Once in Chelm, the mythical village of the East European Jews, a man was appointed to sit at the village gate and wait for the coming of the Messiah. He complained to the village elders that his pay was too low. You are right,'they said to him, 'the pay is low. But consider: the work is steady.'Irving Howe, Steady Work In seinem Roman Slapstick erzählt Kurt Vonnegut eine Geschichte über seinen Bruder Bernard, die, wie er sagt, „mit geringfügigen Änderungen zutreffend auch über mich selbst erzählt werden könnte:
Diese Anekdote schildert anschaulich die Ausgangssituation für unsere Diskussion von Politik und Literatur, die man die Beziehung zwischen der Unordnung innerhalb und außerhalb unserer Köpfe nennen könnte. Etwas anspruchsvoller formuliert könnte das Thema dieses Beitrags lauten: Die Beziehung zwischen dem Stoff und der Vision des Künstlers. Wieder liefert Vonnegut einen passenden Anhaltspunkt, wenn er von seinem Roman Übersetzung: Bernd Herbert, Köln Slapstick sagt: „Er schildert, wie ich das Leben empfinde.“
Doch wie haben amerikanische Schriftsteller das Leben während der vergangenen zwei Jahrzehnte empfunden? Es ist wohl kein Geheimnis, daß wir in unheilvollen Zeiten apokalyptischer Gewalttätigkeit und radikaler Konfrontationen leben. Doch was die gegenwärtige Sensibilität kennzeichnet, ist nicht allein die erhöhte Sichtbarkeit von Gewalt in unserer Welt, sondern auch das größere Bewußtsein unserer Verwundbarkeit inmitten all des Überflusses. In den sechziger Jahren waren die Zeichen von Gewalt und Verwundbarkeit überall zu sehen: In den Fernsehbildern von der Ermordung Lee Harvey Oswalds, die zum Nutzen der Zuschauer in Zeitlupe wiederholt wurden für den Fall, daß diese irgendeinen Teil davon verpaßt haben könnten; in den Filmstreifen über den Vietnam-Krieg, die man sich während des Abendessens in den Nachrichten anschaute; in den Photos von Aufruhr und Demonstrationen, welche die Titelseiten unserer Tageszeitungen schmückten. In Erweiterung des Mottos, das die New York Times ziert — „All the News that's fit to print" —, lieferten die Massenmedien täglich Beweise für William Barretts Behauptung, daß kein Zeitalter sich jemals seiner selbst so bewußt gewesen wäre wie das jetzige.
In dieser Situation sahen sich die amerikanischen Schriftsteller in den sechziger Jahren einer Reihe künstlerischer Probleme gegenüber, die auf eine Krise der schöpferischen Phantasie hinausliefen. In ihrem Buch The Golden Notebook kennzeichnete Doris Lessing diese schöpferische Krise als : „the thinning of language against the density of our experience."
Das erste Problem beschäftigt sich mit dem, was ich den Stoff des Künstlers genannt habe: Wie kann der Schriftsteller mit seiner Vorstellungskraft gegenüber dem phantastischen Charakter der gegenwärtigen Realität bestehen? In einem Artikel, überschrieben „Writing American Fiction", beschreibt Philip Roth ausführlich und pointiert einen tatsächlichen Mordfall in Chicago, der sehr grausam und bizarr war. Man ließ die Mutter des Opfers im Fernsehen auftreten, die ein teures Haushaltsgerät überreicht bekam. „Und was ist die Moral einer so langen Geschichte?" fragte Roth: Einfach dies: Der amerikanische Schriftsteller um die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts konzentriert sich auf den Versuch, viel von der amerikanischen Wirklichkeit zu verstehen, diese dann zu beschreiben und dadurch glaubhaft zu machen. Sie verwirrt, sie widert einen an, sie macht wütend und schließlich ist sie noch eine Art Beschämung für die eigene dürftige Phantasie. Die Wirklichkeit übertrifft fortwährend unsere Talente, und die Kultur bringt täglich Figuren hervor, die den Neid eines jeden Schriftstellers erregen
Der zweite Aspekt dieser schöpferischen Krise betraf das Problem der Vision des Künstlers. Wie sollte er eine gewisse Ordnung oder einen Sinn in diesem Stoff finden und wie sollte er diesen Sinn seinem Publikum verdeutlichen? In einem Essay mit dem Titel „Slouching Towards Bethlehem“ beschreibt Joan Didion ihre Erfahrung mit der in der kalifornischen Gegenkultur entstandenen Anomie und Geisteslähmung. In der Einleitung des später erschienenen gleichnamigen Buches analysierte sie die beim Verfassen des Essays und nach dessen Veröffentlichung die von ihr durchgemachte Krise. „Es war das erste Mal, daß ich direkt und unmittelbar mit der Evidenz der Atomisierung zu tun gehabt hatte, dem Nachweis, daß die Dinge auseinanderfallen: Ich ging nach San Francisco, weil ich seit Monaten nicht hatte arbeiten können, gelähmt durch die Überzeugung, daß das Schreiben ein irrelevanter Akt wäre, daß die Welt, wie ich sie gesehen hatte, nicht länger existierte. Wenn ich überhaupt wieder arbeiten sollte, mußte ich erst mit dieser Ordnungslosigkeit zurechtkommen. Deswegen war dieser Text so wichtig für mich. Und nachdem er gedruckt. war, sah ich, daß es mir nicht gelungen war — so direkt und klar ich es, wie ich dachte, ausgedrückt hatte —, mich vielen der Leute, die den Text lasen und sogar mochten, verständlich zu machen. Es war mir nicht gelungen, deutlich zu machen, daß es mir um etwas Allgemeineres ging als um eine Handvoll Kinder mit Mandalas auf der Stirn.“
Der dritte Aspekt dieser schöpferischen Krise betraf das Problem der künstlerischen Form. Wie sollte der Schriftsteller eine seiner Vision angemessene literarische Form finden, zumal die traditionellen Prosaformen aufgebraucht schienen? John Barth erörterte dieses Problem in einem Essay mit dem passenden Titel „The Literature of Exhaustion“: „Mit . exhaustion meine ich nichts so Strapaziertes wie das Thema physischer, moralischer oder intellektueller Dekadenz, sondern lediglich das Aufgebrauchtsein bestimmter Formen oder das Erschöpftsein bestimmter Möglichkeiten — keineswegs notwendigerweise ein Grund zur Verzweiflung. Daß sehr viele Künstler im Westen sich seit vielen Jahren mit herkömmlichen Definitionen künstlerischer Ausdrucksmittel, Genres und Ausdrucksformen auseinandersetzen, ist selbstverständlich: Pop Art, Theater-oder musikalische . Happenings', die ganze Palette von intermediaoder . mixed means’-Kunst sind die jüngsten Zeugen für die Tradition der Auflehnung gegen die Tradition.“
Das Ergebnis der schöpferischen Krise der sechziger Jahre war die Explosion traditioneller Prosaformen. Unter dem Druck der Dichtheit der Gegenwartserfahrung wandten sich einige Schriftsteller den Mischformen des „New Journalism“ oder der „non-fiction novel"zu. Ich denke dabei an Werke wie Truman Capotes In Cold Blood, Norman Mailers The Armies of the Night, Joan Didions Slouching Towards Bethlehem und James Baldwins The Fire Next Time. Im Gefühl der Verflachung der Sprache wandten sich andere Autoren dem schwarzen Humor zu, paranoiden Visionen oder einer Art sprachlichen Guerillakrieges, bei dem sie die englische Sprache sprengten. Dazu zählen Joseph Hellers Catch-22, Ken Keseys One Flew Over the Cuckoo's Nest, Thomas Pynchons The Crying of Lot 49 und William Burroughs Nova Express. Im Bewußtsein der Erschöpftheit literarischer Ausdrucksformen erkundeten Autoren wie John Barth, John Hawkes, William Gass und Kurt Vonnegut Möglichkeiten reflexiver und antirealistischer Literatur, die wir heute „postmodernistisch" nennen.
Vielleicht sprach Vonnegut stellvertretend für sie alle, als er in Slaughterhouse-Five schrieb: „everything there was to know about life was in Feodor The Brothers Karamasovby Dostoevsky. , But that ist not enough any more'... Die empfundenen Unzulänglichkeiten konventioneller Prosa jedenfalls wur-den durch das Erscheinen einer Reihe bemerkenswerter Bücher zur Gesellschafts-und Kulturanalyse unterstrichen, die in hohem Maße einfallsreich und oftmals visionär waren: Herbert Marcuses One-Dimensional Man, Norman O. Browns Loves Body, Marshall McLuhans Understanding Media, Paul Goodmans Growing Up Absurd und William Irwin Thompsons At the Edge of History. Offensichtlich war die Literatur während jenes unruhigen Jahrzehnts dabei, in entgegengesetzte Richtungen gezogen zu werden.
Waren die sechziger Jahre eine Periode literarischer Umwälzung, die ihren Ausgangspunkt in der beschriebenen schöpferischen Krise hatte, so schienen die siebziger Jahre ein Jahrzehnt zu sein, in dem die auseinanderstrebenden Tendenzen konsolidert wurden. Auf der einen Seite gab es eine Entwicklung jener Art von experimenteller Prosa, die für den Postmodernismus kennzeichnend ist Auf der anderen Seite zeigte sich ein wieder-erwachtes Interesse an der sozialen Welt auf Seiten der Schriftsteller, die sich Erfahrungsbereichen zuwandten, die vordem Journalisten, Historikern und Sozialwissenschaftlern vorbehalten waren. Einige Kritiker haben die siebziger Jahre als das Jahrzehnt des Triumphes der postmodernistischen Sensibilität gefeiert, doch glaube ich, daß die charakteristischste Eigenschaft der neueren amerikanischen Literatur in deren Hinwendung zu wichtigen gesellschaftlichen und politischen Veränderungen zu sehen ist, die im amerikanischen Leben stattfinden. Ich würde dies aus zwei Gründen als einen neuen Realismus in der amerikanischen Literatur bezeichnen: Erstens, weil sie wieder ein Interesse an der Darstellung sozialer Wirklichkeit zeigt, und zweitens, weil sie einen ausgeprägten Skeptizismus gegenüber den übertriebenen Ansprüchen der Literatur der sechziger Jahre aufweist. Das Charakteristische der Literatur der siebziger Jahre ist die Art, in der sie ein breites Spektrum amerikanischer Erfahrung zu verarbeiten suchte. Anstatt die Randbezirke der amerikanischen Gesellschaft darzustellen, reagierten die Schriftsteller plötzlich auf die Hauptströmungen der zeitgenössischen Erfahrung und entdeckten bis dahin vergrabene Aspekte der jüngsten Vergangenheit Diese erhöhte Aufmerksamkeit gegenüber der sozialen Realität war offenkundig in drei neuen Bereichen künstlerischen Interesses: der Lage der Frauen, der Auswirkungen des Vietnam-Krieges und der Bedeutung der gesamten Periode des Kalten Krieges. Auf eine knappe Formel gebracht: Die politische und gesellschaftliche Analyse, die das intellektuelle Leben der sechziger Jahre bestimmt hatte, bereitete den Weg für das schöpferische Nachempfinden kontroverser Bereiche der amerikanischen Realität in den siebziger Jahren.
Diese Veränderung ist deutlich zu erkennen in der plötzlichen Flut von Büchern über die Lage der Frauen. Während die sechziger Jahre eine Reihe wichtiger Analysen, angefangen mit Betty Friedans The Feminine Mystique, hervorgebracht hatten, traten von Frauen verfaßte Prosawerke als bedeutende Kraft erst in den siebziger Jahren in Erscheinung. War die Erfahrung der Frauen bis dahin analysiert worden, so konnte sie nun nachempfunden werden. Eine Figur in Marge Piercys Small Changes drückt das so aus: . The word oppression’ came to her, not as a movement catch phrase — the oppression of women, the oppression of gay people, third world oppression, working dass oppression — but as the real weight of the system, of the hostile state crunching her under.“
In vielen dieser Romane — beispielsweise Joan Didions Play It As It Lays, Judith Rossners Looking for Mr. Goodbar und Diane Johnsons The Shadow Knows— befindet sich die Heldin in der Rolle des Opfers. Allerdings nicht immer. Einige Schriftstellerinnen schildern wirklich exemplarische Heldinnen. So haben etwa die gleichnamigen Titelheldinnen in Marge Piercys Vida oder Alice Walkers Meridian die politischen Auseinandersetzungen der sechziger Jahre mit intakter Integrität überlebt In beiden Romanen sind die Bereiche des Privaten und des Öffentlichen vereint in einem Ausdruck dessen, was Sara Evans „personal politics“ genannt hat Meridian, einer der eindrucksvollsten Romane der siebziger Jahre, behandelt die Verbindung zwischen den Bürgerrechten und der Befreiung der Frauen. Indem Alice Walker das Leben einer jungen schwarzen Frau darstellt, zeichnet sie ein facettenreiches und bewegendes Porträt der afro-amerikanischen Lebenserfahrung, welches deutlich verschie-den ist von dem, was wir gewöhnlich von schwarzen, männlichen Autoren zu lesen bekommen. Während ältere Romanciers wie Richard Wright und James Baldwin sich vornehmlich mit der schwierigen Lage des schwarzen Jugendlichen in einem sich auflösenden Familienverband beschäftigt hatten, stellen jüngere Autorinnen wie Walker und Toni Morrison die Anstrengungen schwarzer Frauen in den Mittelpunkt, das Familiengefühl gegen widrigste Umstände zu erhalten. Morrisons Song of Solomon, einer der am höchsten gelobten Romane des Jahrzehnts, feiert gerade die Vitalität des Familienlebens der Schwarzen und der schwarzen Frauen. Sicherlich wurden die anregendsten Bücher der Schwarzen während der siebziger Jahre von Frauen wie Walker und Morrison geschrieben, die dazu beitrugen, das Verständnis des Lebens der Schwarzen in Amerika radikal zu verändern.
Die Mehrzahl der Bücher von Frauen während der siebziger Jahre behandelte allerdings Frauen, die weder Opfer noch Heldinnen waren, sondern sich vielmehr durch den vielfältigen Druck ihrer Mittelklasseexistenz entfremdet fühlten. Es überrascht daher nicht, eine große Zahl von Romanen zu finden, die sich mit dem Thema des , Von-zu-Hause-Weggehens'beschäftigen. Dieses Thema wird vielfach in der Form sich neu ergebender Möglichkeiten dargestellt, die sich plötzlich durch einen Todesfall in der Familie auftun. In Lisa Althers Kinflicks, zum Beispiel, ist die Verstorbene die Mutter der Heldin. In Mary Gordons Final Payments ist es der Vater. Und in Gail Godwins The Odd Woman ist es die Großmutter. In allen diesen Fällen ist die Situation dieselbe: Die Heldin, die sich dem magischen Alter von 30 nähert, findet sich in einer Weggabelung in ihrem Leben, wo sie zwischen einer altgewohnten Sicherheit und einer neuen Freiheit wählen muß. Durch die Konfrontation einer möglichen Befreiung der Frau mit deren traditionellen Rollen sind sie alle eigentlich gespaltene Frauen im Über-gang von alten zu neuen Werten und bemüht, aus einem alten Körper ein neues Bewußtsein quasi herauszuschütteln. Eine Hauptfigur formuliert dies in The Odd Woman wie folgt: „I think I was one of those people who have the misfortune to grow up with one foot in one era and the other foot in the next." Alle drei Romane schildern die Fallen wie auch die Möglichkeiten, die dem Streben nach Selbstverwirklichung anhaften. Das Überraschende ist, wie viele dieser Romane pessimistisch oder ambivalent enden — in auffälligem Gegensatz zur selbstsicheren Rhetorik eines Teils der feministischen Literatur in den sechziger Jahren. Vielleicht noch auffallender ist, daß viele dieser Romane eine radikale politische Perspektive mit einer konventionellen literarischen Form verknüpfen. Zum überwiegenden Teil ist die Literatur von Frauen in jüngerer Zeit entschieden traditionell in ihrem Festhalten an den Konventionen des Realismus.
Ebenso wie die Frauenbewegung in den sechziger Jahren eine Reihe bedeutsamer Analysen hervorbrachte, lieferte die Anti-Kriegs-Bewegung eine Anzahl eloquenter Kritiken zur amerikanischen Außenpolitik. Während allerdings Historiker und Journalisten seit vielen Jahren den von den Amerikanern in Südostasien verursachten Scherbenhaufen behandeln, ist erst in jüngster Zeit damit begonnen worden, andere Aspekte dieses tragischen Abenteuers in Romanen und persönlichen Erinnerungen aufzudecken. Zwei Romane über den Vietnam-Krieg erhielten dabei in den siebziger Jahren bedeutende Preise für Prosa. Robert Stones Dog Soldiers beschreibt die Auswirkungen des Krieges auf die amerikanische Gesellschaft, Tim O'Briens Going After Cacciato, ein mehr experimenteller und ambitionierter Roman, stellt die Auswirkungen des Krieges auf jene Amerikaner dar, die in ihm kämpfen mußten. In diesen Romanen und in persönlichen Erinnerungen wie etwa Philip Caputos A Rumor of Warund Michael Herrs Dispatches gewinnen wir ein neues Verständnis der bitteren Hinterlassenschaft von Vietnam, ein Verständnis, das auch über die scharfsinnigste politische Analyse hinausreicht.
Vielleicht ist dies am besten in Dispatches eingefangen. Michael Herr war Reporter in Vietnam für die Zeitschriften „Equire“ und „Rolling Stone". Sein Erlebnisbericht ist ein brillantes Beispiel des „New Journalism", in dem das Konzept der objektiven Berichterstattung durch einen bewußteren, subjektiven Stil abgelöst wird, bei dem der Journalist sowohl Zeuge als auch Teilnehmer an den Ereignissen ist, die er beschreibt. Herr drückt das so aus: „Talk about impersonating an identity, about locking into a role, about irony: I went to cover the war and the war covered me; an old story, unless ot course you've never heard it I went there behind the crude but serious belief that you had to be able to look at anything, serious because I acted on it and went, crude because I didn’t know, it took the war to teach it, that you were as responsible for everything you saw as you were for everything you did. The problem was that you didn't always know what you were seeing until later, maybe years later, that a lot of it never made it in at all, it just stayed stored there in your eyes. Time and information, rock and roll, life itself, the information isn't frozen, you are."
Wie O'Brien und Caputo lehrt uns Herr, den Vietnam-Krieg „von unten" zu sehen. Aus dieser Perspektive ist der Krieg monströser, absurder und doch zugleich eher verständlich als jemals zuvor. Es ist monströs, wenn ein Soldat seiner Freundin zu Hause das Ohr eines Feindes als Geschenk schickt und dann sprachlos ist, als sie das Verhältnis auflöst. Es ist absurd, wenn ein Major die völlige Zerstörung einer Stadt mit dem denkwürdigen Satz erklärt: „We had to destroy Ben Tre in Order to save it.“ Doch letztlich ist der Krieg auf eine Weise nachvollziehbar, wie ihn die Anti-Kriegs-Bewegung nicht nachvollziehbar machen konnte, weil Herr und die anderen dem Leser nämlich nicht erlauben, Abstand zu halten und zu urteilen. Wir können nicht urteilen, ohne hineingezogen zu werden, und wir können nicht hineingezogen werden, ohne eine beängstigende Lektion zu lernen über die Zwiespältigkeit von Macht, Gewalt und extremen Situationen. In A Rumor of War beispielsweise schildert Caputo seine eigene Zwiespältigkeit hinsichtlich seines Kriegserlebnisses: „Anyone who fought in Vietnam, if he is honest with himself, will have to admit he enjoyed the compelling attractiveness of combat. It was a peculiar enjoyment because it was mixed with a commensurate pain", und weiter: „It was something like the elevated state of awareness induced by drugs. And it could be just as addictive, for it made what) ever eise life offered in the way of delights seem pedestrian." .
Es wäre jedoch ein Fehler zu glauben, O'Brien, Herr oder Caputo verherrlichten den Krieg. Vielmehr versuchen sie zu zeigen, wie der Krieg den Menschen, die ihn unmittelbar miterleben, seinen Stempel aufdrückt und sie verändert. Caputo spricht von seinem irrationalen Wunsch, nach Vietnam zurückzukehren, obwohl er doch gegen diesen Krieg ist. Dieser eigenartige Zwang entwickelte sich „from the recognition of how deeply we had been changed, how different we were from everyone who had not shared with us the miseries of the monsoon, the exhausting patrols, the fear of combat assault on a hot landing zone": „I was involved in the antiwar movement at the time and struggled, unsuccessfully, to reconcile my Opposition to the war with this nostalgia. Later, I realized a reconciliation was impossible; I would never be able to hate the war with anything like the undiluted passion of my friends in the movement Because I had fought in it, it was not an abstract issue, but a deeply emotional experience, the most significant thing that had happened to me. It held my thoughts, senses, and feelings in an unbreakable embrace.“
Schließlich vermittelt uns die Literatur über Vietnam einen lebhaften Eindruck von der Irrationalität dieses Krieges. Gegen Ende von Dispatches empfinden wir Sympathie für den Journalisten, der erklärt: „he didn't mind his nightmares so much as his waking impulse to file news reports on them." Diese Auffas-sung von Geschichte als Alptraum, aus dem die Träumenden aufzuwachen suchen, ist natürlich durchgängig in der modernen Literatur zu finden, sie ist aber zugleich eine besonders treffende Metapher zur Beschreibung des heutigen Lebens. Denn wie kann man einen Sinn in den Ereignissen finden, die vom Abwurf der Atombombe auf Hiroshima bis in unsere Zeit hineinreichen? Statt dessen ist es fast eher so, als hätten wir den Kalten Krieg und seine Nachwirkungen geträumt, so wenig verstehen wir, wie wir da hineingeraten sind und warum wir da nicht herauskommen können. In den sechziger Jahren versuchten Historiker wie William Appleman Williams, unser Verständnis dieser Epoche radikal zu verändern, doch bis vor kurzem blieb die Zeit des Kalten Krieges aus dem Bewußtsein der Amerikaner verdrängt. Ein Maßstab für diesen Sachverhalt ist, daß, obwohl Bücher und Filme über Vietnam schon in großer Zahl erschienen sind, die Gesamtzahl der Romane über den Kprea-Krieg immer noch an den Fingern abzuzählen ist.
In den siebziger Jahren entwickelte sich das Vermächtnis des Kalten Krieges jedoch zu einem wichtigen Thema. Die Schriftsteller kehrten zur frühen Nachkriegszeit zurück. Werke wie Lillian Helmans Erinnerungsbuch Scoundrel Time, Martin Ritts Film The Front und Victor Navaskys Geschichtsbuch Naming Names trugen dazu bei, die Aufmerksamkeit wieder auf die Verwüstungen der McCarthy-Ara zu richten. In einigen Fällen führte die neuerliche Untersuchung dieser Periode zu einem neuen und überraschenden Revisionismus. Während der sechziger Jahre wurden die vielbeachteten Prozesse gegen Alger Hiss und Julius und Ethel Rosenberg als die berüchtigsten Beispiele der Paranoia des Kalten Krieges der fünfziger Jahre betrachtet. Aber mit Beginn der siebziger Jahre überprüften jüngere Historiker wie Alan Weinstein und Ronald Radosh die Beweise in beiden Fällen erneut und kamen zu Schlußfolgerungen, die sowohl liberale wie auch konservative Annahmen bezüglich der Verurteilungen um-stießen. In Perjury kam Weinstein widerstrebend zu dem Schluß, daß eine unparteiische Untersuchung der Beweislage nahelege, daß Hiss bei seinem eigenen Prozeß gelogen habe. Erst kürzlich stellten Radosh und Joyce Milton in The Rosenberg File eine noch erstaunlichere Behauptung auf, nämlich daß Julius Rosenberg an einem kommunistischen Spionagering beteiligt gewesen wäre, daß aber seine Frau Ethel vom FBI bei dessen Versuch, ihren Ehemann „zum Reden“ zu bringen, hereingelegt worden sei.
Noch bemerkenswerter war in den siebziger Jahren das Erscheinen zweier bedeutender Romane über die Rosenbergs. Beide, Robert Coovers The Public Burning und E. L Doctorows The Book of Daniel, verbinden Geschichte und Fiktion, allerdings auf sehr unterschiedliche Weise. In beiden Romanen werden die Rosenbergs in ähnlicher Weise als mitleiderregende, aber mitschuldige Sündenböcke in einer Art anthropologischem Ritual dargestellt. Während jedoch Coover unglaubliche Situationen für tatsächliche Figuren erfindet, um die Hysterie der Zeit des Kalten Krieges zu schildern, erschafft Doctorow seine eigenen Charaktere und taucht sie in die Geschichte ein, um etwas Weiterreichendes über den amerikanischen Radikalismus im zwanzigsten Jahrhundert anzudeuten. So findet in Coovers Roman die öffentliche Verbrennung selbst — die Exekution der Rosenbergs — auf dem Times Square statt, dem Mekka marktschreierischer Werbung und Unterhaltung. Für Coover wird die Politik in Amerika als Show-Business verpackt, und die Exekution wird dargeboten als die orgiastische Zelebration des korrupten Nationalcharakters. In seiner Schilderung des Amerika der Nachkriegszeit transformiert The Public Burning Geschichte zum Mythos. In ähnlicher Weise findet die entscheidende Szene von The Book ofDaniel'm jenem anderen Symbol-ort einer entwürdigten Massenkultur statt: Disneyland. Aber Doctorows Ausdeutung hat größeren historischen Nachhall, weil der letzte Versuch, die Vergangenheit zu retten, gerade an jenem Ort stattfindet, der die Geschichte längst abgeschafft und sie zu einer vereinfachten Volksmythologie umgemünzt hat. Diese Gegenüberstellung zwischen einer kritischen und einer korrupten historischen Perspektive durchzieht den ganzen Roman und wird sein Hauptthema.
In Doctorows Roman heißen die Rosenbergs Isaacson, aber, abgesehen von Veränderungen im Detail, folgt The Book ofDaniel den historischen Fakten bemerkenswert genau. Doch ist Doctorow weniger an der Schuld oder Unschuld der Rosenbergs interessiert, als vielmehr an ihrer Rolle als Symbole des Kalten Krieges, von beiden Seiten auf zynische Weise ausgenutzt. So erklärt ein kenntnisreicher Zeitungsmann Daniel, dem Erzähler: " between the FBI and the CP (Communist Party) your folks never had a chance.“ Der tatsächliche Fall Rosenberg ist aber nur ein Aspekt des Romans, denn Doctorow ist weit mehr interessiert an der Wirkung der Ereignisse auf die beiden von ihm geschaffenen Isaacson-Kinder. Im Rahmen des ihnen überantworteten Vermächtnisses von Schuld und Groll, Zorn und Rebellion entwickelt Doctorow die Verbindung zwischen der Alten Linken, die durch die marxistische Ideologie der dreißiger Jahre getragen wurde, und der Neuen Linken, gespeist durch die Gegenkultur der sechziger Jahre. So ist The Book of Daniel eine Meditation über amerikanische Politik in Form eines Romans, eine schöpferische Überarbeitung der radikalen Bewegung in Amerika, die die Kluft zwischen den Generationen zu überbrücken und den neuen Radikalismus mit seiner Geschichte zusammenzuführen sucht.
Diese kreative Überarbeitung von Geschichte, auch für Doctorows übriges Werk kennzeichnend, ist eigentlich Teil einer in den letzten Jahren umfassenderen Strömung mit dem Ziel der Rekonstruktion der amerikanischen Vergangenheit Schon in den sechziger Jahren begannen „revisionistische“ Historiker die herkömmliche Sicht der amerikanischen Geschichte, die Konsens, Assimilation und Fortschritt in den Mittelpunkt rückte, in Frage zu stellen. In diesem Prozeß eröffneten sie sehr interessante neue Bereiche der Geschichte von vordem „schweigenden“ Gruppen wie den Schwarzen, den Frauen und den Arbeitern.
Viel von dieser „neuen" Geschichtsschreibung beruhte jedoch auf quantitativer Forschung und mikro-historischen Studien, die dazu neigten, das Verständnis der amerikanischen Geschichte zu fragmentieren und deren Verständlichkeit für ein breiteres Publikum zu mindern. Während also einzelne Aspekte der amerikanischen Vergangenheit nun anders aussahen, bemängelte der Sozialhistoriker Herbert Gutman: „Die amerikanische Geschichte selbst sieht nicht anders aus. Und das ist das Problem.“ Daher kam Gutman zu dem Schluß: „Eine neue Synthese ist nötig, eine, die die neue Geschichte in sich aufnimmt und dann über sie hinausweist."
Zur gleichen Zeit fingen Semiologen und Historiker an, die traditionellen Unterscheidungen zwischen Geschichtsschreibung und Literatur (“ fiction") in Frage zu stellen. Auf verschiedene Weise griffen Roland Barthes und Hayden White den besonderen Status von Geschichte als Repräsentation von Wirklichkeit an, indem sie auf die Ähnlichkeit zwischen den Sprachstrukturen und den rhetorischen Strategien in historischen und fiktiven Texten hinwiesen. Eine privilegierte Sicht der Vergangenheit schien es nicht zu geben, somit keine „objektive" Geschichte. Tatsachen waren nicht aus sich heraus eindeutig, sondern ausgewählt und gegliedert, entsprechend der besonderen narrativen Vision, die der Historiker an seinen Gegenstand heran-trug.
Diese Auflösung der traditionellen Unterscheidung zwischen Historie und Literatur blieb von den Schriftstellern nicht unbeachtet. Schon in den sechziger Jahren begannen Autoren wie John Barth, Thomas Berger und William Styron amerikanische Geschichte in Romanen wie The Sot-Weed Factor, Little Big Man und Confessions of Nat Turner schöpferisch neu zu gestalten. Noch näher zur Gegenwart hin richtete sich das wiedererwachte Interesse an der Geschichte ausdrücklicher auf politische Themen, z. B. E. L. Doctorows Ragtime, Gore Vidals Burr und John A. Williams Captain Blackman. In einem 1978 aufgenommenen Interview erklärte Doctorow, warum die Romanciers sich wieder einmal der Geschichte als eines Themas ihrer Arbeit zuwandten: „Nun, zunächst einmal ist Geschichte, wie sie von Historikern geschrieben wird, klar unzureichend. Dabei sind die Historiker die ersten, die Skepsis hinsichtlich der . Objektivität'ihrer Disziplin äußern. Eine Menge Leute entdeckten nach dem Zweiten Weltkrieg und in den fünfziger Jahren, daß vieles von dem, was die jüngere Generation als Geschichte betrachtete, tatsächlich in hohem Maße interpretierte Geschichte war. Und gerade als wir durch die Anleitung und die Weisheit von Zeitschriften wie Time’ über die Manipulation der Russen hinsichtlich ihrer eigenen Geschichte lachen konnten — worin sie sich technologische Fortschritte gutschrieben, die eindeutig in anderen Ländern erzielt worden waren, und worin Führer, denen die Gunst entzogen worden war, plötzlich aus ihrer Geschichte herausgefallen waren —, gerade um diese Zeit in etwa begannen wir, uns über unsere eigenen Geschichtstexte und unsere eigenen Schulbücher Gedanken zu machen. Und dabei stellte sich heraus, daß nicht allein einzelne Menschen, sondern ganze Völker aus unseren Geschichtstexten herausgefallen waren — die Schwarzen, die Chinesen, die Indianer. Gleichzeitig bietet ein Land von dieser Größe so wenig an Zusammengehörigkeits-und Identifikationsmustern, auf die wir uns alle beziehen und durch die wir uns gegenseitig erkennen können. Da stellt sich heraus, daß die Geschichte, so unzureichend und schlecht sie auch aufbereitet sein mag, eines der wenigen Dinge ist, die uns hier gemeinsam ist Ich denke, daß wir alle enormem Druck ausgesetzt sind, so gesichtslos und eigenartig konturlos und willfährig wie möglich zu werden. Und in dieser Lage, verstehen Sie, wird das Bedürfnis, Farbe und Unterscheidung zu finden, sehr, sehr stark. Für alle von uns wird das Lesen über das, was uns vor fünfzig oder hundert Jahren passierte, ein Akt von Gemeinschaft. Und die Person, die das, was sich vor fünfzig oder hundert Jahren abspielte, darstellte, hat die Chance, Dinge über unsere heutige Situation zu sagen. Diese Möglichkeit ist eine Entdeckung der Schriftsteller."
Dieses erneuerte Interesse an der Geschichte, teilweise eine Reaktion auf die übermäßige Subjektivität der Literatur in den fünfziger und teilweise eine Reaktion auf die politischen und kulturellen Vorgänge in den sechziger Jahren, 'ist von einer Reihe sehr unterschiedlicher amerikanischer Autoren aufgegriffen worden: von den orthodoxen Modernisten wie William Styron und Gore Vidal bis hin zu den unorthodoxen Postmodernisten wie Thomas Pynchon und Ishmael Reed. Die interessantesten dieser neuen Romane vereinigen Wirklichkeit und Dichtung (" fact and fiction"), konventionelle und experimentelle literarische Formen, um sowohl die Vorstellung von historischer Objektivität in Frage zu stellen, als auch die Annahme zu zerstören, -daß es eine nachweisbare Ordnung in der Geschichte gibt. In Reeds Mumbo Jumbo und Doctorows Ragtime zum Beispiel wird die traditionelle Interpretation der modernen amerikanischen Geschichte umgestoßen und dann „von unten herauf“ neu geschrieben. In diesen Romanen erweisen sich gerade jene Menschen als Gestalter der modernen amerikanischen Kultur, die in den Geschichtsbüchern nicht vorkamen: die Schwarzen, die Immigranten und die Arbeiterklasse. In einem noch ambitionierteren Werk, Gravity's Rainbow, trägt Thomas Pynchon eine überwältigende Menge an Informationen über Wissenschaft, Politik und Massenkultur zusammen, um seine eigene einfallsreiche Mammutgeschichte des Zweiten Weltkriegs und seiner Nachwirkungen zu schaffen. Es mag zu weit gehen zu behaupten, daß die Geschichte zum Gliederungsprinzip der neueren Literatur geworden ist, so wie der Marxismus in den dreißiger und der Existentialismus in den fünfziger Jahren. Doch mit Berechtigung kann darauf hingewiesen werden, daß einige amerikanische Schriftsteller jene neue Synthese zu liefern suchen, die Herbert Guttman in der zeitgenössischen Geschichtsschreibung vermißte.
Thomas Pynchons Sicht der Geschichte scheint um das Prinzip der Entropie gegliedert zu sein. In ähnlicher Weise beschäftigen sich neuerdings einige Romanciers mit dem Ende der Geschichte. Bis hin zur Gegenwart der achtziger Jahre schlägt die amerikanische Literatur einen apokalyptischen Ton an, ein Echo auf die Dringlichkeit von Jonathan Schells vieldiskutiertem Klagelied The Fate of the Earth. Ob sie sich mit dem Niedergang eines Großreiches, wie Norman Mailers Ancient Evenings, mit dem Mißlingen einer Revolution, wie Robert Stones A Flag for Sunrise, oder mit dem Ende der Welt, wie Bernard Malamuds God's Grace befaßt — die neuere amerikanische Literatur entwirft eine Welt der Katastrophe. Auf den ersten Seiten in Malamuds Roman — zum Beispiel — spricht Gott zu dem einzigen überlebenden eines nuklearen Holocaust in der Sprache eines puritanischen Sermons aus dem 17. Jahrhundert: " They have destroyed my handiwork, the conditions of their survival: the sweet air I gave them to breathe; the fresh water I blessed them with, to drink and bathe in; the fertile green earth. They tore apart my ozone, carbonized my oxygen, acidfied my refreshing rain. Now they affront my cosmos. How much shall the Lord endure?"
Wenn wir uns dem Bild der gegenwärtigen amerikanischen Gesellschaft in der neueren Literatur zuwenden, stoßen wir auf das gleiche Endzeitgefühl. " History", denkt die Hauptfigur in John Updikes Rabbit is Rich, ‘The more of it you have the more you have to live it. After a little while there gets to be too much of it to memorize and maybe thats when empires Start to decline." In diesem dritten Teil seiner Serie über einen Durchschnittsamerikaner mit Namen Rabbit Angstrom schildert Updike seinen Helden in einem zwiespältigen mittleren Alter, Kraft einbüßend wie das Land. Rabbit ist reich in einer Epoche sinkender Erwartungen: Er hat es durch das Verkaufen japanischer Autos „zu etwas gebracht“, in einer Zeit, da Amerika, ja der Welt, das Benzin geht Wie seine Landsleute lebt Rabbit in einem Dunstkreis von Nostalgie nach den guten alten Zeiten, als „wir noch die Besten waren" Nun muß er sich mit einem Amerika zurechtfinden, das im Niedergang begriffen ist.
Das Thema des Niedergangs spielt auch eine zentrale Rolle in The Dean's December, Saul Bellows neuestem Roman über das Leben der Gegenwart in Chicago und Bukarest. Bellows Geschichte von den beiden Städten ist ein Porträt zweier Gesellschaften, von unterschiedlichen Verfallserscheinungen bedrängt: den liberalen Gesellschaften des Westens, die auf dem Lustprinzip aufgebaut sind, aber an einem Autoritätsverlust leiden und von einer anarchischen Unterklasse bedroht sind, die brutal ins Abseits gedrängt ist, und den autoritären Gesellschaften des Ostens, die auf dem Leidensprinzip basieren, aber durch Apathie ausgehöhlt sind und von einer zynischen Neuen Klasse regiert werden. So schildert Bellow die Gegensätze zwischen dem „weichen" Nihilismus des Westens, wo Permissivität die Gemeinschaft unterminiert, und dem „harten“ Nihilismus des Ostens, wo Terror sich der gesetzesmäßigen Autorität bemächtigt hat The Dean's December beschreibt die
Möglichkeit der letzten Tage der Zivilisation, wie wir sie kennen, mit Begriffen, die den von Christopher Lasch in seiner kontroversen Studie The Culture of Narcissism: American Life in An Age of Diminishing Experience verwendeten nicht unähnlich sind:
“ In these last days we have a right and even a duty to purge our understanding. In the general weakening of authority, the authority of the ruling forms of thought also is reduced, those forms which have done much to bring us into despair and into the abyss. I don't need to mind them anymore. For Science there can be no good or evil. But I personally think about virtue about vice.“
Wie die anderen bereits erörterten Werke behandelt auch The Dean 's December einen bedeutsamen Aspekt der Gegenwartserfahrung in einer Weise, die weder programmatisch noch präskriptiv, sondern spekulativ und deskriptiv ist. " In the American moral crisis“, schreibt Bellow, " the first requirement was to experience what was happening and to see what must be seen." Für Bellow ist das Schreiben von Literatur ein Akt der Wieder-gewinnung von Realität wie auch ein Prozeß der Enthüllung ihres Sinns. Doch die Wieder-gewinnung unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit erfordert mehr als ein einfaches Eingeständnis unserer verfallenden Umwelt; sie erfordert, meint Bellow, eine Auseinandersetzung mit " the slums we carry around inside us. Every man's inner city.. ." Das Problem ist nicht allein eine vergiftete Atmosphäre, sondern vergiftete Gedanken und auch eine vergiftete Theorie. Deswegen ist ein neuer Realismus erforderlich, der uns hilft, die Welt, zu der wir den Kontakt verloren haben, wiederzugewinnen — oder in Bellows Worten: 'To recover the world that is buried under the debris of false description or nonexperience."
Dieser neue Realismus, der hier zu beschreiben versucht wurde, ist sowohl eine Reaktion auf unsere gegenwärtige Situation wie auch eine Überprüfung des utopischen Revisionismus der sechziger Jahre. Das heißt, die amerikanische Literatur ist wieder politischer geworden, wobei sie über die „Wahrheit", wie sie von den vorherrschenden Ideologien der jüngeren Vergangenheit definiert wurde, hinausgeht. Für Bellow bedeutet das ein Wiederherstellen der Stärke eines schon aufgegebenen Humanismus in einer von wissenschaftlichem Materialismus dominierten Welt. Für Doctorow bedeutet es, die Suche nach Gerechtigkeit in einer Welt der Komplexität und Zwiespältigkeit wiederaufzunehmen. „Denn sicherlich ist das Gefühl, das wir angesichts der politischen Alternativen des 20. Jahrhunderts heute haben, eine Art allseitigen Erschöpfungszustandes," hat Doctorow festgestellt, und weiter: „Kein System, ob es nun religiös oder anti-religiös oder ökonomisch oder materialistisch ist, scheint gegen Haß, Gier und Wahnsinn der Menschen gefeit zu sein.“ Die beste neuere amerikanische Literatur ist gekennzeichnet durch diesen neuen Realismus, nicht ohne Hoffnung, aber auch nicht ohne Weisheit.
Ausgewählte Bibliographie
(engl. Taschenbuchausgabe in Klammern)
Alther, Lisa:
Kinflicks, New York 1976 (Penguin)
Hautkontakte, Berlin — Frankfurt/M. — Wien 1978 Bellow, Saul: The Dean's December, London 1982 (Penguin)
Der Dezember des Dekans, Köln 1982 Caputo, Philip: A Rumor of War, New York 1977 (Ballantine)
Führe uns nicht in Versuchung, Wien 1982 Coover, Robert: The Public Burning, New York 1977 (Bantam)
Die öffentliche Verbrennung, Neuwied — Darmstadt 1983 Doctorow, E. L.: The Book of Daniel, New York 1971 (Picador)
Das Buch Daniel, Frankfurt/M. 1974 Doctorow, E. L:
Ragtime, New York 1975 (Pan)
Ragtime, Reinbek bei Hamburg 1982 Godwin, Gail: The Odd Woman, New York 1974 (Warner)
Gordon, Mary: Final Payments, New York 1978 (orgi)
Die verlorene Tochter, Hamburg 1980 Herr, Michael: Dispatches, New York 1977 (Picador)
An die Hölle verraten. . Dispatches", Frankfurt 1981 Lasch, Christopher: The Culture of Narcissism, New York 1979 (Abacus)
Das Zeitalter des Narzißmus, München 1982 Mailer, Norman: Ancient Evenings, New York 1983 (Picador)
Frühe Nächte, München 1983 Malamud, Bernard: God’s Grace, New York 1982 (Avon)
Morrison, Toni: Song of Solomon, New York 1977 (Granada)
Solomons Lied, Reinbek bei Hamburg 1979 O'Brien, Tim: Going After Cacciato, New York 1978 (Panther)
Die Verfolgung, Hamburg 1981 Piercy, Marge: Small Changes, Garden City (N. Y.) 1973 (Fawcett)
Piercy, Marge: Vida, London 1980 (Women's Press)
Pynchon, Thomas: Gravity's Rainbow, New York 1973 (Picador)
Die Enden der Parabel. Gravity's Rainbow, Reinbek bei Hamburg 1981 Radosh, Ronald/Milton, Joyce: The Rosenberg File, New York 1983 Reed, Ishmael: Mumbo Jumbo, New York 1972 (Avon)
Schell, Jonathan: The Fate of the Earth, New York 1982 (Picador)
Das Schicksal der Erde. Gefahr und Folgen eines Atomkrieges, München 1982 Stone, Robert: Dog Soldiers, Boston 1974 (Star)
Updike, John: Rabbit is Rich, New York 1981 (Penguin)
Bessere Verhältnisse, Reinbek bei Hamburg 1983 Vidal, Gore: Burr, New York 1973 (Panther)
Burr, München 1975 Vonnegut, Kurt: Slapstick, New York 1976 (Granada)
Slapstick oder Nie wieder einsam, Hamburg 1980 Walker, Alice: Meridian, New York 1976 (Women's Press)
Meridian, München 1984 Weinstein, Allen: Perjury, New York 1978 (Random House)