Zum Beitrag von Helmut L Müller, Der „dritte Weg“ als deutsche Gesellschaftsidee, B 27/84, S. 27— 38
Helmut L Müllers Abriß „Der . dritte Weg* als deutsche Gesellschaftsidee" enthält an mehreren Stellen Verkürzungen und Vereinfachungen. Sie laufen darauf hinaus:
I. „Gegen dieses Meisterstück von Staat“, rief Oswald Spengler 1919 aus — und er meinte das halb-absolutistische Zweite Deutsche Reich —, gegen „unsre echteste und eigenste Schöpfung, so eigen, daß kein anderes Volk es zu verstehen und nachzuahmen vermochte“, sei in der Novemberrevolution „das englische Heer Deutschlands“ angerannt. Aus seiner Spielart der Dolchstoßlegende konnte es für ihn nur eine Folgerung geben: „Wir brauchen die Befreiung von den Formen der englisch-französischen Demokratie.“ 1)
Die Kompensationsideologie deutscher obrigkeitsstaatlicher „Besonderheit“ gegenüber den demokratischen Ländern Westeuropas hatte sich vor 1918 in der „verspäteten Nation“ (Helmuth Plessner) zum beherrschenden Selbstverständnis, ja Lebensgefühl entwickelt 2). Auch nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs wurde gegen Liberalismus, Parlamentarismus und Parteiendemokratie ein alternativer „zweiter Weg“ propagiert, der für Gemeinschaft, Führertum und Ständestaat warb. Ein antikapitalistischer Affekt (sei es im Sinne ständischer Bändigung der industriellen Dynamik, sei es in der Kontrastierung deutscher „Helden“ mit englischen „Händlern“ ä la Sombart) mochte bei den antiliberalen Ressentiments durchaus mitschwingen. Ausschlaggebend blieb aber stets das Ziel, die eingeleitete Demokratisierung der Politik wieder rückgängig zu machen.
Auch Spanns Entwurf des Ständestaats huldigte dem Führerprinzip 3); der Führer aber — und das entsprach einer „völkischen“ Grundüberzeugung während der Weimarer Republik — „macht sich selbst, indem er die Geschichte seines Volkes begreift, indem er sich als Führer weiß und will“
II. Demgegenüber kann man die Münchener Räterepublik, wie Müller dies tut, durchaus als Beispiel für einen angestrebten „. dritten Weg* zwischen bolschewistischem Rätestaat und bürgerlich-parlamentarischer Demokratie“ heranziehen. Und Kurt Eisner, bayerischer Ministerpräsident nach dem 9. November 1918, war auch in der Tat Literat. Er war aber zugleich, nach Ar-thur Rosenbergs wohlbegründetem Urteil, der „einzige schöpferische Staatsmann“, den die Novemberrevolution hervorgebracht hatte
Erst nach Eisners Ermordung durch einen rechten Fanatiker am 21. Februar 1919 führte eine „utopische Welle“ (Rosenberg) zur offiziellen Ausrufung der Räterepublik und — im Gegenzug von Seiten der Reichsregierung — zum Einmarsch preußischer und württembergischer Freikorps in Bayern. Verhandlungsversuche der Räteregierung unter Leitung von Ernst Toller wurden zurückgewiesen. Über die Erschießung von zehn bürgerlichen Geiseln spaltete sich die Regierung. Diesen Morden folgte nach der Eroberung Münchens „ein . weißer Schrecken', wie ihn noch keine deutsche Stadt erlebt hatte“
Militärs, die sich vor Gericht wegen der willkürlichen Erschießungen verantworten sollten, beriefen sich auf Gustav Noskes Schießbefehl vom 9. März 1919: „Jede Person, die mit den Waffen in der Hand gegen Regierungstruppen kämpfend angetroffen wird, ist sofort zu erschießen.“
Noske selbst erklärte noch 1926 vor Gericht, sein Be
Noske selbst erklärte noch 1926 vor Gericht, sein Befehl sei „in der damaligen Zeit eine Selbstverständlichkeit gewesen ... Entscheidend war der Effekt; die Methode nebensächlich ... Er habe... nur eine einzige Anweisung gegeben, nämlich so rasch wie möglich der Räteherrschaft in München ein Ende zu machen“ 8).
Die „. anarchistische* Dichterrepublik“ war nicht, wie Müller behauptet, einfach gescheitert. Sie war gezielt und mit Gewalt zerschlagen worden. Und auch Müllers nachfolgende Aussage: „Den Revolutionären mangelte es an politischer Erfahrung. Ihre utopischen Entwürfe ließen sich mit der politischen Wirklichkeit nicht in Einklang bringen“ verschleiert eher die tatsächlichen Vorgänge und ihre grundsätzliche Bedeutung, als daß sie ihnen gerecht würde. Wenn sich eines an den Ereignissen ablesen läßt, dann dies: Das Konzept des „dritten Weges“ visiert eine Perspektive an, deren Verwirklichung materielle und ideologische Interessen gefährden würde. Deshalb löst es schon im Ansatz Widerstand aus.
Solcher Widerstand kann im In-wie im Ausland entstehen. Für die Phase der Besatzungsherrschaft nach 1945 ist dieser Vorgang bündig zusammengefaßt worden: „Als Folge der Lernerfahrung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts tendierten fast alle gesellschaftlichen Kräfte Westdeutschlands zu einer stark sozialen und demokratischen Organisation der Wirtschaft; daß sich diese Modelle nicht durchgesetzt haben, ist auch (aber nicht exklusiv) auf die Eingriffe der USA zurückzuführen. Sie leisteten Widerstand, wo Vergesellschaftungen vorgenommen oder ermöglicht werden sollten; sie trugen dazu bei, daß sich in Westdeutschland eine konservative Version des Kapitalismus entwickelte. Die amerikanische Militärregierung wußte sich dabei im Einklang mit den allgemeinen Interessen der amerikanischen Wirtschaft, die auf die Wiederbelebung und Durchsetzung privatkapitalistischer Strukturen in Westeuropa gerichtet waren.“ 9)
Müller deutet an, es habe an der größeren „Konkretheit“ neoliberaler Konzepte gelegen, wenn Ansätze zu einer Verbindung von politischer und wirtschaftlicher Demokratie, jedoch „ohne klare Konturen“ — wie der „dritte Weg“ Hans Werner Richters und Alfred Anderschs — sich nicht durchsetzen konnten. Tatsächlich waren es die USA, die eine Politik der „Präjudizierung durch Verbot aller Präjudizierungen“ (Hartwich) verfolgten, indem sie darauf beharrten, Entscheidungen über eine Änderung der Wirtschafts-und Sozialordnung dürften nicht in einzelnen Ländern, sondern erst von einer gewählten deutschen Regierung getroffen werden. Damit blockten sie Ansätze zu einem demokratischen Sozialismus — etwa in Hessen und Nordrhein-Westfalen — ab, die unter breiter öffentlicher Beteiligung erheblich weiter gediehen wa-ren als entsprechende Forderungen im „Ruf“ oder in den „Frankfurter Heften“, auf die Müllers Skizze sich beschränkt. Als Adenauer seine Politik, „die von großen Mehrheiten getragen wurde“ (Müller), einleitete, waren wesentliche Weichen bereits gestellt.
III. Vor mehr als einem Jahrzehnt hat Johan Galtung auf den Umstand hingewiesen, daß „Strukturen und Entscheidungen, die im . Mutterland des Liberalismus*“ — den USA — „oder im . Vaterland des Sozialismus*“ — der Sowjetunion — „entwickelt wurden, aufgrund ihres Herkunftsortes, nicht kraft ihrer Substanz“ den Charakter „beispielhafte(r) Modelle“ annehmen können
Gegen die „Lagermentalität“ der beiden Macht-blöcke beginnt die Perspektive einer europäischen „Querfront“
Diese Querfront hat eingesetzt innerhalb der PCI, bei den Theoretikern des „Prager Frühlings“
1968 und in Jugoslawien (dort insbesondere — aber nicht nur — bei der „Praxis“ -Gruppe). Sie verläuft heute bis zu den linken Flügeln euro-sozialistischer und -sozialdemokratischer Parteien, beispielsweise in Holland und Spanien; sie schließt grüne und „alternative“ Parteien sowie große Teile der europäischen Friedensbewegung ein. Die Debatten sind, wie nicht anders zu erwarten, noch tastend und uneinheitlich; aber es sind nicht mehr lediglich die Debatten einzelner Intellektueller, und es sind nicht nur, wie Müller meint, die Debatten deutscher Intellektueller unter dem Vorzeichen der „deutschen Frage“.
Das heißt nicht, daß die gegenwärtige und künftige Rolle Deutschlands in Europa sich aus solchen Erörterungen ausklammern ließe. Es heißt ebensowenig, daß man sich in diesen Diskussionen keine Rechenschaft über die besondere Bedeutung der Unterdrückung im „real existierenden“ Sozialismus ablegte. Es heißt jedoch, daß man sich dort nicht länger mit der bloßen Beschwörung der „wehrhaften Überzeugungsbindung zwischen den westeuropäischen Demokratien und der amerikanischen Demokratie“ (Müller) angesichts einer Situation zufriedengibt, in der sich die außenpolitische Frontstellung zur „kritischen Masse“ zuzuspitzen droht und gesellschaftliche Fortschritte ohne Emanzipation von der Kernwaffendrohung immer weniger denkbar erscheinen
Rainer Eisfeld (Professor für Politikwissenschaft an der Universität Osnabrück) Daß die knappe Darstellung eines komplexen Themas immer auch Lücken aufweist, ist eine Binsenweisheit. Insofern liefert Eisfeld in seinem Kommentar durchaus zusätzliche Informationen. Zweifelhaft ist allerdings, ob man auch die mit diesen Ergänzungen verbundenen Wertungen akzeptieren kann. Eisfeld sagt es zwar nicht explizit, aber ihm geht es im Kern darum, die unter dem vagen Vorzeichen „dritter Weg" vorgetragenen Vorstellungen als nicht nur realistisch, sondern auch als wünschenswert darzustellen. Demgegenüber vertrete ich in meinem Aufsatz die These, daß der Platz der Bundesrepublik im Westen ist und daß ihre historische Crundentscheidung für die politische Demokratie westlichen Musters nicht durch die problematische Propagierung eines „dritten Weges" in Frage gestellt werden darf. Dies schließt im übrigen den Versuch, die bestehende Demokratie in Politik und Wirtschaft noch tiefer zu verankern, nicht aus.
1. Mir scheint auch, daß man zwischen der aus der obrigkeitsstaatlichen Tradition stammenden Ideologie eines „deutschen Sonderweges“ und der eher auf der Linken diskutierten Idee eines „dritten Weges“ deutlicher trennen sollte. Karl Dietrich Bracher
Die Frage ist freilich, ob sich die vielfältigen Vorstellungen eines „dritten Weges“ in jedem Falle mit den Werten und Prinzipien der westlichen Demokratie in Einklang bringen lassen. Nur unter diesem Aspekt kann man den hier kritisierten Zusammenhang zwischen . rechtem* „Sonderweg“ und . linkem* „dritten Weg“ überhaupt herstellen. Dies ist der entscheidende Punkt;
darauf aber bleibt Eisfeld jede Antwort schuldig.
Die Verfechter eines „dritten Weges“ treten zwar in der Regel mit dem Anspruch auf, „mehr Demokratie“ verwirklichen zu wollen, doch läuft die Verwirklichung ihrer Ideen keineswegs immer darauf hinaus. Richard Löwenthal
2. Zugegeben, bei der Bayerischen Revolution 1918/19 waren für mich nicht so sehr die real-politischen Vorgänge, sondern stärker die literarhistorischen Aspekte der Ereignisse von Interesse. Es ist unbestritten, daß die intellektuellen Revolutionäre Eisner, Toller, Mühsam und Landauer auf massive Gegenwehr konservativer und reaktionärer Kräfte stießen, wenngleich man Eisfelds Darstellung darin deutlich differenzieren müßte. Aber bezeichnenderweise schreibt Eisfeld unter Verweis auf Arthur Rosenberg selbst, daß eine „utopische Welle“ zur Gründung der Münchner Räterepublik geführt habe. Ich bleibe bei der These, daß die „anarchistische Dichterrepublik“ unter anderem deshalb scheiterte, weil das Handeln ihrer Protagonisten von utopischen Vorstellungen geleitet und vom Mangel an politischer Erfahrung auf problematische Weise mitbestimmt wurde. Hier wird gar nichts „verschleiert“, sondern im Gegenteil ein wesentlicher Gesichtspunkt angesprochen. Dies zeigt ein Blick in die Texte der an der Revolution beteiligten Schriftsteller, dies bestätigt die Durchsicht der Forschungsliteratur über diesen Gegenstand
Zu Eisfelds Ausführungen über die Jahre 1945 bis 1949 müßte man die ausführliche Kontroverse „Restauration“ versus „Neubeginn“ aufrollen. Hierzu nur eine Bemerkung: Ich kann nicht sehen, daß die Aussage falsch ist, die Verfechter der „sozialen Marktwirtschaft“ hätten sich damals im Gegensatz zu den Wortführern eines „dritten Weges“ durchgesetzt, weil sie die drängenden wirtschaftlichen und sozialen Probleme rasch und erfolgreich anpackten. Gewiß lagen sie damit auf einer Linie vor allem mit der amerikanischen Besatzungsmacht, aber auch — wie an den Wahlergebnissen abzulesen ist — mit der großen Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung. 3. Ich behaupte nicht, daß die Suche nach einem „dritten Weg“ eine rein innerdeutsche Debatte sei. Dies zeigt schon der Verweis auf die Position Peter Benders. Tatsächlich gibt es heute in ganz Europa Bestrebungen, sich der Konfrontation zwischen den beiden Supermächten und den großen Blöcken zu entziehen. Nur sollte man das Gewicht dieser „dritten Kraft“ auch nicht überbewerten. Machte man die Probe aufs Exempel, würde sich rasch erweisen, daß beispielsweise die große Mehrzahl der Bundesbürger an der klaren Westorientierung der Bundesrepublik festhält.
Ich bin auch der Auffassung, daß sich die Europäer gegen die wachsenden Tendenzen zur Hochrüstung in Ost und West und zur Konfrontation zwischen den beiden Supermächten zur Wehr setzen sollten. Allerdings scheint es mir verfehlt, hier „deutsche Interessen“ oder „europäische Interessen“ zu betrachten, weil die Westeuropäer in der nach wie vor grundlegenden Auseinandersetzung zwischen westlicher Demokratie und kommunistischer Diktatur, die die Substanz des Ost-West-Gegensatzes ausmacht, nicht neutral, sondern Partei sind: Sie gehören eindeutig zum Westen. Diese Position begründete jüngst überzeugend Richard Löwenthal in einer Debatte mit Peter Glotz (Vgl. Richard Löwenthal: Westbindung und Identität der Deutschen, in: Die Neue Gesellschaft 5, 1984, S. 437— 440). Im übrigen geht es um die „werthafte Überzeugungsbindung“ zwischen den westeuropäischen Demokratien und der amerikanischen Demokratie. Hier hat sich ein Druckfehler eingeschlichen.
Helmut L. Müller, (Außenpolitischer Redakteur der „Salzburger Nachrichten")