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Neuere Entwicklungstendenzen von Theorien der Politik | APuZ 38/1984 | bpb.de

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APuZ 38/1984 Neuere Entwicklungstendenzen von Theorien der Politik Politische Partizipation in westlichen Demokratien Die Last der Partizipation Zur Entwicklung der vergleichenden Deutschlandforschung

Neuere Entwicklungstendenzen von Theorien der Politik

Klaus von Beyme

/ 21 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Entwicklung der politischen Theorien kann nicht nur immanent erklärt werden. Sie wird auch von externen Faktoren, wie intellektuellen Stilen, kulturellen Traditionen und gesellschaftlicher Stellung des Faches Politikwissenschaft, beeinflußt. Die angelsächsischen, die romanischen, die deutschsprachigen und die sozialistischen Länder haben daher gewisse Eigenarten bewahrt, trotz der Dominanz der amerikanischen Theorie. Der Behavioralismus ist die für die amerikanische Politikwissenschaft typischste Bewegung gewesen. Er kam durch eine . Revolte" hoch, aber er siegte sich gleichsam tot durch rasche Integration. Das empirische Mittelfeld der Disziplin war nur zu einer Minderheit behavioralistisch im engeren Sinne und damit wenig theorieorientiert. Weiterreichende Ansätze zur Theoriebildung, die um die Pole Durkheim und Weber, Modelltheorie und Typologien weitreichender Konzepte kristallisierten, blieben stark. Gegen den Empirismus kam es zur normativistischen Revolte von links und rechts, zum Teil organisiert im „Caucus" der American Political Science Association. Die postbehavioralistische Revolte wurde noch rascher reintegriert als einst die behavioralistische. Die Synthese wurde möglich vor allem durch die Entwicklung des neuen Ansatzes der Politikfeldanalyse mit ihrer Problem-und Wertorientierung und ihrem Sinn für einen Praxisbezug.

I . Intellektuelle Stile und die Entwicklung der politischen Theorien

Abbildung 1

überblicke über Tendenzen der modernen politischen Theorie konzentrieren sich meistens auf die USA, die mehr Politikwissenschaftler in der Lehre an Universitäten einsetzen als der Rest der Welt zusammen und auf internationalen Kongressen in der Regel von einem Drittel bis zur Hälfte aller Teilnehmer stellen In qualitativer Hinsicht ist das amerikanische Übergewicht in der Disziplin noch größer. David Eastons Überblick über die Politikwissenschaft in den Vereinigten Staaten kann daher als paradigmatisch für die Entwicklung der Disziplin in der westlichen Welt angesehen werden Dennoch gibt es signifikante Unterschiede zum amerikanischen Modell im Bereich der politischen Theorie westlicher Länder. Diese Unterschiede resultieren vor allem aus nationalen kulturellen Traditionen und den innenpolitischen Herausforderungen der politischen Systeme in ihrer Widerspiegelung in politischer Theorie.

Die traditionelle und historische Komponente könnte durch eine Typologie simplifiziert werden, wie sie Johan Galtung entwickelt hat Vier dominante intellektuelle Stile werden in den Sozialwissenschaften unterschieden. Um sie nicht allzu sehr mit einzelnen Ländern zu identifizieren, sind ihnen verfremdete Namen gegeben worden: „saxonisch", . teutonisch', . gallisch* und „nipponisch". Außer dem letzten umfassen alle Typen mehrere Länder. Der gallische Stil wird für die romanischen Länder schlechthin für typisch erklärt. Der teutonische Stil scheint nicht nur in den deutschsprachigen Ländern zu überwiegen, sondern breitete sich aufgrund kultureller Einflüsse seit dem 19. Jahrhundert und marxistischer Denkweisen nach dem Krieg in ganz Osteuropa aus. Galtung sah in diesen Stilen „Idealtypen“, nicht deskriptive empirische Kategorien. Thomas Kuhn hatte einst angenommen, daß wissenschaftliche Theorieentwicklung sich nicht schrittweise (inkremental), sondern eher durch radikale Änderung der metatheoretischen Prämissen wandelt — unter der Bezeichnung „Paradigmawechsel" zusammengefaßt und inzwischen für jede kleinere modische Neuheit reichlich überstrapaziert Die Typologie intellektueller Stile könnte als weitere Modifikation dieser These benutzt werden, weil sie Konstanten im Verhalten von Wissenschaftlern und in der Theoriebildung annimmt, die nur selten einem revolutionären Paradigma-Wandel ausgesetzt sind. Kuhns Theorie hat sich ohnehin in der Geschichte der Naturwissenschaften besser bewährt als zur Erklärung des Wandels von Theorien in den Sozialwissenschaften Durch die Policy-Analyse sind die langzeitlichen kulturellen und intellektuellen Verhaltensstile auch zur Erklärung, wie Politik gemacht wird, zunehmend wieder in den Blick gekommen Die Erforschung von Policy-Stilen hat einen ähnlichen Impetus wie Galtungs Typologie: Die historische Dimension dauerhafter nationaler und regionaler Traditionen im Verhalten von Entscheidungsträgern und ihren wissenschaftlichen Politikberatern wird wieder in die Kurzzeitperspektive kleiner Implementationsschritte integriert.

Wendet man Galtungs Typen auf die Politikwissenschaft im engeren Sinn an, so gibt es kein angelsächsisches Muster mit allen von Galtung erwähnten Aspekten. Die USA und Großbritannien sind vor allem in der Interaktion von Sozialwissenschaften, Gesellschaft und Politik ziemlich unterschiedlich. Trotz einer gewissen Neigung zur Vorherrschaft des deduktiven Denkens in Deutschland und in der Sowjetunion haben beide Länder im Wissenschaftsstil im übrigen nur wenig gemeinsam. Sozialismus und Marktwirtschaft erklären die Varianz. Es wäre auch verwunderlich, wenn nach über 60 Jahren forcierter sowjetischer Wissenschaftspolitik kein großer Unterschied zu den von Deutschland übernommenen Denktraditionen festzustellen sein sollte. Auch die drei wichtigsten romanischen Länder, Frankreich, Italien und Spanien, zeigen starke Abweichungen aufgrund unterschiedlicher historischer Traditionen. Dennoch sind diese Idealtypen nicht wertlos bei der Suche nach dem Einfluß außerwissenschaftlicher Faktoren, welche die Theorieentwicklung im Fach Politikwissenschaft in verschiedenen Systemen mitgeprägt haben. Die wichigsten von ihnen sind:

— der Einfluß langfristiger politischer Trends auf die Theoriebildung, vor allem in der Mobilisierungsphase der sechziger und siebziger Jahre;

— institutioneile Faktoren wie das Erziehungssystem, in dem die Disziplin verankert ist;

— typische professionelle Hürden für Politologen in einzelnen Systemen und die Relevanz dieser Wissenschaft im politischen Prozeß; — das intellektuelle Klima verschiedener Länder.

Der „teutonische Stil“ wurde im 19. Jahrhundert, vor allem wegen der starken Irrelevanz der Sozialwissenschaften im System und einer für Westeuropa ungewöhnlich scharfen Trennung der kulturellen und politischen Eliten, (nicht durch Zufall) in Deutschland entwickelt. In den sozialistischen Ländern ist die Vorherrschaft der deduktiven unpragmatischen Denkweise ebenfalls kein Zufall, aber aus einem gegenteiligen sozialen Grund wie im alten Deutschen Reich: Da die Ideologie eine dominante Rolle im System spielt, ist die Theoriebildung weitgehend Variation der parteilichen Zielkultur und trägt zur Vorherrschaft eines deduktiven Denkens bei, das nur mit Mühe in die „Trans! er“ -Kultur für den täglichen Bedarf zu überführen ist In Deutsch land ist die relative Bedeutungslosigkeit dei Sozialwissenschaften nach der Phase der Re formeuphorie im Zeichen der Tendenzwend« noch immer evident Aber auch in anderen Ländern ändert an diesem Zustand selbst dei Umstand nicht viel, daß Politiker mit politik-wissenschaftlicher Ausbildung die höchsten Ämter der Macht übernehmen, wie etwa Pierre Trudeau in Kanada oder Helmut Kohl in der Bundesrepublik (Kohl chiffriert im Volkshandbuch des Deutschen Bundestages diesen Teil seiner Vergangenheit vielleicht nicht zufälligerweise als „Studium der Rechts-, Sozial-und Staatswissenschaften").

Auch in den angelsächsischen Ländern, in denen die Politikwissenschaft dem Anspruch des Galtungschen Typs als pragmatisch, wenig theoretisch, dafür aber stärker problemorientiert überwiegend gerecht wird, hat die Politikwissenschaft durch die szientistische Entwicklung der Disziplin vor allem in Amerika an Einfluß verloren, was deutlich in dem geringen Einfluß der meisten Professoren des Faches im politischen Beratungsprozeß zum Ausdruck kommt. Gewiß, einzelne Professoren haben sogar in der traditionell eher antiintellektuell gestimmten politischen Elite Amerikas großen Einfluß erlangt, so daß beispielsweise ein Spottvogel einmal versuchte, die Differenzen der amerikanischen Außenpolitik der siebziger Jahre aus den Streitigkeiten zweier berühmter Harvard-Politologen (Elliot und Friedrich) zu erklären. Ihre Meinungsverschiedenheiten, so die These, schienen sich bei ihren Schülern Kissinger und Brzezinski in Außenpolitik umzusetzen. Sicherlich ist dies eine bewußte Übertreibung, doch sie zeigt, daß auch in Amerika einigen Politologen der Durchbruch in höchste Ämter gelingt. Die Mehrzahl der Politologen aber hat noch weniger Einfluß und Politikberatungsinteresse als unter den europäischen Kollegen üblich.

Französische Professoren sind auch nicht eben einflußreich in der Politik, aber sie haben partiell diese Schwäche durch eine ungewöhnliche Stellung in den Medien kompensieren können, wie sie etwa Raymond Aron, Maurice Duverger oder Alfred Grosser lange genossen. Die „Intellokraten der Macht" aber sind auch in Frankreich nur die Mystifikation einiger Journalisten Empirische Studien über den „state -of the arts“ des Faches in Frankreich zeigen eher, daß nur einige wichtige Gestalten der Politologie — als „hommes Carrefour“ bezeichnet — selbst im engeren Rahmen der intellektuellen Szene des Landes eine bedeutendere Rolle spielten. Sie hatten zudem immer mit Konkurrenzdisziplinen etablierterer Fächer wie Soziologie, Philosophie oder Geschichte zu kämpfen, die ebenfalls kompetent über politische Fragen zu urteilen vermochten

Der Beitrag der szientistischen und an den exakten Naturwissenschaften geschulten Teile der Politikwissenschaft zur wachsenden Einflußlosigkeit der Disziplin im öffentlichen Raum entwickelte sich aber keineswegs geradlinig, auch nicht in Amerika. Die „Kulturrevolutionen“ Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre fanden ihren Niederschlag in der post-behavioralistischen Revolte in den Sozialwissenschaften vieler Länder. Die Grundkonzepte dieser Paradigmenrevolution wurden jedoch überwiegend nicht im engeren Fach Politikwissenschaft entwickelt, sondern eher von Philosophen, Soziologen und anderen Fächern, die stärker zur abstrakten Theoriebildung neigten als das generell anwendungsbezogene Fach Politikwissenschaft.

Die Postbehavioralisten aber sind nicht zur Mehrheit in den Sozialwissenschaften geworden. Ein Paradigmawechsel im strengen Sinne Kuhns fand nicht statt — und wo er stattzufinden schien, kam es zur Wiederbelebung konservativ-normativer Strömungen. Die von einigen Vordenkern der amerikanischen Opposition, die sich im sogenannten „Caucus” zusammengeschlossen hatte beschworene „dialektische Entwicklung" ist nicht sehr erhellend. Dialektische Entwicklung ist zumindest klar richtungsgebunden, während in den meisten Ländern eher eine ganz undialektische Tendenzwende nach den Aufbruchsjahren die Richtung der Entwicklung nicht klar erkennen ließ. Wo neue Paradigmen entwikkelt wurden, erfaßten sie nur partiell die Politikwissenschaft und wurden wie der Strukturalismus, die Hermeneutik oder die Soziobiologie in anderen Disziplinen entwickelt Selbst in Amerika gab es eine Zeitlang die Tendenz, die politische Theorie mehr und mehr aus der Disziplin herauszudefinieren

II. Metatheorien und der Paradigmenwechsel in der politischen Theorie

Nach dem Abklingen der postbehavioralistischen Revolte fehlte ein zündender Ausdruck für die Vielfalt der Tendenzen. Man behalf sich mit dem Notbehelf, die Phase „post-postbehavioralistisch" zu nennen. Diese war gekennzeichnet durch die Aufgabe der großen theoretischen Debatten und die Reprofessionalisierung der Disziplin. Die großen Dispute zwischen Kritischen Rationalisten (vulgo: Neopositivisten) und kritisch-dialektischen Wissenschaftlern im Gefolge der Frankfurter Schule, die Habermas-Luhmann-Debatte oder die Poulantzas-Miliband-Auseinandersetzung, um die großen Fragen der Systementwicklung und -interpretation endeten in Ermü7) dungs-und Wiederholungserscheinungen. Neue Trends führten zur Wiederannäherung früher ausdifferenzierter wissenschaftlicher Subkulturen, die vielfach das Gespräch miteinander aufgegeben hatten und sich in getrennten Zitatenkartellen isolierten. Nicht daß die metatheoretischen Positionen der Schulen verschwunden wären, aber deduktive Marxisten wie deduktive und induktive Untergruppen des positivistischen „mainstreams kamen zu einem schweigenden Konsens, daß wieder Themen von politischer Relevanz, aber in empirischer Absicht und auf der Ebene von Theorien mittlerer Reichweite behandelt werden müssen, um das Gespräch zu befruchten. In vielen Fällen traf man sich auf dem Gebiet der Politikfeldanalyse.

Das positivistische und empirische Mittelfeld blieb dominant, aber auch hier kam es zu stärkerer Ausdifferenzierung. Von jeher kreiste das analytische Denken um zwei Pole, die mit den Namen Emile Durkheim und Max Weber in der Soziologie exemplifiziert werden könnten. Durkheim sah in sozialen Fakten „Dinge“ (choses) — Weber betonte die Selektion von Tatsachen durch Wertbezug. Durkheims Ansatz führte zu einem sozialwissenschaftlichen Modell, Webers Ansatz zur Typologie — nur in der Idealtypenlehre gibt es eine Annäherung zwischen beiden Verfahren. Das Erkenntnisinteresse bleibt gleichwohl unterschiedlich: Im modelltheoretischen Ansatz wird nach zureichenden Gründen gesucht, oder es werden wenigstens durch Korrelation wahrscheinliche Zusammenhänge aufgedeckt Webers historisch-soziologische Betrachtungsweise versucht mehr historische Komplexität zu erhalten und führt daher meist zu weniger eindeutigen kausalen Zu-schreibungen, sondern eher zu einer konfigurativen Gesamtanalyse. Durkheim fahndete nach hochspeziellen Zusammenhängen zwischen Protestantismus und Selbstmordraten, Weber setzte sich mit dem viel globaleren Problem der Zusammenhänge von Kapitalismus und Protestantismus auseinander. Der erste Ansatz bevorzugt im Vergleich die Konkordanzmethode, die nach Übereinstimmungen sucht Weber war geradezu besessen von der Divergenzmethode und suchte immer neue abweichende Fälle zur Begründung der Entstehung von sozialen Phänomenen wie der Stadt, der Bürokratie oder des Kapitalismus. Das Modelldenken ist stärker an der Kontrolle und Beherrschung sozialer Prozesse interessiert, die bei gut angelegter Forschung möglich erscheint, ohne daß wir die ganze unendlich komplexe historisch-soziale Wirklichkeit sichten, die Max Weber umtrieb. Der typologische Ansatz hingegen birgt die Gefahr eines Dezisionismus, eines trotzigen aber beliebigen „Dennoch", angesichts grundsätzlich mehrerer Alternativen von Handlungsmöglichkeiten, die aufgrund der Analyse offenzustehen scheinen

Im Felde der makropolitischen Theorien finden sich die meist unbewußten Durkheimianer in den Theorien über Modelle rationaler Wahlentscheidung und kollektiven Verhaltens. Es besteht eine Tendenz zu einer der Varianten elitärer Demokratietheorien, die stark auf das Elitenverhalten abgestimmt sind. Die Weberianer hingegen sind weniger interessiert an Modellen, die Voraussagen zulassen. Durkheims Tradition spricht etwa aus einem Satz der bekanntesten der frühen ökonomischen Demokratietheorien von Anthony Downs: „Theoretische Modelle sollten hauptsächlich durch die Genauigkeit ihrer Voraussagen und weniger aufgrund der Wirklichkeitstreue ihrer Annahmen getestet werden." Weberianer würden stärker an der Wiedergabe der Wirklichkeit als an Prognosen zur Steuerung politischer Prozesse interessiert sein, selbst wenn die Idealtypen bei Weber keine schematische Generalisierung einer bloß deskriptiv erfaßten Wirklichkeit sein sollen. So groß die Unterschiede im einzelnen im empirisch-analytischen Mittelfeld — die hier dichotomisch vereinfacht wurden — auch sein mögen, beide Traditionen streben nach wertfreier Wissenschaft.

Dennoch haben die großen politisch-normativ motivierten Grundsatzdebatten der sechziger und siebziger Jahre Spuren auch in der Haltung von Wissenschaft zu Werten hinterlassen. Die unreflektierte Hinnahme einer kruden Vielzahl von Fakten, die bei den älteren Positivisten, Behavioralisten und Empiristen vorherrschte, ist durch die Rezeption der deduktiven Postulate des Kritischen Rationalismus in der Forschung vielfach überwunden worden. Analytische Sozialwissenschaftler anerkannten — parallel zum, wenn auch unabhängig vom Marxismus in seinen aufgeklärten Varianten —, daß Theorien nicht nur funktionale Konstrukte sind, um einen Weg ins Dickicht der verwirrenden Vielfalt von Fakten zu schlagen, sondern, daß sie auch „realistische Konzeptionen der Welt" darstellen können Die Modelltheoretiker in der Durkheim-Tradition waren offener für diese Konzeption von Theorie als andere. Aber auch die Weberianer — selbst wenn die Mehrheit nur die Makrosoziologie Webers übernahm, ohne sich um seine wissenschaftstheoretischen Schriften zu kümmern — verkannten zunehmend nicht, daß Theorien „Realität“ konstituieren. Die bloß instrumenteile Konzeption, daß Theorien austauschbare Instrumente der Analyse sind, die viele frühe Behavioralisten von der Philosophie des amerikanischen Pragmatismus übernommen hatten wurde unter dem Einfluß von Poppers Kritischem Rationalismus überwunden und kam als „gesunkenes Kulturgut“ auch in der Politikwissenschaft an, die sich wenig um die metatheoretischen Grundlagen ihres Tuns sorgte. Das Etikett der Linken für diesen mainstream, der als „positivistisch" rein negativ klassifiziert wurde, war unscharf. Die meisten induktiv und atheoretisch vorgehenden Behavioralisten stellten kaum Positivisten im strikten Sinn der neopositivistischen Schulen mit der Bandbreite von Ludwig Wittgenstein bis Karl Popper dar. Der atheoretische deskriptive Empirismus hatte einiges mit dem Neopositivismus gemeinsam, etwa die Verwerfung von Werturteilen in der im engeren Sinne wissenschaftlich aufgefaßten Analyse und die Orientierung an den Naturwissenschaften. In anderer Hinsicht gab es jedoch viele Unterschiede. Behavioralisten zielten weiter auf Verifikation von Thesen ab, während für die Kritischen Rationalisten eigentlich nur die Falsifikation möglich ist, da auf Dauer jede These ganz oder teilweise revisionsbedürftig erscheint.

Vor allem gegen diesen älteren Empirismus richtete sich die Revolte der Caucus-Bewegung innerhalb der American Political Science Association. Seit 1969 stellte sie Listen mit eigenen Kandidaten für die Führungsgremien der Politologen-Gesellschaft auf. Gleichwohl blieb die Vorherrschaft des Behavioralismus in Amerika ungebrochen, selbst wenn Anfang der achtziger Jahre nur 40— 50% der amerikanischen Politikwissenschaftler als eigentliche Behavioralisten eingestuft worden sind

Die Opposition gegen den Behavioralismus war nur durch die „postbehavioralistischen" Überzeugungen geeint. Es gab keine Dominanz eines Ansatzes in der amerikanischen Opposition, wie andererseits etwa der Marxismus in der oppositionellen Sozialwissenschaft Europas zu dominieren schien. Die Opposition umschloß Schulen vom ultra-konservativen Normativismus in der Tradition von Leo Strauss und Eric Voegelin. Nicht zufällig sind Emigranten aus deutschsprachigen Ländern die Herausforderer des induktiven Szientismus gewesen und haben den deduktiven Impetus des „teutonischen Wissenschaftsstils“ im Sinn der Typologie Galtungs nach Amerika gebracht Aber auch der Radikalismus von links sah Herbert Marcuse, Erich Fromm und andere Kontinentaleuropäer als Fackelträger, die eine andere Version des teutonischen Denkstils in die amerikanischen Sozialwissenschaften einführten.

Die Opposition verlor bald ihre prominentesten intellektuellen Führer wie Alan Wolfe und Theodore Lowi. Andere, wie Christian Bay, unterschieden sich zu wenig vom „mainstream“, um das Image eines neuen revolutionären Approaches nachhaltig zu formen. Manche Caucus-Wissenschaftler, die für eine „Neue Politische Wissenschaft“ eintraten, gaben zu, daß die Schlacht der amerikanischen Sozialwissenschaften gegen Metaphysik und Ideologie „zu große Siege“ zur Folge gehabt hatte Aber auf die Wiederanerkennung gemeinsamer Normen konnten sie sich kaum einigen. Neoaristoteliker, welche die Erziehung von Bürgern und die Wiederbelebung alter staatlicher Tugenden forderten, konnten kaum mit Neomarxisten und radikalen Normativisten der progressiven Tradition einen Nenner finden. Ersteren war vor allem das „strategische Denken“ der Linken bei der Durchsetzung der Normen — falls man sich auf sie hätte einigen können — ein Dorn im Auge. Beide Extreme waren geeint nur durch ein starkes Interesse an der Geschichte politischer Theorien. Die Wiederbelebung der Ideengeschichte und der politischen Philosophie selbst in Amerika — wo viele geneigt waren, Ideengeschichte als vorwissenschaftlich abzutun — war bemerkenswert. 10% aller Professoren der Politikwissenschaft in den wichtigsten Departments für Politikwissenschaft in Amerika sind auch nach neuerer Auszählung vor allem an politischer Philosophie und Geschichte der politischen Theorien interessiert Nur eine Minderheit der Politologen reihte sich selbst in die Kategorie „formale oder positive politische Theorie" ein, die in einigen einflußreichen Lehrbüchern der siebziger Jahre popularisiert wurde und von der American Political Science Association in ihren Führern durch die Studien-möglichkeiten des Faches Mitte der siebziger Jahre übernommen wurde.

Die behavioralistische Mehrheit wurde selbst in Amerika nicht in ihren Machtpositionen erschüttert. Als 1961 Robert Dahl ein „Epitaph für ein Denkmal zugunsten einer erfolgreichen Protestbewegung" setzte, meinte er damit noch die Behavioralisten, die selbst als Protestbewegung gegen die alte narrativ-historische und institutioneile Politikwissenschaft begonnen hatte. Aus revolutionären Sektierern in Chicago war binnen weniger Jahrzehnte „das Establishment“ geworden

Ähnliches widerfuhr der postbehavioralistischen Revolution, und die Wortführer der Behavioralisten konnten argumentieren wie John Wahlke in einer Präsidentenadresse vor der Amerikanischen Politologenvereinigung 1979, daß die Disziplin in ihrer Mehrheit noch keineswegs das vorbehavioralistische Stadium verlassen habe

Die postbehavioralistische Revolte wurde sogar schneller integriert als die einstige behavioralistische Protestbewegung, denn es gab keine simple Dichotomie, welche die beiden Lager trennte. Funktionalismus, Systemtheone und Kybernetik hatten in der Theorie schon ziemlich viel von dem Graben zugeschüttet, der die „Faktenhuber“ des Empirismus von den holistischen großen Theorien in der Tradition des Hegelschen oder Marx-sehen Denkens trennte. Die Präsidenten-adressen vor der American Political Science Association, vielfach Marksteine des Entwicklungstrends der politischen Theorie in der ganzen Welt, zeigen, daß einige der bekanntesten Theoretiker, von David Easton bis Karl Deutsch, eine vermittelnde Position einnahmen. Easton sah den Post-Behavioralismus in der „ehrwürdigen Tradition, die von so verschiedenen Quellen wie der klassischen griechischen Philosophie, Karl Marx, John Dewey und dem modernen Existenzialismus stammte" Systemtheorie und Kybernetik wurden auch das Band, das den Dialog zwischen den „bürgerlichen“ Sozialwissenschaften und dem Marxismus Ende der sechziger Jahre in sinnvoller Weise wieder aufnahm. Beide gingen von Ganzheitsbegriffen aus. Beide konnten sich notfalls auf den Satz einigen, daß das Ganze mehr als die Summe seiner Teile darstelle. Vieles an der postbehavioralistischen Kritik verpuffte als Kritik am Establishment — wie etwa bei Alan Wolfe Mit der Integration vieler Wortführer ins Establishment der großen Departments ging der Kritik der große Atem aus. Eine stark fragmentierte Wissenschaft wie die Politologie gab selbst den nicht Etablierten hinreichend Spielraum, eigene Netzwerke der Kommunikation zu errichten. Segmentierung und Integration verhinderten die Sprengung der alten Strukturen.

Das heißt nicht, daß der Theoriewandel schlicht durch Kooptation verhindert werden kann. Es gab auch intellektuelle Amalgamierung, welche die Disziplin wieder stärker zusammenführte. Nicht aus Zufall wurde Theodore Lowi, ein Caucus-Führer, in neueren Umfragen zu einem der Höchstrangierenden in der Prestigeskala amerikanischer Gelehrter des Faches. Er ist zugleich ein Pionier des Feldes, das diese Zusammenführung der Theoriesegmente ermöglichte: das Gebiet der Policy Analysis, in der deutschen Theorie als Politikfeldanalyse übersetzt.

III. Neuer Ansatz ohne Wandel des Paradigmas: Die Politikfeldanalyse

Innovationen werden häufig in ihrer Wirkung überschätzt. Kein Wunder, daß die in Mode gekommene Politikfeldanalyse als quasi-revolutionärer Paradigmawechsel ausgegeben und „mehr als eine inkrementale Modifizierung des Standards der Disziplin und der Ansätze des Faches“ genannt wurde, sondern ein „fundamentaler Wandel in der Orientierung, den Methoden, Verfahren und der ganzen Forschungsweise“ Für eine kontinuierliche Arbeit mit gesellschaftlichen Folgen scheint es allerdings günstiger, wenn keine überhöhten Erwartungen an einen neuen Ansatz herangetragen werden. Einen Paradigmawandel stellt die Politikfeldanalyse jedenfalls kaum dar. Wichtiger erscheint der Aspekt, daß die Politikfeldanalyse einen Beitrag zur Annäherung der bestehenden Paradigmen in einer Zeit des intellektuellen Patts leistet

Die Politikfeldanalyse hat einiges von dem alten Impetus des Behavioralismus erhalten, der verloren ging aufgrund der übertriebenen Neigung zur Quantifizierung, die vielfach in sozialer und politischer Irrelevanz der Ergebnisse endete. Harold Lasswell ist das wichtigste intellektuelle Verbindungsglied der progressiven Phase der behavioralistischen Revolte der dreißiger Jahre in Chicago und der postbehavioralistischen Revolte in den sechziger Jahren. Er ist zugleich der Pionier der „policy Sciences“, mit denen er lange vor der neuen Modewelle die Orientierung an praktischen Problemen und das Studium mit interdisziplinären Methoden forderte

Bescheidenerweise sollte man eingestehen, daß Policy Analysis nicht ein neues Paradigma, sondern ein neuer Ansatz (approach) in der Politikwissenschaft ist, der nach den politischen Variablen sucht, um sozialen Wandel zu bewirken. Dieser Neuansatz hat mehrere Vorteile auch für die Theoriebildung in der Politikwissenschaft: 1. Die großen Generaldebatten wurden überwunden zugunsten der Operationalisierung der allgemeinen Begriffe für eine gemeinsame Arbeit der Forscher ganz unterschiedlieher metatheoretischer Positionen. Neomarxisten haben die Zunft frustriert mit der Deduktion abstrakter Begriffe wie des „Staates" von noch abstrakteren Begriffen wie den Imperativen der „kapitalistischen Produktionsweise“. Sie haben ihre Krisenkonzeptionen nicht aufgegeben, aber sie überprüfen sie zunehmend an begrenzten Politikfeldern. Reformisten in der Zeit der sozialdemokratischen Vorherrschaft in Nordeuropa in den siebziger Jahren haben die Politikfeldanalyse gefördert, weil sie zeigen konnten, daß auch unter den angeblich unüberwindlichen Restriktionen des Kapitalismus durch aktive Reformpolitik sozialer Wandel generiert werden kann. Reformpolitik war für sie jedoch immer nur „die Kunst des Zweitbesten" die ständig durch wissenschaftliche Forschung und Beratung der Politiker zu verbessern war. Nach Abklingen der Reformeuphorie hat die Politikfeld-analyse ein realistischeres Bild der Planungsmöglichkeiten gezeichnet. Implementation wurde nun als ebenso wichtiger Forschungsgegenstand erkannt wie die Planung. Die verschiedenen Stadien eines policy cycle wurden analytisch herausgearbeitet und das Verhältnis von politischer Entscheidung (politics) und Politikergebnis (policy Output und policy outcome) wurde zum Gegenstand der Theoriebildung. Ältere Theorien hatten allzu stark den Entscheidungsaspekt betont und die Folgen kaum beachtet. 2. Mit der Hinwendung zu Planungs-und Steuerungsfragen wurden durch die Politik-beratung der Disziplin neue Möglichkeiten erschlossen. Politikfeldanalyse war insofern der wichtigste Beitrag zur Unterbrechung jener Entwicklung, die eine wachsende Bedeutungslosigkeit der Politikwissenschaft für den politischen Prozeß zur Folge hatte. Sie führte zugleich zu einer wachsenden Kenntnis der Absolventen des Faches in relevanten Bereichen administrativen Handelns und erschloß so neue Tätigkeitsgebiete für Politologen. In sozialistischen Ländern führte der neue Ansatz zu einem Abbau der Dogmatik und zu flexibleren Haltungen gegenüber den Herausforderungen der gesellschaftlichen Entwicklung. 3. Die vergleichende Politikwissenschaft empfing neue Impulse, denn die meisten Komparatisten praktizierten nicht was sie predigten Der Vergleich „Land nach Land" (country by country approach) dominierte, und wirklich transnationaler Vergleich unterblieb wegen der großen Unterschiede der Institutionen und Traditionen einzelner Länder. Leichter vergleichbar als die Entscheidungsprozesse erwiesen sich hingegen die Ergebnisse von Politik. Auch der Vergleich quer durch die Gesellschaftsformationen hindurch wurde damit gefördert und Politikfeldanalyse leistete somit einen indirekten Beitrag zur „friedlichen Koexistenz", über Normen und Institutionen, die in einer Gesellschaft verwirklicht werden sollen, können Wissenschaftler in Ost und West kaum einig werden. Über die Messung der Politikergebnisse bei Anerkennung der Unterschiede der verschiedenen Ideologien und Institutionen konnte man jedoch zur Neubewertung der Effizienz von Systemen kommen. Unterschiedliche ideologische Ziele wurden somit weniger in metaphysischen Debatten kritisiert, sondern es wurde gefragt, in welchem Ausmaß die Systeme ihren eigenen Ansprüchen, gemessen an harten Indikatoren, gerecht werden 4. Die Politikfeldanalyse überwand den alten Streit der Behavioralisten und der Institutionalisten um die Rolle der Institutionen oder der Verhaltensdispositionen. Politikwissenschaft drohte sich im behavioralistischen Paradigma in außerpolitische Variablen des individuellen Verhaltens und seiner sozialen Determinanten aufzulösen. Der Vergleich von Politikergebnissen lehrte jedoch, daß einige Länder — bei ähnlichen Ideologien und Parteizusammensetzungen der Regierungen — ganz unterschiedliche Ergebnisse erzielten. Im Vergleich sozialdemokratischer Ergebnisse von Politik der Länder Schweden, Bundesrepublik Deutschland und Österreich zeigte sich etwa, daß Institutionen (Föderalis") mus, unabhängige Bundesbank, fragmentiertes Machtsystem, extrem ausgebaute Verwaltungsgerichtsbarkeit) die Unterschiede erklären können. In anderen Fällen, etwa beim Vergleich der Wirtschaft in Polen und in der DDR, zeigt sich, daß auch die Institutionen der wirtschaftlichen Steuerung nicht so verschieden sind und daß in einigen Fällen historisch stabile Verhaltensdispositionen der Akteure und die politische Kultur die Varianz erklären.

Die Interaktion beider Variablen wurde theoretisch zunehmend erfaßt, etwa durch das Studium von Rechtstraditionen und Verrechtlichungsprozessen vor allem in den kontinentalen Ländern, die Politikstile langfristig beeinflussen. Vor allem wurde damit die unreflektierte Übertragung bestimmter Politikinstrumente in Theodore Lowis Typologien für die Theoriebildung in Europa abgebaut Politikfeldanalyse konnte so vielfach zu einem Neoinstitutionalismus zurückführen. Traditionalisten und Avantgardisten des Faches hatten wieder gemeinsame Gesprächsgegenstände, nachdem sie jahrelang in Subsystemen abgeschottet ihren Präferenzen nachgegangen waren.

Jeder neue Ansatz neigt zur Übertreibung des Neuen. So hat Lowi postuliert, daß die Politikfeldanalyse das „Pferd wieder vor den Wagen gespannt habe“, nachdem es ihm lange nach-traben mußte. Seine zugespitzte These lautet: „Politikergebnis determiniert den politischen Entscheidungsprozeß“ (policies determine politics) Das wichtige Konzept der Politik-arenen, welche jeweils ganz unterschiedliche Konflikt-und Entscheidungsstrukturen prägen, wurde dadurch vielfach nach den amerikanischen Erfahrungen zu stark verallgemeinert. Immerhin aber wurden nicht mehr einfach Institutionen nebeneinander gestellt und verglichen. In europäischen Ländern mit alten bürokratischen Traditionen und schwächeren Parlamenten als es der amerikanische Kongreß darstellt, konnten vergleichende Forschungen zeigen, daß Policies weit weni-ger den Entscheidungsprozeß determinieren als in Amerika. Wo neokorporative Entscheidungshilfestrukturen mit Unterstützung des Staates entstanden, war ebenfalls weniger Raum für eine autonome Entwicklung bestimmter Politikarenen als in Amerika

Nicht alle Theorielücken konnten durch die neuen Ansätze geschlossen werden. Einige Unterschiede der Ansätze von Durkheim und Weber setzen sich fort. Typologien von Politikfeldern führten eher zum Weberschen Vorgehen als zur Durkheimschen Modellbildung Für Länder, Regionen und sogar für Gemeinden wurden unterschiedliche Ebenen herausgearbeitet, die ungleich komplexere Theorien erlaubten als die des alten Institutionalismus Verdienst dieses Ansatzes war es auch, daß Policy nicht als sich selbst definierendes Phänomen angesehen wurde: „Sie ist eine analytische Kategorie, deren Inhalt mehr vom Analytiker als vom Entscheidungsprozeß" definiert wird

5. Vielleicht waren die Verdienste in der Strukturierung der Realität noch geringer als in der Hinwendung zur Wertfrage mit empirischen Methoden. Selbst der Kritische Rationalismus hatte ja nie ausgeschlossen, daß Wertdebatten in der Wissenschaft geführt werden können, auch wenn Werte nicht wissenschaftlich ausweisbar sind. Die Betonung der Politikberatung erzwang nun eine Neuauflage der Werteproblematik Ein erster Schritt ist dabei die Analyse, ob ein Wertsystem nur instrumentell benutzt wird oder Teil eines wertorientierten Systems — ausgedrückt in Ideologien — darstellt. Die Verallgemeinerungsfähigkeit bestimmter Werte, auf die sich Planer und Politiker berufen, wurde ebenfalls analytisch angegangen Nicht-behavioralistische Ansätze wie Hermeneutik undDiskursmodelle wurden somit nicht mehr als vorwissenschaftliche Ideologie abgetan.

Der Politikfeldanalyse ist jedoch nicht damit gedient, daß man sie magisch überhöht wie in den oben angeführten Zitaten. Policy Analysis ist ebensosehr das Produkt der latent progressiven Tendenzen älterer Schulen, wie sie auch dem frühen Behavioralismus zugrunde lagen, ehe diese auf dem Weg von Chicago (Illinois) nach Ann Arbor (Michigan) (um die Verschiebung der Hochburgen anzudeuten) abhanden kamen, wie auch ein Resultat der postbehavioralistischen Revolte. Beide Strömungen sprachen viel von Praxis, konnten aber Theorie und Anwendungsorientierung nur bedingt realisieren. Die erste Strömung manövrierte sich ins szientistische Abseits, die zweite vielfach ins revolutionär-strategische Aus. Den subjektiven Indikatoren, welche die Behavioralisten überbetonen, wurden die objektiven Indikatoren hinzugefügt, die behavioralistischen Errungenschaften aber wurden beibehalten und für eine Analyse der Satisfaktion der Bürger benutzt. Das heißt, es wurde nicht hur gemessen, welche Ergebnisse eine bestimmte Politik hatte, sondern nach Planungund Implementation kam die Evaluation, und diese mußte sich unter anderem auch an der Zufriedenheit der Bürger mit diesen Ergebnissen orientieren. Auch in einem weiteren Punkt wäre es unangebracht, die Politikfeldanalyse zu einem neuen Paradigma hochzustilisieren und mit dem Behavioralismus zu konfrontieren. Letzterer wird häufig mit einem Vorurteil zugunsten quantitativer Methoden identifiziert. Der verbreitete Umkehrschluß, jeden Quantifizierer einen Behavioralisten zu nennen, ist jedoch keineswegs gerechtfertigt. Und auch Politikfeldanalyse, soweit sie vergleichend arbeitet, ist auf die quantitativen Methoden angewiesen. Dies wurde anfangs recht unreflektiert mit Budget-daten getan, weil diese am leichtesten zu sammeln waren. Von F. Pryor bis H. Wilensky haben ökonomisch orientierte Sozialwissenschaftler daher politische Faktoren vielfach vernachlässigt und bestimmte Stadien der Effizienz schlicht mit Entwicklungsstadien der Ökonomie gleichgesetzt Wenn auch Neo36) marxisten zunehmend Politikfeldanalyse betreiben, droht der ökonomische Determinismus unter anderen Vorzeichen als bei den genannten Autoren in ähnlicher Weise wieder als Gefahr. Im ganzen jedoch hat die Politikfeldanalyse in ihrer Theoriebildung einen guten Mittelweg zwischen dem ökonomischen Determinismus einiger Modelltheoretiker und dem aktionistischen Voluntarismus einiger politischer Reformenthusiasten gesteuert. Politikfeldanalyse als breitester und interessantester neuer Trend der politischen Theoriebildung zeigt somit, daß alle Erklärungsmuster, die den Streit von Theorien als Nullsummenspiel und reinen Verdrängungswettbewerb auffassen, einseitig sind.

Fussnoten

Fußnoten

  1. J. E. Trent, Institutional Development, in: W. G. Andrews (Ed.), International Handbook of Political Science, Westport (Conn.) — Greenwood 1982, S. 34— 46.

  2. D. Easton, Political Science in the United States, rast and Present 1983, erscheint demnächst in: International Political Science Review, 1984.

  3. J. Galtung, Struktur, Kultur und intellektueller Itlin: Leviathan, (1983) 3, S. 303— 338; ders., Menodology and Ideology, Kopenhagen 1977.

  4. Th. Kuhn, The Structure of Scientific Revolutions, Chicago (111.) 1962.

  5. Vgl. K. von Beyme, Die politischen Theorien der Gegenwart, München 1984-', S. 272 ff.

  6. J. Richardson (Ed.), Policy Styles in Western Europe, London 1982.

  7. H. Hamon/P. Rotman, Les intellocrates. Expeditionen haute intelligentsia, Paris 1981, S. 29.

  8. J. Leca, La Science politique dans le champ intellectuel francais, in: Revue francaise de Science politique, (1982), S. 653— 678; P. Favre, France, in: W. G. Andrews (Ed.), (Anm. 1), S. 154— 168.

  9. M. Haas/Th. L. Becker, The Behavioral Revolution and After, in: M. Haas/H. S. Kariel (Eds.), AP proaches to the Study of Political Science, Scranton (Penn.) 1970, S. 479.

  10. J. G. Gunnell, Political Theory: The Evolution o a Sub-Field, in: A. W. Finifter (Ed.), Political Science. The State of the Discipline. Washington (DC) 198 • S. 28 f.

  11. Die Folgen dieser Dichotomie für die Parteien-theorie sind näher ausgeführt in: K. von Beyme, Theoretische Probleme der Parteienforschung, in: PVS 24 (1983) 3. S. 241— 252.

  12. A Downs, An Economical Theory of Democracy, New York 1957, S. 22.

  13. J. G. Gunnell, Political Science and the Theory of Action. Prolegomena, in: Political Theory, (1979), S. 81.

  14. Vgl. J. W. Falter, Der . Positivismusstreit'in der amerikanischen Politikwissenschaft, Opladen 1982, S. 196.

  15. Ebd„ S. 61.

  16. H. S. Kariel, Creating Political Reality, in: American Political Science Review, (1970), S. 1089.

  17. Vgl. K. von Beyme, Die Rolle der Theoriegeschichte in der amerikanischen Politikwissenschaft, in: U. Bermbach (Hrsg.), Theoriegeschichte, Opladen 1984 (im Erscheinen).

  18. W. H. Riker/P. C. Ordeshook, An Introduction to Positive Political Theory, Englewood Cliffs 1973, S. XI.

  19. R. A Dahl, The Behavioral Approach in Political science, in: American Political Science Review, 1961), S. 763— 772, sowie in: J. A Gould/V. V. Thursby (Eds.), Contemporary Political Thought, New York 1969, S. 124.

  20. J. C. Wahlke, Pre-Behavioralism in Political science, in: American Political Science Review, (1979), S. 9— 31.

  21. D. Easton, The New Revolution in Political Science, in: American Political Science Review, (1969), S. 1059; K. Deutsch, On Political Theory and Political Action, in: American Political Science Review, (1971), S. 11— 27.

  22. A. Wolfe, The Professional Mystique, in: M. Surkin/A. Wolfe (Eds.), An End to Political Science, New York 1970, S. 288— 309.

  23. G. D. Brewer/P.de Leon, The Foundations of Policy Analysis, Homewood (111.) 1983, S. 6.

  24. D. Lerner/H. D. Lasswell (Eds), The Policy Sciences, Stanford (Cal.) 1951, S. 8 ff.

  25. Chr. Graf von Krockow, Reform als politisches Prinzip, München 1976, S. 119ff.

  26. L. C. Mayer, Practicing What We Preach. Com-Parative Politics in the 1980s, in: Comparative Political Studies, (1983), S. 173— 194.

  27. Vgl K. von Beyme, Economics and Politics Mithin Socialist Systems. A Comparative and Developmental Approach, New York 1982, S. 12.

  28. R. Mayntz, The Conditions of Effective Public Policy. A New Challenge for Policy Analysis, in: Policy and Politics, (1983), S. 131.

  29. Th. Lowi, Public Policy and Bureaucracy in the United States and France, in: D. E. Ashford (Ed.), Comparing Public Policies. New Concepts and Methods, Beverly Hills 1978, S. 192.

  30. K. von Beyme, Neo-Corporatism. A New Nut in an Old Shell?, in: International Political Science Review, (1983), S. 173— 196.

  31. G. D. Greenberg et al, Developing Public Policy Theory, in: American Political Science Review, (1977), S. 1543.

  32. F. Kjellberg, Do Policies (Really) Determine Politics? And Eventually How?, in: Policy Studies Journal, (1977), S. 554— 570.

  33. H. Heclo, Policy Analysis, in: British Journal of Political Science, (1972), S. 85.

  34. J. G. Gunnell (Anm. 10), S. 95.

  35. F. Fis'cher, Politics, Values and Public Policy. The Problem of Methodology, Boulder (Col.) 1980, S. 190.

  36. Vgl. zur Kritik dieser Ansicht: K. von Beyme, Do Parties Matter? The Impact of Parties on the Key Decisions in the Political System: Government and Opposition, 1984, S. 5— 29.

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Klaus von Beyme, Dr. phil., geb. 1934; Professor für Politikwissenschaft an der Universität Heidelberg; 1973— 1975 Präsident der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft; 1982— 1985 Präsident der International Political Science Association. Veröffentlichungen u. a.: Die Parlamentarischen Regierungssysteme in Europa, München 19732, Die politische Elite in der Bundesrepublik Deutschland, München 19742; Ökonomie und Politik im Sozialismus, München 19772 Interessengruppen in der Demokratie, München 19805, Das politische System der Bundesrepublik Deutschland, München 19813; Parteien in westlichen Demokratien, München 1982; Die politischen Theorien der Gegenwart, München 19845.