Dieser Artikel ist die stark gekürzte Fassung einer Arbeit, die in vollständiger Form noch an anderer Stelle erscheinen soll.
I. Geschichtliche Entwicklung und ideologische Grundlagen
Seit 1909, dem Gründungsjahr des ersten Kibbutz „Degania" am Südende des See Genezareth, haben die auf rigorose sozialistische Prinzipien gegründeten landwirtschaftlichen Kollektivsiedlungen nicht nur die Geographie Israels mitgeprägt, sondern vor allem Ideologie und Politik des Zionismus sowie die sich entwickelnden institutionellen und sozialen Strukturen der jüdischen Gemeinschaft in Palästina und später in Israel wesentlich beeinflußt.
Obgleich der Kibbutz eines der bestuntersuchten Gesellschaftssysteme ist, sind seine Erfahrungen nach drei Generationen in der deutschsprachigen sozialwissenschaftlichen Literatur wenig zur Kenntnis genommen worden; erst neuerdings wird ihm hierzulande bei der Suche nach alternativen Lebens-und Wirtschaftsformen wieder stärkere Beachtung geschenkt, so z. B. als „bislang erfolgreichstes Projekt alternativer Ökonomie“ 1). 1. Advantgarde zionistischer Siedlungsarbeit Schon ein Blick auf die räumliche Verteilung der heute 275 Kibbutzim in Israel gibt Aufschluß über deren Funktion als Wehrdörfer und militärische Stützpunkte bei der Grenzsicherung wie auch bei der Besiedlung und landwirtschaftlichen Erschließung des Landes.
Von den etwa 50 Neugründungen seit dem Sechs-Tage-Krieg liegen 19 in den besetzten Gebieten; im Unterschied zu den raumgreifenden „amtlichen" Siedlungsaktivitäten nach 1977 konzentrieren sie sich aber — weiterhin dem Prinzip der Grenzsicherung folgend — auf die Jordansenke (6x) und die Golanhöhen (10x); außerdem wurden 3 (religiöse) Kibbutzim im Raum südlich von Jerusalem errichtet 1’). Als weiterer räumlicher Schwerpunkt neuer Kibbutzgründungen auf israelischem Gebiet ist neben Zentralgaliläa der Negev im Süden erkennbar (8x), wo die Erschließung und Kultivierung der Wüste wie auch die militärische Sicherung vorrangige nationale Siedlungsmotive bilden, zumal nach der Rückgabe des Sinai an Ägypten 1982.
Historisch ist die Kibbutzbewegung untrennbar verbunden mit der nationalen Bewegung zur Errichtung einer Heimstätte des jüdischen Volkes in Palästina/Israel: eine Geschichte der jüdischen Staatswerdung in Palästina ohne Berücksichtigung der kolonisatorischen Leistung der Kibbutzim ist schlechterdings unmöglich. Es ist umgekehrt aber auch zu Recht darauf hingewiesen worden, daß „ohne die Unterstützung der . kommunistischen Experimente'durch die organisatorische und finanzielle Kraft der zionistischen Bewegung die Kibbutzim aller Wahrscheinlichkeit nach ein weitaus periphereres Phänomen geblieben (wären) als die kommunitären Siedlungen in den USA des 17. — 19. Jahrhunderts.“ 2)
Die Aufgabe einer Advantgarde zionistischer Siedlungsarbeit erfüllten die Kibbutzim insbesondere während der Zeit der englischen Mandatsverwaltung (1920— 1948): sie verkörperten den Widerstand gegen die Beschränkungen, die die englische Regierung in jener Zeit der zionistischen Bewegung bei Boden-kauf und Einwanderung auferlegte und errangen damit besonders hohes Ansehen in der jüdischen Bevölkerung sowie Respekt auch in den arabischen Nachbardörfern. Im Gefolge der Staatsgründung 1948 verloren die Kibbutzim an Gewicht und Einfluß: nicht nur weil ein Teil ihrer Aufgaben nun von staatlichen Institutionen übernommen wurde — z. B. im militärischen, kulturellen und erzieherischen Bereich —, sondern auch aus ideologischen Gründen 3). Während die Mehrzahl der jüdischen Einwanderer vor 1948 aus ideologischen Motiven ins Land gekommen waren, fehlte den in den Jahren danach vorwiegend aus afrikanischen und asiatischen Ländern einwandernden Juden eine solche Orientierung fast völlig; sie favorisierten andere Siedlungsformen, — wie etwa die im herkömmlichen Sinne genossenschaftlich strukturierten „Moshavim“. Dadurch verloren die Kibbutzim ihre dominierende Position in der ländlichen Siedlungsbewegung Israels. Die Entwicklung der relativen Bevölkerungszahlen in den Kibbutzim ist tendenziell stagnierend: repräsentierten bei der Staatsgründung die Kibbutzim noch 7, 8 % der jüdischen Bevölkerung, so sank dieser Anteil ab Mitte der sechziger Jahre unter 4% 4). Heute leben in den etwa 275 Kibbutz-Siedlungen des Landes ca. 126 000 Menschen, das sind knapp 3, 7% der heutigen jüdischen Bevölkerung Israels-, womit immerhin nach ca. 3, 3% in den siebziger Jahren sich in letzter Zeit eine Umkehrung des negativen Trends andeuten könnte. Da sich die jüdische Bevölkerung Israels aber seit der Staatsgr Heute leben in den etwa 275 Kibbutz-Siedlungen des Landes ca. 126 000 Menschen, das sind knapp 3, 7% der heutigen jüdischen Bevölkerung Israels-, womit immerhin nach ca. 3, 3% in den siebziger Jahren sich in letzter Zeit eine Umkehrung des negativen Trends andeuten könnte. Da sich die jüdische Bevölkerung Israels aber seit der Staatsgründung mehr als verfünffacht hat, war und bleibt die Kibbutz-Bewegung in Israel immer ein Minderheitenphänomen. 2. Ideologische Grundlagen: Vision einer neuen Gesellschaft Konstitutiv für den Kibbutz ist ein Wertsystem, das durch drei Dimensionen gekennzeichnet wird: es verbindet Zielsetzungen der nationalen Wiedergeburt (Zionismus) und einer totalen sozialen Reform (Sozialismus) mit der Orientierung an der repressionsfreien Selbstverwirklichung des Individuums (individuelle Emanzipation) Die Integration dieser Zieldimensionen in einem Wertsystem ist sozialhistorisch als kollektive Reaktion auf die Existenz des Judentums in der Diaspora gedeutet worden: die Gründergeneration der Kibbutzim wanderte nach Palästina ein, um eine neue, auf Selbstarbeit gegründete Gesellschaft zu errichten; die „Rückkehr zum Boden" sollte die ökonomische Grundlage einer nationalen jüdischen Existenz in Palästina schaffen, die kollektiven Eigentums-und Organisationsformen die soziale Grundlage einer ausbeutungsfreien und egalitären Gesellschaft Die Rolle der Arbeit als zentraler Wert und Medium der nationalen Befreiung und Selbstfindung des jüdischen Volkes umfaßte für die jüdischen Siedlungspioniere in den Kibbutzim zugleich ein ganzheitliches Arbeitsideal und eine strikte Betonung der Gleichberechtigung Dabei wurde gerade die manuelle Arbeit nicht etwa als notwendiges Übel angesehen, sondern als „ethischer Wert an sich", als „Mittel zur Heilung des jüdischen Volkes von seinen sozialen und nationalen Leiden"
. Haluziut“, das Bild des landwirtschaftlichen Pioniers, gilt nicht umsonst bis heute als Norm des politischen Systems und als Erziehungsideal in Israel historisch und ideologisch wird es aufs engste mit der Kibbutz-Bewegung assoziiert, wenn nicht sogar identifiziert. Die Kibbutz-Ideologie wurde stark geprägt von humanistischen und sozialistischen Werten, wie der Gleichwertigkeit der Arbeit, dem Ideal einer möglichst vielseitigen menschlichen Persönlichkeit, der Ablehnung enger Professionalisierung und Spezialisierung. Die gleichrangige Bewertung jeglicher Art von Arbeit folgte dem Grundsatz: ... „it is not what a man does which is important, but how he does it, the effort he invests, his dedication to his work.. . Eine umfassende Ausbildung und Entwicklung aller menschlichen Potentiale wiederum setzt ein entsprechendes Erziehungssystem voraus, dem daher von Anbeginn in den Kibbutzim besondere Bedeutung zugemessen wurde. 3. Kibbutz-Prinzipien: Freiwilligkeit als Basis . Der Kibbutz stellt eine Kommune auf der Grundlage freiwilliger und kündbarer Mitgliedschaft dar“ Diese Kennzeichnung des Kibbutz — etwa gerade im Gegensatz zur sowjetischen Kolchose oder zur chinesischen Kommune — sollte vorweg ganz besonders herausgestellt werden. Im § 3 der in den siebziger Jahren entstandenen Statuten der Ver-einigten Kibbutzbewegungen wird im übrigen das prinzipielle Selbstverständnis der Kibbutzim auf den folgenden gemeinsamen Nenner gebracht: „Der Kibbutz ist eine freie Vereinigung von Personen zum Zwecke der Errichtung, Integration und Bewirtschaftung einer kollektiven Siedlung, die nach den Prinzipien von gemeinschaftlichem Eigentum am Grundbesitz, eigener Arbeit, Gleichheit und Zusammenarbeit in den Bereichen der Produktion, des Konsums und der Erziehung organisiert ist Der Kibbutz ist eine eigenständige Siedlung. Der Kibbutz versteht sich als integraler Teil der Arbeiterbewegung in Israel, als Pionier des nationalen Neubeginns, und sein Ziel ist die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft in Israel, die auf wirtschaftlicher und sozialer Gleichheit basiert.. .
Es ist bemerkenswert, in welchem Maße die Kibbutzim ihren ursprünglichen prinzipiellen Orientierungen treu geblieben sind; diese lassen sich wie folgt zusammenfassen
a) Das gesamte Kibbutz-Eigentum gehört der Gemeinschaft als Kollektiveigentum; dies betrifft nicht nur alle Produktionsmittel, sondern auch viele Konsumgüter, soweit sie sich in gemeinschaftlicher Verfügung befinden (z. B. Autos, Freizeitgüter u. ä.). Teile der Konsumgüter des persönlichen Bedarfs werden aber auf die Mitglieder verteilt (vom Teekessel vor 20 Jahren bis zum Farbfernseher heute). Es herrscht das Prinzip der „Gemeinschaftlichen Produktion, Konsumtion und Erziehung“.
b) Der Kibbutz stellt mit seinen Mitgliedern einen geschlossenen Arbeitsmarkt dar: er beruht auf dem Prinzip der „Selbstarbeit“ seiner Mitglieder; Beschäftigung von Arbeitskräften von außerhalb gegen Lohn ist damit prinzipiell nicht vereinbar.
c) Die Arbeitskräfte des Kibbutz stehen der Gemeinschaft zur Verfügung. Diese bestimmt durch ihre gewählten Organe die Zeiteinteilung zwischen Arbeit, Ausbildung, Studium und Freizeit sowie über die Verteilung auf die verschiedenen Beschäftigungen in den Produktions- und Dienstleistungs-Branchen des Kibbutz; dabei werden individuelle Wünsche und Neigungen aber nach Möglichkeit berücksichtigt Der vollen Arbeitstätigkeit der Frau entspricht im Kibbutz ihre Befreiung von den Pflichten des privaten Haushalts und von der Pflege und Erziehung der Kinder. Alle Haushalts-und ErziehungsfunktionenS. werden grundsätzlich von kollektiven Institutionen erfüllt, gehören also zum Dienstleistungsbereich. d) Der Kibbutz praktiziert das Prinzip der Gleichheit der realen Pro-Kopf-Einkommen;
bedeutet konsequente Aufhebung das die des Zusammenhangs zwischen individueller Arbeitsleistung, persönlichem Beitrag zur Produktion und realer Einkommenssituation des einzelnen. Es herrscht also — ohne jedes materielle Anreizsystem — das Prinzip: nieder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“ — im Rahmen der Möglichkeiten der Gemeinschaft e) Der Kibbutz ist als selbstverwaltetes Kollektiv nach basisdemokratischen Ordnungsprinzipien verfaßt; diese Selbstverwaltung wird getragen von zeitweiligen Amtsträgern ohne jede materielle Vergünstigung, die nach einem im ganzen eingehaltenen Rotationssy stem nach zwei bis drei Jahren ausgetauscht werden.
Das besonders Bemerkenswerte ist, daß die Kibbutzim, auch ohne jedes materielle Anreizsystem für ihre Arbeitskräfte, von den Anfängen an zu den besonders effizienten Produktionseinheiten in Israel gehört haben, Dies der ermöglichte Kibbutzbevölkerung eine überdurchschnittliche Steigerung ihres Lebensstandards als Gemeinschaft; jährliche Wachstumsraten von 4— 5% des rechnerischen Pro-Kopf-Einkommens in den fünfziger und sechziger Jahren kennzeichnen die Dynamik dieses Prozesses Heute liegt das Durchschnittseinkommen der Kibbutzim im oberen Sechstel der israelischen Einkornmenspyramide und es gilt das geflügelte Wort von den „Pflanzeraristokraten"
II. Wandel und Kontinuität der Kibbutzim heute — im Zeichen „sanfter" Industrialisierung
Israel hat in den ersten 30 Jahren seiner staatlichen Existenz eine auch im internationalen Vergleich beispiellos steile und stürmische sozial-ökonomische Entwicklung absolviert: wahrhaftig ein „Wirtschaftswunder", nicht nur im atemberaubenden absoluten Wachstumstempo (Verneunfachung des realen Bruttosozialprodukts von 1950— 1973), sondern insbesondere auch im Strukturwandel von Wirtschaft, Gesellschaft und Technik So kann es nicht verwundern, daß auch die Kibbutzim in dieser Periode einen „dramatischen Wandel" erfahren haben; seine zentrale Herausforderung stellte die Industrialisierung dar, die daher besonders im Blickfeld der weiteren Betrachtungen stehen wird. Vorweg ist jedenfalls auf Grund der bereits genannten Daten zu konstatieren, daß die Kibbutzim diesen Wandlungsprozeß überlebt und dabei eine bemerkenswerte Flexibilität nicht nur in der Anpassung, sondern auch der aktiven Gestaltung der Verhältnisse bewiesen haben.
Da der Trend zur Industrialisierung zwar der Gesamttendenz der Entwicklung in Israel entsprach und als solcher auch durch die Regierung politisch gezielt gefördert wurde, aber dennoch ausschließlich von der Initiative der einzelnen Kibbutzim ausging, sollen zunächst die Bestimmungsgründe und Antriebskräfte dieser Initiativen dargestellt werden, bevor die Fakten der Entwicklung selbst und die aus der Industrialisierung folgenden Konsequenzen und Probleme beleuchtet werden können.
1. Die „industrielle Revolution“ im Kibbutz:
Ursachen Hier ist zu differenzieren zwischen verursachenden Faktoren aus höchst unterschiedlichen Sachzusammenhängen, die nichtsdestotrotz gemeinsam den Industrialisierungstrend in den Kibbutzim begründet und forciert haben An erster Stelle zu nennen ist eine besondere Konstellation geopolitischer und ökologischer Faktoren:
Da bei der Errichtung der Kibbutzim im Zuge der Besiedlung von Palästina/Israel geopolitische Gesichtspunkte stark dominierten, war die Ausstattung der Siedlungen mit natürlichen Ressourcen, v. a. Wasser und Land, häufig sehr unterschiedlich bemessen und erwies sich bei fortschreitender Entwicklung für eine dauerhafte wirtschaftliche Existenz oft als nicht ausreichend; in dieser Beziehung „benachteiligte"
Kibbutzim, etwa in den Bergen von Galiläa oder in den Wüstengebieten des Negev, waren daher von vornherein auf zusätzliche Einkommensquellen angewiesen.
Diese Begrenztheit in der natürlichen Ressourcen-Ausstattung war um so problematischer, als ja — sehr im Unterschied zu den meisten Entwicklungsländern — die Israelis bis in die sechziger Jahre hinein der rapiden Entfaltung ihrer Landwirtschaft Priorität einräumten und die Kibbutzim wesentliche Träger und Schrittmacher dieser Politik waren.
Auch heute noch bildet eine modern geführte gemischte Landwirtschaft das Rückgrat der meisten Kibbutz-Wirtschaften, auch wenn insgesamt kaum noch die Hälfte der gesamten Kibbutzeinkommen in diesem Bereich erwirtschaftet wird. Aber sie bearbeiten noch immer ein Drittel der landwirtschaftlichen Fläche, nutzen 40% der zur Verfügung stehenden Wassermengen und erstellen 40% der gesamten landwirtschaftlichen Produktion und Ausfuhr Israels Absolut dominierend sind sie bei den Feldkulturen: 1981 entfielen über 50% der Weizenernte, 60% der Zuckerrübenernte und gar 85% der Baumwollproduktion Israels auf die Kibbutzim
Die aus der Rationalisierung und Mechanisierung folgende allgemeine Tendenz zur Abnahme landwirtschaftlicher Arbeitsplätze traf in den Kibbutzim zusammen mit einer genau gegenläufigen Tendenz soziologisch-demographischer Faktoren die Kibbutzbevölkerung hat im Laufe der Jahre absolut erheblich zugenommen (in den 30 Jahren nach der Staatsgründung um etwa 100%) — auch wenn ihr Anteil an der israelischen Gesamtbevölkerung eher abgenommen oder stagniert hat (s. o.). Diese Entwicklung kam zustande zum einen durch die ständig steigende Zahl der Siedlungen, aber auch durch internes Größen-Wachstum der Kibbutzim: während in den dreißiger Jahren noch ca. 75% aller Kibbutzim weniger als 300 Menschen umfaßten, waren es Anfang der siebziger Jahre nur noch 20% (meist Neugründungen); mehr als zwei Drittel der Kibbutzim waren inzwischen in Größenordnungen zwischen 300 und 700 Personen hineingewachsen (in den dreißiger Jahren hatte erst 18% der Siedlungen diese Größe). Der Anteil der großen und sehr großen Kibbutzim ist jedoch relativ konstant geblieben; es gibt auch heute nur sechs Kibbutzim mit mehr als 1 000 Personen
Erst das Zusammentreffen der bisher genannten Faktoren potenzierte die Gefahr latenter Arbeitslosigkeit in den Kibbutzim und zwang sie zur Schaffung neuer produktiven Arbeitsplätze. Dieser Effekt wurde verstärkt durch den natürlichen Alterungsprozeß in den Kibbutzim, je nach Gründungsalter der Siedlungen etwa von den fünfziger Jahren an; alternde Kibbutzniks hielten zunehmend Ausschau nach leichteren Tätigkeiten als denen in der Landwirtschaft. Da es zu den unverrückbaren Prinzipien des Kibbutz gehört, seinen Mitgliedern eine angemessene Arbeit bereitzustellen solange sie nur arbeiten können, waren auch unter diesem Aspekt industrielle Beschäftigungsmöglichkeiten gefragt Dieser demographisch bedingte Wandel der Arbeitsbedürfnisse differenzierte sich auch qualitativ weiter mit dem Aufwachsen einer zweiten und dritten Generation in den Kibbutzim: ihren ausbildungs-und neigungsbedingten Präferenzen für qualifiziertere Berufe, insbesondere „technically sophisticated jobs", mußte entsprochen werden, wenn ihre Zufriedenheit und damit ihr dauerhafter Verbleib in den Kollektivsiedlungen gesichert werden sollte.
Ähnliches galt im Hinblick auf die Arbeitsbedürfnisse der Frauen: nachdem die hochtechnisierte Landwirtschaft immer weniger geeignete Betätigungsfelder für sie bot, wurde ein Ausgleich in einem anderen Produktionszweig um so dringlicher, als auch im Kibbutz die „typisch weiblichen“ Tätigkeitsfelder in allen Service-Bereichen als weniger angesehen gelten
Nicht zuletzt gab es auch handfeste ökonomische Gründe für die Industrialisierung der Kibbutzim: Die Landwirtschaft ist auch in Israel ein durchschnittlich weit weniger profitables Geschäft als die Industrie, — nicht zuletzt auf Grund einer entsprechenden Politik der Regierungen; die berühmte „Einkommens-Schere“ zwischen Landwirtschaft und Industrie existiert auch in Israel Das ökonomische Überlebensinteresse der Kibbutzim im Wettbewerb mit ihrer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umwelt ließ ihnen insofern kaum eine andere Wahl, als auch selbst den Weg der Industrialisierung zu beschreiten. 2. Die Jndustrielle Revolution“ im Kibbutz: Fakten Das rasante Tempo, in dem sich die Kibbutz-Industrialisierung in den letzten Jahren entwickelt hat, ist zu Recht als bester Indikator unternehmerischer Tatkraft und Innovationsbereitschaft wie auch interner Mobilität aller Produktionsfaktoren in den Kibbutzim interpretiert worden. So wuchs z. B. die industrielle Produktion in der ersten Hälfte der siebziger Jahre jährlich um durchschnittlich 20% in den Kibbutzim, gegenüber ca. 8% in Israel insgesamt 25). Sicher ist schon allein die Tatsache höchst bemerkenswert, daß es den Kibbutzim gelungen ist, durch kollektive Kapitalbildung aus dem Agrarsektor heraus eine ländliche Industrie aufzubauen. Vor allem aber konnte eine derart massive interne Verlagerung der Arbeitskräfte wohl nur gelingen, weil im Kibbutz die Verkettung zwischen Beschäftigung und Lebensstandard aufgelöst ist und daher soziale Friktionen nicht wie üblich den Strukturwandel behindern können. Schon in den Anfangsjahren der Besiedlung waren Werkstätten für Reparaturen landwirtschaftlicher Geräte und die traditionellen Berufe jüdischer Arbeiter — wie Schneiderei, Tischlerei, Schlosserei — in den meisten Kibbutzim vorhanden. Der zweite Weltkrieg, in dem das damalige Palästina eine große Basis für die englischen Armeen war, führte zur Errichtung eigener Fabriken in den Kibbutzim, die gewöhnlich landwirtschaftliche Produkte verarbeiteten. Erst ab Ende der fünfziger Jahre begann aber in den Kibbutzim die eigentliche Industrieära. Bis 1982 entstanden über 360 Betriebe, dazu 31 im gastronomischen Bereich und nur etwa 15% aller Kib-butzim leben heute noch ausschließlich von der Landwirtschaft Die Zahl der in der Industrie Beschäftigten liegt bei etwa 17 500, von denen allerdings nahezu 20% Lohnarbeiter sind (s. u.). Die Betriebsgrößen bewegen sich zwischen zehn und 400 Beschäftigten, aber ganz überwiegend handelt es sich um Klein-und Mittelbetriebe mit bis zu 50 Mitarbeitern. Sie sind im allgemeinen mit modernster Technik ausgerüstet und stehen in dem Ruf, eine höchst aggressive Verkaufs-und Exportpolitik zu betreiben. Die Voraussetzungen dazu wie generell für die Anwendung moderner industrieller Planungsmethoden wurden seit 1963 systematisch geschaffen und gefördert durch die Etablierung der zentralen „Kibbutz Industry Association“ als Dachverband.
Das Bild der Branchenstruktur der Kibbutz-Industrien stellte sich 1982 folgendermaßen dar Metallverarbeitende Unternehmen: 83; Plastik-und Gummiproduktion: 74; Elektrotechnik und Elektronik: 31; Textil-und Leder-verarbeitung: 18; Nahrungsmittelindustrie: 18; Möbelfabriken: 18; Druckereien: 10; Optik: 12; Chemie und Biotechnik: 14; Kunstgewerbe: 21.
Besonders aufschlußreich sind die Verschiebungen dieses Strukturbildes im Laufe der letzten Jahre : von den in der frühen Industrialisierungsphase dominierenden arbeitsintensiven Fertigungszweigen (in der Textil-, Holz-und Metallverarbeitung) verlagern sich neuerdings die Schwerpunkte sehr viel stärker auf die sogenannten „knowledge-intensi-
ve-industries" (Elektronik und Instrumenten-bau, Plastik-und Gummiprodukte, Optik, Chemie, Computerdienste). Neben dem bereits oben kurz gekennzeichneten Wandel der Arbeitsbedürfnisse zeigt sich darin die offenkundige Fähigkeit der Kibbutzim, Wachstumssektoren ausfindig zu machen und ihr Produktionspotential auf erfolgsversprechende Produkte zu lenken. Wie erfolgreich sie darin waren, kommt in den durchschnittlichen jährlichen Produktivitätszuwächsen von 45% der beiden letzten Jahrzehnte zum Ausdruck wie auch in der Tatsache, daß die Kibbutz-Industrien 1982 mit 1, 15 Milliarden US-7% zur gesamten israelischen Industrieproduktion und — bei einer Exportquote von 26% — 6, 2% zum israelischen Export beitrugen.
3. Die industrielle Revolution im Kibbutz: Folgen Die historische Erfahrung mit den Wirkungen von Industrialisierungsprozessen auf sozialökonomische und kulturelle Systeme in aller Welt legt es nahe, auch die ideologische, räumliche und soziale Identität des Kibbutz durch seine fortschreitende Umstellung auf industrielle Produktionsstrukturen und -prinzipien hochgradig gefährdet zu sehen. Es ist daher interessant und über den unmittelbaren Erfahrungsbereich Israels hinaus lehrreich, die wechselseitigen Anpassungsvorgänge Kibbutz-und und von Industriesystem -Prinzipien im Zuge dieses Prozesses zu vermerken, die ja darauf bedacht und geeignet sein mußten, den Erfordernissen beider Systeme gerecht zu werden.
Ein wesentliches Problem lag und liegt nach wie vor in der Schwierigkeit, das industrielle Produktionsvolumen mit dem „geschlossenen Arbeitsmarkt" des Kibbutz, also seiner eigenen personellen Kapazität, abgestimmt zu halten, da ein allein von der Dynamik des Marktes bestimmtes Kapazitäts-Wachstum zwangsläufig die grundlegende Kibbutz-Ideologie der selbstbestimmten Arbeit in Frage stellen würde. Konkret heißt dies ja, daß Kibbutz-Arbeitskräfte nur aus Mitgliedern und Kandidaten zur Mitgliedschaft bestehen sollten 30). Die Beschränkung der tatsächlichen Größe der Arbeitsbevölkerung des Kibbutz kann aber nur so lange wirksam sein, wie die ideologische Barriere gegen die Beschäftigung von Lohnarbeitern von außerhalb nicht durchbrochen wird. Die „Bresche im ideologischen Zaun, der den Kibbutz vom allgemeinen Arbeitsmarkt trennt“ 31), wurde mit Beginn der . industriellen Revolution'in den fünfziger und frühen sechziger Jahren zunächst unvermeidlich und wuchs sich bis auf 8— 9% der Kibbutz-Beschäftigten aus. Die Kibbutz-Unternehmen der verarbeitenden Industrie mit einem Lohnarbeiteranteil von über 50% trugen dazu den Löwenanteil bei.
Angesichts dieser drohenden Aufweichung eines der grundlegenden Kibbutz-Prinzipien wurden aber in der Folge starke Gegenkräfte zu deren Abwehr mobilisiert; sie führten insgesamt dazu, daß dieser Trend im Zaum gehalten werden konnte. Heute wird der Lohnarbeiteranteil in den Kibbutz-Industrien mit 20% angegeben Dieses „Nicht-Versagen an der Beschäftigungsfront“ — wie es die Kibbutzniks selbst gern nennen, wenn sie vom Ergebnis ihrer Bemühungen sprechen, die drohende Durchlöcherung des Prinzips der Selbstarbeit aufzuhalten wurde auf verschiedenen Wegen erreicht: dazu gehören z. B. von den Kibbutzverbänden verhängte . Abgaben" auf jeden Lohn-arbeiter als direktes Druckmittel ebenso wie der Verkauf einzelner industrieller „Wasserköpfe" von Kibbutzim an Außenstehende. Vor allem aber wurde die zügige Einführung von arbeitssparenden Techniken im Produktionswie auch im Dienstleistungssektor (teilweise Umstellung der Eßsäle auf Selbstbedienungssysteme) gefördert, sowie insgesamt der oben bereits gekennzeichnete Trend zum Umsteigen von arbeitsintensiven Branchen auf , High-Technology-Industrien Als Ergebnis dieser Entwicklung ist in der Tat eine beachtliche Reduzierung der Betriebsgrößen in den Kibbutz-Industrien zu vermerken: der Anteil von Kleinbetrieben (unter 30 Beschäftigten) hat erheblich zugenommen, von 47% 1969 auf 60% 1975, während gerade die relativ größten Kibbutzbetriebe über 100 Beschäftigten weiter von 11 auf 7% zurückgingen
Eine weitere problematische Folge der Industrialisierung für die Kibbutzim ergibt sich aus der Vereinbarung der Funktionsprinzipien industriellen Managements und industrieller Fertigung mit den traditionellen Kibbutz-Werten, — wie soziale Gleichheit, Selbstbestimmung, Nicht-Spezialisierung, berufliche Mobilität, Vermeidung materieller Leistungsanreize. Denn herkömmliche industrielle Arbeit beruht immer ihrem Wesen nach auf der Trennung von Hand-und Kopf-arbeit, dispositiven und Routinetätigkeiten, erfordert größere Spezialisierung und strengere Koordination, als es die in der Landwirtschaft gewohnten formlosen Funktionsweisen den Kibbutzniks gestatteten. Die industriellen „Sachzwänge" in Richtung größerer vertikaler Mobilität und damit beruflicher Differenzierung und Qualifizierung haben die Kibbutzim insgesamt mit einer Ausbildungsrevolution" zu kontern und in ihrem Sinne ins Positive zu wenden versucht: eine exemplarisches Muster einer . Sozialinnovation ä la Kibbutz’, von dem noch die Rede sein wird (s. u. III). Sicher gibt es für die Kibbutzim kein Zurück auf dem Weg der Industrialisierung: im Wettbewerb mit und in der israelischen Gesellschaft können und werden sie als soziales System nur überleben, soweit und weil sie sich so effizient wie nur möglich zu organisieren verstehen: diese Erkenntnis scheint als eines der „Geheimnisse“ des Kibbutz-Erfolges festzustehen 36).
Es dürfte sich aber auch bereits abzeichnen, daß das Industriesystem im Zuge seiner „Einverleibung" in das Kibbutzsystem erheblich umfunktioniert worden ist: in Richtung auf das, was man heute auch als Konzept einer „sanften" Industrialisierung bezeichnet, gekennzeichnet als menschengemäß — arbeitsorientiert — bedarfsgerecht — sozialverträglich — umweltschonend — ressourcensparend — dezentral.
III. Exemplarische Innovationsmuster und Elemente alternativer Lebensqualität im Kibbutz
Sozialer Wandel im Mikrokosmos des Kibbutz stellt sich keineswegs nur als passive und reaktive Anpassung dar, sondern ist offensichtlich in hohem Maß aktiv gestaltete Veränderung der Verhältnisse. Die besondere innovatorische Qualität dieses Sozialsystems kann im Rahmen dieser Arbeit allenfalls exemplarisch verdeutlicht werden. Dies gelingt am ehesten in einem Bereich, der wie kein anderer konstitutiv für den Kibbutz ist: der menschlichen Arbeit. Hier soll die konsequente Weiterentwicklung der Produktionsverhältnisse des Kibbutz nach Maßgabe der gewandelten Arbeitsbedürfnisse seiner Mitglieder gezeigt werden. Die „Lösungsmuster, die kurz skizziert werden, sind auch insofern besonders „kibbutz-typisch“, als sie sich um den zugleich organischen und dynamischen Zusammenhalt der Generationen im Kibbutz bemühen. Es geht dabei zunächst um die Jungen, dann um die Alten. 1. Entwicklung der Produktionsverhältnisse nach Maßgabe des . Faktors Arbeit'Exempel 1: die „Higher-Educational-Revoluj der siebziger Jahre — Zukunfts-Investitionen in junge Kibbutzniks j Obgleich die „Erziehung zur Arbeit“ — u. a. J auch dank Verknüpfung Arbeit und -von Ler nen schon in der Schule — im Kibbutz im ganzen als dessen „wichtigster pädagogischer registriert wird hat sich doch in den 20 Jahren die junge Generation der Kibbutzniks in ihren beruflichen Wünschen sehr stark vom landwirtschaftlich geprägten Arbeitsideal ihrer Eltern entfernt 1969 arbeiteten zwar nur 7% aus der Generation der Töchter und Söhne im Kibbutz in Berufen, die eine akademische Vorbildung erforderten, — aber 56% von ihnen wünschten sich eine solche Ausbildung! Bei den Söhnen zielten diese Wünsche hauptsächlich auf den technologischen und wissenschaftlichen Arbeitsbereich, bei den Mädchen auf Arbeiten im Bereich von Kunst, Erziehung und Sozialarbeit, — ein Ergebnis nicht nur einer entsprechenden Erziehung in den Kibbutz-Schulen, sondern auch der Lebensform des Kibbutz insgesamt, der mit der gemeinsamen, inzwischen durchaus hinreichenden Sicherung der primären Bedürfnisse seiner Mitglieder zugleich das Niveau ihrer individuellen Wünsche nach Befriedigung höherer Bedürfnisse erhöht:
nach Entwicklung ihrer schöpferischen Begabungen etwa und nach Selbstverwirklichung Entgegen einer in der Kibbutz-Publizistik verbreiteten Meinung haben alle empirischen Untersuchungen aber keine Befunde erbringen können, die den Wunsch der Töchter und Söhne nach „Selbstverwirklichung“ individualistisch, auf der Basis von Konkurrenz und Sieg des Stärkeren, Begabteren und Besseren zu deuten erlaubte; vielmehr wird Selbstverwirklichung bewußt erstrebt „auf der Basis einer qualitativen Gleichheit, die auf die Bedürfnisse des einzelnen im Rahmen einer kollektiven Wirtschaft und Gesellschaft Rücksicht nimmt.“
Das Erstaunliche ist nun, daß diese Wünsche nach . higher education'sich in den 70er Jahren geradezu von heute auf morgen durchgesetzt haben: die Zahl studierender Kibbutz-niks hat sich in weniger als zehn Jahren bis 1975 mehr als vervierfacht; 1980 hatten bereits 25% der erwachsenen Kibbutzniks eine Ausbildung im tertiären Bereich absolviert, gegenüber 7% 15 Jahre zuvor; und für 1982 wird das „Investitionsvolumen“ in junge Kibbutzniks mit ca. 3000 Studienjahren angegeben, d. h. 6% aller Kibbutz-Mitglieder studieren — auch im Bereich der Fortbildung; und dieser Trend setzt sich offensichtlich in die absehbare Zukunft fort
Diese „Bildungswelle“ in den Kibbutzim wäre nun im internationalen Vergleich kaum besonders bemerkenswert, wenn sie nicht parallel liefe mit einer entsprechend forcierten Veränderung der beruflichen Arbeitsmöglichkeiten im Kibbutz, also dank einer — oben bereits geschilderten — flexiblen Weiterentwicklung seines Beschäftigungssystems. Dessen vorrangige Ausrichtung auf die Berufs-und Arbeitswünsche seiner Mitglieder kommt besonders gut in einem Statement der Hakibbutz-Haartzi-Bewegung von 1980 zu den Zielsetzungen der Kibbutz-Industrien zum Ausdruck " (a) The factory is part of the kibbutz home in which the member has a framework for the expression of his Creative abilities, the satisfaction of his natural needs for work and occupation ..
und: “ (b) Occupational diversification: the factory will be planned so that in the long run highly skilled Professional and adminstrative jobs will be provided in accordance with the training, abilities and desires of the kibbutz members. Highly skilled occupations will be integrated into the general labor network of the kibbutz and the factory."
Änderungen der Berufsstrukturen im Kibbutz sind aber nicht nur theoretisch gefordert, sondern auch praktisch realisiert worden. Trotz des relativ kurzen Zeitraums läßt sich zwischen 1976 und 1980 ein deutlich verstärkter Trend zum Ausbau „wissensintensiver" Industriebetriebe in den Kibbutzim verzeichnen, die in dieser Zeit um 21% mehr in der Zahl der Betriebe und 31 % in der Zahl der Arbeitsplätze wuchsen als der Industriebereich, der als „nicht-wissens-aber-arbeits-intensiv“ gekennzeichnet wird
Die Bildungsrevolution im Kibbutz ist nicht zuletzt deswegen ein so gutes Exempel für die Innovationskraft dieses Sozialsystems, weil sie aus individuellen menschlichen Bedürfnissen in Gang gekommen ist: „The development in higher education in the kibbutzim where mostly by individual aspirations rather than initiated by structural changes in the society related to technology, market demands, and the like.“ Und diese „aspirations" wurden nicht etwa durch Pressure-groups der Jungen umgesetzt: 88% und damit die überwiegende Mehrheit aller Kibbutzniks hatten 1973 die Frage positiv beantwortet, ob sie eine Erweiterung der akademischen Ausbildungsmöglichkeiten und -Zeiten im Rahmen der Kibbutzbewegungen wünschten: der „existenziell engagierte Zusammenhalt zwischen den Generationen" funktioniert offenkundig
Exempel 2: Altersgerechter„Arbeitsstand“ für Kibbutz-Senioren Mit Altenproblemen sind die Kibbutzim erst in den letzten 20 Jahren konfrontiert worden, — als nämlich sehr plötzlich in den „VeteranKibbutzim" die Gründergeneration — alle auf einmal! — 55 bis 60 Jahre alt wurde. Die spezielle Altersstruktur der Kibbutzim ergibt sich aus deren Gründung durch mehr oder weniger altersgleiche Jugendgruppen, in den Pionierzeiten wie auch bei jüngeren Neuansiedlungen; sie ist heute bei den Veteran-Kibbutzim gekennzeichnet durch einen Anteil von 25 bis zu 40% Mitgliedern über 65 Jahren, getrennt durch ein „demographisches Tal“ von der Generation der unter 40jährigen „Kinder" mit deren Familien. Daneben gibt es gleichwohl auch heute noch „junge" Kibbutzim, in denen das älteste Mitglied nicht über 35 Jahre alt ist, ähnlich der Situation der Veteran-Kibbutzim vor dem Zweiten Weltkrieg. Die Altersschichtung in den Kibbutzim ist also sehr extrem und unterscheidet sich stark von der der israelischen Gesellschaft insgesamt (mit knapp 10% über 65jährigen in deren jüdischem Bevölkerungsteil und nur 3% bei den Nichtjuden)
Die Probleme, vor die sich viele Kibbutzim durch das Phänomen des „sudden aging“ gestellt sahen, haben zum einen dazu geführt, daß Kibbutz-Verbände wie auch Kibbutz-Forschungsinstitute sich besonders intensiv dieser Frage angenommen haben; zum anderen haben sich in den Kibbutzim bei der Suche nach „altengerechten“ Formen in allen Lebensbereichen eine Fülle praktischer Regelungen, Einrichtungen und Verfahrensweisen herausgebildet, die in vieler Hinsicht mit dazu beigetragen haben mögen, daß in Israel heute vielfach die Kibbutzim geradezu als „Altenparadies" gelten
Soweit sich dieses Urteil überhaupt empirisch überprüfen läßt, spricht vieles für seine Richtigkeit: — Die Lebenserwartung von Kibbutz-Mitgliedern (Männern wie Frauen) ist eine der höchsten in der Welt und überstieg 1977 die allgemeine Lebenserwartung der jüdischen Bevölkerung in Israel um 3, 5 Jahre: eine angesichts der harten Lebensbedingungen gerade der Siedler-Veteranen immerhin bemerkenswerter Tatbestand Die Ergebnisse aller Untersuchungen weisen darauf hin, daß der „environmental factor“ im weitesten Sinne wesentlich zur hohen Lebenserwartung und -qualität im Kibbutz beiträgt: abrupte Änderungen in den verschiedenen Lebensrollen — Arbeit, Familie, soziales Umfeld, Lebensraum — bleiben dem älterwerdenden Kibbutznik erspart, die sichere Einbindung in die Gemeinschaft sozial und ökonomisch, setzt sich fort mit allen Rechten und Pflichten; dank Gleichheitsprinzip gibt es im Kibbutz keine Minderung des Lebensstandards im Alter (im Gegenteil, z. B. neue und bessere Wohnungen werden üblicherweise nach Anciennität zugeteilt); der am Ort konzentrierte Familienzusammenhalt ist die Regel, und damit die in den Kibbutzim ganz auffällige großfamiliäre Einbindung der Alten — (mit höchst lebendigen Großeltern-Rollen!). Hinzu kommt eine erstklassige medizinische Vorsorge und Versorgung wie auch viele aus dem ländlichen Leben resultierende Vorzüge, Abwesenheit von Streß, Wettbewerb etc.
— Es gibt einige neuere empirische Untersuchungen dazu, was die älteren Kibbutzniks selbst für die gewichtigsten Komponenten ihrer Lebensqualität halten und womit sie mehr oder weniger zufrieden sind Das höchst beachtliche einhellige Ergebnis: die Arbeit nimmt bei den älteren und alten Kibbutzniks eine noch zentralere Rolle ein als bei den Jungen, und sie trägt gerade bei den Älteren am meisten zur allgemeinen Lebenszufriedenheit bei, vor anderen Domänen wie Familie, sozialen Aktivitäten, Freizeitbeschäftigung. Es ist also wieder einmal die Arbeit, die auch für die Rolle der Alten im Kibbutz prägend und kennzeichnend ist, — und die um-gekehrt den Kibbutz vor die Herausforderung gestellt hat, „altengerechte“ Arbeitsformen und -platze zu entwickeln. Zumal im Kontrast zu den hierzulande gängigen Vor-Ruhestandsregelungen und Früh-Pensionierungs-Tendenzen wirkt dieser kibbutztypische Weg I eines altersgerechten . ^rbeitsstandes“ für SeI nioren sicher fast absurd oder jedenfalls verI blüffend und verdient nähere Betrachtung:
In der Tat ist der Kibbutz eine der ganz wenigen Produktionsgemeinschaften, in denen es keinerlei Altersgrenzen für die Arbeit gibt;
lediglich in einigen Kibbutzim gibt es ab 70 I eine Option für Nicht-Arbeit, die aber erfahrungsgemäß so gut wie nie gewählt wird.
Vielmehr gilt in den Kibbutzim allgemein eine altersabhängige schrittweise Reduzierung der Arbeitszeit, die bei Frauen mit 45 und bei Männern mit 50 Jahren alle 5 Jahre eine Arbeitsstunde pro Tag ausmacht, bis herunter zu einem 4-Stunden-Tag, der bei Frauen also ab 65, bei Männern ab 70 Jahren erreicht wird. Eine Untersuchung hat aber ergeben, daß die über 65jährigen Kibbutzniks 56% mehr Arbeitsstunden leisten als es diesen forlmalen Normen entsprechen würde wiederum ein Indiz für die zentrale Bedeutung der Arbeit im Leben der Kibbutz-Seniorenl Angesichts dieser eindeutigen Bedürfnis-situation der älteren Menschen im Kibbutz ist es um so wichtiger, „passende" Arbeitsplätze für sie bereitzustellen, — und hier ist man sicher erst auf dem Weg zu optimalen Lösungen, wie selbstkritisch auch von Kibbutz-Forschern verlautet Daß das Motiv der Schaffung altersgerechter Arbeitsplätze den Aufbau von Industriebetrieben generell sehr gefördert hat, wurde bereits vermerkt. Häufig wurde sogar bei der Wahl der Branche oder Fertigungstechnik diesem Gesichtspunkt Priorität vor solchen des wirtschaftlichen Kalküls eingeräumt (man spricht in diesen Fällen von Mifal Beit oder auch der „zweiten Industrie"). 62% der älteren Kibbutzniks arbeiten momentan in der Industrie und im Dienstleistungsbereich der Kibbutzim (ohne Erziehung), in denen sie aber nur zu 38% schon in ihren jungen Jahren tätig waren.
Der Wechsel an einen altersgerechteren Arbeitsplatz bringt für den Kibbutznik auch deshalb kaum neue Probleme, weil dank Rotationsprinzip und Förderung beruflicher Mobilität das Kibbutz-System seine Mitglieder ohnehin zu häufigerem Wechsel ermuntert und veranlaßt, so daß ein 65jähriger meist in seinem Arbeitsleben bereits drei bis fünf ver-schiedene Berufe ausgeübt und noch sehr viel mehr Funktionen innegehabt hat Die alten-gerechten Arbeitsplätze in der Industrie sind meist durch besonders günstige physische Umweltbedingungen (Klimatisierung, Lärm-schutz, Komfort am Arbeitsplatz), insbesondere aber durch gute soziale Verhältnisse (homogene Kleingruppen) und für die individuelle Disposition flexible Ausgestaltung (disponible Arbeitszeiten — z. B. auch nachts) gekennzeichnet. 2. Der Kibbutz als . ökologisches Gemeinwesen’: Elemente alternativer Lebensqualität
Da für den Kibbutz als kollektive Gemeinschaft die allseitige Verflechtung sämtlicher Lebensbereiche konstitutiv ist, lassen sich einzelne Elemente der Lebensqualität nur sehr schwer aus diesem Geflecht heraus isolieren. In der kritischen Sozialwissenschaft steht neuerdings hierfür der Begriff des „ökologischen Gemeinwesens“ zur Verfügung, definiert als „die Gesamtheit der in der menschlichen, gesellschaftlichen und natürlichen Umwelt heute und in Zukunft miteinander vernetzten Teilsysteme“ In der Tat kann man den Kibbutz als spezifisch „ökologisch“ orientiert bezeichnen: im Sinne eines erweiterten ökologischen Ansatzes, nicht im engeren. „biologischen" Sinn, sondern als „Vernetzung von menschlich-sozialer und natürlicher Mitwelt, Umwelt und Nachwelt.“ Daher ist es auch kein Zufall, daß die aus der Kritik des modernen Industrialismus entstandenen alternativen Denkansätze und Konzepte für einen „Ökosozialismus" in so vielen Punkten die Lebens-und Wirtschaftsform des Kibbutz geradezu herausfordern, jedenfalls zu bestätigen scheinen: „Ökosozialismus" als Etikett einer „begrifflichen Bündelung der verschiedenen Aspekte des Konzepts einer humanen und ökologisch vernünftigen Gesellschaftsordnung."
Im Sinne dieses Ansatzes wird also im folgenden versucht, aus den im . ökologischen Gemeinwesen'Kibbutz vernetzten menschlichen, sozialen und natürlichen Teilsystemen schlaglichtartig einige Elemente alternativer Lebensqualität aufzuzeigen. Die zentrale Rolle und Wertung der Arbeit im Leben der Kibbutzniks legt es nahe, ihr auch hier besonderes Augenmerk zuzuwenden: a. Qualität des Arbeitslebens im Kibbutz: Sinnvolle Tätigkeit für den ganzen Menschen Die . Arbeit" im Kibbutz entspricht schon in der Abgrenzung nicht der von der Vermarktungsfähigkeit her definierten (Lohn-) Arbeit Sie ist insofern — in der Marxschen Unterscheidung und Terminologie — viel eher Tätigkeit = „menschliches Tun im Reich der Freiheit"; denn Arbeit ist danach „menschliches Tun im Bereich der Notwendigkeit", unter dem Zwang der Existenzsicherung; der direkte „Lebensunterhalt“ ist aber im Kibbutz ja gerade von der . Arbeit“ abgekoppelt.
Dem Wesen der Kibbutz-Arbeit wird am besten ein ökologisch orientiertes Arbeitsverständnis gerecht: „... Arbeit ist Lebenssicherung und Selbstverwirklichung des Menschen durch gestaltendes Handeln im Dienste des ökologischen Gemeinwesens, — ... das Reich der Notwendigkeit und das Reich der Freiheit gehören zusammen ... ihre Aufteilung widerspricht der Ganzheitlichkeit des Menschen und ist auf Dauer inhuman .. .
Welche menschlichen Tätigkeiten „im Dienste“ des Kibbutz als . Arbeit" gelten, ist schon verschiedentlich angesprochen worden.
Die Grenze zwischen Arbeitsleben und Privatleben des einzelnen ist demnach fließend. Man kommt daher auch nicht auf die Idee, derartige „Tätigkeiten“ aus dem Leben der Menschen verbannen zu wollen: Arbeit wird im Kibbutz nicht als notwendiges „Übel” angesehen und daher weder gemieden noch auf das „unvermeidliche Maß“ reduziert. Das erklärt auch das zeitliche Gewicht der Arbeit im Leben des Kibbutzniks, gewissermaßen das Maß seiner „Selbstausbeutung": denn der Kibbutznik arbeitet mehr als andere!
— 60% der Kibbutz-Bevölkerung „arbeiten", gegenüber 35% der Gesamtbevölkerung in Israel — Der normale Arbeitstag eines Kibbutzniks ist acht Stunden lang, in einer Sechs-Tage-Woche, mit verschiedenen zusätzlichen Gemeinschaftspflichten 1t. Dienstplan
— Das Gewicht der Arbeit im Leben des Kibbutzniks wird am deutlichsten aus seiner Lebensarbeitszeit, die besonders stark kontra-stiert zu dem in der industriellen Arbeitsgesellschaft allgemein üblichen Teilungsschema in vier „Lebenskästchen“ den Ausbildungskasten am einen, den Ruhestandskasten am anderen Ende der Lebenszeit und in der Mitte die Arbeits-und die Freizeit. Alle drei „Nicht-Arbeits-Kästen“ zeigen nicht nur die Tendenz, sich enorm auszuweiten, sondern auch losgelöst vom Bezug zur Arbeitswelt ein starkes Eigengewicht im menschlichen Leben zu gewinnen: Inbegriff eines auch in dieser Hinsicht „zerteilten“ Menschenschicksals im Industrialismus! Das ganzheitliche Menschenbild des Kibbutz hat auch dem widerstanden: Zeit-„Kästchen" gibt es im Leben des Kibbutzniks nicht, . Arbeitszeit-Verkürzung“ in ihren verschiedenen Dimensionen kann in den Kibbutzim kein Thema sein!
Die „Befreiung der Arbeit“, nicht die „Befreiung von Arbeit“, das war und ist das zentrale Anliegen der Kibbutz-Bewegung und steht nach wie vor im Mittelpunkt aller Bemühungen in der Arbeitswelt des Kibbutz; diese sind mit der Industrialisierung noch stärker akzentuiert und sytematisiert worden Im weitesten Sinne geht es dabei um die Schaffung von Arbeitsbedingungen, in denen die Menschen ihre Persönlichkeit und schöpferischen Anlagen möglichst entfalten können. Insofern zielt die Kibbutz-Version einer „Humanisierung der Arbeit" wesentlich weiter und breiter als deren Programmatik hierzulande.
Qualität des Gemeinschaftslebens im Kibbutz: funktionierende Basisdemokratie.
Die direkte Kibbutz-Demokratie hat sich im Ganzen als lebens-und entscheidungsfähig erwiesen und bisher den unleugbaren Gefahren einer Degeneration — besonders angesichts fortschreitender struktureller Differenzierung des Kibbutz — widerstehen können Das demokratische Selbstvertrauen der Kibbutz-Mitglieder und ihre Bereitschaft zu verantwortlicher und solidarischer Mitentscheidung scheint ausreichend und tragfähig; dies ist nicht zuletzt ein Sieg für die Theorie der „Laien-Kompetenz" gegenüber dem technokratischen „Experten-Anspruch" in der Politik aber auch ein Beweis der Praktikabilität direkter Bürger-Partizipation und -Selbstbestimmung, die allerdings erwiesenermaßen in politischen Entscheidungen besser funktioniert als bei wirtschaftlichen Angelegenheiten, besonders im industriellen Bereich. Hier werden gelegentlich „Tendenzen zu exzessiver Autonomie" der Betriebe gegenüber der Kibbutz-Gemeinschaft und ihren Organen vermerkt
Die direkte Demokratie des Kibbutz hat sich angesichts der höchst komplexen Zielstrukturen dieses Kollektivs nicht nur als hinreichend entscheidungsfähig erwiesen, sondern auch noch (nach kibbutz-externen Maßstäben einer „profitablen Produktion“) höchst effektiv gezeigt Die kibbutz-interne Effizienz hängt allerdings ab von der optimalen Abstimmung aller Kibbutzziele aufeinander; die Kibbutz-Gemeinschaft scheint aber in der Lage zu sein, die Bewältigung der sich daraus ergebenden Zielkonflikte demokratisch und mit relativ geringen Reibungsverlusten zu organisieren: sie widerlegt damit immerhin die Auflassung, daß Demokratisierung stets auf Kosten der Rationalität von Entscheidungen und der Effektivität ihrer Durchsetzung gehen muß Vielmehr könnte die Kibbutzerfahrung nahelegen, daß Demokratisierung sogar eher eine vernünftigere und effektivere, d. h.
Tielgerechtere Organisation der Gesellschaft zu schaffen vermag!
Am Rande sei hier noch auf eine bestimmmte Schwachstelle im politischen System des Kibbutz hingewiesen, die besonders kennzeichnend für die Vernetzung in diesem Gemeinwesen ist: die Ämterscheu, d. h. die vielfach lestzustellende mangelnde Motivation zur Übernahme von Gemeinschaftsämtern im Kibbutz, soweit sie leitende Funktionen betreffen Dieser relative Mangel an Politiken Ambitionen scheint nach entsprechenden Untersuchungen vor allem auf eine „negative-reward balance" zurückzuführen zu sein: die „Gewinne" — in Gestalt von sozialem Status, Einfluß, Selbstverwirklichung — aus solchen Ämtern wiegen die „Verluste" (zusätz-liehe Arbeit: Belastung, Ärger) nicht auf Dies wird erst verständlich, wenn man die Rangfolge des Sozialprestiges der verschiedenen Rollen im Kibbutz kennt: höchstes Ansehen und Sympathie im Kibbutz genießen nämlich der „hervorragende Arbeiter" und „das loyale Mitglied"; „leitende Amtsträger“ hingegen rangieren in der Wertschätzung eher im Mittelfeld und sind in der Beliebtheit die „Vorletzten" (von insgesamt sieben Positionen) Wiederum ein Indiz für die überragende Bedeutung der Arbeit im gesamten sozialen Wertsystem des Kibbutz, aber zugleich auch für den sehr geringen „Machtgehalt" von Führungspositionen im Kibbutz.
Wenn als letztes nach Elementen der Lebensqualität im natürlichen Lebensraum des Kibbutz gefragt werden soll, muß sozusagen als Prinzip des ökologischen Gemeinwesens noch dessen Größe, bzw. gerade Kleinheit herausgestellt werden. Die Rehabilitation der „kleinen Einheit" — „small is beautiful" — als politisch hoch aktuelle Forderung nach Dezentralisierung und größerer Überschaubarkeit der Zusammenhänge in allen Lebensbereichen ist ja entstanden vor dem äußerst negativen Erfahrungshintergrund mit überkonzentrierten und -zentralisierten, weiträumig vernetzten Strukturen der modernen Industriegesellschaft
Qualität des natürlichen Lebensraums Kibbutz: das „urbane“ Dorf.
Dank seines festgefügten Wertsystems ist der Kibbutz kein Opfer der immanenten Wachstumsdynamik von Industrialisierung und Modernisierung geworden: sein „geschlossener Arbeitsmarkt" hat hier offensichtlich verhindert, was weltweit als Agglomerations-und Urbanisierungstendenzen die Industrialisierung begleitet und nicht zuletzt die Ökologie aus dem Gleichgewicht bringt. Die gemischte agro-industrielle Struktur, wie sie sich in den Kibbutzim herausgebildet hat, vereinigt ökonomische mit ökologischen Vorzügen — auch wenn im hochtechnisierten Agrarbereich stellenweise die natürliche Umwelt doch hochgradig „strapaziert“ wird —, aber eben immer in relativ kleinem Maßstab.
Da die Erfahrungen zeigen, daß die „stadtnahen" Kibbutzim sich in der Regel nicht haben halten können, scheint die räumliche Distanz zu städtischen Siedlungszentren, d. h. also ländliche Abgeschiedenheit im Sinne relati-ver räumlicher Abgeschlossenheit gegenüber der Außenwelt, eine Überlebensbedingung des Kibbutz zu sein Der Kibbutz als Siedlungsform ist ja in seiner internen Struktur auf Nähe aller zu allen und zu allm gebaut: nur etwa 30% seiner Beschäftigten haben im Durchschnitt ihren Arbeitsplatz außerhalb des unmittelbaren Siedlungskomplexes, also z. B. in etwas entfernter gelegenen Plantagen oder auch Betrieben und Schulen. Dadurch ist eine gegenseitige Nähe vom Produktionsund Konsum-Sektor, von Arbeitswelt und Freizeitbereich gegeben, wie sie sonst nur in vorindustriellen Produktionsverhältnissen die Regel war. Der im Zentrum der Siedlung gelegene Speisesaal wird als das „sinnfälligste Symbol der kollektiven Ökologie des Kibbutz“ bezeichnet, zumal er gleichzeitig Mittelpunkt seines politischen und kulturellen Lebens ist; für dessen Qualität hier nur als Quintessenz einer Untersuchung der Freizeit-kultur in den Kibbutzim gesagt werden kann: .... In einer ländlichen Umgebung hat der Kibbutz eine kulturelle Vielfalt und Rahmenbedingungen für künstlerische und kulturelle Kreativität geschaffen, die mit denen in der Stadt vergleichbar sind und sie auf manchen Gebieten sogar übertreffen .. .
IV. Lehren aus der Kibbutz-Erfahrung
Das „nicht gescheiterte Experiment“ Kibbutz entzieht sich einer abschließenden Würdigung. Überlegungen zur Relevanz seiner Erfahrungen in sieben Jahrzehnten für die Außenwelt anzustellen kann nicht heißen, die daraus zu gewinnenden Lehren im einzelnen aufzulisten und zu evaluieren. Ohnehin entspräche es nicht Geist und Selbstverständnis der Kibbutz-Bewegung insgesamt, würde man ihr unterstellen, daß sie sich und ihre Lebensformen der Außenwelt schlicht „zur Nachahmung" empfehlen wollte: dazu ist den Kibbutzniks Selbstzufriedenheit zu fremd und ihre Neigung viel zu notorisch, ihre Leistungen eher an ihren eigenen hohen Gründungsidealen zu messen als an den mäßigen Erfolgen anderer Gesellschaften. „Zukunftsweisend" für die Suche nach neuen menschlichen Lebens-und Wirtschaftsformen in der Industriegesellschaft kennen insofern wohl immer nur einzelne innovative Elemente des Kibbutz-Systems sein, — z. B.sein „Alten" -Modell; oder seine Praxis der Ämter-Rotation, des „job-enrichment"; oder auch sein „ganzheitliches" Verständnis der Arbeit. Der Kibbutz ist jedoch viel zu einzigartig in seinen historischen und ideologischen Konstellationen, als daß er als Gesamtmodell einer alternativen Lebens-und Wirtschaftsform schlechthin gelten könnte; das zeigen auch die im ganzen erfolglosen Versuche seiner Kopierung in anderen Ländern (z. B. Japan, USA)
Dennoch darf nicht übersehen werden, daß für die'Kibbutz-Ideologie ein starkes missionarisches Element konstitutiv ist, das sich aber durch und durch zionistisch versteht, d. h. auf die nationalen Belange des jüdischen Volkes im Staate Israel gerichtet ist Der Kibbutz will „Lehren" erteilen er soll deshalb in dieser Rolle in der israelischen Gesellschaft noch abschließend kurz gewürdigt werden. 1. . Ständige Herausforderung“ als Prinzip: der Kibbutz in der israelischen Gesellschaft.
In Wandel und Kontinuität des Kibbutz über die Jahrzehnte ist seine Auseinandersetzung mit den ständigen Herausforderungen seines gesellschaftlichen Umfeldes sichtbar geworden; die Kibbutzim haben sich in diesem Prozeß zu behaupten und konsolidieren vermocht dank der Bewahrung ihrer ideologischen und generativen Identität.
Im Unterschied zu anderen utopischen Gemeinschaften versteht sich der Kibbutz aber auch seinerseits als vitale Herausforderung an die israelische und jüdische Gesellschaft, und zwar in mehrfacher Beziehung als — „Leader" — d. h. als Pionier den Weg zu weisen für soziale und nationale Ziele und deren Realisierung;
— „Modell" — als Vorbild für ‘alle Israelis in den verschiedensten Lebensbereichen, wenn auch nicht als ganzheitliche Lebensform;
— „Center of attraction" — zur Anziehung derjenigen Menschen aus der israelischen Gesellschaft, die bereit sind, sich mit dem „Kibbutz way of live" zu identifzieren.
Der relative Verlust an politischer Führerschaft der Kibbutzim in Staat und Gesellschaft ist bereits deutlich geworden; ihre Modell-Wirkung ist nur schwer zu konkretisieren und angesichts des Prozesses rapide fortschreitender sozialer und ethnischer Differenzierung und Polarisierung der israelischen Gesellschaft eher ebenfalls rückläufig zu sehen. Damit verbleibt als greifbarste Herausforderung die . ^Attraktivität“ der Kibbutzim für die Israelis selbst, ablesbar an deren Bekundungen von Sympathie, Interesse oder Hochachtung für die Kibbutzim, bis hin zur Abstimmung mit den Füßen“, also den Mitglieder-Bewegungen, vor allem denen in die Kibbutzim hinein; deren absolute Freizügigkeit macht sie zu einem echten Gradmesser dieser Attraktivität In der Freiwilligkeit des Ein-und Austritts ist die Freiheit der individuellen Identifizierung mit dem Kibbutz und seinem Wertsystem gewissermaßen institutionalisiert: es bleiben und kommen nur diejenigen als Mitglieder, die mit ihm einverstanden sind, — ein ganz entscheidender Faktor für die Geschlossenheit und Stabilität des Kibbutz-Systems!
Die durchschnittliche Abwanderungsquote von 40— 45 % v. a. junger Kibbutzniks in den letzten Jahren ist natürlich auch ein Gradmesser für die hohe Spannung und die wachsende Kluft zwischen „innen“ und „außen“.
Aber immerhin über die Hälfte der im Kibbutz Geborenen bleibt und identifiziert sich mit seiner Lebensform, d. h. sie findet sie besser als die konventionellen Lebens-und Organisationsformen „draußen". Der durchschnittliche jährliche Zuzug von Mitgliedern von außerhalb — neuerdings verstärkt „Stadtflüchter“ und junge Familien — wird dagegen mit ca. 1 000 angegeben Diese sehr moderate Zahl kontrastiert aber auffallend mit der Zahl derjenigen Israelis, die sich bei regelmäßig wiederholten Befragungen als „prinzipiell interessiert" am Kibbutzleben bekennen: sie rechnet sich hoch auf ein Potential von immerhin 60 000 Menschen, wobei als Hauptmotiv die „besondere Lebensqualität" im Kibbutz wesentlich vor dessen besonderer ideologischer Ausrichtung rangiert.
Diese Diskrepanz der Zahlen ist für die Kibbutzim in doppelter Hinsicht erfreulich und alarmierend zugleich: sie zeigt einerseits das hohe Maß an Sympathie und Interesse, auf das sie in der israelischen Gesellschaft bauen können (selbst eine Mehrheit von 56% der Likud-Wähler „unterstützte“ bei einer Befragung 1978 den Kibbutz-Gedanken, und unerwartet hoch ist auch das festgestellte starke Interesse am Kibbutzleben im sephardischen Teil der Bevölkerung). Diese positive Grundeinstellung in der israelischen Gesellschaft wird aber nur wenig in entsprechendes Handeln (z. B. Eintritte) umgesetzt. Dabei spielt sicher der ebenfalls zutagegetretene Mangel an direktem Kontakt eine Rolle: fast die Hälfte der Befragten gaben an, noch nie in einem Kibbutz gewesen zu sein. Die hohe Einschätzung ihrer Lebensqualität ist einerseits für die Kibbutzim zwar schmeichelhaft, zeigt aber zugleich die Notwendigkeit, ihre ideologische Basis auch nach außen deutlicher zu machen, um nicht etwa die „falschen“ Sympathisanten anzuziehen. Hier gibt es in den allerletzten Jahren Anzeichen, daß die Kibbutzniks offensiv in die sozialen Konfliktfelder der heutigen israelischen Gesellschaft einsteigen so leisten sie etwa freiwillige Gemeinschaftsarbeit in Entwicklungsstädten und sozialen Problemgebieten, oder sie nehmen Gruppen sozial unterprivilegierter Stadtjugendlicher in Kibbutz-Schulen auf (1979: nahezu 5000). 2. Die Kibbutz-Lektion zum Innovations-Potential der Industriegesellschaft in West und Ost Nichts hat so sehr die „Bewährung" des Experiments Kibbutz in den Augen außerisraelischer Kommentatoren zu bestätigen vermocht wie sein ganz unbestreitbarer wirtschaftlicher Erfolg, — wenngleich wahrlich die Ökonomie im Kibbutz immer nur Mittel zum Zweck war und ist. Aber natürlich verführt die Greifbarkeit und Vergleichbarkeit der Meßlatte des wirtschaftlichen Ergebnisses zur Bevorzugung dieses Erfolgskriteriums; und außerdem provozieren die gängigen, auf Erfahrung beruhenden Erwartungen und ideologischen Vorurteile es geradezu, diesen Teil der Kibbutz-Lehren besonders herauszustellen.
In der Tat hat sich ja die innovative Ökonomie des Kibbutz den Leistungen kapitalistischen Wirtschaftens nicht nur gewachsen, sondern in mancher Hinsicht sogar überlegen gezeigt, — von einem Vergleich mit Ergebnissen im Staatssozialismus ganz zu schweigen. Will man also im Kibbutz einen lebendigen Beweis für oder gegen sozialökonomische Doktrinen im west-östlichen Denkschema sehen, so könnte er allerdings den Vertretern des wissenschaftlichen Sozialismus recht geben, die sich nach Aufhebung der privaten Verfügung über die Produktionsmittel und Abschaffung der Lohnarbeit eine „Entfesselung der Produktivkräfte" und die Entstehung einer ökonomisch überlegenen Produktionsform erwarten. Aber gerade im Hinblick darauf, daß das Kibbutz-Experiment ja eine ebenso lange Geschichte hat wie das erste sozialistische Experiment auf nationalstaatlicher Grundlage — die Sowjetunion —, ist festzustellen, daß der Kibbutz die sozialistischen Prinzipien sehr viel konsequenter in die Praxis umgesetzt hat, als es in irgend einer der Gesellschaften des realen Sozialismus bis auf den heutigen Tag je geschehen ist: nicht nur Produktion und Produktionsmittel wurden vergesellschaftet, sondern auch völlige ökonomische und soziale Gleichheit und Gleichberechtigung eingeführt, womit in der Konsequenz v. a. für die Rolle der Frau auch die Sozialisierung der Dienstleistungen und von Teilen des Konsums verbunden ist: insofern praktiziert der Kibbutz wirklich Kommunismus „in Reinkultur". Aber: Konstitutives Element und Lebenselexier des Kibbutz ist eben auch und zugleich das Prinzip der Freiheit und Freiwilligkeit und die Orientierung an einem ganzheitlichen humanistischen Menschenbild! Wenn der Kibbutz etwas „beweisen“ kann, dann dies: daß Sozialismus und Freiheit als Ordnungselemente in der Praxis doch vereinbar sind; und daß demokratische Entscheidungsprozesse die Verbindung der beiden Elemente zuwege zu bringen vermögen, — wenn und soweit die Freiheit der individuellen Identifizierung mit dem verbindlichen Wertsystem gewährleistet ist.
Die Kibbutz-Erfahrung zeigt aber auch, daß das west-östliche Denk-und Unterscheidungsschema: Kapitalismus — Kollektivismus keineswegs die wichtigste Dimension im Innovationsbedarf der heutigen Industriegesellschaft anzeigt; vielmehr ist es die Suche nach alternativen Lebens-und Wirtschaftsformen für den modernen Industrialismus schlechthin, der das Kibbutz-Modell so besonders aktuell macht. Allerdings sollte sogleich angemerkt werden, in welcher Hinsicht der Kibbutz nicht . alternativ'im Sinne gleichbenannter Konzepte, Kommunen und politischer Gruppierungen heute ist: Basieren diese im Ganzen auf einer Protest-oder sogar Verweigerungshaltung gegenüber der industriellen Leistungsgesellschaft, so ist der Kibbutz eher gekennzeichnet durch Produktivismus und Innovationsfreudigkeit, auch und gerade im technisch-wirtschaftlichen Bereich. Gleichwohl ist die Relevanz der Kibbutz-Erfahrung gerade für die Suche nach ökologisch und sozial . verträglicheren'Formen des Arbeitens, Produzierens, Konsumierens, Industrialisierens, Siedelns offenkundig. Insofern stellt die hier skizzierte Entwicklung und Wandlung der Kibbutzim in den letzten Jahrzehnten auch ein Stück Anschauungsunterricht zum überfälligen Bedarf wie auch zum Potential an sozialen Innovationen im Industrialismus dar: von einer . Humanisierung der Arbeitswelt','die diesen Namen wirklich verdient, d. h.den . ganzen'Menschen zum Maß der Produktionsverhältnisse macht, bis hin zu einem . qualitativen Wachstum', das Ökonomie und Technik im Einklang mit der natürlichen und sozialen Umwelt entwickelt — bedürfnisgerecht und aus hautnaher Verantwortung für die nachwachsende Generation zukunftsorientiert. In diesem Sinne ist der Kibbutz wohl doch sogar „spezifisch jüdisch": eine Verkörperung der Mischung aus visionärer Begabung, intellektueller Brillanz und praktischem Lebensgespür, die dieses Volk 2000 Jahre Diaspora hat überdauern lassen. Auch wenn der Kibbutz etwas höchst „Säkulares" ist — vielleicht ist er doch so etwas wie eine „Botschaft zum Anfassen" —, daß nämlich ein humaner und ökologischer Fortschritt in der industriellen Gesellschaft heute „machbar" ist jedenfalls im Kleinen.