haiti, Süd-Vietnam etc.) deckte die großen Unterschiede im Rahmen der „Dritten-Welt-Bewegung“ auf
Die westlichen Länder verfolgten die Entwicklungspolitik der Blockfreien mit kritischer Distanz. Sie fragten sich, ob eine Integration der Entwicklungsländer in das marktwirtschaftliche Weltwirtschaftssystem deren Probleme lösen könne. Eine Bilanz der zehnjährigen Nord-Süd-Beziehungen am Anfang der siebziger Jahre verdeutlichte in der Tat, daß die Forderung nach einer „Neuen Welt-wirtschaftsordnung“ mit Nachdruck zu stellen war, denn „in der Gesamtbilanz (blieb) die Entwicklungshilfe der Industrieländer allzusehr in deren politische und wirtschaftliche Interessenlage eingebunden. Die westlich-kapitalistische . Hilfe'war überwiegend auf die weltwirtschaftliche Nutzbarmachung der Entwicklungsländer für die Industrieländer angelegt, nicht jedoch auf eine positive Veränderung der für die Entwicklungsländer ungünstigen weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen..., die auf Grund ihrer ungleichen Nutzenverteilung die sozio-ökonomische Kluft zwischen Industrieländern und Entwicklungsländern ständig vergrößerte."
Die bittere Enttäuschung, die sich-über die Resultate der ersten Dekade eigener und fremder Entwicklungsanstrengungen einstell-te, richtete sich gegen das Konzept „Aufholen durch Weltmarktintegration". Neben dem Bemühen der UNO hatten die . Allianz für den Fortschritt" und EG-Assoziierungsabkommen große Hoffnungen ausgelöst. Als Ergänzung zur politischen forderte man jetzt die ökonomische Unabhängigkeit. Die Misere, die im Rückgang des Anteils am Welthandel, in der Vergrößerung der Kluft des Pro-Kopf-Einkommen und im steigenden Problemdruck auf die Führungseliten ihren Ausdruck fand, kreidete man allgemein den westlichen Entwicklungsmodellen an. So entstand eine entwicklungstheoretische Debatte, welche sich auf strukturelle Ursachen und Mechanismen des bestehenden Weltwirtschaftssystems konzentrierte. 1973 erhoben die Blockfreien in Algier ihre Stimme und — durch die OPEC-Aktion in der Ölkrise ermutigt — suchten eine enge Zusammenarbeit mit der „Gruppe 77", um ein kompaktes Forderungs-und Aktionsprogramm zu formulieren, welches im Kern auf ein „Postulat einer . Neuen Weltwirtschaftsordnung'gegenüber den (westlich-kapitalistischen) Industrieländern und auf das Postulat einer kollektiven Eigenständigkeit (Self-Reliance) der Dritten Welt hinauslief" Der Vorwurf lautete, die eingetretene Entspannungspolitik zwischen Ost und West habe sich für die Blockfreien keineswegs positiv ausgewirkt Strittige Themen von Algier waren die Fragen, ob politisch-ökonomische Probleme Ausdruck des Nord-Süd-Konfliktes seien und ob der westliche Imperialismus ebenso wie der sowjetische Sozialimperialismus anzuklagen sei. Sollte man das sozialistische Lager mit in die Front der Blockfreien und damit gegen die kapitalistischen Industrienationen einbeziehen? Fidel Castro machte sich zum Sprecher der These, daß der westliche Imperialismus unter Führung der USA allein für die Misere der Entwicklungsländer verantwortlich sei. Er bezeichnete die Sowjetunion als den natürlichen Verbündeten der Blockfreien und würdigte das sozialistische Lager als hilfsbereiten Partner. Dieser Auffassung widersprachen die Chinesen als Vertreter einer Drei-Welten-Theorie. Sie forderten die Zweite Welt, die hochindustrialisierten Staaten, auf, mit der Dritten Welt, den Entwicklungsländern, gegen die Supermächte, welche die Erste Welt repräsentierten, zu kämpfen.
Die Sowjets hielten dagegen an ihrer Zwei-Welten-Theorie fest, welche den Antagonis-mus zwischen Sozialismus und Imperialismus hervorhob.
Auf der Gipfelkonferenz in Colombo 1976 fanden die Vertreter der Castro-These keine Mehrheit. Viele Vertreter der Blockfreien forderten allerdings die westlichen Industrieländer wegen ihrer mangelnden Zugeständnisse auf, den Widerstand gegen die „Neue Welt-wirtschaftsordnung" einzustellen. Initiativen und Angebote, Konzessionen und Aktionen mit dem Ziel der Überwindung der „Unterentwicklung" erwarteten sie vom Westen allein. Keine. Gipfelkonferenz hatte bisher die ökonomischen Probleme so stark in den Vordergrund gerückt wie Colombo. Zählte man zu den 85 Delegationen die „Beobachter“ und „Gäste" dazu, so zeigte sich, daß der größte Teil der Länder der Dritten Welt hinter den Blockfreien stand. Diese Entwicklung machte sie zu einem beachtlichen Faktor in der Weltpolitik.
Der Antikolonialismus hatte Erfolge erzielt, weil die Kolonialmächte bereit waren, ihre Kolonien in die Unabhängigkeit zu entlassen. Im Ost-West-Konflikt trug die Bewegung der Blockfreien mit zur Entkrampfung der Spannungen bei und förderte polyzentristische und multipolare Tendenzen. Im Bereich des Nord-Süd-Konfliktes blieb jedoch das Problem der „Unterentwicklung“ ungelöst; deshalb drängte man im Rahmen des Nord-Süd-Dialogs auf eine Reform des Weltwirtschaftssystems. Die starke Heterogenität der Mitglieder und ihre wachsende Zahl führte auch in den Süd-Süd-Beziehungen zu Spannungen und Divergenzen und offenbarte unterschiedliche Interessen. Kriegerische Konflikte brachen aus (z. B. Vietnam/Kambodscha, Somalia/Äthiopien und Iran/Irak), welche die Supermächte in dem neu belebten Ost-West-Gegensatz zum Eingreifen verleiten konnten, und einige Mitgliedstaaten ergriffen offen Partei für eine Allianz mit der Sowjetunion. Beim 6. Gipfeltreffen in Havanna im September 1979 nutzte Kuba als gastgebendes Land die Chance, die These über die Alleinverantwortung kapitalistischer Industrieländer neu zu beleben und sich für enge Bindungen an das sozialistische Lager auszusprechen. Tito als Wortführer der Gemäßigten hingegen, der für die Wahrung einer neutralen Position eintrat und zu beiden Blöcken die gleiche Distanz empfahl, widersetzte sich dem prosowjetischen Kurs Castros. Der Dissens zwischen den Radikalen und Gemäßigten blieb nicht verborgen, doch versuchte man, Kompromißformeln zu finden, um den offenen Bruch zu vermeiden, was schließlich durch die Aktivierung einer mittleren Gruppierung zwischen Radikalen und Gemäßigten, die eine ausbalancierende Haltung vertrat, gelang. Diese Balance wird auch in Zukunft nötig sein, wenn man eigene Ziele gemeinsam verwirklichen will, denn die Entwicklungshilfepolitik ist mit den beginnenden achtziger Jahren in eine schwierige Phase eingetreten
II. Entwicklungspolitik in der Sicht theoretischer Konzepte
Neben der Außen-und Gesellschaftspolitik ist die Entwicklungspolitik heute zu einem eigenständigen Bereich der Gesamtpolitik in den Industrieländern geworden, so daß man von ihr Lösungsvorschläge für den sozialen Ausgleich erwartet, um den Teufelskreis der Armut in der Welt zu durchbrechen. Seit der Ölkrise 1973/74 hat die Einsicht bei den westlichen Industrienationen zugenommen, daß man Stabilität und ökonomische Sicherheit nur mit einer Politik geplanter Veränderung erreichen kann. Der Begriff „Entwicklungsland" erweist sich dabei zunehmend als definitionsbedürftig, da die UNO und der Entwicklungshilfeausschuß der OECD eine unterschiedliche Einstufung vornehmen, obwohl sie ähnliche Kriterien, wie z. B. das Pro-Kopf-Einkommen der Bevölkerung, verwenden. Die UNO erstellte zwei Listen für die ärmsten Länder der Welt: die LLDC-und die MSAC-Liste. Für die LLCD-Liste entwickelte sie drei Kriterien:
1. Das Brutto-Inlands-Produkt (BIP)
2.den Anteil der industriellen Produktion am BIP und 3. die Alphabetisierungsquote
Für die politische Bildung spielt der Begriff „Unterentwicklung" eine besondere Rolle, weil wesentliche Merkmale dieses Begriffes nach Transparenz verlangen. Der Indikator „Unterentwicklung" spiegelt insgesamt nur die ökonomische Gesamtsituation wider und blendet wesentliche Aspekte wie die Einkommensverteilung im Lande, die wachsende soziale Kluft infolge einer dualistischen Wirtschaftsstruktur (großer landwirtschaftlicher und kleiner dynamischer Industriesektor), ferner die hohe Arbeitslosen-und Analphabetenquote, die nur wenig qualifizierten Arbeitskräfte und den Kapitalmangel aus. Auch die geringe Investitionsrate und die hohe Verschuldung, nicht genügend entwickelte Export-Kulturen (bei zu wenigen Produkten) und das schnelle Bevölkerungswachstum sind zu beachten. Neben diesen Faktoren spielt die Orientierung der Bürger der Entwicklungsländer auf ihre Primärgruppen hin eine große Rolle, weil diese zu verminderter Loyalität für den Staat führen kann, so daß auch im politischen und sozialen Bereich Krisensituationen auftreten, wenn staatliche Autorität nicht anerkannt wird bzw. sich nicht durchzusetzen vermag
Diese Aspekte und Kriterien werden von den Entwicklungstheorien unterschiedlich gewichtet, weil man — auf Grund der entwicklungstheoretischen Einstellung — entweder exogene oder endogene Ursachen der Unter-entwicklung hervorhebt. Bisher ist es nicht gelungen, eine integrale Theorie zu entwerfen, welche die Ursachen für Unterentwicklung erklärt und zugleich Entwicklungsstrategien vermittelt. Die vorhandenen Theorie-ansätze stehen sich konträr gegenüber, weil sie unterschiedliche Faktorengruppen berücksichtigen. Als Beispiele dafür kann man die marxistisch-sozialistische ünd die liberal-marktwirtschaftliche Schule anführen, welche entweder exogene oder endogene Faktoren betonen
Marxistisch-orientierte Entwicklungstheoretiker stützen sich auf die Annahme, daß Armut und Verelehdung die Folge von Ausbeutung durch kapitalistische Länder ist. So b, e-nötigt nach der Imperialismustheorie der expansive Kapitalismus die Uberseegebiete zur Kapitalanlage. Der tendenzielle Fall der Pro-fitrate zwingt nach Lenin dazu, gewinnbringende Investitionen vorzunehmen. Ausbeutung hat demzufolge immer ein doppeltes Gesicht: Man zieht hohe Gewinne sowohl aus Direktinvestitionen als auch aus billigen Arbeitskräften und Rohstoffen. Die Probleme der Entrechteten soll der propagierte internationale Klassenkampf einer Lösung zuführen. Rosa Luxemburg beispielsweise sah den ursächlichen Faktor der Unterentwicklung im Export von Arbeitslosigkeit durch die Industrieländer. Die Überproduktion zwinge die Kapitalisten dazu, sich neue Absatzmärkte im Interesse hoher Beschäftigungsgrade in Europa und in den USA zu sichern.
Im Gegensatz zur Sowjetideologie Stalins, welche die Weltrevolution unter Führung der Sowjetunion anstrebt, spricht die chinesische Revolutionstheorie vor allem die Massen der Bauern und Entrechteten in den Entwicklungsländern an. Sie setzt der bekannten sowjetischen Zwei-Welten-Lehre eine Drei-Welten-Theorie entgegen. Diese ruft die „Dörfer“ in der Welt (die Entwicklungsländer) auf, gegen die ausbeuterischen „Städte" (die Industriestaaten und städtischen Zentren in der Dritten Welt) zu kämpfen, um sie revolutionär zu besiegen. Chinas Weg zum Sozialismus beruht auf dem Vertrauen in die eigene Kraft, denn man will die wirtschaftliche und soziale Entwicklung unabhängig vom Auslandskapital vorantreiben. Besonderen Wert hat die Volksrepublik auf eine gleichgerichtete Entfaltung von Landwirtschaft sowie landwirtschaftsorientierter Industrie und den modernen Industriesektor gelegt. Im Gegensatz zur Sowjetunion treten die Chinesen für eine „Dezentralisierung" als Strukturprinzip ein. Sie selbst verstehen sich als Wortführer der Dritten Welt.
Moderne marxistische Imperialismustheorien, z. B. die lateinamerikanische Dependenztheorie, thematisieren die strukturelle Abhängigkeit von den Metropolen und verweisen auf Dominanz-Dependenz-Verhältnisse zwischen kapitalistischen Staaten und unterentwickelten Ländern Abhängigkeitsstrukturen und die asymmetrische Arbeitsteilung werden mit dem Zentrum-Peripherie-Modell erklärt Soziale Ungleichgewichte deutet man mit dem Theorem des ungleichen Tau-16) sches, weil nur scheinbar ein Tausch von Äquivalenten erfolgt. Das Theorem differentieller spin-off-Effekte wird als Folge historisch bedingter internationaler Arbeitsteilung interpretiert. Eine strukturelle Vorteilsposition entsteht dadurch, daß die Industrienationen „verarbeitete Produkte gegen nicht-verarbeitete Erzeugnisse der Dritten Welt tauschen. Die infrastrukturellen Voraussetzungen für die Produktion ... klaffen hier derart weit auseinander, daß als Resultat... schließlich zwei verschiedenartige Gesellschaftstypen, die über das Weltwirtschaftssystem miteinander verklammert sind, sich gegenüberstehen: Metropolen ... und Peripherien ...“ Es gilt demnach eine Strategie zu entwickeln, welche den Süden aus dem „Netz der strukturellen Gewalt" befreit und inegalitäre Interdependenzen aufhebt Nach Ansicht von Senghaas ist Unterentwicklung nicht als „Vorstadium“ oder „Zwischenstadium" auf dem Wege zur Verwirklichung der westlich-kapitalistischen Gesellschaftsformation zu betrachten, sondern als „Folge und Ausfluß des sich in den Metropolen entfaltenden Kapitalismus“ Diese Integration fördert keine Autonomie und eigenständige Entwicklung, bringt kein Selbstbewußtsein hervor, sondern verursacht innere Deformation und Widersprüchlichkeit. Sie ist als Resultat einer Penetration von außen her zu bezeichnen. Senghaas folgt in dieser Argumentation marxistisch orientierten Vertretern der Entwicklungsländer, welche vorwiegend exogene Faktoren für Unterentwicklung und Abhängigkeit verantwortlich machen.
Der von Senghaas skizzierte theoretische Ansatz rückt den Begriff . Abhängigkeit“ in den Mittelpunkt, um die Interdependenz zweier staatlicher oder gesellschaftlicher Akteure durch spezifische Merkmale, wie z. B. die asymmetrische Ausgangslage oder die asymmetrisch strukturierte Interaktion, zu charakterisieren Die Kritik richtet sich ge-gen die ungleichen pay-offs, die nur eine Seite bevorzugen, und gegen ungleiche Entwicklungschancen für privilegierte topdogs und unterentwickelte underdogs. Schon Johan Galtung fragte sich, wie man den Süden „aus dem Netz der strukturellen Gewalt“ befreien könne, vor allem „wenn diese Form der Ausbeutung in Zusammenarbeit von Ost und West vollzogen wird, wie z. B. in einer großen Anzahl von überregionalen Organisationen" Das Problem der Asymmetrie belastet nach dieser Auffassung die Beziehungen der Akteure und wird zur Quelle des Unfriedens und der Konflikte, weil der Stärkere die größeren Vorteile aus seinem Übergewicht ziehen kann. Die Frage, mit welcher Strategie man Ungleichgewichte nivelliert, um eine annähernd egalitäre Interdependenzbasis zu schaffen, verlangt nach einer Antwort.
Die Dependenztheorie stellt die dominierende Rolle der topdogs in der Weltwirtschaft heraus, weil es ihnen gelang, einseitig vertikale Arbeitsteilungsstrukturen aufzubauen. Der Verdacht, daß die Industrieländer mit den Unterentwickelten stets zu ihrem Vorteil kooperieren, ist nicht unbegründet, denn Kapitalexport erfolgt in der Tat vielfach unter dem Gesichtspunkt, billige Arbeitskräfte zu gewinnen, sich vorteilhafte Produktionsverhältnisse und die nötigen Rohstoffe zu sichern. Da die großen Gesellschaften (die Multis) oft als Kreditgeber für nationale Akteure auftreten, können sie Bedingungen stellen, welche eine fortschrittliche Sozialpolitik behindern. Wirtschaftspolitik, die sich als Friedensinstrument versteht, gerät jedoch in ein zwiespältiges Licht, wenn sie allein vom Gewinn-streben diktiert wird. Deshalb vor allem werden die Profitinteressen von den Imperialismustheorien hart angeklagt Sie kritisieren eine enge Kooperation mit der Elite der Unterentwickelten, welche das ungleiche Tauschverhältnis unterstützen, so daß vorteilhafte Veränderungen nicht eintreten, da der notwendige Strukturwandel blockiert wird. Solange es nicht gelingt, neue Modelle für wechselseitige Beziehungen zu entwerfen und durchzusetzen, solange bleiben weltpolitische und soziale Abhängigkeiten erhalten. Die Aufgabe besteht darin, ein Beziehungsmuster zu entwickeln, welches mehr Symmetrie verfolgt. Hierfür hat es eine Reihe von Anregungen gegeben, die man in den siebziger Jahren diskutierte
Um „strukturelle Gewalt" und Abhängigkeit zu vermindern, legte Dieter Senghaas eine Strategie der „Dissoziation" vor, die sich gegen eine durch „negative“ Kovarianz“ gekennzeichnete Interdependenz richtete und für mehr soziale Gerechtigkeit eintrat Peripherien, die sich vom Weltmarkt abkoppeln, besitzen danach die Chance, eigene Ressourcen zur Befriedigung der Bedürfnisse zu entwickeln, denn Dissoziation bedeutet, daß man sich der bestehenden Weltwirtschaftsordnung entzieht und eine eigenständige Entwicklung einleitet, welche den Aufbau einer eigenen Investitions-und Konsumgüterindustrie ermöglicht. Die Entfaltung von Eigenständigkeit richtet sich gegen die „Grundstruktur des divide et impera“, weil diese Grundstruktur die politische Herrschaft stabilisiert. Senghaas verurteilt den Aufbau lokaler Brückenköpfe, die stellvertretend die Funktion des Zentrums übernehmen und mit dieser Rolle zur Aufrechterhaltung des Status quo in den Peripherien beitragen
Senghaas kritisiert Strategien, die von der „Teufelskreis-Erklärung" ausgehen, die besagt, daß geringe Kapitalbildung, niedrige Pro-Kopf-Produktion, niedriges Lebensniveau etc. Faktoren sind, welche den Regelkreis der Armut in Gang setzen Zwar erzeugt der Peripherie-Kapitalismus auch Wachstum, dieses bleibt aber ohne ausreichende soziale Ent24) Wicklungseffekte. Aus diesem Sachverhalt zieht Senghaas seine Schlußfolgerungen und fordert:
1. Herauslösung aus dem Weltwirtschaftssystem, um ein neues Verhältnis mit den Metropolen aufzubauen.
2. Aufbau eines eigenen Produktionspotentials: Herstellung einfacher Güter für den Massenkonsum und Revolutionierung des landwirtschaftlichen Sektors.
3. Aufbau regionaler, d. h. übergreifender sozioökonomischer Infrastrukturen, damit Großraumplanung für die Dritte Welt möglich wird.
Ein detailliertes Modell mit konkreten Einzelschritten wird allerdings auch von Senghaas nicht entworfen. Da realistische Verwirklichungsvorstellungen fehlen, müßte die Kritik an diesem Punkte einsetzen. Liberale Theoretiker argumentieren im Sinne der „Teufelskreis-Erklärung", die nach Auffassung ihrer Kritiker nicht die Ursachen aufdeckt Liberale führen „Unterentwicklung" auf endogene Ursachen zurück, die sie aus der traditionellen Gesellschaftsform heraus mit dem Mangel an sozialer und regionaler Mobilität sowie mit dem Mangel an Dynamik und Erfolgsmotivation erklären. Gesellschaftliche Statik und hierarchische Strukturen, gestützt von Stammesloyalität und religiösen Vorstellungen, verhindern danach notwendige Veränderungsprozesse und neue Verhaltensweisen, ohne die sich Strukturschwächen und Organisationsmängel nicht beseitigen lassen. Nach Ansicht der Liberalen soll „Unterentwicklung“ durch forciertes Wirtschaftswachstum auf dem Wege der Kapitalhilfe überwunden werden. Dieses Modell der , Aufholstrategien" setzt die Veränderung der Menschen und der sozio-kulturellen Bedingungen voraus, weil sich „sozialer Wandel"
erst dann vollziehen läßt 29). Wie Erfahrungen der sechziger und siebziger Jahre zeigten, haben sich die Aufholstrategien“ nicht überzeugend bewährt, so daß auch sie der Kritik bedürfen
Senghaas stellt daher die Frage: Gibt es eine entwicklungspolitische Alternative für die Dritte Welt Als Alternative zu den Aufholstrategien fordert er die Abkoppelung (Dissoziation) vom Weltmarkt und befürwortet die Entfaltung des Binnenmarktes der Entwicklungsländer, weil ihre Eingliederung in eine asymmetrisch strukturierte internationale Wirtschaft die Problematik der Ökonomien der Dritten Welt erst erzeugt Aus der Analyse leitet er drei entwicklungspolitische Imperative ab: Erstens den Imperativ der Dissoziation, zweitens den Imperativ der inneren Umstrukturierung und drittens den Imperativ der neuen Arbeitsteilung zwischen den Ökonomien der Dritten Welt. Senghaas plädiert für eine autozentrierte Entwicklung, um Ressourcen im Eigenbereich zu entfalten und den Weg von einfachen zu komplizierten Strukturen beschreiten zu können. Sein Entwicklungskonzept wird von dem Gedanken beherrscht, die Wirtschaftskraft der Unterentwickelten durch Mobilisierung eigener Ressourcen zu stärken und mit einer exportorientierten Ökonomie zu brechen Er tritt daher für neue Formen der Arbeitsteilung ein, will das „kollektive Selbstvertrauen" stärken und betont, daß bei dem ökonomischen und technologischen Experimentieren nicht geringe Lernkoste i entstehen, hofft aber, daß langfristig eine erhöhte Selbständigkeit eintreten werde, die eine lebensfähige Wirtschaftsstruktur begünstigen könne, um den Aufbau von unten her mit der Befriedigung der Grundbedürfnisse der Massen zu verfolgen In der Tat ist die Entwicklung der Fähigkeit zur Selbststeuerung und Selbstkontrolle ein zukunftsorientierter Gedanke, der aber Lernfähigkeit und mehr Autonomie voraussetzt. In diesem Zusammenhang sind für den politischen Bildner auch endogene Faktoren zu thematisieren, d. h. es ist der Frage nachzugehen, ob die Ursache der Unterentwicklung vorwiegend in internen Tatbeständen zu sehen ist. Richard F. Behrendt beispielsweise geht bei der Formulierung seiner diesbezüglichen These von Karl Marx aus, der die große Expansion der Lebensverhältnisse als das Werk der „westlichen Bourgeoisie“ bezeichnete Behrendt bestreitet, daß die Unterent-Wicklung die Folge des Kapitalismus sei und bemerkt: „Der Kapitalismus ist die erste Wirtschaftsordnung, die Wege aus dem für fast alle Menschen in allen Zeiten und Kulturen bezeichnenden Urelend, aus hoffnungsloser, als schicksalhaft betrachteter Armut, Unwissenheit, Ohnmacht gegenüber Oberen ... beschritten hat“ Daß man Entwicklung fordern und fördern kann, ist danach „ein Ergebnis des Kapitalismus und der dynamischen Kultur, an deren Herausbildung er entscheidend mitgewirkt hat". Neben Unterdrückung und Ausbeutung habe der kapitalistische Imperialismus auch lebensbereichernde Möglichkeiten angeboten, auch wenn sie nicht bewußt, sondern aus der dynamischen Betätigung heraus erfolgten; die westliche Bourgeoisie spielte eine über ihren Raum hinaus-wirkende produktive Rolle. „Ob dieses Angebot von Möglichkeiten der sozioökonomischen Entwicklung angenommen, ob und wie weit und mit welchen Auswirkungen diese Möglichkeiten verwirklicht worden sind — das hing entscheidend von den internen Umständen in den abhängig gewordenen Gesellschaften ab .... Im Zusammenhang mit der Frage, ob sich in einer autochthonen, traditionellen Kultur-und Gesellschaftsordnung jenes Wandlungspotential für Dynamisierung und Mobilisierung bilden kann, verweist Behrendt auf Japan, das die ausbeuterischen Einwirkungen des westlichen Kapitalismus abwehrte, aber sehr rasch viele Elemente der modernen Technik initiativ übernahm, um selbst eine imperialistische Rolle gegenüber den asiatischen Nachbarn zu spielen und dabei führende Industriemacht zu werden. „China hingegen mußte erst", so Behrendt, „durch einen langen Prozeß der Auflösung seiner politischen und gesellschaftlichen Struktur unter westlichen Einflüssen, der Gefährdung durch europäischen und japanischen Imperialismus gehen, bis es den Anschluß an die Dynamik auf dem . zweiten Weg’, also dem des Staatssozialismus fand“ Die je spezifischen Verhaltensweisen hingen danach vom Ausmaß der „dynamischen
Orientierung" der Imperialmächte ab. Spanien und Portugal förderten eben nicht wie Großbritannien, Frankreich und die Niederlande den „kapitalistischen Geist“, weil sie „noch weitgehend feudale oder höchstens merkantilistische Ordnungen" repräsentierten; sie gerieten vielmehr in wirtschaftliche Abhängigkeit der dynamisch orientierten Länder Für Behrendt liegen daher die entscheidenden Ursachen der Unterentwicklung im „Mangel an dynamischen Impulsen".
Peter T. Bauer, ein Kritiker der praktizierten Entwicklungshilfe, geht von einer anderen Argumentation aus. Danach mußten die Entwickelten auch als Unterentwickelte beginnen und ohne fremde Hilfe ihren Entwicklungsprozeß organisieren. Wichtige Antriebs-kräfte hängen demnach nicht zuletzt von der politischen Kultur ab, von spezifischen Wertvorstellungen und Verhaltensweisen. Entwicklungspolitik läßt sich, so Bauer, zwar mit Investitionen fördern, aber mit ihnen kann man weder Leistungsbereitschaft noch rationales Wirtschaften, auch nicht eine „sich selbst tragende Entwicklung" vermitteln. Bauer will auf die Gefahr hinweisen, daß mit Entwicklungshilfe eine „Frührentner-Mentalität“ unterstützt wird Der Übergang von einer statischen zu einer sich selbst tragenden Gesellschaft setzt nach seiner Ansicht bestimmte Lernprozesse voraus, da ökonomisches Wachstum von individueller Leistung und entsprechender Organisationsfähigkeit abhängt.
Insgesamt erscheint jeder dieser Theorieansätze kritikwürdig, ergeben sich bei allen Probleme, so daß man Dieter Grossers These zustimmen kann: „Durch Dissoziation der Entwicklungsländer von den Wachstumsgesellschaften wird er (der Prozeß) wahrscheinlich ebensowenig beschleunigt wie durch die Überforderung der Übergangsgesellschaften, wie sie sich als Folge der Anwendung Bauerscher Thesen ergeben könnten." Weil die gezeigten Ansätze jeweils Vor-und Nachteile nur wenig reflektieren, scheint es notwendig, beide Positionen zu einer Synthese zu verbin-den. Die alte Schlüsselfrage: „Gewinnen oder verlieren die Entwicklungsländer durch die Koexistenz mit entwickelten Ländern" ist demnach dürch eine andere zu ersetzen: „Wie können sie selektive Politiken verfolgen, die es ihnen erlauben, sich die positiven Kräfte zunutze zu machen, ohne sich gleichzeitig Schädigungen durch die verderblichen Kräfte auszusetzen?
Das Plädoyer für eine „selektive" Politik beinhaltet, daß die Entwicklungsländer darüber selbst entscheiden, welche Waren und Technologien sie einführen und welche multinationalen Unternehmen sie zulassen. Weil Entwicklungspolitik der vertrauensvollen Zusammenarbeit von Geber-und Nehmerland bedarf, ist im Unterricht sodann die Frage nach der jeweiligen Praxis zu stellen. Angesichts der Konkurrenzsituation, in der sich kapitalistische und sozialistische Industriestaaten befinden, treten politische Motive in den Vordergrund die anhand der bundes-republikanischen Entwicklungspolitik, die lange Zeit mit der „Hallstein-Doktrin" gekoppelt war, oder anhand der Tendenz der Sowjetunion, ihre Hilfspolitik an die Ideologie zu binden, verdeutlicht werden können. Die Frage, wie man Entwicklungshilfe zum Instrument des Friedens machen kann, findet eine positive Antwort in der Forderung nach einer „konstruktiven" Entspannungspolitik. Eine koordinierte Entspannungs-und Entwicklungspolitik könnte den „Brückenschlag" zwischen statischer und revolutionärer Politik ermöglichen und einen „gewaltfreien Systemwandel" fördern. Das Profitstreben des ökonomisch Stärkeren auf Kosten des Schwächeren ist dabei ebenso zu kritisieren wie jene Tendenz, Wirtschaftshilfe als Mittel ideologischer Indoktrinierung einzusetzen. In beiden Fällen verfolgt man spezifische Eigeninteressen. Wechselseitiger Nutzen auf der Grundlage von Gleichberechtigung und positive Interdependenzen entstehen nicht durch das Diktat des Stärkeren, sondern verlangen eine praktische Aufgabenbewältigung. Politik, die das Prinzip der Gegenseitigkeit mißachtet, nimmt Zuflucht zur Gewalt und gefährdet im fortschreitenden Atomzeitalter die Überlebensfähigkeit aller Völker. Friedens-und Sicherheitspolitik sind daher auch notwendige Grundlagen für eine Entwicklungspolitik, die sich als konstruktive Infrastrukturpolitik versteht, um ein sich „selbst tragendes Wachstum" — durch Kapitalhilfe und Ausbildungshilfe — zu erreichen, über die Beseitigung von Weltarmut und Unterentwicklung sind Wege für einen möglichen Konsens aufzuzeigen.
III. Zum Problem einer „Neuen Weltwirtschaftsordnung“
Seit dem Aufkommen der Friedens-und Konfliktforschung erhielten entwicklungspolitische Fragen unter dem Aspekt des Nord-Süd-Konfliktes besondere Resonanz. Wie dargelegt, gehen die Auffassungen über die Ursachen der Unterentwicklung in der Wissenschaft weit auseinander, doch haben wissenschaftliche Kontroversen das Verdienst, die Bewußtseinsbildung durch Argument und Gegenargument anzuregen und Fehlbeurteilungen transparent zu machen; neue Erkenntnisse setzen sich in Handlungsimpulse um. So beauftragten die Vereinten Nationen Ende der sechziger Jahre Fachleute von Rang, Empfehlungen für die Entwicklungspolitik auszuarbeiten die UNO erklärte das neue Jahrzehnt zur „Zweiten Entwicklungsdekade" Pearson Report und Dekadenplanung zielten schon damals auf eine „zukunftsorientierte" Entwicklungspolitik, die mit der Bestandsaufnahme neue Ziele anstrebte. Fortschritte erhoffte man sich insbesondere von der „grünen Revolution“, die, so der Report, in Indien, Pakistan und Ceylon beachtliche Steigerungsraten erreichte. Der anspruchsvolle Aufgabenkatalog verlangte eine dynamische Mitarbeit und setzte sich für eine Expansion des Welthandels bei Berücksichtigung stabilisierter Erlöse für die Entwicklungsländer ein. Verbesserte Partnerschaft, Anreize zu Privatinvestitionen und Erhöhung des Volumens der Entwicklungshilfe bis zum „Ein-ProzentZiel" standen im Mittelpunkt des von Lester Pearson verfaßten Berichtes. Nach den bitteren Erfahrungen mit der ersten Entwicklungsdekade vertrat man den Gedanken, daß Welthandel und Entwicklungshilfe zusammengehörten Die Entwicklungsländer sollte man „so rasch wie möglich" in die Lage versetzen, „ihre Hoffnungen und wirtschaftlichen Fortschritt auch ohne ausländische Hilfe" zu verwirklichen 46). Der Schwerpunkt dieses Programms lag auf Wachstum; man hoffte 6 % BSP-Wachstum für die Mehrzahl der unterentwickelten Länder zu erreichen, wobei als Voraussetzung galt, daß die Industrieländer die Hilfeleistungen auf 0, 7 % des Brutto-sozialproduktes erhöhten. Der Bericht gab darüber hinaus Anstöße für weitere Planungen 47).
Schon in den sechziger Jahren förderte die EG die Zusammenarbeit mit den Entwicklungsländern. Die Erkenntnis gegenseitiger Abhängi
Schon in den sechziger Jahren förderte die EG die Zusammenarbeit mit den Entwicklungsländern. Die Erkenntnis gegenseitiger Abhängigkeit veranlaßte sie 1963, mit afrikanischen Staaten ein Assoziierungsabkommen (mit einer Laufzeit von fünf Jahren) abzuschließen. Dieser als „Jaunde I" bezeichnete Vertrag schuf zwischen der Gemeinschaft und den beteiligten Ländern Freihandelszonen (mit Aufhebung der Zölle und mit vereinbarter finanzieller und technischer Hilfe). Die Hilfe wurde aus dem Europäischen Entwicklungsfonds (EEF) gewährt. Durch den Abschluß von Jaunde II“ im Juli 1969 wurde diese Politik fortgesetzt.
1971 ergriff die Bundesrepublik Deutschland die Initiative für eine entwicklungspolitische Konzeption. Mit dem Bekenntnis zu weltweiter Partnerschaft formulierte sie ein Programm mit sechs Schwerpunkten:
1. Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und der Unterbeschäftigung, 2. Aufbau eines arbeits-und umweltorientierten Bildungssystem, 3. Strukturverbesserung in ländlichen Regionen,
4. Ausweitung und Diversifizierung des gewerblichen Sektors, 5. Stärkung der Planungs-und Organisationsfähigkeit der Entwicklungsländer, 6. unmittelbare Hilfe zur Verbesserung der Lebensbedingungen
Dieses Programm, welches vielseitige Zustimmung fand, zielte nicht mehr allein auf Einzelprojekte, sondern auf kombinierte Hilfsmaßnahmen, welche das vielkritisierte „Gießkannenprinzip" ersetzen sollten. Handlungsgrundsätze waren die Konzentration der Mittel und die flexible Gestaltung der Maßnahmen. Aber auch diese Konzeption enthielt Schwächen. Es ging dabei im wesentlichen darum, die Eigeninitiative der Regierungen und der gesellschaftlichen Kräfte zu ermutigen, ihre Probleme selbständig zu bewältigen. Sehr bald zeigte sich aber, daß nur wenige Länder bereit sind, Maßnahmen gegen die Bevölkerungsexplosion und gegen das eigene Wohlstandsgefälle, gegen Korruption und Mißwirtschaft sowie gegen die Vergeudung knapper Ressourcen zu ergreifen.
Neben Versäumnissen der inneren Reformpolitik der Entwicklungsländer hat die weltweite Verschlechterung der Rahmenbedingungen durch die Ölkrisen die Unzufriedenheit bei den Betroffenen gesteigert. Di internationale Arbeitsteilung verlangt nach neuen Kooperationsformen, vor allem bei ökonomischen Krisenlagen. Im Zeichen dieser Herausforderung setzt die Europäische Gemeinschaft ihre Entwicklungspolitik fort, welche zu einem beachtenswerten Modell multilateraler Zusammenarbeit ausgebaut wurde. So sind beispielsweise seit dem EG-Beitritt Großbritanniens die Beziehungen zu den asiatischen Ländern verbessert worden Im Februar 1975 unterzeichnete die EG das Lom-Abkommen mit 46 Staaten Afrikas, der Karibik und des pazifischen Raumes. Im Bereich der regionalen Entwicklungspolitik kamen in der Folgezeit weitere Vereinbarungen mit den Mittelmeerländern: den Maghreb-(Algerien, Marokko und Tunesien) und den Maschrik-Staaten (Ägypten, Jordanien, Syrien und Libanon) 1976/77 sowie mit Israel zustande, wobei neben dem regionalen Bereich auch die weltweite Entwicklungspolitik der EG eine bedeutende Rolle spielte. Wie ihre Analyse zeigt, bildete sich in den siebziger Jahren ein gewisses Ungleichgewicht zwischen assoziierten und nicht-assoziierten Entwicklungsländern heraus. Motivation für die Lom-Politik war die Erkenntnis wechselseitiger Abhängigkeit. Dabei stand die Sicherung der Rohstoffe und der Absatzmärkte für die EG an erster Stelle, während die Partnerstaaten Finanzhilfe und technische Hilfe erwarteten. Der Beweis für die erfolgreiche „Lom-Politik" wurde mit dem Abschluß von Lom II erbracht. Lom II trat mit Beginn des Jahres 1981 in Kraft, wobei die zehn EG-Staaten und 63 Entwicklungsländer bis zum Februar 1985 für Waren aus den AKP-Staaten „den freien Zugang (ohne mengenmäßige Beschränkungen oder Maßnahmen gleicher Wirkung) bei Zollfreiheit" auf den Markt der Gemeinschaft festlegten. Dabei setzte man vier wichtige entwicklungspolitische Instrumente ein:
1. Die handelspolitische Zusammenarbeit ermöglicht es den AKP-Staaten, ca. 95% ihrer Agrarexporte ohne Zölle und Kontingentierung in die EG einzuführen.
2. Das STABEX-System stabilisiert die Ausfuhrerlöse der AKP-Staaten (ein Kernstück der Lom 6-Politik).
3. Die finanzielle und technische Kooperation gleicht strukturelle Ungleichgewichte in den Volkswirtschaften der AKP-Staaten aus.
4. Die industrielle Zusammenarbeit entwikkelt und diversifiziert die Industriekapazität.
Daß solche Instrumente von Zeit zu Zeit kritisch zu überprüfen sind, bedarf keines Hinweises doch ließen sich die Schwierigkeiten, die sich bei solchen Verträgen stets ergeben, bisher befriedigend lösen.
Bei den Verhandlungen um Lom II am Ende der siebziger Jahre stießen die Bemühungen, eine Menschenrechtsklausel zu verankern, bei den AKP-Staaten auf Widerstand, weil man dies als Einmischung in innere Angelegenheiten deutete. Die AKP-Staaten weigerten sich, in Handelsverträge moralische und ethische Grundwerte aufzunehmen. Für Menschen, die hungern, so ihre Argumentation, stelle sich die Frage der Menschenrechte anders dar als für Menschen in westlichen Ländern. Zugleich verwiesen sie auf die von ihnen unterzeichnete Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UNO von 1948. Selbst dem „Grundbedürfniskonzept“ der Kirchen, welche das Hauptproblem der Entwicklungspolitik in der Befriedigung elementarer Bedürfnisse sehen, begegnet man mit Distanz, weil man darin „eine Ablenkung von der Neuen Weltwirtschaftsordnung durch die Industriestaaten" sieht, die „sich gegen eine Umverteilung und Machtverschiebung zwischen Staaten wehren und statt dessen die innenpolitische Macht der Privilegierten durch Orientierung auf die Grundbedürfnisse der Ärmsten mit Forderungen nach Struktur-und Bodenreform oder Partizipation unterminieren" Die Kritik drückt das Verlangen aus, die Strukturen der Beziehungen grundlegend zu verändern und weniger Hilfe-Politik zu leisten. In der UN-Menschenrechtskommission in Genf sind Beratungen über ein „Menschenrecht auf Entwicklung" im Gange. Auf der 7. Sitzung dieser Kommission im November 1983 — ihr gehören 15 Regierungen an — wurde die Aufgabe formuliert: „Fortsetzung der Prüfung von Umfang und Inhalt des Rechtes auf Entwicklung und der effektivsten Methoden, um die Verwirklichung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu sichern..." Hier liegt die Vermutung nahe, daß hinter der Intention, ein „Menschenrecht auf Entwicklung" zu kreieren, der Wille zur Veränderung der Strukturen des Weltwirtschaftssystems steht.
Diese Forderung der Entwicklungsländer geht, wie eingangs gezeigt, auf die 1964 in Genf gegründete „Gruppe der 77" zurück, die den Gedanken einer veränderten internationalen Arbeitsteilung propagierte Die nachfolgenden Konferenzen der UNCTAD und der Blockfreien zielten auf eine Veränderung des Wirtschafts-, Handels-und Finanzsystems des Westens, wobei besonders Julius Nyerere, Staatspräsident von Tansania, die alte Wirtschaftsordnung und die Preiskontrolle der Industrieländer anklagte
Das Übergewicht der Entwicklungsländer in den Vereinten Nationen und ihr Wille, massive Forderungen zu stellen und vor der Weltöffentlichkeit zu vertreten, kam besonders in zwei Dokumenten zum Ausdruck: in der „UN-Erklärung über die Errichtung einer neuen internationalen Wirtschaftsordnung“ und der „UN-Charta über die Rechte und Pflichten von Staaten" Besonders die Charta trat mit Blick auf die grundlegenden Ziele der UNO — Wahrung des Weltfriedens, der internationalen Sicherheit, Entwicklung freundlicher Beziehungen zwischen den Völkern und Lösung internationaler Probleme im wirtschaftlichen und sozialen Bereich — für eine internationale Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Entwicklung ein. Sie vermittelte als eine Art „Magna Charta" die grundlegende Vorstellung und die Kriterien, welche eine „gerechte und vernünftige Entwicklung aller Teile der Welt“ fördern sollten. Von den 15 genannten Kriterien standen Souveränität, territoriale Unversehrtheit, politische Unabhängigkeit, Gleichheit aller Staaten, Verzicht auf Angriff und Intervention ebenso im Vordergrund wie gegenseitiger und gerechter Nutzen, friedliche Koexistenz, Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, aber auch Verzicht auf jedes Streben nach Hegemonie und Einflußsphären. Implizit enthielten diese Kriterien das Bekenntnis zu einem weltpolitischen Pluralismus, der die Forderung internationaler sozialer Gerechtigkeit anstrebte
Die Charta rückte die Kategorie „Unabhängigkeit“ in den Vordergrund, weil nach der politischen auch die ökonomische Abhängigkeit durch die Veränderung der „terms of trade“ abgebaut werden sollte. Im Jahr 1974 hofften die Verfechter der „Neuen Weltwirtschaftsordnung“ (NWWO) auf einen Durchbruch zur gerechteren Ordnung, auf die praktische Umsetzung der NWWO. Das Schlüsselwort lieferte UNCTAD IV in Nairobi 1976 mit dem Begriff: „Integriertes Rohstoffprogramm" (IRP). Wie Sauvant bemerkte, stellte dies „einen umfassenden Versuch dar, ein rationales Management der Weltversorgung mit Grundstoffen herbeizuführen, das zugleich garantiert, daß die Kaufkraft der Exporte der Dritten Welt erhalten oder erhöht wird und das Einkommen aus dem Export von Rohstoffen gegen Schwankungen abgesichert wird" Zum zentralen Punkt der Auseinandersetzung wurde der „Gemeinsame Fonds“ zur Finanzierung von Rohstoffausgleichslagern, ferner die Errichtung von internationalen Ausgleichslagern für wichtige Rohstoffe, sowie die Vereinbarungen über die Preise mit ausgehandelten Schwankungsbreiten und die Regelung des Angebots mit Exportquoten und Produktionszielen
Die marktwirtschaftlich orientierten Länder USA, Japan, Großbritannien und die Bundesrepublik Deutschland verhielten sich kritisch. Sie lehnten den „Gemeinsamen Fonds“ als dirigistisch ab, weil man mit ihm nach ihrer Ansicht einen Mechanismus für zentrale Lenkung schaffe. Eingriffe in das Preisgefüge und vor allem die Indexierung, d. h. die Koppelung der Rohstoffpreise an importierte Fertigwaren, wurden von den meisten westlichen Industrieländern abgelehnt. Da Dirigismus und Planwirtschaft, welche garantierte Preise fixieren, stets Anreize zur Überproduktion bieten, d. h. „analog zu den „Butterbergen" der EG „Rohstoffgebirge" der Entwicklungsländer“ entstünden würde, so die Kritiker, das integrierte Rohstoffprogramm die Kluft zwischen den rohstoffreichen und den rohstoffarmen Ländern im Süden erweitern. In den westlichen Ländern stößt das Schreckgespenst „Zwangswirtschaft" auf deutliche Ablehnung, doch weiß man andererseits, wie Rudolf Schloz formuliert, daß „Veränderungen am gegenwärtigen System notwendig sind und unverzüglich eingeleitet werden müssen“ und daß „nicht wegen des Ob und Warum von Veränderungen, sondern im Blick auf die Richtung, die ein Veränderungsprozeß ein-schlagen müsse, den Umfang der notwendigen Reformen, die dabei einzusetzenden Instrumente, die Zuständigkeiten bei der Entwicklung und Durchsetzung entsprechender Reformprogramme" ein Konsens zu suchen sei Für die Entwicklungsländer aber steht weiterhin die existentielle Frage im Vordergrund: Wie überwinden wir das Massenelend in unseren Ländern? Die „Gruppe der 77“ möchte daher mit maximalen Forderungen Druck auf den Westen ausüben. Ihre Programmpunkte sind: Lagerhaltung wichtiger Rohstoffe, Solidaritätsprogramme (Lastenausgleich), das . Ein-Prozent-Ziel, Umschuldung und Schuldenerlaß, Bevorzugung der LLDCund der MSAC-Länder, intensivierter Technologietransfer und Link -Ob sich mit diesen Programmpunkten der geforderte Solidaritätsvertrag realisieren läßt, bleibt offen. Zur Problemlösung gehört der politische Wille, konkrete Strategien zu entwickeln. Mit übersteigerten Erwartungen und mit massiven Forderungen wird keine realistische Veränderungspolitik erreicht. Eine umfassende Emanzipation auf kurz oder mittelfristige Sicht ist kaum zu erwarten
Die seit zwei Dekaden geführte Diskussion über eine NWWO und mehr praktische Zusammenarbeit brachte bis heute gewisse Fortschritte, doch konnten die Vorstellungen der Entwicklungsländer, die sich immer mehr differenzieren, weil man Ölländer, Schwellenländer und wenig entwickelte Länder zu unterscheiden hat, bei weitem nicht verwirklicht werden Nach der konfrontativen Phase der siebziger Jahre beginnt sich der Nord-Süd-Dialog neuerdings zu versachlichen setzen sich die westlichen Industriestaaten für die Verbesserung der Verhältnisse, für die zunehmende Öffnung ihrer Märkte und die Förderung privaten Kapitaltransfers ein. Die Haupt-bühne dieses Dialogs ist das verzweigte System der UNO, vor allem die UNCTAD-Konferenzen, das GATT, der IWF (der Internationale Währungsfonds) und die Weltbank. Eine Rolle spielen auch die westlichen Wirtschaftsgipfelkonferenzen oder wichtige Nord-Süd-Gipfeltreffen (z. B. im Oktober 1981 in Cancun)
Für die praktische Umsetzung im Rahmen der politischen Bildung kann auf die Anregungen der Brandt-Kommission und der amerikanischen Studie „Global 2000" verwiesen werden, weil hier die Probleme in den vier Hauptbereichen Bevölkerungswachstum, Ernährungssicherung, Ressourcensicherung und Schutz der natürlichen Umwelt verdeutlicht werden Diese Zukunftsaufgaben erfordern einen langen Atem, weil Angleichung und Ausgleich zugleich notwendige Erziehungsprozesse erfordern, die kurzfristig nicht zu leisten sind.
Den von den Entwicklungsländern vorgetragenen Forderungen nach einer Umgestaltung der Weltwirtschaft wird man nur wirksam begegnen können, wenn man überzeugende Lösungsperspektiven mit in die Verhandlungen einführt. Eine freiheitliche Veränderungspolitik als Strategie bietet sich an durch den von der Brandt-Kommission formulierten Gedanken: „Nach unserer Überzeugung sind Wandel und Veränderung unvermeidlich. Die Frage ist nur, ob wir sie aus freien Stücken gestaltend herbeiführen oder ob sie uns aufgezwungen werden durch Umstände, über die wir als internationale Staatengemeinschaft kaum Kontrolle haben." Die Initiative zur rechten Zeit zu ergreifen, ist der Inhalt dieser Strategie.
IV. Plädoyer für globale Verantwortung
Seit dem Beginn der achtziger Jahre ist der Nord-Süd-Dialog in den Hintergrund getreten, weil die verschärfte Ost-West-Konfrontation verstärkt die politischen Energien in Anspruch nimmt; man hofft jedoch, in Kürze das abgerissene Ost-West-Gespräch wieder in Gang zu bringen. Ein neues Gipfeltreffen könnte eine neue Entspannungsphase einleiten und auch der Entwicklungspolitik gewisse Impulse geben. In der Welt-und Entwicklungspolitik sind freiheitliche Veränderungen nötig, um Frieden und Stabilität zu schaffen und zu erhalten. Zu den notwendigen konkreten Veränderungen gehört die Ankurbelung des Wirtschaftswachstums in den Entwicklungsländern, weil man ohne solche Maßnahmen die Weltwirtschaftskrise nicht löst, die auch den Nord-Süd-Dialog belastet. Stabilität in diesem Bereich der Politik verlangt zuverlässige Funktionsregeln und Verhaltensweisen, die ein vertrauensvolles Miteinander ermöglichen. Die enttäuschende Bilanz nach zwei Entwicklungsdekaden vermittelt die Einsicht, daß ein Globalkonzept für dieses Problem noch nicht gefunden wurde, denn der Westen und die Europäer können ohne Beteiligung des Ostens und der reichen Olländer die Ungleichgewichte der Welt nicht beseitigen.
Mit dem Willen allein läßt sich die Welt von 1984 allerdings nicht verändern, weil dazu realistische und konkrete Schritte gehören, die auch eine Veränderung des Bewußtseins der Beteiligten bewirken müssen. Das heißt: religiöse, ideologische und rassische Vorurteile abzubauen und für die Beachtung der Menschenrechte und für die Bereitschaft zu Solidarität und Opfern einzutreten. Politischer Wandel und Kontextänderung der Politik vollziehen sich erst mit neuen Erfahrungen, die zu Einstellungskorrekturen führen können. Verständnislosigkeit und Gleichgültigkeit gegenüber den Problemen der Dritten Welt werden Frieden, Gerechtigkeit und Solidarität gefährden Zeitgeschichte und politische Bildung haben diese Zusammenhänge so darzustellen, daß eine Betroffenheit bei der jungen Generation eintritt. Weltweite Existenz-und . Überlebensfragen verlangen danach, daß man über nationale und europäische Grenzen hinaus für eine „globale Verantwortung" plädiert
Mit dieser Erkenntnis läßt sich in der jungen Generation die Bereitschaft zum entwicklungspolitischen Dienst verstärken, um mit weltoffener Perspektive für Frieden und Gerechtigkeit zu wirken; denn Entwicklung vor Ort heißt, sich an praktischen und konkreten Aufgaben zu beteiligen. Eigene Fähigkeiten und Initiativen sollen sich in der Zusammenarbeit mit der Jugend der Entwicklungsländer bewähren, um der Eigenentwicklung und den einheimischen Anstrengungen Impulse zu geben. Die Jugend der Industriestaaten kann als . Katalysator'die Dynamik erhöhen, damit notwendige Infrastrukturen zur Verbesserung der Lebenschancen aufgebaut werden. Der Lohn für den entwicklungspolitischen Einsatz, der von den westlichen Regierungen zu fördern ist, besteht nicht zuletzt in der Erweiterung des eigenen Erfahrungshorizonts und im Bewußtsein, einer kosmopolitischen Idee gedient zu haben, die mit ihrer friedenspolitischen und moralischen Zielsetzung sich für weltweite Identität und Loyalität engagiert. Diese im wahrsten Sinne „weltdemokratische“ Zielsetzung kann das Wohl der Beteiligten und „globale Verantwortung" fördern.