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Gesellschaft und Politik in der lateinamerikanischen Literatur | APuZ 39-40/1984 | bpb.de

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APuZ 39-40/1984 Gesellschaft und Politik in der lateinamerikanischen Literatur Der neue Realismus in der zeitgenössischen nordamerikanischen Literatur Der Dichter auf dem Markt. Literatur und Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland Artikel 1

Gesellschaft und Politik in der lateinamerikanischen Literatur

Juan Bruce-Novoa

/ 31 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Zusammenbruch der europäischen Gesellschaft machte Lateinamerika, das sich bis dahin traditionell an Europa orientiert hatte, eine Orientierungskrise durch. Zu jener Zeit, da die Vereinigten Staaten sich zur Weltmacht entwickelten, stellten lateinamerikanische Intellektuelle Überlegungen nach möglichen Alternativen an. Octavio Paz El Laberinto de la soledad und Alejo Carpentiers Los pasos perdidos sind repräsentativ für dieses Entwicklungsstadium. Nimmt man diese Werke als Rahmen, dann kann man typische Themen der lateinamerikanischen Literatur verfolgen: Die Erfahrung des Exils, die Notwendigkeit, eine authentische Geschichte Lateinamerikas zu entdecken, die Entfremdung des Künstlers von der Gesellschaft, das Fortdauern des Mythos und des übersinnlichen, die Suche nach erotischer Erfahrung. Seit den fünfziger Jahren hat sich der soziologische Kontext geändert, doch in wichtigen Gebieten sind keine Verbesserungen der Situation der Künstler eingetreten. Im gleichen Zeitraum schwang unter Intellektuellen das politische Pendel von einer Position kritischer Distanz und Entfremdung zu einer Position der positiven Erwartung und aktiven Unterstützung für linke und liberale Bewegungen und nach den Enttäuschungen der späten sechziger und siebziger Jahre wieder zurück zu kritischer Distanz, diesmal jedoch stärker zynisch akzentuiert. Dennoch gibt es heute ein größeres und besser ausgebildetes Reservoir an Schriftstellern, die sich ihrer Kunst als Hauptanliegen widmen, und dieser Umstand ist für die große Qualität der gegenwärtigen lateinamerikanischen Literatur verantwortlich.

Umfassende Aussagen über lateinamerikanische Schriftsteller und ihre Beziehung zu Gesellschaft und Politik zu machen, ist ein sehr riskantes Vorhaben. Um einer solchen Aufgabe gerecht zu werden, sollte man den Wagemut eines Geschichtsphilosophen haben, der zu Höhenflügen vereinfachender Abstraktion ansetzt, ohne sich um die unvermeidlichen und zahllosen Störfeuer allüberall zu kümmern, die nicht so sehr ein bestimmtes Gebiet vor Angriffen schützen, als dagegen protestieren sollen, daß man ignoriert wird. Lateinamerika ist eine riesige Region, die sich über den Doppelkontinent erstreckt. Seine Literatur reicht von einer Vielfalt mündlicher Traditionen bis zu dem, was viele Kritiker heute für die differenziertesten und bahnbrechendsten Schöpfungen halten.

Meine Aufgabe besteht in dem Versuch, gedrängt, jedoch ohne ungebührliche Verfälschung, herauszuarbeiten, womit sich die Schriftsteller Lateinamerikas in ihrer Literatur beschäftigen, und ihren Standort gegenüber Gesellschaft und Politik zu bestimmen. Ich habe mir jedoch die Freiheit genommen, mich dabei auf Romane zu beschränken und den an einer ausführlicheren Behandlung interessierten Leser zu bitten, die Literatur persönlich zu erforschen. Dieser Beitrag mag als einfache Einführung in ein höchst komplexes Thema gelten.

I. Das Umfeld

In der Mitte dieses Jahrhunderts, nach jenen Ereignissen, die fast einhellig als Zusammenbruch der westeuropäischen Kultur auf den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkrieges verstanden wurden, zu einer Zeit, als sie noch nicht die geheiligten Oberpriester der lateinamerikanischen Literatur waren, die sie in späteren Jahren wurden, schrieben zwei lateinamerikanische Schriftsteller zwei Haupt-werke von weitreichendem Einfluß: Octavio Paz El laberinto de la soledad und Alejo Carpentier Los pasos perdidos. Jeder suchte auf seine Weise nach Antworten auf Fragen, die sich der Menschheit, Lateinamerika, dem jeweiligen Heimatland und dem Künstler stellten. Wenn mein erster Schritt uns auf Werke zurückzuverweisen scheint, die von einigen als überholt und nicht mehr dem Spektrum der zeitgenössischen Literatur zugehörig angesehen werden könnten, so unternehme ich ihn nicht nur deshalb, weil diese Werke in hervorragender Weise den Niederschlag jenes kritischen Abschnitts der Weltgeschichte darstellen, sondern auch, weil lateinamerikanische Intellektuelle trotz großer Fortschritte in der Qualität ihrer Literatur immer noch unter dem Eindruck der darauffolgenden Zeit der Dürre leben. Paz und Carpentier diagnostizierten prophetisch eine Situation und Übersetzung: Andreas Falke, Bonn überlegten Auswege, die bis heute Auswirkungen auf die lateinamerikanische Gesellschaft und deren kulturelles Schaffen haben. Die Stärke und Verbindung der Faktoren innerhalb jenes Zeitraumes, dessen Zustand sie aufzeichnen wollten, seine Dynamik, haben sich sicherlich weiterentwickelt, und die kubanische Revolution hat dem eine neue Dimension beigefügt, aber im wesentlichen haben sich die Umstände nicht grundlegend verändert. Um die Arbeiten von Autoren wie Gabriel Garcia Mrquez, Elena Poniatowska, Severo Sarduy, Vargas Llosa, Juan Garcia, Ponce, Roa Bastos etc. zu verstehen, wird es für uns hilfreich sein, sie in einen Kontext zu stellen, der durch die Werke von Paz und Carpentier aus den fünfziger Jahren umgrenzt ist. Eine letzte Rechtfertigung: Im Gegensatz zu anderen Werken aus dieser Periode, die dieselben Probleme behandeln, stellen Paz und Carpentier den Intellektuellen in der Gesellschaft in den Mittelpunkt, und damit ist unmittelbar unser Thema angesprochen. Obwohl sich beide Texte, oberflächlich gesehen, erheblich unterscheiden — Laberinto ist ein ausführlicher anthropologischer Essay, Pasos ein Roman —, folgen beide Werke ähnlichen Entwicklungsmustern. Beide gehen aus vom Zustand des Exils, der persönlichen und kulturellen Selbstentfremdung: Der Intellek-B tuelle — Paz selbst in Laberinto und der namenlose Komponist in Pasos, der in so vielen Charakterzügen Carpentier ähnelt, daß er dessen alter ego sein könnte — unternimmt Reisen durch Raum und Zeit Lateinamerikas und dessen Vergangenheit. Beide Werke heben den Wunsch und das Bedürfnis hervor, Geschichte wiederzugewinnen. Paz und Carpentier teilten die in breiten Kreisen diskutierte Auffassung, daß Lateinamerika keine eigentliche Geschichte habe, da das Aufdrängen europäischer Kultur-und Gesellschaftsmodelle zugleich bedeutete, daß Geschichte von und für Nicht-Lateinamerikaner geschrieben und damit verfälscht wurde. Dieser Versuch der Wiedererlangung der eigenen Geschichte stellte eine Attacke auf den geltenden Kanon der akademischen Geschichtsschreibung dar. Und da beide Autoren ihre historische Erkundung in einer literarischen Gattung darbieten, attackieren sie damit die Auffassung von Geschichtswissenschaft als Faktensuche, indem sie die schöpferische Interpretation von Vergangenheit dagegenstellen, eine Geschichtsdeutung, die den Leser stärker durch literarische Mittel als durch vermeintlich objektive Darstellung anzusprechen sucht. Dieser Gedankengang kann und wurde auf die Politik übertragen. Die chronische Malaise in der Politik Lateinamerikas war entsprechend zurückzuführen zunächst auf die Europäer und später auf einheimische Politicos, die ihren Landsleuten fremde Systeme politischer Herrschaft aufnötigten. Lateinamerikanische Geschichte war also eigentlich ein Produkt fremder soziopolitischer Theorien, die man einer andersgearteten Basis aufzwang, anstatt ihr zu erlauben, einen eigenständigen und entsprechenden überbau zu entwickeln. Als die europäische Gesellschaft Mitte dieses Jahrhunderts zusammenbrach, beließ dieses Ereignis Lateinamerika in einem Zustand der Desorientierung. Sogar diejenigen, die wie Carpentier die kulturelle Unabhängigkeit Lateinamerikas gefordert hatten, waren nun gezwungen, sich neu auszurichten. Wohin konnte sich Lateinamerika wenden?

Passiv auf die Initiative der beiden Supermächte zu warten, bedeutete schon damals, in das nordamerikanische Lager getrieben zu werden. Während nicht alle in Lateinamerika zu jener Zeit diese Möglichkeit negativ bewerteten, waren Paz und Carpentier davon überhaupt nicht begeistert. Vielleicht lag es an der gemeinsamen geographischen Nähe Mexikos und Kubas zu den USA und an der Geschichte der Interventionen dieser Großmacht, die beide Schriftsteller weniger optimistisch auf die Versprechungen eines pan-amerikanischen Bewußtseins reagieren ließ. Beide ihre Texte den USA Autoren lassen in beginnen mit Beispielen der Degradierung, von der ein Lateinamerikaner betroffen werden kann, wenn er von den Wurzeln der Authentizität abgeschnitten wird, für die seine Kultur steht. Doch in beiden Fällen hat der Lateinamerikaner zumindest unbewußt die Situation gesucht, in der er sich dann befindet. Während Carpentiers Komponist, der namenlose Protagonist und Ich-Erzähler in Pasos den intellektuellen Künstler hoher Kultur repräsentiert, kommt Pachuco > der erste Sozialtypus, den Paz analysiert, aus der untersten gesellschaftlichen Schicht. Diesen anscheinend entgegengesetzten Gestalten ist der Wunsch gemeinsam, teilzunehmen an der zeitgenössischen amerikanischen Gesellschaft, koste es, was es wolle; und der Preis dafür ist, wie uns die Autoren bedeuten, hoch: persönliche Opfer und Verlust von Würde und Identität Auf diese Weise warnen beide Autoren: Das Einschwenken auf die neue Metropole verspricht noch schlimmere Resultate als die alte europäische Herrschaft Paz und Carpentier kehren diesen Beispielen extremer Entfremdung den Rücken zu, wenden sich auf der Suche nach Authentizität nach Lateinamerika zurück.

Der Verruf der nordamerikanischen Kultur als leeres Versprechen hat in Lateinamerika eine lange Tradition. Manchmal orientieren sich sowohl Paz wie Carpentier in ihrer Verurteilung der nordamerikanischen Gesellschaft als zu materialistisch, pragmatisch und vulgär an Jos 6 Enrique Rodös Ariel. Carpentier hebt hervor, daß der Mensch seine Humanität verliert, wenn er sich dem Geschäftsleben städtischer Metropolen preisgibt. Sein gebildeter Hauptdarsteller erweist sich jedoch der US-amerikanischen Gesellschaft gewachsen und erhält materielle Belohnung und Anerkennung für seine Arbeit. Er wird akzeptiert, weil er sich den sozialen Normen unterwirft — dabei ist er genauso geistlos und intellektuell leer, wie es uns Carpentier offensichtlich von allen amerikanischen Intellektuellen glauben machen will. Paz zog es vor, Angehörige einer Klasse herauszustellen, die wenig Chancen auf Anerkennung besaßen; dadurch konnte er sich auf den US-amerikanischen Rassismus und auf die gewalttätige Unterdrückung von nicht anpassungsfähigen Außenseitern konzentrieren. Da Mexikaner aus unteren Schichten — im Gegensatz zu den europäisierten und vorwiegend weißen kubanischen Oberschichtsintellektuellen zu Carpentiers Zeiten — in der Regel die rassischen Barrieren nicht überwinden konnten, stellten sie die eigenen Unterschiede zu der US-amerikanischen Gesellschaft heraus. Aus diesem Grunde traf sie der Zorn dieser Gesellschaft mit voller Gewalt. In beiden geschilderten Fällen verbleibt beim Leser der Eindruck, daß das Opfer für Übernahme oder gar Anerkennung zu groß ist.

Carpentier und Paz steckten eine den lateinamerikanischen Schriftstellern vertraute Position ab: Opposition gegen die Vereinigten Staaten trotz ihrer starken Anziehungskraft.

Daß sie dies zum Ausdruck brachten, indem sie sich auf verständniswillige Exilanten konzentrierten, ist ebenfalls prophetisch: An beiden Enden des ökonomischen Spektrums haben sich die Probleme, die die Autoren auf-griffen, verschärft.

Die Reise von Paz und Carpentiers Hauptfiguren zurück in ihre Heimat wird zu einer Wanderung durch die Sozialgeschichte. Doch während beide nach einer unverfälschten Deutung der Vergangenheit Lateinamerikas suchen, um den europäischen Modellen etwas entgegenzusetzen — ein alter Traum früherer lateinamerikanischer Generationen —, kommt jeder von ihnen auf seine Weise zu der Einsicht, daß die europäische Tradition unüberwindbar ist. Carpentiers Hauptfigur kann nicht umhin, alles, was ihr begegnet, durch die Vermittlung europäischer Lektüre wahrzunehmen. Jede Beschreibung verrät ihren literarischen Ursprung in einem früheren lext. Sogar die Rebellionsversuche münden nur in eine von Europa ausgeborgte literarische Form. Ein Entrinnen ist unmöglich, weil es keine wirkliche Alternative gibt Mit der ganzen einen Thesenschriftsteller auszeichnenden Raffinesse versucht Carpentier klar-zumachen, daß es das sagenumwobene goldene Zeitalter als Anbruch einer reinen Kultur niemals gab, oder man es zumindest heute nicht wiederherstellen könne. Carpentier wollte auch zeigen, daß sogenannte primitive Gesellschaften Kreativität nicht wesentlich höher eingeschätzt haben. Kurz, Carpentier schrieb einen anti-surrealistischen Roman.

Paz ging einen anderen Weg. Anstatt zu versuchen, allen europäischen Bildern zu entkommen, begann er mit Carpentiers Schlußfolgerung, daß Lateinamerika in einem bestimmten Maße von europäischen Formeln Gebrauch machen müsse. Er entschied sich, das zu benutzen, was man als neue Alternative zu der traditionellen europäischen Geschichtsschreibung bezeichnen kann: Jungs archetypische Psychohistorie. Durch diese rhetorische Umgestaltung der Vergangenheit bestreitet er das lineare Modell von Geschichte, das auf Ereignissen und Einzelpersonen aufbaut. Geschichte wird zur Wiederholung archetypischer Wesenheiten in sich ständig ändernden Verkleidungen, das heißt, Geschichte wird zum Mythos, lineare Zeit bereitet den Weg für zyklische Bewegungen, bewußtes Vorhaben wird durch unbewußte Imperative aufgebrochen. Deshalb muß man, um das unverfälschte Wesen eines Landes, einer Kultur oder einer Person zu erfassen, rationale Analyse aufgeben und in die dunklen Regionen des Irrationalen eindringen.

Am Ende ihrer jeweiligen Werke lassen sich sowohl Übereinstimmungen als auch Unterschiede zwischen Carpentier und Paz feststellen. Beide behaupten implizit, daß Geschichte eigentlich Literatur sei. Diese These ist heute den Lesern von Hayden White, dem US-amerikanischen Anti-Historiker, vertraut, doch war sie in den frühen fünfziger Jahren keineswegs Allgemeingut. Carpentier und Paz sahen wie White Geschichte als einen besonders intensiven Gebrauch der Sprache an, um Ordnungsvisionen entsprechend einer be. stimmten Vorstellung oder Ideologie darzustellen, die jedoch auch eine andere Form hätte annehmen können. Geschichte ist nicht das, was durch Forschung seine Gestalt erlangt, sondern ein Text, der von dem Forscher geschaffen wird; deshalb schreiben neue Forscher andere Geschichten. Beide behaupten den Bankrott der europäischen Versionen von Lateinamerika, akzeptieren jedoch die Unvermeidlichkeit des Gebrauchs europäischer Sprache und Redekunst. Aus diesem Grunde würden sie nicht alle europäischen Vorbilder über Bord werfen — was unmöglich wäre —, sondern die für Lateinamerika geeignetste Alternative unter denen, die dem Schriftsteller zu Gebot stehen finden.

Paz entschied sich für die persönliche Bindung an den Mythos und insbesondere an den Eros. Die letzten Kapitel von Laberinto fordern den Menschen auf, sich wieder mystischen und instinkthaften Kräften zuzuwenden, eine Rückkehr zur Einheit mit der Quelle der Natur in Form der Mutter Erde. Deshalb gibt Paz Geschichte überhaupt auf nach einem Überblick über die mexikanische Geschichte, weil, wie er sagt, alle Menschen in der Nachkriegswelt gleichermaßen verloren und alleine sind. Obwohl sie inmal den gleichen Rang hatten, wird die Gegenwart wichtiger als die Vergangenheit; die Zukunft muß durch kreative Gestaltung erzeugt werden. Dieser Standpunkt impliziert die Zurückweisung jenes Bollwerks des Pragmatismus: der Vereinigten Staaten; er fordert aber zugleich auch ernsthaft marxistische Auffassungen von Geschichte heraus. Letztlich bleibt Paz dem Surrealismus treu, den er als die einzige moderne Bewegung bezeichnet hat, die weiterhin ein lebensfähiges Programm anbietet. Paz zieht Dichtung der Geschichte vor, die er, wie Mircea Eliade, als Quelle von Schrecken und Entfremdung versteht. Gegenüber dem sozialen Leben scheint er im Persönlichen die bevorzugte Quelle für die Entdeckung des Allgemeingültigen zu sehen. Carpentier ist am häufigsten mit dem magischen Realismus in Verbindung gebracht worden, seiner Adaption des Surrealismus für Lateinamerika, in der er gleichzeitig das Vorbild der französischen Ausprägung ablehnte. Doch stellt Pasos in weiten Teilen eine Ablehnung des magischen Realismus dar. Carpentiers Hauptfigur folgt dem surrealistischen Pfad in die lateinamerikanische Realität auf der Suche nach dem goldenen Zeitalter des Ursprungs, dieser verlorenen Einheit aller Wesen, nur um herauszufinden, daß man die Besonderheit von Zeit und Raum nicht umgehen kann. Ebenso wenig findet er, daß es einen ursprünglichen Bildervorrat für die Menschheit gibt. Was an allen Punkten der Reise vorkommt, ist Geschichte, d. h. Geschichte, wie sie in der Literatur erscheint: Menschen, die sich des Flusses der Zeit bewußt sind und versuchen, von ihrer Erfahrung ein schriftliches Zeugnis abzugeben, um den Tod zu überleben, indem sie eine Spur ihres Vorübergehens hinterlassen. Am Ende seiner Reise ist der Hauptdarsteller symbolisch gefangen zwischen der Vergangenheit des Dschungels und der Zukunft der Großstadt. Wie der Prophet, der in die Wüste geschickt wurde und überlebt, erwartet er seine Rückkehr zur Tat. Kritiker haben dies als ein zweideutiges Ende interpretiert, als Eingeständnis der Ausweglosigkeit, einer weiteren existentiellen Sackgasse. Doch Carpentier beließ es nicht dabei. In einem letzten Abschnitt, den die meisten Kritiker als eine von Carpentier hinzugefügte Fußnote anstatt als Fortsetzung des Romans mißdeutet haben, erhalten wir einen Hinweis zur Überwindung des Engpasses, ein Modell für künftige Handlungen. Der Schlußsatz des letzten Abschnitts ist eine Anspielung auf ein alternatives Paradigma von Literatur und Geschichte, eine Mischform des Schreibens, die man auf Xenophon zurückführt.

Carpentiers Pasos muß als fehlgeschlagener Versuch gelesen werden, das Leben nach der homerischen Tradition des siegreichen Helden zu leben und zu deuten, der zur Eroberung der Welt aufbricht und mit der Beute heimkehrt. Der Roman ist ein verschleiertes Epos, so wie die Geschichte die Geschichte der Sieger ist. Angesichts der Lektionen des Zweiten Weltkrieges — daß nämlich die europäische heroische Tradition zu einer Patt-Situation für alle Betroffenen geführt hat, ohne Sieger — schlägt Carpentier vor, daß die Lateinamerikaner als Gegenentwurf eine Geschichte wiedergewinnen, die auf dem Scheitern und dem Überleben der Besiegten beruht, die gezwungen sind, sich vom Imperialismus mit leeren Händen zurückzuziehen. Wie Xenophon könnte der Schriftsteller der Niederlage noch einen Sieg entreißen, indem er den Text des überlebens schreibt. Außerdem führt uns Carpentier durch ein kompliziertes, doch nicht so schwieriges System der Bezugnahmen auf andere Texte zu dem modernen Dichter, den er als Vorbild für das zukünftige Schreiben anbietet: Saint-John Perse. Von Perse übernimmt Carpentier die Idee, daß die Welt von neuem benannt, beschrieben und entdeckt werden müsse. Er sympathisiert auch mit Perses Interesse an der barbarischen Horde, die Erneuerung durch Umherziehen erreicht. Schließlich ist Perse ein persönliches Vorbild: Ein Intellektueller im Exil, der durch das Schreiben Besitz von Amerika ergreift, was ironischer-weise eine Wiederinbesitznahme ist, da Perse wie Carpentier in der Karibik geboren wurde. Anders als Paz fordert Carpentier Geschichte, jedoch verstanden als kreatives Umschreiben der Vergangenheit. Wie Perse und Xenophon muß der Schriftsteller seine persönliche Autobiographie mit der Darstellung von bestimmten Zeiten und Orten verbinden. Während Paz sich auf das Persönliche beschränkt, konzentriert sich Carpentier auf das Gesellschaftliche.

Zum Abschluß dieser Einführung in das literarische Umfeld sollten kurz noch einige weitere Punkte angesprochen werden. Der Mangel an Authentizität in der Geschichte und den Grundstrukturen Lateinamerikas ließ nach Aussage beider Autoren eine Fassade der Wohlanständigkeit entstehen, die nur mit Mühe einen brodelnden Kessel von Gewalt und Revolution bedeckte. Während sie mit den unteren Gesellschaftsschichten sympathisieren, sehen beide diese jedoch als eine Quelle blinder Gewalt an, es sei denn, man leite diese, zumal sie zu Personenkult und der Herrschaft des starken Mannes neigen, an. Kurz, beide Autoren kritisieren den Machismo, die Vorherrschaft des Mannes. Letzten Endes ist der Intellektuelle immer noch von der Gesellschaft entfremdet. Er kann weder weiterhin an dem leeren Leben der bürgerlichen Gesellschaft teilnehmen, noch sich vorbehaltlos in die unteren Schichten einfügen. Carpentiers Hauptfigur entdeckt, daß der pragmatische Materialismus auf einem Dorf in Lateinamerika ebenso repressiv ist wie der einer modernen Stadt. Doch für den Künstler ist es besser, wenn er Zugang zu beiden Bereichen hat. Seine Inspiration findet er in Lateinamerika, während seine Leserschaft sich überwiegend außerhalb dieser Region befindet. Was Paz anbelangt, so müßte dieser nicht eine Rückkehr zum erotischen Mythos fordern, wenn die mexikanische Gesellschaft, die er in seinem Text wieder in Besitz genom-men hat, ihm dieses Gefühl des In-eins-Sein gäbe, das er sucht. Als Intellektueller ist er von der Gesellschaft entfremdet und reagiert darauf mit dem Angebot seines Werkes — doch richtet sich das Werk nicht an die Arbeiterklasse oder verarmten Massen, die die Mehrheit in seinem Land ausmachen. Er schreibt für die Elite. Paz und Carpentier stellen präzise den Konflikt dar zwischen der liberalen Tradition unabhängigen schriftstellerischen Denkens und Handelns und den repressiven, ja totalitären soziopolitischen Systemen der Gegenwart, besonders in Lateinamerika. Das Problem heute wie damals war, wie man Meinungs-und Gedankenfreiheit aufrechterhalten und gleichzeitig der einheimischen Gesellschaft und Kultur treu bleiben könne.

Entfremdung in einem anderen Sinne ist das Ergebnis der Bedeutungslosigkeit des Künstlers in einem gesellschaftlichen Zustand, in dem grundlegende Bedürfnisse immer noch unbefriedigt sind. Der Berufsschriftsteller ist überflüssig, wenn es fast keine Leserschaft gibt. Außerdem neigen die Massen dazu, ihr Bedürfnis nach Entspannung durch populäre und später Pop-Medien zu befriedigen. Welche Funktion hat dann aber noch der Künstler in der Gesellschaft? Keiner der beiden Autoren gibt darauf eine ausdrückliche Antwort, aber beide werfen die Frage auf.

Schließlich fordern beide Autoren, wenn vielleicht auch unbeabsichtigt, die Befreiung der Stimme der Frau. Zugegebenermaßen erscheinen in beiden Texten Frauen als Vehikel für männliche Egos, als Erdmütter, Göttinnen oder Dämonen, d. h. als nicht denkendes Reservoir von Tradition und Natur. Doch die Klage über ihre Unterdrückung läßt uns bei Paz ihre Befreiung in Betracht ziehen, seine Kritik am Machismo fordert implizit eine Feminisierung der Gesellschaft. Wie man weiter unten sehen wird, räumt Carpentier Frauen eher eine erzählerische und literarische Rolle im Roman ein. Niemand würde die beiden Autoren als profeministisch bezeichnen, doch sollten wir anerkennen, daß sie gewissermaßen die neue Präsenz der Schriftstellerin vorwegnahmen.

II. Der Roman seit Mitte des Jahrhunderts

Seit den fünfziger Jahren sind viele Autoren den Pfaden von Paz und Carpentier gefolgt. Der Ruf nach Authentizität ist immer noch hörbar in bezug auf Literatur, Gesellschaft, Kultur und Politik. Überhaupt ist er stärker geworden, seit die Massenmedien nordameri-kanische und westeuropäische Vorbilder in jedes Hinterzimmer Lateinamerikas projizieren. Was Paz und Carpentier in den Vereinigten Staaten sahen, erscheint heute auf dem Fernsehschirm in den Wohnungen der Campesinos in Mexikos oder der Arbeiter in Peru. Die US-amerikanischen Leitbilder der Gesellschaft werden in Musik, Film, Mode und in der Sprache der Medien verbreitet, während Lateinamerika noch immer keine schlüssige Alternative gefunden hat. Vielleicht wird dies niemals der Fall sein, aber Lateinamerika hat eine überzeugende Literatur hervorgebracht. Einige Romanschriftsteller haben sich für den einen oder den anderen der oben skizzierten Wege entschieden: Mythos oder Geschichte, das Persönliche oder das Gesellschaftliche. Dagegen kann der am klarsten sich abzeichnende Trend in den letzten 30 Jahren als eine Kombination der beiden verstanden werden: Magischer Realismus, wie er oft zu unkritisch genannt wird, ist eine vielfältige Literatur, in der Phantasie und das Geheimnisvolle sich mit Realismus verbinden und dabei sowohl Geschichte und Mythos einbeziehen. Seit den fünfziger Jahren ist die lateinamerikanische Literatur mit einsamen Wanderern in Labyrinthen bevölkert gewesen, zu denen der Faden der Ariadne verloren gegangen ist. Das Labyrinth verspricht keineswegs mehr eine Belohnung für seine erfolgreiche Bewältigung, so daß das Auskundschaften ein Zweck an sich wird — das Medium wird zur Botschaft. Und wenn das traditionelle Labyrinth keine Belohnung mehr bietet, warum soll man dann nicht neue schaffen, die lateinamerikanischen Bedürfnissen besser entsprechen? Geschichte wird gemäß neuen Kriterien umgeschrieben, — neue Erkundungen der Vergangenheit. Da kein neues Vokabular zur Verfügung steht, wenden sich viele lateinamerikanische Autoren der Parodie zu: Der intertextuelle oder dialogische Roman arbeitet Literatur auf in einem erstaunlichen Ansatz der Erneuerung. Ein flüchtiger Blick auf einige der wichtigsten Schriftsteller belegt diese Feststellung.

In Cortäzars Rayuela rebelliert der junge argentinische Intellektuelle Oliveira gegen die bourgeoisen Verhaltensnormen und den lateinamerikanischen Provinzialismus, doch auch in Paris kann er Buenos Aires nicht vergessen. Er sucht eine neue Literaturform, verbleibt aber in einer müden Wiederholung des Surrealismus und vielleicht Dadas. Sogar sein Prahlen mit dem Anti-Roman — oder hören wir hier die Stimme Cortäzars durch? — hatte es vorher schon einmal gegeben. Auf Grund seiner eigenen Unfähigkeit, sich mit seiner Geliebten zu vereinigen oder mit seinen Freunden zu verkehren, entfremdet er sich sowohl von der Gesellschaft als auch seiner Gegengesellschaft. Wieder zurück in Buenos Aires, empfindet er das gleiche Maß an Entfremdung. Das Exil hat ihn verändert, doch sucht er dafür Authentizität. Am Schluß liefert uns Cortzar ein vorzügliches Sinnbild für Entfremdung: Oliveira konstruiert einen Faden-Irrgarten, um den Eingang zu seinem Zimmer in einer Nervenheilanstalt, in der er arbeitet, abzuriegeln, und droht ständig, aus dem Fenster zu springen. Wieder schlägt der Versuch des Intellektuellen, eine Synthese herzustellen, fehl — europäische Vorbilder erweisen sich als untauglich, während die einheimische Realität jenseits seines europäisierten Verständnisvermögens liegt. Unfähig zur Hingabe an den ungehemmten Eros, wie Paz anrät, ähnelt Oliveira am Schluß Carpentiers Hauptfigur, die zwischen einer verlorenen Vergangenheit und einer unsicheren Zukunft gefangen ist. Er und wir erwarten den Augenblick des Aktivwerdens. Und wie für Carpentiers Figur des Komponisten, ist die Handlung das Schreiben des Textes, der der Vergangenheit eine neue Form gibt Cortäzar schuf seinen Text als ein Labyrinth, in das sich auch der Leser hineinversetzen soll. Man kann wahlweise einen Teil des Romans als traditionellen Roman lesen oder den gesamten Text in einer Reihe von Sprüngen quer durch das Buch. Man hat dieses Verfahren einen literarischen Scherz genannt. Wenn sich zwischen Carpentier und Cortäzar eine Veränderung feststellen läßt, liegt dies im wesentlichen an dem Humor des letzteren. Cortäzar will bewußt Literatur auf eine volkstümliche Ebene bringen, um sie zu erneuern. Das Spiel mit verschiedenen Lesearten, von denen keine die allein mögliche ist, führt zu immer neuen Verständnismöglichkeiten des Romans. Cortäzar höhlt dadurch die traditionelle Erzählstruktur des Romans aus, was wiederum Sprache und Realität dem Zweifel aussetzt, indem die fließende Qualität von Zeichen gezeigt wird. Die Möglichkeit einer einfachen Geschichte existiert nicht mehr. Der Text erfordert Behandlung und macht dadurch aus jedem Leser einen neuen Autor. Sein Roman ist damit offen für kreative Restrukturierung, wie es die Pariser Semiotiker, die Cortäzar beeinflußten, für alle kulturellen Texte behaupten würden. Schreiben wird zu einem subversiven Akt — ebenso das Lesen. Vielleicht erreicht der Intellektuelle am Ende nichts, aber die Reise ins Nichts untergräbt die auch dem Umfeld des Lesers eigene Absolutheit bürgerlicher Wertvorstellungen, was zu einem Umschreiben oder zumindest zu einer Herausforderung des sozialen Textes führt. In Carlos Fuentes’ Romanen wird die Geschichte häufig umgeschrieben. Er selbst wiederholt die Karriere des exilierten Intellektuellen, der nach Hause zurückkehrt, um Authentizität wiederzugewinnen, da er außerhalb Mexikos aufgewachsen und erzogen worden ist. In seinem ersten Roman folgte Fuentes nicht so sehr dem Rat von Paz, sich dem Eros hinzugeben, als dessen Beispiel in Laberinto. La regiön mäs transparente ist in Form und Inhalt eine Parodie des Essays von Paz in Romanform. Am Ende läßt Fuentes seine von Besitz und Sozialgeschichte befreite Hauptfigur in einer Rückkehr zu seinem persönlichen Mythos des Eros mit einer blinden Erdmutter abziehen. Außerdem schreibt der Roman, um die heilige Kuh der Revolution anzuprangern, die Geschichte des modernen Mexiko um. Fuentes will durch seinen Roman die eigene mexikanische Identität wiedergewinnen, aber er hält kritische Distanz zur politischen Ordnung, zumindest tat er dies in seiner Jugend und enthüllte das bürgerliche und kapitalistische Innere, das sich hinter der Schauseite einer liberalen und halb sozialistischen Ordnung verbarg. In diesem Roman jedoch wie in den meisten seiner anderen Werke bezieht Fuentes sowohl Elemente des Mythos wie des Eros mit ein. Geschichte selbst ist auch nur eine Fassade, hinter der die zyklische Wiederholung des Mythos verborgen liegt La regiön und ein späterer Roman La muerte de Artemio Cruz haben Labyrinthcharakter; das Irrationale spielt darin eine große Rolle. Die mythologischen, zuweilen auch psychischen Tiefen-schichten bedrohen ständig die rationale Welt der historisch verankerten Personen. In Aura bemächtigen sich diese Kräfte eines jungen bürgerlichen Historikers, wobei offen-bleibt, ob sie ihn in das Verderben reißen oder vielleicht retten. Er überläßt sich dem Eros und gibt bereitwillig die Welt der Vernunft und der Geschichte preis. In Terra Nostra greift Fuentes die Geschichte direkter an, indem er vielfältige Episoden entwirft, die im wesentlichen eine Widerspiegelung ihrer eigenen Fragmente sind. Literatur und „Tatsachen“ gehen im Text eine Verbindung ein, um uns unterschiedliche Verständnismöglichkeiten für die spanische Eroberung der neuen Welt zu eröffnen. Während seiner gesamten Entwicklung wurde Fuentes zwischen Mexiko und dem Exil hin und hergerissen, unfähig zur Rückkehr, es sei denn durch das

Wort Auch Gabriel Garcia Märquez verbindet Mythos und Geschichte miteinander. In Cien afios de soledad behandelt er die Geschichte der Buendia Familie, die eine Parodie auf die Geschichte Lateinamerikas selbst darstellt Das ganze ist ein Bericht von wiederholten Zyklen fehlgeschlagener Versuche, Unheil abzuwenden. Am Ende entziffert das letzte Mitglied der Familie den Code, in dem die Familiengeschichte geschrieben worden ist, um die Zerstörung seiner Welt zu entdecken. Garcia Märquez parodiert historische und literarische Texte ebenso wie den Mythos und setzt sie alle auf seine Liste der Fehlschläge. Doch sein Text hat Erfolg. Nachdem der letzte Buendia die Empfehlung von Paz aufgegriffen hat, sich dem Eros hinzugeben, steht er ähnlich da wie Carpentiers Hauptfigur und liest auf der Suche nach der Zukunft in der Vergangenheit. Aber das Warten endet hier mit dem Verschwinden sowohl des Textes wie der Hauptperson. Garcia Märquez bleibt sowohl Paz als auch Carpentier treu, aber sein Text sperrt sich dagegen, Literatur mit Attributen der Erlösung zu versehen. Am Ende sind es nicht einmal mehr Seiten, die vom Winde fortgeweht werden.

Andere Autoren konzentrieren sich stärker auf die Revision der Geschichte durch den Roman. Seit Mitte der fünfziger Jahre bis in die Gegenwart ist David Vifias Schaffen durch das ständige Bemühen gekennzeichnet, die argentinische Geschichte an Hand marxistischer Vorgaben umzuschreiben. Daß seine eher traditionellen Romane etwas langweilig und altmodisch wirken, wenn man sie mit den oben erwähnten Neuansätzen zur Geschichte vergleicht, liegt an Viflas augenscheinlichem Vertrauen in die Fiktion des Realitätsverweises. Er glaubt, daß seine Vermittlung der Realität wahrer ist — einfach die Wahrheit —, genauso wie er an den Marxismus als das System glaubt. Dieses Vertrauen in Ideologie untergräbt ironischerweise seine Intention. Doch wie andere sucht er aufrichtig nach einer Geschichte, die seinen Bedürfnissen und denen seines Landes besser entsprechen.

Überzeugender sind solche Autoren, die versuchten, dem Leser die Stimmen von Rand-gruppen der Gesellschaft direkt zu vermitteln. Miguel Barnets Biografia de un cimarrön ist ein Produkt der Anstrengung des nachrevolutionären Kuba, die Geschichte der unterdrückten Klassen, in diesem Falle der Sklaven, zu retten. Barnet, ein Romanschriftsteller, fungiert als Interviewer eines 105jährigen früheren Sklaven. Die Autobiographie bietet sich selbst ohne weitere Vermittlung als Stimme der Geschichte dar. Sie beansprucht eine naive Authentizität, die jenseits des Zu-griffs von Vifias oder anderen liegt. Viele haben sie entsprechend gelesen, als eine einfache Erinnerungsgeschichte eines alten Mannes. Doch Barnet hat das Interview manipuliert, um die Bruchstücke der Erinnerung in eine chronologische Ordnung zu bringen, die mehr mit den Erwartungen des Lesers an die herkömmliche Geschichtsschreibung übereinstimmt. Im gewissen Sinne ist der Text zu sehr durchgeformt, doch die Sprache ist die des Mannes selbst. Genau mit diesem Kunstgriff hatte Barnet Erfolg, weil er wußte, daß es darauf ankam, die Sprache unberührt zu lassen.

Elena Poniatowskas Hasta no verte Jesüs inlo benutzt ähnliche Rahmensetzungen und Kunstgriffe, um die Autobiographie einer mexikanischen Frau aus der Unterschicht zu erzählen, die um die Jahrhundertwende geboren wurde. Auch Poniatowska bringt den Text in eine lineare chronologische Ordnung, ohne die Sprache anzurühren. Was man heraushört, ist die Stimme einer Frau, die die männliche Version von Geschichte herausfordert. Dies verleiht dem Text eine größere Bedeutung als Barnets Text, weil Frauen in allen Fällen von Unterdrückung doppelt unterdrückt sind. Poniatowskas Roman ist eine Eroberung einer Vielzahl von männlichen Bastionen. Die schweigsame Frau macht Platz für die machtvolle Stimme einer Frau, die alles andere war als die passive Zufluchtstätte für Männer. Poniatowska bietet mehr als Geschichte, sie bietet ihre Geschichte und das heißt weibliche Geschichte.

Auf der anderen Seite finden sich Schriftsteller, die sich mehr an die Empfehlung von Paz halten, eine Synthese im Eros, im Mythos und im persönlichen Bereich zu suchen. Sie stehen für die Tendenz, ihr Werk von der sozialen und historischen Welt zu distanzieren, da beide für ein System der Unterdrückung stehen, das sie verabscheuen. Sie mißtrauen sozialer, politischer oder historischer Analyse, da sie von der persönlichen Stimme absieht und diese zum Schweigen bringt. Alle Gesellschaften sind in einem bestimmten Maß repressiv, so daß diese Schriftsteller für die individuelle Alternative plädieren. Vielleicht sehen sie auch ihre Arbeit einfach als größere Erfüllung an. Aus welchem Grunde auch immer, diese Autoren neigen zu dem Glauben, daß Literatur ein geschlossener Bereich der Wirklichkeit mit eigenen Merkmalen ist. Dort können sie solche alternativen Existenz-formen erproben, die dann den Lesern Möglichkeiten eröffnen, die ihnen die Gesellschaft normalerweise verweigert.

In diesem Zusammenhang muß auch der Name Cortäzar genannt werden, aber Rayuela verwendet sicherlich viel zu viele Allgemeinplätze, als daß er dazugezählt werden könnte. Cortäzar setzt sich dem Verdacht aus, eine Allegorie Lateinamerikas in westlicher Kultur zu schreiben. Bessere Beispiele sind die Romane, die völlig außerhalb einer klar bestimmbaren lateinamerikanischen Umgebung oder gar in einer imaginären angesiedelt sind. Salvador Elizondos Farabeufoder El hipogeo secreto sind außer in der Sprache des Autors nur schwer irgendwo anzusiedeln, und der Autor selbst ist seltsamerweise nicht typisch mexikanisch. Elizondo sucht die Geschichte aus ihrer räumlichen Verankerung zu heben, um den Leser zu zwingen, sie als einen Zweck an sich selbst zu behandeln. Hipogeo spielt im Bewußtsein oder Gehirn des Schriftstellers, der am Ende von den imaginären Personen des Romans getötet wird. Severo Sarduys Cobra reduziert Sprache in einer Vielfalt von semiotischen Transformationen auf Spiel. Er zwingt den Leser dazu, über Sprache als die eigentliche Trägerin der Erfahrung nachzudenken. Man kann bestimmte soziale Intentionen in diese Romane hineinlesen — und Sarduy hat auch eine eröffnet, die auf dem alten Anspruch der Avantgarde basiert, die bürgerlichen Geschmacksnormen aus den Angeln zu heben —, doch sollte man lieber ihre Vordergründigkeit akzeptieren. Sie sind mit großer Kunstfertigkeit geschriebene Texte, die keinen anderen Zweck haben als den Genuß an sich selbst — erotische Texte ohne weitere Rechtfertigung. Und doch kann man nicht umhin, hervorzuheben, daß die zweckfreie Verwendung der Sprache die Gültigkeit des gesellschaftlichen Textes untergräbt. Gleichzeitig nähern sich diese Romane unter der Verletzung der Gattungsgrenzen der Lyrik an.

Julieta Campos Tiene los cabellos rojizos yse Hama Sabine transponiert Carpentiers Reise ins Reich der Literatur. Die ungenannten und zahlreichen Erzähler erkunden die literarischen Traditionen, wie Carpentiers Protagonist die lateinamerikanische Landschaft erkundete. Auch ihnen ist es unmöglich, in einer Sprache zu schreiben, die von übernommenen Verwendungszusammenhängen frei ist. Jeder Versuch, den Roman zu beginnen, endet in Frustration, wenn die Erzähler bemerken, daß irgend jemand schon dieses Thema behandelt hat. Der Text beschäftigt sich mit sich selbst und versucht, sein Scheitern zu ergründen. Am Ende hat der Leser alles andere als die traditionelle Romanform mit Personen und Handlung erlebt. Wie in der Lyrik weisen sie Sprachbilder auf, die sich durch die innere Logik der Sprache aufeinander beziehen — Bilder, die in einem größeren Bild verschmelzen, das den Text bildet und nichts anderes.

Juan Garcia Ponce schlägt eine andere Richtung ein und versteht den inneren Textbezug nicht als eine Grenze, sondern als ein facettenreiches Portal zur Erfahrungserweiterung. Immer wieder kehrt er zu dem zurück, was er als das wirkliche Heimatland jedes Autors bezeichnet, nämlich die Literatur. Er nimmt sich der Autoren an, denen er sich am meisten verwandt fühlt, schreibt ihre Literatur für seine Zwecke um und entdeckt dabei neue Möglichkeiten, die andere nicht weiter erkundet haben, oder erreicht dabei das, was andere anstrebten, aber aus irgendwelchen Gründen nicht in ihren eigenen Werken rea-lisieren konnten. Seine Romane werden zu Räumen des Dialoges, nicht nur für die Personen, sondern auch für andere Autoren. Damit sind europäische Texte nicht mehr länger Vorbilder, sondern werden gleichrangig. Gleichzeitig schaffen seine Romane Innenräume außerhalb der Gesellschaft, wo die Personen einen Schwebezustand der Freiheit genießen, der den in der Literatur imitiert, eine separate Realität mit eigenen Regeln, in der das Unmögliche möglich ist. Für Garcia Ponce bedeutet Schreiben Erfahrung, eine Lebensweise von einfachster und tiefsinnigster Bedeutung zugleich. Und alle seine Romane sind eine unbefangene Hinwendung zum Eros. Sogar wenn die schwerste politische Krise der jüngsten mexikanischen Geschichte behandelt wird — das Massaker von Tlatelolco (1968) —, wird dieses Ereignis nur zu einem weiteren Bestandteil seines persönlichen Kanons und deshalb jedes autoritativen politischen Bezugs beraubt.

III. Zur Soziologie der Literatur

Was hat sich seit den fünfziger Jahren verändert und was ist konstant geblieben? Zunächst können wir einige rein soziologische Fakten nennen, die Paz und Carpentier vorwegnahmen.

Erstens ist die potentielle Leserschaft größer geworden, besonders in den fortschrittlicheren und — bis vor kurzem — stabileren Ländern. Heute gibt es eine neue Entwicklung in Lateinamerika, eine potentielle Öffentlichkeit, die einen Berufsschriftsteller ernähren kann. Jedoch ist dieses Potential bisher nicht zu einer wirklichen Leserschaft geworden. Die Leser konsumieren mehr Comics als ernsthafte Romane, mehr Übersetzungen US-amerikanischer Unterhaltungsliteratur als Romane ihrer eigenen bedeutenden Autoren. Die lateinamerikanischen Leser ziehen immer noch populäre Unterhaltung der anspruchsvollen Literatur vor. Zwar ist festzustellen, daß die Mittelschichten zunehmend in die städtische Kultur integriert und folkloristische Elemente zurückgedrängt werden, aber unter Umgehung der literarischen Kultur wenden sie sich unmittelbar den Massenmedien zu: Das Fernsehen fasziniert mehr als Bücher. Lateinamerikanischen Autoren fehlt es deshalb immer noch an einer größeren einheimischen Leserschaft, deren Käufe es den Schriftstellern ermöglichen würden, ihren Lebensunterhalt ausschließlich vom Verkauf ihrer Werke zu bestreiten. Daraus erklärt sich auch die anhaltend hohe Bedeutung von Übersetzungen ihrer Arbeiten für ein ausländisches Publikum. Ein lateinamerikanischer Autor kann mehr mit der englischen Übersetzung seiner Werke verdienen als mit seinem spanischen Original.

Das höhere Bildungsniveau in Lateinamerika hat sich auf die Sozialstruktur der Schriftsteller ausgewirkt: Eine größere Zahl hat eine Universitätsausbildung absolviert, und zugleich stammen immer mehr Schriftsteller aus der unteren Mittelschicht oder gar Unter-schicht. Dies hat zur Produktion von Romanen geführt, die Probleme und Sprache dieser Schichten genauer aufnehmen. Was das für die Zukunft bedeutet, läßt sich nicht leicht voraussagen, aber schon jetzt ist in Mexiko eine Zunahme proletarischer Themen feststellen. Jedoch gewinnt man oft den Eindruck, daß die Autoren bereits nicht mehr den Unterschichten zuzurechnen sind.

Carpentiers Protagonist plant ein Buch über seine Dschungelerlebnisse, doch als er zu-hause ankommt, stellt er fest, daß seine ehemalige Geliebte ihre Version bereits veröffentlicht hat. Diese Revolte der Frau, die es wagt, ihre Version der Geschichte zu erzählen, wird immer mehr zur lateinamerikanischen Realität. Schriftstellerinnen schaffen sich ihr eigenes Image, häufig im direkten Gegensatz zu dem Rollenverständnis, das die Männer seit Jahren wiederholen. Diese Entwicklung wird — wenn sie fortdauert — mehr als jede andere die lateinamerikanische Lite-ratur verändern, da sie die tiefsten Wurzeln ihres Erscheinungsbildes angreift. Man kann nur hoffen, daß Frauen auch auf gesellschaftlichem und politischem Gebiet mehr Einfluß gewinnen werden.

IV. Politik und Schriftsteller

Schon Mitte des Jahrhunderts wurde deutlich, daß sich die lateinamerikanische Politik aufgrund eines Zusammenwirkens von inneren und äußeren Zwängen in der Krise befand. Die kapitalistische Industrialisierung, welche die Gesellschaft veränderte, wurde primär von auswärtigen Interessen finanziert, für die es wichtig war, die alten Herrschaftsformen aufrechtzuerhalten, die jedoch nicht mehr zu der neuen Realität paßten. Externe Mächtegruppierungen bedrängten die einheimischen Oligarchien, demokratische Befreiungsbewegungen zu unterdrücken. Einige Länder wie Mexiko, Chile, Brasilien und Argentinien wurden von diesem Prozess weniger berührt, jedoch waren auch sie nicht immun. Diese Staaten schienen sowohl Stabilität als auch bis zu einem gewissen Grad eine demokratische liberale Ordnung erreicht zu haben. Der Krieg hatte Hoffnungen auf eine bessere Kooperation zwischen den USA und Lateinamerika genährt, aber die meisten Intellektuellen zweifelten an der Ernsthaftigkeit der amerikanischen Versprechungen.

In den fünfziger Jahren ragten zwei militärische Ereignisse hinsichtlich ihrer enormen politischen Auswirkungen besonders heraus: — Erstens machte der von den USA unterstützte Putsch gegen die demokratisch gewählte Reformregierung von Arbenz in Guatemala deutlich, daß sich im Verhalten der USA nichts geänderte hatte. Jede Regierung, die amerikanische Interessen bedrohte, setzte sich der Gefahr der Intervention aus.

— Zweitens führte die kubanische Revolution am Ausgang des Jahrzehnts zu einer sozialistischen Regierung unmittelbar vor der Küste der Vereinigten Staaten. Daß man sie überleben ließ, war ein Wunder; daß ein verspäteter Versuch, sie zu zerschlagen, fehlschlug, war ein Grund sich'zu freuen.

Lateinamerikanische Schriftsteller reagierten auf beide Ereignisse. Sie protestierten gegen den Putsch in Guatemala und eilten Castro zu Hilfe. Kuba war der Liebling der lateinamerikanischen Intellektuellen auf allen Seiten des politischen und literarischen Spektrums. Castros Revolution wurde mehr als Ohrfeige für die Vereinigten Staaten, denn als Triumph des Marxismus verstanden. Schriftsteller rühmten Castros Bemühungen, die Alphabetisierung voranzutreiben und neue literarische Kreativität durch Verleihung von Preisen der La Casa de las Americas anzuregen. Castros Erklärung über die Freiheit der Literatur und die anfängliche liberale Praxis im Umgang mit der Meinungsfreiheit beeindruckten die Schriftsteller.

Lateinamerikanische Schriftsteller wurden in die antiamerikanische Stimmung, die der Vietnam Krieg erzeugte, hineingezogen. In Verbindung mit der kubanischen Revolution führte dies zu einer sehr vereinfachten Gegenüberstellung von Wir und die Andern. Anfang der sechziger Jahre schien sich die lang ersehnte Neuorientierung für Lateinamerika abzuzeichnen. Zudem begann die internationale Jugendbewegung Lateinamerika zu erfassen. Rock and Roll verdrängte in der Mittelschichtjugend die lateinamerikanischen Rhythmen. Diese Stimmungslage mischte sich mit den unklaren linken Vorlieben und erzeugte euphorische Erwartungen, die Vorstellung eines Fortschritts in Richtung auf ein nie genau definiertes Utopia. Jüngere Schriftsteller, vor allem die Gruppe La Onda in Mexiko, veröffentlichten Bücher, die eine profunde Kenntnis der traditionellen und der modernen Literatur mit der Bilderstürmerei und dem Humor verbanden, die die frühen Beatles oder den eher politisch ernst zu nehmenden Bob Dylan auszeichneten. In den großstädtischen Zentren triumphierte der abstrakte Expressionismus einer Generation von Malern Anfang der dreißiger Jahre sowohl über die akademische Kunst als auch über die Klischees der mexikanischen Wandmalerei. Junge Kritiker wie Marta Traba und Juan Garcia Ponce verteidigten die neuen Künstler, attackierten die alten Schulen und waren bei.der Etablierung phänomenologischer Kriterien behilflich, die Neuerungen die Tore öffneten und dem Publikum den Weg wiesen zur Wertung unterschiedlicher Bilderfahrungen. Bezeichnenderweise erhielt Traba für ihren ersten Roman den Casa-delas-Amrica-Preis, und unter den Preisrich-B tern war ein junger mexikanischer Roman-schriftsteller namens Garcia Ponce. Es gab ein Bewußtsein der den Kontinent umspannenden Zusammenarbeit und gemeinsamen Fortschritts, an dem Kuba unmittelbar Teil hatte. Daß die regionale politische Entwicklung nicht in die gleiche Richtung ging, verlor sich unter dem Anschein der Bewegung. 1968 kann heute als Anfang vom Ende dieser kurzen Periode der Einheit und des Optimismus gesehen werden. In Kuba rückte Castros Regime von seiner liberalen Position ab und verhaftete Schriftsteller, die als anti-revolutionär eingestuft wurden. Mexikos stolze Olympiade fand nur wenige Wochen nach dem Massaker der Regierung an Hunderten von Studenten statt. Die Linke und Rechte des politischen Spektrums erwiesen sich als intolerant und repressiv. Rasch setzte sich Desillusionierung durch. Von Mundo Nuevo, einer hochangesehenen, in Paris erscheinenden literarischen Zeitschrift, wurde bekannt, daß sie Zuwendungen der CIA erhielt. Cabrera Infante, der Gewinner des Biblioteca-Breve-Preises für Romane, floh aus Kuba und war damit der erste einer langsam wachsenden Gruppe von Schriftstellern, die der Revolution den Rücken kehrten. Octavio Paz und Carlos Fuentes, die 1968 gegen das gewaltsame Vorgehen der mexikanischen Regierung protestiert hatten, traten 1970 vor die Fernsehkamera, um die Regierung in einem ähnlichen Fall von Gewaltanwendung zu unterstützen. Dann folgte der Putsch gegen Allende in Chile. Chilenische und argentinische Flüchtlinge verließen in Massen ihre Länder.

Von politischer Einigkeit sind die lateinamerikanischen Schriftsteller weit entfernt. Kuba findet nicht mehr ungeteilte Unterstützung, sondern stößt oft auch auf Kritik Obwohl der Marxismus immer noch die bevorzugte Ideologie der jungen Generation darstellt, überwiegt Zynismus. Zahlreiche exilierte Schriftsteller und Intellektuelle, besonders diejenigen, welche in den USA leben, sind mit den gleichen Problemen konfrontiert, wie sie Paz und Carpentier behandelten. Die jüngsten Interventionen der USA in Mittelamerika stoßen kaum auf Sympathie, aber der sowjetischen Präsenz in Afghanistan ergeht es nicht anders. Die Welt ist, wie Fuentes schon Mitte der sechziger Jahre vorausgesagt hatte, für eine simplifizierende Ideologie zu kompliziert geworden. Die Politik der Loyalität ist nach Fuentes durch eine der kritischen Distanz und des ständigen Hinterfragens ersetzt worden. Aber war das nicht schon die Haltung von Paz und Carpentier vor der Zeit der Illusionen in den sechziger Jahren?

Lateinamerikanische Autoren pochen heute auf ihr Recht, die Tradition unabhängigen Denkens aufrechtzuerhalten, bestimmte Probleme und Ereignisse selbst zu interpretieren, ohne in blinder Ergebenheit irgendeiner Seite verpflichtet zu sein. Meistens und in fast allen Fällen mündet dies in einen apolitischen Standpunkt. Sicherlich gibt es gerade auf der Linken noch Dogmatiker und Idealisten, die an ihren lauen Genossen keinen guten Faden lassen. Und es gibt auch diejenigen, die zynischerweise die finanziellen Hilfen der Regierungen und Institutionen in Anspruch nehmen, die sie angeblich nicht unterstützen, während andere heute an Universitäten in den USA lehren, die sie als anti-lateinamerikanisch attackieren. Überwiegend jedoch praktizieren die Autoren kluge Zurückhaltung. Ren Avils Fabila, ein weiterer Casade-las-Am 6ricas-Preisträger, zog folgendes Resum: „Es ist gleichgültig, wie stark man mit der Außenpolitik der USA nicht übereinstimmt (man sollte sie verurteilen); die amerikanische Literatur, Musik und die Rebellion der Jugend sind Elemente, die in die nationale Kultur Mexikos als Werte an sich miteinbezogen werden sollten.“

Während die Autoren einmal dieses, einmal jenes Thema aufgriffen und dabei vielleicht wie Carpentiers Komponist auf eine neue Welle historischer Entwicklung warten bzw. mythische, erotische und übersinnlich Räume erkunden, beschreiben sie ihre Eindrücke oder schaffen neue Erfahrungen durch Texte. Ihre wirkliche Loyalität aber gehört ihren Werken, und dies macht die neue lateinamerikanische Literatur — mehr als alles andere — zu einer der bedeutendsten der Welt

Ausgewählte Bibliographie

(Verlage in Klammern)

Avil 6s Fabila, Ren: U. S. Influence on Contemporary Mexican Literature, in: Juanita Luna Lawhn et. al. (Eds.), Mexico and the United States Intercultural Relations in the Humanities, San Antonio 1984 (San Antonio College) Barnet, Miguel: Biografia de un cimarrön, Mexiko 1971 (Siglo XXI)

Der Cimarron. Die Lebensgeschichte einer entflohenen Negersklavin aus Kuba, von ihm selbst erzählt, Frankfurt 1976 Campos, Julieta: Tiene los cabellos rojizos y se Hama Sabine, Mexiko 1974 (Joaquin Mortiz)

Carpentier, Alejos: Los pasos perdidos, Mexiko 1953 (Compafiia General de Ediciones)

Die verlorenen Spuren, Frankfurt 1976 Cortäzar, Julio: Rayuela, Buenos Aires 1963 (Editiorial Sudamericana)

Rayuela. Himmel und Hölle, Frankfurt 1980 Elizondo, Salvador: Farabeuf, Mexiko 1965 (Joaquin Mortiz)

Farabeuf oder Die Chronik eines Augenblicks, München 1969 El hipogeo secreto, Mexiko 1968 (Joaquin Mortiz)

Fuentes, Carlos: Aura, Mexiko 1962 (ERA)

in: Zwei Novellen, Aura und Geburtstag, Frankfurt 1976 La muerte de Artemio Cruz, Mexiko 1962 (Fondo de Cultura Econömica)

Nichts als das Leben, Stuttgart 1964 La regin mäs transparente, Mexiko 1958 (Fondo de Cultura Econömica)

Landschaft im klaren Licht, München 1981 Terra nostra, Mexiko 1975 (Joaquin Mortiz)

Terra nostra, München 1982 Garcia Mrquez, Cien anos de soledad, Buenos Aires 1967 (Editorial Sudamericana) Gabriel:

Hundert Jahre Einsamkeit, Köln 1982 Garcia Ponce, Juan: La cabafia, Mexiko 1969 (Joaquin Mortiz)

La crönica de la intervencin, Barcelona 1982 (Editorial Bruguera) Glanz, Margo: Narrativa joven de Mxico, Mexiko 1969 (Siglo XXI)

Paz, Octavio: El laberinto de la soledad, Mexiko 1950 (Fondo de Cultura)

Das Labyrinth der Einsamkeit, Frankfurt 1976 Poniatowska, Elena: Hasta no verte, Jesüs mio, Mexiko 1969 (ERA)

Allen zum Trotz. Das Leben der Jesusa, Bornheim 1982 Rodo, Jos 6 Enrique: Ariel, Montevideo 1900, Caracas 1976 (Biblioteca Ayacucho) Sarduy, Severo: Cobra, Buenos Aires 1972 (Editorial Sudamericana)

Fussnoten

Fußnoten

  1. Während des Zweiten Weltkriegs erregten Pachucos internationales Aufsehen, als in Kalifornien stationierte amerikanische Soldaten diese zum Freiwild erklärten, sie in den Straßen von Los Angeles angriffen, zusammenschlugen und ausraubten. Diese sogenannten „Zoot", Unruhen, hörten erst auf, als Mexiko sich beschwerte und das Kriegsministerium zu dem Schluß kam, daß die negative Propaganda, zu der die Achsenmächte die Vorfälle ausnutzten, der Kriegsanstrengung schadeten. Pachucos hoben sich durch ihre auffallende Kleidung ab: Mäntel mit breitem Revers, Hüte mit schmaler Krempe, weite Hosen, die wie Ballons an den Knien sich weiteten und an den Knöcheln eng zusammengebunden waren. Sie sprachen eine Mischung aus Spanisch, Englisch und Slang. In Labe rinto hat Octavio Paz behauptet, daß sie zu Kriminellen wurden, weil darin ihre einzige Möglichkeit bestand, von der anglo-amerikanischen Gesellschaft anerkannt zu werden, eine Theorie, die in weiten Kreisen von Chicano-Intellektuellen be stritten wird.

Weitere Inhalte

Juan Bruce-Novoa, Ph. D., geb. 1944; Studium der spanischen und portugiesischen Literatur an der University of Colorado (Schwerpunkt: Moderne lateinamerikanische Literatur); von 1974 bis 1983 Professor für lateinamerikanische-und Chicano Literatur sowie lateinamerikanische Studien an der Yale University; 1983— 1984 Fulbright Professor (für Amerikanistik und Hispanistik) an der Universität Mainz, Germersheim; gegenwärtig Professor für mexikanische Literatur an der University of California, Santa Barbara. Veröffentlichungen u. a.: Innocencia perversa/pervers Innocence, Phoenix 1976; Chicano Authors: Inquiry by Interview, Austin 1980; Chicano Poetry. A Response to Chaos, Austin 1982; (Mitherausgeber), Mexico and the United States: Intercultural Relations in the Humanities, San Antonio 1984.