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Neue Konzepte der Kommunismusforschung | APuZ 31/1984 | bpb.de

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APuZ 31/1984 Artikel 1 Die nachrevolutionäre Ära in der Sowjetunion und in China Entwicklung und Stand der Totalitarismusforschung Neue Konzepte der Kommunismusforschung

Neue Konzepte der Kommunismusforschung

Gert-Joachim Glaeßner

/ 31 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

In den letzten Jahren wird erneut darüber debattiert, mit welchen Methoden und welchen Fragestellungen die Länder des Sozialismus sowjetischen Typs zu analysieren seien. Da sie heute keinen kohärenten Block mehr darstellen, stellt sich die Frage, ob die zu beobachtende Fragmentierung und Diversifizierung des Kommunismus mit den alten Makro-konzepten noch hinreichend genau beschrieben werden kann. 1. Der Totalitarismusansatz der fünfziger Jahre wurde in den sechziger und siebziger Jahren durch eine Vielzahl „modernerer“ Ansätze abgelöst, die zugleich aber auch beanspruchten, allgemein gültige Aussagen über alle sozialistischen Länder machen zu können. Diese wurden als Modernisierungsregime oder als Industriegesellschaften beschrieben und es wurde eine Anpassung und Einpassung dieser Systeme an die Bedingungen einer modernen industriellen Gesellschaft konstatiert. 2. Die mangelnde Prognosekraft dieser Theorie führte zu neuen Sichtweisen und Fragestellungen der Probleme wie Bürokratisierung, Aufkommen und Verhalten verschiedener Interessengruppen, Fragen der politischen Kultur und neue Konflikte, die sich aus dem rapiden sozialen und gesellschaftlichen Wandel ergeben. 3. In jüngster Zeit wird immer mehr die Notwendigkeit einer vergleichenden Untersuchung der Probleme betont, die für alle hochindustriellen Gesellschaften an Brisanz gewinnen, für deren Lösung die verschiedenen gesellschaftlichen Systeme aber unterschiedliche Lösungen anbieten. Es wäre die Aufgabe der Forschung, die neuen und alten Konfliktlagen der sozialistischen Länder unter dem Aspekt ihrer sozialen Entstehungsursachen und ihrer politischen Bewältigung in einer vergleichenden Sicht zu untersuchen.

I. Analysekonzepte der siebziger Jahre

Was ist ein kommunistisches System? Diese Frage stellt Stephen White in einem Artikel in der Zeitschrift „Studies in Comparative Communism" im Jahre 1983. Eine erstaunliche Frage nach etwa vierzig Jahren systematischer Kommunismusforschung. Vor zwanzig oder dreißig Jahren sei es — so Stephen White — noch relativ einfach gewesen, kommunistische Systeme zu identifizieren: Sie repräsentierten das sowjetische Modell einer Parteiherrschaft leninistischen Typs, mit einer marxistisch-leninistischen Partei als Führungskraft, zentralisierter Wirtschaft und einer verbindlichen Ideologie.

Heute ist es wesentlich schwieriger, klare und eindeutige Aussagen zu machen: Die kommunistischen Staaten stellen keinen kohärenten Block mehr dar. Die „Risse im Monolith", die Karl W. Deutsch zu Beginn der sechziger Jahre bemerkte, haben sich vertieft. Und zweitens hat sich durch die Ausbreitung kommunistischer und sozialistischer Regime und Befreiungsbewegungen in der „Dritten Welt“ das Erscheinungsbild nicht unerheblich geändert. „Die zunehmende Fragmentierung und Diversifizierung der kommunistischen Welt hat es in der Tat sehr schwer gemacht, genau zu bestimmen, was ein kommunistisches oder marxistisch-leninistisches System genannt werden kann."

Mit dieser Entwicklung korrespondiert eine Fragmentierung und Diversifizierung der theoretischen Konzepte der Kommunismus-analyse. Das vorherrschende Analysekonzept der vierziger und fünfziger Jahre, der Totalitarismusansatz, wurde abgelöst durch eine Vielzahl „modernerer" Ansätze, die den Versuch unternehmen, die Weiterentwicklung in den Sozialwissenschaften für die Kommunismusanalyse zu nutzen.

Ausgangspunkt der Abkehr vom Totalitarismuskonzept waren nicht nur die zu Beginn der sechziger Jahre wachsende Kritik an seiner politischen Funktion, probates Mittel der Systemauseinandersetzung in der Zeit des Kalten Krieges zu sein, sondern vor allem seine analytischen Mängel. Diese zeigten sich u. a. in seiner Unfähigkeit, die dynamischen Prozesse gesellschaftlicher und politischer Veränderungen in den sowjetsozialistischen Staaten zu begreifen, stellte es doch ein Analysekonzept dar, das sich im wesentlichen auf die Beschreibung statischer, als unveränderlich und systemnotwendig angesehener Elemente des politischen und ökonomischen Systems beschränkte (wie bei Carl Joachim Friedrich oder im Zentralverwaltungswirtschaftsansatz) und „Bewegung“ nur als permanenten Prozeß der Verwirklichung der totalitären Ziele einer Partei begriff, die, wie es Hannah Arendt formulierte sich anschickt, die vermeintlichen Gesetze der Natur oder der Gesellschaft mit dem Mittel des Terrors zu exekutieren. 1. Phasen der Kommunismusanalyse Nach der von der Mehrzahl der Kommunismusforscher vollzogenen Aufgabe oder doch zumindest Relativierung des Totalitarismuskonzepts ist die Forschung in der Bundesrepublik und den angelsächsischen Ländern verschiedene Wege gegangen; das betrifft sowohl die Bestimmung des Forschungsgegenstandes als auch die angewandten Methoden. Während der Schwerpunkt in der Bundesrepublik weiter auf dem Feld der „area studies", d. h. auf Untersuchungen über einzelne gesellschaftliche Systeme, z. B.der Sowjetunion oder der DDR, lag und eine oft beklagte Isolierung von Spezialdisziplinen wie der „Osteuropa-Forschung" oder der „DDR-Forschung" von den jeweiligen „Mutterwissenschaften" zu verzeichnen ist, liegt in den angelsächsischen Ländern das Schwergewicht auf dem Vergleich sozialistischer Systeme („comparative communism"), da nach verbreiteter Ansicht nur so der Weg zu einer allgemeinen Theorie sozialistischer Systeme offen-gehalten werde. Es ist kein Zufall, daß viele unter dem Etikett „Vergleichender Kommunismus“ firmierende Sammelwerke sich bei näherem Hinsehen als Zusammenstellungen von einzelnen Länderbeiträgen erweisen, verfaßt von Autoren, die über besonders inten-sive Kenntnisse einer einzelnen Region verfügen Einen weiteren Unterschied in der Entwicklung gilt es festzuhalten: Die Theorie-bildung, insbesondere der die nordamerikanische Sozialwissenschaft prägende Hang zur Modellbildung, ist in der Forschung über die sozialistischen Systeme im wesentlichen nachvollzogen, zum Teil von ihr mitbestimmt worden, während sie in der Kommunismus-forschung der Bundesrepublik nicht diese große Rolle spielt In diesem Zusammenhang lassen sich vier verschiedene, sich überlappende Phasen der Modellbildung ausmachen. 1. Seit den späten dreißiger Jahren herrschte der Totalitarismusansatz vor, der von Anfang an ein ideologisches und analytisches Konzept zugleich gewesen ist.

2. Mitte der fünfziger Jahre, vor allem beeinflußt durch die Arbeiten von Barrington Moore, hat die Vorstellung an Bedeutung gewonnen, daß traditionelle und technokratische Impulse, die aus der Gesellschaft kommen bzw. ihre Ursache in der Entwicklung der Produktivkräfte haben, mit der revolutionären Ideologie kommunistischer Parteien in Konflikt geraten und zu einer relativ offenen Entwicklung dieser Gesellschaftssysteme führen können.

3. Die Entdeckung nationaler „Kommunismen“ und später der Versuch, kommunistische Systeme miteinander zu vergleichen, hat mit der Vorstellung gebrochen, diese Systeme seien uniform, die Analyse der Sowjetunion könne die der einzelnen sozialistischen Staaten ersetzen. Beide Sichtweisen zielen auf die Unterschiede und Spezifika der Entwicklung einzelner Systeme.

Mit dieser „komparativen Perspektive“ ging der Versuch einher, die sozialistischen Systeme im allgemeinen Kontext der „comparative politics" zu behandeln. Die Formel von Robert Tucker, es handle sich bei den sozialistischen Systemen um „movement regimes", und der Begriff „mobilization regimes" von David Apter haben die Sozialismusanalysen wesentlich beeinflußt und geprägt.

4. Seit Mitte der sechziger Jahre setzte sich dieser Trend durch. Sozialwissenschaftliche Ansätze und Theorien wurden in der Kommunismusforschung aufgegriffen und spezifiziert: — der Interessengruppenansatz von Gordon Skilling, — der partizipationstheoretische Ansatz von Jan Triska oder von Theodore H. Friedgut, — organisations-und bürokratietheoretische Ansätze u. a. von Alfred G. Meyer, — Theorien des sozialen Wandels, der Modernisierung und politischen Entwicklung u. a. von Samuel P. Huntington, John H.

Kautsky, Chalmers Johnson, — der Industriegesellschaftsansatz und konvergenztheoretische Überlegungen u. a. von David Lane, Daniel Bell, Herbert Marcuse, Zbigniew Brzezinski und Samuel P. Huntington. Dieser grobe Überblick darf jedoch nicht dazu verführen, die „traditionellen" Ansätze für obsolet zu halten. Eine Reihe von Autoren hält am Totalitarismuskonzept fest (z. B. Leonard Schapiro). Es ist auch der Versuch unternommen worden, mehrere Ansätze miteinander zu verbinden. Der folgende Überblick über die Analysekonzepte der siebziger Jahre stellt insofern nur eine stark vereinfachte Sichtweise vor, als er den vielfältigen Querverbindungen einzelner Ansätze und Konzepte nicht nachgehen kann

2. Der Sozialismus als Modernisierungssystem Nach Stalins Tod waren die Sowjetunion und die sowjetsozialistischen Staaten in Ost-und Mitteleuropa unverkennbaren Wandlungsprozessen unterworfen. Die längerfristige Bewältigung der Folgen der großen Systemkrisen von 1953 und 1956/57 und die wissenschaftlich-technischen Erfolge (vor allem in der Atomtechnologie und der Weltraumfahrt)

zeigten, daß die sozialistischen Systeme durchaus in der Lage waren, nicht-terroristische politisch-soziale Konfliktbewältigungsstrategien zu entwickeln und wissenschaftlich-technische und industrielle Innovationen vorzunehmen. Die politische und wirtschaftliche Konsolidierung dieser Systeme, die die Phase rasanter politisch-sozialer Umwälzungen hinter sich gebracht hatten und in denen sich der Prozeß der Revolution von oben „veralltäglicht" hatte, warf die Frage nach den sie prägenden allgemeinen gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten auf. Die empirische Analyse der neuen Sozialstruktur und der durch sie ermöglichten hohen horizontalen und vertikalen Mobilität, der veränderten Stellung der Partei und der Massenorganisationen, der neu entstehenden Konflikte zwischen verschiedenen sozialen Rollen, Normen und Leitbildern und schließlich der Wandlungen der ideologischen Dogmen führte zu neuen Bewertungen.

Nicht mehr nur Machterhaltung wird als Movens der Politik der Partei begriffen, sondern der Zwang und der Wille, die bestehenden politischen, ökonomischen und sozialen Strukturen an die Anforderungen einer modernen industriellen Gesellschaft anzupassen. Die kommunistischen Parteien sind, so lautet die Grundthese, fähig, sozialen und gesellschaftlichen Wandel und eine Modernisierung des Systems in die Wege zu leiten. Sozialer Wandel und Modernisierung in der Sowjetunion und den anderen sozialistischen Ländern heißt für die Mehrzahl der Autoren aber auch, daß diese Gesellschaften sich der Notwendigkeit beugen, bestimmte Modifikationen ihrer tradierten, ideologisch normierten Vorstellungen von der Struktur, Funktionsweise und den Zielen der sozialistischen/kommunistischen Gesellschaft vorzunehmen. Die tradierten Ziele der kommunistischen Revolution und die notwendigen Wandlungsprozesse hochindustrialisierter Systeme sind, so lautet die Botschaft, unvereinbar. In einem 1970 unter dem programmatischen Titel „Change in Communist Systems" veröffentlichten Sammelband werden die verschiedenen Aspekte des politischen und sozialen Geschehens unter dem Gesichtspunkt „Modernisierung mit Hilfe eines Mobilisierungssystems" analysiert. Vier Dimensionen des sozialen Wandels seien es, die einer Erklärung bedürften:

1. Veränderungen in der Struktur des politischen Systems von einem Einparteiensystem mit einem autonomen Diktator an der Spitze zu einer kollektiven Führung und einer parteibeherrschten nationalen Front;

2. Veränderungen im Vertrauen auf die Wirksamkeit des Terrors als soziales Disziplinierungsinstrument, in der Regel von einer hohen zu einer mittleren und schließlich geringen Bedeutung des Terrors;

3.der Wandel in der Struktur des ökonomischen Systems von einer zentralisierten Befehlswirtschaft zu einem halb-zentralisierten Managersystem und schließlich zu einem Markt-Sozialismus;

4. im Falle der von außen aufgezwungenen kommunistischen Regime: die Entwicklung vom Status des Satelliten zu einem Partner-staat und schließlich hin zu einem unabhängigen kommunistischen Nationalstaat

Im Gegensatz zum Totalitarismuskonzept, das eine Antwort auf die meisten dieser Probleme schuldig blieb, begreifen die Autoren dieses Bandes die sozialistischen Systeme als „mobilization regimes", eine spezifische Form der Entwicklungsdiktatur, in der der Staat als Entwicklungs-und Modernisierungsagentur die in anderen Systemen spontan und ungeplant ablaufenden Veränderungen initiiert und lenkt. Der Staat hat die möglichst schnelle Entwicklung zu gewährleisten und zugleich, da diese ohne ihre Überwindung nicht denkbar ist, die tradierten politischen und ökonomischen Institutionen, kulturellen Normen und gesellschaftlichen Verhaltensweisen zu beseitigen.

Diese Anpassungsprozesse stellen sich in den verschiedenen Ländern, die eine sozialistische Entwicklung eingeschlagen haben, sehr unterschiedlich dar, je nachdem, ob das soziopolitische Experiment des Sozialismus in Europa, Asien, Afrika oder Lateinamerika unternommen wird.

Da die sozialistische Revolution nur in ökonomisch zurückgebliebenen Ländern gesiegt hat und die wenigen hochentwickelten Länder, die nach 1945 in den Machtbereich der Sowjetunion gerieten, deren politisch-administrative und ökonomische Strukturen, die für eine nachzuholende industrielle Entwicklung gedacht waren, übernahmen, standen alle sozialistischen Länder nach einer Aufbau-, Rekonstruktions-und Übergangsphase vor der Notwendigkeit, diese Strukturen zu „modernisieren". Modernisierung impliziert ökonomische, soziale und politische Entwicklungen. Die Verwendung von Begriffen wie sozialer und gesellschaftlicher Wandel, Modernisierung und politische Entwicklung u. a. bei amerikanischen Autoren lenkte den Blick auf die Wandlungsfähigkeit sozialistischer Systeme. Unterstellt wurde ein allgemeiner, in allen Gesellschaftssystemen, in allen Phasen der historischen Entwicklung und in allen Weltregionen im wesentlichen ähnlich verlaufender Prozeß politisch-ökonomischer und gesellschaftlicher Entwicklung zur Modernität. Die Wissenschaftler, die dieses Konzept auf Osteuropa angewendet haben, waren nach Meinung von H. Gordon Skilling geradezu „besessen" von diesem Konzept, das ursprünglich für „nichtmoderne" Gesellschaften in Asien, Afrika und Lateinamerika entwickelt worden war und dann auch in der Kommunismusanalyse angewandt wurde

Die Problematik der im Modernisierungsund Entwicklungsansatz enthaltenen idealtypischen Sicht „moderner" Gesellschaften, die, wie bei Gabriel A. Almod und Sydney Verba, den „Vätern" dieses Ansatzes, als Maßstab für Modernität die westliche „civic culture" setzt, ist vielfach kritisiert worden desgleichen ihre dichotomische Sichtweise: entweder Wandel und Entwicklung oder Immobilismus und Beharrung. Da in diesen Gesellschaften aber beides gleichzeitig vorhanden macht ist, es diese „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen" (Ernst Bloch) schwer, wissenschaftlich zuverlässige Kriterien dafür zu finden, was signifikante Veränderungen und Wandlungstendenzen sind und welche Erscheinungen es rechtfertigen, von Immobilismus zu reden. Ein weiterer entscheidender Einwand ist u. a. von Skilling formuliert worden: Gefährlich für die nötige Klarheit und analytische Prägnanz des Modernisierungskonzepts sei die Vorstellung gewesen, Osteuropa sei ein einziges Ganzes. Dies habe in die Irre geführt, da die manifesten Unterschiede im Entwicklungsstand der einzelnen Länder ignoriert worden seien

Schließlich ist die Tendenz unverkennbar, unter der Leitfragestellung Modernisierung die Spezifika eines politischen Systems zu vernachlässigen, das sich auf die Ideologie des Marxismus-Leninismus beruft. — John A. Kautsky beispielsweise begreift kommunistische und nationalistische Bewegungen und Regime unterschiedslos als „Modemisierungsbewegungen" 3. Sozialistische Industriegesellschaft Endpunkt aller modernisierungs-und entwicklungstheoretischen Konzepte ist die entwickelte Industriegesellschaft (für einige Autoren bereits die „postindustrielle Gesellschaft"). Die Mehrzahl der Autoren, die sich des Modernisierungskonzepts bedienen, sieht die sozialistischen Länder erst auf dem Weg zu diesem Ziel; für die Vertreter des Industriegesellschaftsansatzes sind sie bereits dort angekommen. Ihre Argumentation steht in der wissenschaftlichen Tradition des 19. Jahrhunderts (Herbert Spencer, Auguste Comte, Lorenz von Stein u. a.) und der Kapitalismus-deutungMax Webers, der dem globalen Prozeß der „Rationalisierung" eine alle gesellschaftlichen Systeme prägende Kraft zumaß. Sie beruft sich aber gelegentlich auch auf konservative Autoren wie Hans Freyer oder Arnold Gehlen und deren kulturpessimistische Sicht, die von einer ganz anderen Warte aus auch von Herbert Marcuse geteilt wird, der von der Gefahr einer Industriegesellschaft im Gewände eines technokratischen Totalitarismus spricht.

Wesentlich geprägt war die Industriegesellschaftsdiskussion durch das evolutionistische Entwicklungsmodell von Walt Whitman Rostow, der in seinem „antimarxistischen Manifest" fünf Phasen der Gesellschaftsentwicklung unterscheidet:

1. die traditionelle Gesellschaft 2. die Anlaufperiode 3. die Periode des wissenschaftlichen Aufstiegs (take-off-Periode)

4. die Entwicklung zur Reife 5. das Zeitalter des Massenkonsums

Die formalen Ähnlichkeiten einer solchen Einteilung der Menschheitsentwicklung mit der marxistischen Formationsvorstellung sind nicht zu übersehen, doch sind auch die Unterschiede deutlich. Der Industriegesellschaftsansatz umgreift beide, kapitalistische und sozialistische Industriegesellschaften. Er beurteilt Gesellschaften, marxistisch gesprochen, nach dem Stand der Produktivkräfte, nicht nach den Produktionsverhältnissen. Nicht die unterschiedlichen Eigentumsformen sind das entscheidende Bewertungskriterium, sondern erreichte wissenschaftlich-technische und ökonomische Entwicklungsstand. Einer solchen eindimensionalen Sichtweise haben die Verfasser des sogenannten „RichtaReports" eine reflektierte Analyse der wissenschaftlich-technischen Revolution und ihrer sozialen und politischen Auswirkungen entgegengesetzt, die trotz ihrer — zeitbedingten — außerordentlich positiven Beurteilung der mit diesem Prozeß einhergehenden Entwicklungschancen für die sozialistischen Systeme aktuell bleibt. Diese Aktualität ist vor allem der Tatsache geschuldet, daß hier eine Analyse der wissenschaftlichen, technischen und ökonomischen Bedingungen mit der Frage nach einer Demokratisierung der sozialistischen Systeme (nicht ihrer Rückkehr zum Kapitalismus) verbunden worden ist. Die wich-tigsten Überlegungen dieses Kollektivs fanden 1968 Eingang in eine Konzeption für ein neues Parteiprogramm der KPÖ

Die Industriegesellschaftskonzeption geht demgegenüber davon aus, daß die Technologie und ihre Organisation als das dominierende Element gegenüber der Eigentums-struktur anzusehen sei, so daß letztere weitgehend negiert werden könne, um so mehr, als die traditionellen Formen privatkapitalistischer Verfügung über das Eigentum obsolet seien. Daß eine ausschließlich mit technisch-technologischen und ökonomischen Kategorien argumentierende Industriegesellschaftstheorie zu kurz greift, ist vielfach bemängelt worden. Daniel Bell schlägt einen auf den ersten Blick bestechenden Ausweg aus der Sackgasse eindimensionaler und monokausaler Erklärungsmodelle vor: „dieselben Produktivkräfte — menschliche Arbeitskraft und Technologie — existieren innerhalb höchst unterschiedlicher Formen gesellschaftlicher Beziehungen ... . koppeln'wir Marx'Idee . auseinander', so zeigt sich, daß es logisch gesehen zwei verschiedene Schemata sozialer Entwicklung gibt: das Schema der vorindustriellen, industriellen und nachindustriellen Gesellschaft längs der einen Achse, und das Schema des Feudalismus, Kapitalismus und der staatskollektivistischen Gesellschaft entlang einer anderen ... Längs der Achse der Technologie sind die Vereinigten Staaten wie die Sowjetunion auf einem gemeinsamen Fundus von technologischem Wissen aufbauende Industriegesellschaften; längs der Achse der Besitzverhältnisse hingegen unterscheiden sich beide ... Im einen Fall handelt es sich um eine weitgehend privatkapitalistische Ordnung, im andern um eine staatlich (oder bürokratisch) kollektivistische."

Zwischen der Eigentumsverfassung und dem wissenschaftlich-technischen und industriellen Entwicklungsstand einer Gesellschaft ist damit eine — sehr schematische — Beziehung hergestellt, die Bell zu folgenden Zuordnungen führt:

USA — industriell-kapitalistisch UdSSR — industriellstaatskollektivistisch China — vorindustriellstaatskollektivistisch Indonesien — vorindustriell-kapitalistisch.

Gemeinsam sei allen Industriegesellschaften die Technologie, die Art des erforderlichen Fachwissens zu ihrer Handhabung, die Grundzüge der Arbeitsorganisation und das an Wirtschaftlichkeit ausgerichtete Prinzip funktioneller Effizienz

Die wichtigsten Differenzen zwischen den verschiedenen Vertretern dieses Ansatzes bestehen in der Frage, ob die technisch-technologischen Bedingungen Sachzwangcharakter annehmen. Bell meint, daß alle Industriegesellschaften unter gewissen allgemeinen Zwängen stehen, die überall ähnliche Aktionen auslösen und die Anwendung bestimmter Techniken erzwingen. Von technologischen Sachzwängen zu sprechen, hält er aber für allzu rigoros und deterministisch. Andere Theoretiker vertreten demgegenüber die Auffassung, daß sich politisch und gesellschaftlich folgenreiche Entscheidungen tendenziell im Vollzug des immanenten Sachzwangs verfügbarer Techniken auflösen: dies bedeutet eine Ausweitung der „Rationalisierung" auf den Prozeß politischer Entscheidung, hinter der die bestimmenden gesellschaftlichen Interessen vermeintlich zurückstehen

Daß die traditionellen politischen Strukturen, die aus der Zeit des nachrevolutionären Aufbaus einer neuen Gesellschaft und der stalinistischen Autokratie überkommen sind, solchen Entwicklungen nicht gewachsen seien, ist übereinstimmende Auffassung der Theoretiker der Industriegesellschaft Sie vertraten Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre eine eher zuversichtliche Einschätzung der denkbaren Entwicklung der sozialistischen Systeme und sahen Veränderungstendenzen nicht nur im wissenschaftlich-technischen und ökonomischen Bereich, sondern auch in Politik und Verwaltung. Diese Systeme seien, so lautete die Vermutung, gezwungen, sich den Bedingungen der modernen industriellen Gesellschaft zu stellen, wollten sie als System überleben. Begriffe wie . Anpassung” und „Einpassung" in diese Anforderungen bestimmten die Diskussion. Ihre Verwendung kennzeichnet eine vereinfachte Sicht des Verhältnisses von sozialen Wandlungstendenzen in hochindustrialisierten Gesellschaften sowjetsozialistischen Typs, gegen die sich nicht nur marxistische Autoren, sondern auch Vertreter des Modernisierungskonzepts wie Dankwart Rüstow wenden. Die These, daß der Verlauf und die Formen der „ökonomischen Evolution" unilinear seien und daß die „politische Evolution“ eine unmittelbare Folge der zugrundeliegenden ökonomischen und sozialen Wandlungstendenzen sei, wird von ihm als unzulässige Simplifizierung abgelehnt

Diese Kritik trifft einen analytischen Ansatz, wie er in der Bundesrepublik vor allem von Peter Christian Ludz vertreten worden ist Es sei die Industriegesellschaft, so argumentiert er, die die Strukturen und die Handlungsmuster der politischen und ökonomischen Eliten bestimme und die sozialistischen Systeme zwinge, entscheidende Modifikationen ihres ideologischen Selbstverständnisses und praktischen Handelns vorzunehmen Die Wandlung des politischen Systems von einer — von außen oktroyierten — „totalitären" zur „autoritären“ Herrschaft ist nach Auffassung von Ludz als typisches Zeichen eines Anpassungsprozesses an die Bedingungen der industriellen Gesellschaft anzusehen. Im Mittelpunkt einer empirischen Analyse dieses Prozesses stehen die Leistungen und Fehlleistungen des politisch-administrativen Systems, die sozialen Veränderungen und die Wandlungen der Ideologie. Funktionsschwächen und Fehlentwicklungen werden dem politischen System und dessen mangelnder Anpassungsfähigkeit angelastet, und damit wird — oft gegen den Willen der Autoren — die weitverbreitete Meinung unterstützt, die sozialistischen Staaten seien zu rationaler Planung nicht fähig; möglichst reibungsloses Funktionieren der Apparaturen, Leistungsorientierung, Arbeitsdisziplin, Wirtschaftswachstum usw. gelten als positive Werte an sich, als „allgemeine Anforderung der modernen Industriegesellschaft", die endlich auch von den sozialistischen Systemen akzeptiert werden. Es dominiert der Funktionsaspekt Die gesellschaftlichen Systeme des „Westens" und der sozialistischen Staaten funktionieren, wobei ihnen die Funktionsmuster — wenn nicht gar die zu treffenden Entscheidungen — von den Sachzwängen der modernen Industrie und der Entwicklung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts weitgehend vorgegeben werden. 4. Konvergenz der Systeme?

Den modernen Industriegesellschaften werden so viele gemeinsame Eigenschaften zuge-schrieben, daß die Frage naheliegt, ob die nicht zu übersehenden Systemunterschiede nicht an Bedeutung verlieren und sich ein einheitlicher Typus der Industriegesellschaft herausbildet. In der Nachfolge von Pitirim A. Sorokin, der 1944 eine Vielzahl soziologischer Gemeinsamkeiten zwischen den USA und der UdSSR auszumachen glaubte, wurden von verschiedenen Autoren konvergierende Tendenzen analysiert. Raymond Aron sah sie in der Art der Verfügungsberechtigung über die Produktionsmittel, der Funktion der Staatsgewalt, der Rolle der Intelligenz und einem egalitären Trend im sozialen Sektor Neben dieser in der sozial-und kulturphilosophischen Tradition industriegesellschaftlicher Überlegungen stehenden soziologischen Sicht dominiert eine wirtschaftstheoretische, die sich vor allem auf das einflußreiche, höchst spekulative Modell der Stadien des Wachstums von Rostow stützt, das eine geschlossene Darstellung konvergenztheoretischer Annahmen enthält Den optimistischen Vorstellungen von einer Konvergenz der Systeme im Zeichen des Massenkonsums und eines steten Wachstums, wie sie auch von Jan Tinbergen, John Kenneth Galbraith u. a. vertreten worden sind, steht die pessimistische Konvergenzvorstellung Herbert Marcuses gegenüber, der gemeinsame Tendenzen zur Zentralisation und Reglementierung, der wachsenden Herrschaft ökonomischer und politischer Bürokratien und der Gleichschaltung des Volkes mit Hilfe der Massenmedien, der Unterhaltungsindustrie und der Erziehung konstatiert

Die einflußreiche Studie von Samuel P. Huntington und Zbigniew Brzezinski „Politische Macht USA/UdSSR" kritisiert die Über-schätzung der Rolle der ökonomischen Faktoren. Weder könne von einem direkten Zusammenhang von ökonomischer Entwicklung und Erscheinungen der Liberalisierung, Demokratisierung, größerem Pluralismus usw. ausgegangen werden, noch lasse sich die These halten, kommunistische Systeme könnten Industrialisierung und Wohlstand nicht überleben, im Gegenteil, Modernisierung und Festigung des bestehenden politischen Sy-stems seien nicht nur vorstellbar, sondern wahrscheinlich und in vielen Bereichen nachweisbar. Sie setzen also der Konvergenz eine Divergenz entgegen: Die wissenschaftlich-technischen und ökonomischen Entwicklungsprozesse industrialisierter Systeme seien unter durchaus verschiedenen, ja gegensätzlichen politischen und Eigentumsverhältnissen vorstellbar. Der von ihnen benutzte Begriff der „Evolution“ hat so einen doppelten Aspekt; er benennt Wandlungstendenzen im Inneren und zugleich die Verstärkung der Wesensmerkmale des Systems nach innen und außen. Unterschiedliche Interessen und Konflikte seien, so argumentieren Brzezinski und Huntington, durchaus erkennbar; aber die Tradition der kommunistischen Parteien komme einer solchen Einheit der Bürokratie ebenso zugute wie die allgemeine Tendenz, daß sich die moderne Bürokratie normalerweise in Richtung der Zentralisierung bewege. Die politischen Systeme der USA und der UdSSR sind nach ihrer Auffassung jedes auf seine Weise höchst erfolgreich gewesen, und es gebe daher keine Anzeichen und keine Notwendigkeit für eine Konvergenz.

Eine Wertung der Konvergenztheorie muß sich — bei allen Unterschieden in den wissenschaftlichen und politischen Positionen — mit der Tatsache auseinandersetzen, daß sich die zentralen Aussagen als nicht zutreffend erwiesen haben. Sie muß aber auch die Rolle reflektieren, die solche theoretischen Überlegungen für die Debatte über die sozialistischen Systeme und die praktische Politikberatung gespielt haben. Hier sind ihr gewisse Verdienste nicht abzusprechen, hat sie doch die herrschenden Totalitarismusvorstellungen nachhaltig in Frage gestellt. Indem sie sich jedoch vor allem dem Aspekt des Funktionierens sozialistischer und kapitalistischer Systeme zuwandte, hatte sie einen technokratischen Zug, der nicht nur die Wertorientierung des anderen, sondern oft auch die des eigenen Gesellschaftssystems vernachlässigt. 5. Rekonzeptualisierung marxistischer Ansätze Das Jahr 1968 markiert den Beginn einer Renaissance marxistischer Ansätze in den Sozialwissenschaften. Die Aufkündigung des gesellschaftlichen Konsenses durch Teile der jungen Generation in westlichen Demokratien und die militärische Verhinderung einer Reform eines sowjetsozialistischen Systems aus sich selbst heraus in der CSSR haben einer kritischen, von marxistischen Positionen ausgehenden Sozialismusanalyse neue Anstöße gegeben.Dabei wurden in einer ersten Phase vor allem die Diskussionen rezipiert, die vor und nach der Oktoberrevolution die sowjetische Entwicklung begleitet hatten. Rosa Luxemburgs Kritik an Lenins Parteitheorie und der russischen Revolution, linkskommunistische, trotzkistische, anarchosyndikalistische und sozialdemokratische Einschätzungen der russischen Entwicklung aus den zwanziger und dreißiger Jahren wurden erneut diskutiert und — ein Ergebnis der zunehmenden Zersplitterung und Fraktionierung der „Neuen Linken“ — z. T. kritiklos übernommen und für die eigene Gruppierung oder „Partei" reklamiert. Einen nicht minder großen Einfluß hatten die Schriften der „Frankfurter Schule" bzw. die ihrer ehemaligen Mitglieder, vor allem von Herbert Marcuse.

Für die unorganisierte Linke in der Bundesrepublik und West-Berlin spielte seit Beginn der siebziger Jahre auch die aus der Konfrontation mit der KP Italiens entstandene Position der Gruppe „II Manifesto" eine wichtige Rolle, ebenso wie die aus der Debatte um den „Eurokommunismus“ erwachsene Differenzierung innerhalb der traditionellen parteikommunistischen Positionen.

Von nicht minder großem Einfluß waren Denkanstöße, die aus den sozialistischen Staaten selbst kamen: Die Diskussionen der „Budapester Schule“ um den ehemaligen Ministerpräsidenten Andräs Hegedüs, die von Oskar Lange begründete „polnische Schule", die eine führende Rolle bei der Ausarbeitung der Wirtschaftsreformen in Osteuropa hatte und deren Einflüsse auf die spätere Entwicklung der Reformüberlegungen in der ÖSSR nicht zu übersehen sind, die „Praxis Gruppe" in Jugoslawien, die die offizielle Theorie der „Selbstverwaltung" konsequent weiterentwickelte und sich, unter politischen Druck geraten, auflösen mußte, und zuletzt das Buch von Rudolf Bahro.

Die zentrale Frage der unterschiedlichen Gruppen und Positionen war die nach dem „Wesen" der Sowjetunion und der mit ihr verbündeten Staaten: Handelt es sich bei ihnen um sozialistische Systeme, oder treffen die von Marx, Engels, Lenin (für manche auch Stalin) entwickelten Kriterien für sozialistische Gesellschaften auf sie nicht zu? Hinter dieser Fragestellung trat diejenige nach den konkreten Erscheinungsformen dieser Systeme zurück. In mechanistischer Manier wurden sie nur zu oft als für das Wesen dieser Gesellschaften nebensächlich oder gar irrelevant erklärt. Nicht minder problematisch stellt sich die Aufarbeitung der historischen Entwicklungslinien der Sowjetunion und der einzelnen sozialistischen Länder dar; ein unhistorisches Modelldenken und die weitverbreitete Unkenntnis der Entwicklung in den zwanziger und dreißiger Jahren führten auch hier zu Pauschalisierungen, die einer genaueren historisch-empirischen Analyse kaum standhalten. Der sich selbst als „real“ bezeichnende Sozialismus wurde, je nach politischem Standort des Autors, als Spätform und Verlängerung einer asiatischen oder halbasiatischen Produktionsweise begriffen, sein Anspruch, Sozialismus zu sein, wurde in Frage gestellt und behauptet, der Kapitalismus sei im Begriff, sich in diesen Ländern zu restaurieren; und in der Nachfolge Trotzkis erschien der Sozialismus als bürokratisch entartet und als „bürokratischer Staatskapitalismus"

Eine große Bedeutung innerhalb der Linken erlangte die Diskussion über die Frage, ob der „reale Sozialismus“ eine Übergangsgesellschaft sei Die Auffassung, bei den gegenwärtigen sowjetsozialistischen Systemen handele es sich um Gesellschaften des Über-gangs, hat eine doppelt kritische Funktion: Übergang verweist zum einen auf eine gesellschaftliche Wirklichkeit, die als noch nicht sozialistisch begriffen wird, und er beharrt zum zweiten auf dem Versprechen einer humanen Entwicklung dieser Gesellschaften, die erst in und durch den Sozialismus verwirklicht werden kann. Von Übergangsgesellschaft zu sprechen bedeutet aber zugleich, daß die Möglichkeit außer Betracht bleibt, daß es sich um relativ konsolidierte Systeme handelt, die sich auf ihren eigenen sozialöko-nomischen Grundlagen entwickeln und deren „Übergang“ zu einer qualitativ neuen, sozialistischen Entwicklung nicht zu erwarten ist

Im Unterschied zu Marx, auf den sich die Vertreter dieses Ansatzes beziehen, bezeichnet der Begriff Übergang nicht die „Diktatur des Proletariats", sondern ein Konglomerat verschiedener Erscheinungen, vor allem aber gerade nicht die Herrschaft des Proletariats, sondern die einer Minderheit (der Bürokratie, der Staatsbourgeoisie, der Technokratie usw.).

Wichtige Impulse auch für die „nichtmarxistische" Kommunismusforschung gingen von den Überlegungen jugoslawischer Theoretiker, die die sozialistischen Länder als etatistische Systeme analysieren, und von bürokratietheoretischen und bürokratiekritischen Ansätzen v. a. ungarischer Wissenschaftler aus. Sie wenden sich erstens dagegen, die als überholt angesehene Einteilung in Kapitalismus versus Sozialismus/Kommunismus auf die Sowjetunion und die anderen „sozialistischen" Staaten anzuwenden, und kritisieren zweitens den Versuch, die sozialistische Entwicklungsphase mit Begriffen wie „Staatssozialismus" und „Sozialismus der Selbstverwaltung" in zwei Typen zu unterteilen. Vielmehr habe in allen „realen" Sozialismen der Staatsapparat sich in eine neue herrschende Klasse verwandelt und es sei ein neuer Typus eines sozio-politsichen Klassensystems entstanden, der mit den alten Kategorien nicht mehr zu erfassen sei. Die neue, sozialistische Intelligenz, so lautet die zentrale Aussage bei György Konräd/Ivän Szelnyi, befinde sich auf dem Weg zur Klassenmacht

II. Neue Sichtweisen und Fragestellungen

Bei allen Erkenntnisfortschritten, die die Verwendung von Makrokonzepten wie Modernisierung, Industriegesellschaft und Konvergenz eingebracht hat, waren damit zugleich erhebliche Risiken verbunden und auch ihre analytische Kraft ist begrenzt. 1. Makrokonzepte neigen zu unzulässigen Schlußfolgerungen von Einzelerscheinungen auf die Qualität des Ganzen.

2. Die dem Modernisierungskonzept zugrunde liegenden Vorstellungen von der Welt beeinflussen das analytische Instrumentarium. Die Sprache der Wissenschaft und die kulturellen Einstellungen, die sie verbalisieren, haben nicht nur einen erkenntnisfördernden, sondern auch einen verhüllenden Charakter. Die Vernachlässigung der Eigenarten und spezifischen Traditionen anderer als der entwickelten kapitalistischen Systeme durch die Mehrzahl der modernisierungs-und industriegesellschaftlichen Ansätze zeigt dies deutlich.

3. Die vorgestellten Konzepte lassen oft nicht deutlich werden, auf welcher Abstraktionsebene sie sich bewegen — dies gilt auch für totalitarismustheoretische und marxistische Ansätze. Die Vermischung deskriptiv-klassifikalorischer und erklärender Modellannahmen, von qualitativen und quantitativen Daten oder statistischen Methoden tragen ein übriges zur Verunsicherung bei. Angesichts dieser Sachlage erscheint es sinnvoller, Theorien mittlerer Reichweite für die Analyse sozialistischer Systeme heranzuziehen. Es hieße jedoch das Kind mit dem Bade auszuschütten, wenn man sich der modemisierungstheoretischen und industriegesellschaftlichen Ansätze nicht als heuristische Konzepte versicherte, auch wenn sie als globale Analysemodelle nur bedingt taugen. Einige solcher Ansätze sollen in aller Kürze vorgestellt werden. 1. Bürokratischer Sozialismus Das Totalitarismuskonzept hatte das politische System sowjetsozialistischer Staaten als . Einheitsverwaltung" beschrieben, deren universalistisches Ziel, alle gesellschaftlichen Beziehungen zu durchdringen, einen übersteigerten Herrschaftsanspruch konstituiert. In seiner richtungweisenden Analyse des sowjetischen politischen Systems hat Alfred G. Meyer die Bürokratietheorie Max Webers für die Kommunismusanalyse fruchtbar gemacht. Die sowjetische Bürokratie läßt seiner Meinung nach viele Ähnlichkeiten mit den allgemeinen Bestimmungsfaktoren „moderner" Bürokratien in anderen Systemen erkennen. Er sieht in ihr die umfassende und komplexe Organisation, die für die rationale, zielbewußte und geplante Gestaltung und Kontrolle der sozialen Beziehungen verantwortlich ist. Bürokratie sei eine Begleiterscheinung und zwingende Voraussetzung administrativen Handelns in einer „Welt der modernen Technologie und Komplexität". Meyer nennt fünf zentrale Aspekte der Bürokratie:

1. Eine hierarchische Kompetenz-und Befehlsstruktur;

2. strukturelle Differenzierung der Verwaltungsorganisation;

3. Regeln und Vorschriften als charakteristische Elemente bürokratischer Rationalität;

4-strukturierte und formalisierte Informationsbeziehungen; 5. Nutzung von Sachverstand und rationalen Qualifikationen

Bürokratische Rationalität und Totalitarismus schließen sich nach Auffassung Meyers gegenseitig aus. Er sieht die Bürokratieproblematik in engem Zusammenhang mit den historischen Bedingungen, der politischen Kultur, ökonomischen und sozialen Gegebenheiten sowie den Handlungsmustern und -möglichkeiten der politischen Führung. Bürokratieanalyse ist hier umfassende Interpretation des sowjetischen Systems.

Eine entscheidende Rolle spielt in allen bürokratietheoretischen Überlegungen die Frage, ob und inwieweit die historischen Entstehungsbedingungen in den sozialistischen Ländern einen spezifischen Bürokratietypus hervorgebracht haben. Diese Bürokratien werden als vorübergehende Apparaturen beschrieben, deren Aufgaben immer mehr vergesellschaftet werden müssen, die aber gegenwärtig noch unverzichtbar seien, sie werden als der Ort beschrieben, an dem Macht und Wissen dauerhaft zusammenfallen und an dem die Intelligenz sich zur neuen herrschenden Klasse organisiert, oder sie werden dargestellt als ein historisch neuer Typ patrimonialer Herrschaft (Max Weber)

Ihr politischer Charakter und ihre soziale Verankerung in einem parteizentralistischen System führen dazu, daß sie sich in einem ständigen Zwiespalt zwischen den Anforderungen bürokratischer Rationalität einerseits und dem umfassenden Gestaltungswillen und -anspruch der Partei und deren patrimonialen Aspirationen andererseits befinden. Dieser Zusammenhang steht im Mittelpunkt einer empirischen Analyse der Bürokratie sowjetischen Typs. 2. Interessengruppen und Klientelismus In einem 1966 von H. Gordon Skilling und Franklyn Griffiths herausgegebenen Buch werden Interessengruppen in der sowjetischen Politik beschrieben — die Parteiapparatschiki, die Wirtschaftsmanager, die Militärs, der Sicherheitsapparat usw. Anders als frühere Analysen von Konflikten innerhalb der politischen Führungsgruppen beschränkt sich der Interessengruppenansatz nicht darauf, diese Konflikte als bloße persönliche Machtkämpfe zu begreifen. Vielmehr werden sie als Ausdruck unterschiedlicher — wenngleich bürokratisch verformter — gesellschaftlicher Interessenlagen analysiert, als deren Exponenten die verschiedenen Protagonisten agieren. Die Hauptkritik am Interessengruppenansatz zielt darauf, daß diese Gruppen keine organisatorische Kohärenz und Repräsentativität besitzen und nicht über die Autonomie und die Möglichkeit verfügen, ihre Interessen in geregelten Bahnen artikulieren zu können. Zudem würden Konflikte lediglich auf der „Königsebene“, in den Spitzen der Machtapparaturen wahrgenommen. Solche Konflikte müßten eher unter der Rubrik „bürokratische Politik“ behandelt werden Festzuhalten bleibt, daß der Interessengruppenansatz auf die „politischen Interessengruppen“ und damit auf bestimmte Intelligenz-und Elitengruppen beschränkt bleibt. Die Lebenswelt und die Interessenlagen der verschiedenen Gruppen der Bevölkerung bleiben ausgeblendet — und damit, wie die Entwicklung der letzten Jahre zeigt, entscheidende Faktoren potentieller gesellschaftlicher Konflikte. Die polnischen Ereignisse der Jahre 1980/81 oder die Bedeutung kirchlicher Aktivitäten in der DDR sprechen dafür, den Interessengruppenansatz zu erweitern, die Entstehungsbedingungen, Rolle und Funktion informeller Gruppen und ihr Verhältnis zu formalisierten bürokratischen Interessengruppen einer genaueren Analyse zu unterziehen. Mit der Untersuchung patrimonialer Beziehungen, des Verhältnisses von Führungspersonal und Klienten und den Mechanismen sozialer Statusvergabe wird versucht, diesem Dilemma zu entgehen. T. Harry Rigby sieht darin eine faktische Ergänzung der bürokratietheoretischen Ansätze Traditionelle Verhaltensweisen und Normen gegenseitiger Verpflichtung und Abhängigkeit würden in die neuen Bürokratien eingebracht und schafften ein Geflecht informeller Beziehungen. Die stalinistische Bürokratie als Patrimonialbürokratie neuen Typs konstituierte nicht nur ein neues Verhältnis zwischen Führern und innerbürokratischen Klienten, sondern auch andere kulturelle Verhaltensmuster zwischen Bürokratie und gesellschaftlicher Klientel, zwischen Eliten und Massen. Umstritten ist, ob die nationalen Traditionen oder die gemeinsamen politisch-ideologischen Grundlagen der kommunistischen Bewegungen einen entscheidenderen Einfluß auf die konkrete Ausformung patrimonialer Beziehungen ausüben. Damit ist auch die Frage nach den Bestimmungsfaktoren der politischen Kultur der sowjetsozialistischen Länder gestellt. 3. Politische Kultur Die sozialistischen Staaten werden oft als „Zielkulturen" begriffen, die die Legitimität bestehender Strukturen und Prozesse eliminieren oder unterminieren und sie durch neue Muster ersetzen Sie enthalten eine utopische Vorstellung von zukünftiger Gesellschaft, wie sie von der Partei formuliert werden. Dieser wgoal-culture" wird eine „Transferkultur“ gegenübergestellt; sie stellt die Normen zur Verfügung, die die politischen Wege bestimmen, auf denen die letzten Ziele der Gesellschaft erreicht werden sollen. Diesen Zusammenhang hat mit anderer Terminologie bereits Martin Drath im Rahmen seines Konzepts totalitärer Herrschaft als Durchsetzung eines neuen Wertesystems bezeichnet

Da sich auch osteuropäische Wissenschaftler des Begriffs „Politische Kultur" bedienen, ist die Frage um so interessanter, welches der spezifische Charakter einer neuen politischen Kultur kommunistischer Bewegungen vor und nach ihrer Machtübernahme sei. A G. Meyer kommt zu dem Ergebnis, daß die „Sowjetkultur" in der UdSSR eine „Synthese von marxistisch-leninistischer Kultur und russicher Kultur" sei. Wichtig ist sein Hinweis, daß kommunistische Bewegungen, ob an der Macht oder nicht, sich „den Zwängen der Kultur, innerhalb derer sie operieren", stellen müßten. „Kommunismus kann als ein wohlerwogener und systematischer Versuch angesehen werden, eine neue Kultur aufzubauen. Jede Revolution zerstört ein altes System und baut ein neues auf. Was den Kommunismus von anderen gegenwärtig existierenden Sy-stemen oder Bewegungen zu unterscheiden scheint, ist seine Fähigkeit, ein dauerhaftes neues System zu etablieren, mit neuen Institutionen, mit anderen Verbindungen zur Bevölkerung, neuen Formen der Partizipation, mit einer neuen Autorität und anderen Methoden der Legitimation — kurzum, einer neuen Kultur.“

Ein von Archie Brown und Jack Gray herausgegebener Sammelband über „Political Culture and Political Change in Communist Systems" zeigt recht deutlich das Dilemma dieses Ansatzes Die Autoren versuchen, das Verhältnis zwischen dem Prozeß der politischen Sozialisation und der politischen Kultur, von politischer Kultur und politischen Subkulturen, die Auswirkungen des Standes der sozialökonomischen Entwicklung auf die politische Kultur und schließlich das Verhältnis von politischer Kultur und politischem Wandel zu ergründen. Die Bedeutung jeder einzelnen Frage ist nicht zu übersehen," ihre Beantwortung aber ist enttäuschend. Wenn als Indikatoren für die Mobilisierungsfähigkeit des Regimes die Teilnahme an Wahlen, für den Zusammenhang von politischer Kultur und politisch-sozialem Wandel der Urbanisierungsgrad, die industrielle Produktion, der Anteil der Industriearbeiter, Bildungsniveau, die Anzahl der Autos und Waschmaschinen und die Auflagenhöhe der Zeitungen als Beleg angeführt werden und daraus geschlossen wird, daß sich die Sowjetunion zu einer industriellen Gesellschaft mit einer industriellen politischen Kultur entwickelt habe, wird klar, daß neben fehlender Präzision des Begriffs Politische Kultur seine normative Verhaftung mit den Sichtweisen westlicher Gesellschaften (Wahlen, Autos, Waschmaschinen), der westlichen „civic culture" seinen analytischen Wert erheblich mindert. Gleichwohl ist der heuristische Vorteil einer Nutzung einzelner Kategorien des political-culture-Ansatzes kaum zu übersehen. Die in allen sozialistischen Ländern eher zunehmende Diskussion über sozialistische Moral, das Wesen und die Entwicklung sozialistischer Persönlichkeiten, sozialistische Einstellungen und Verhaltensweisen deutet darauf hin, daß der zentrale Aspekt dieses Ansatzes, die relative Resistenz und Dauerhaftigkeit von „traditionellen" und neuen subkulturellen Einstellungen und Verhaltensweisen, ein nicht zu unterschätzendes Konfliktpotential in diesen

Gesellschaften bilden Auf die Frage nach den Ursachen dieser Erscheinungen zu verzichten hieße, sich einer zusätzlichen Möglichkeit des Einblicks in den Zusammenhang und die Funktionsweise sozialistischer Systeme zu begeben. 4. Analyse von Konflikt-und Problemlagen Vergegenwärtigt man sich die Themen, die die marxistisch-leninistische Soziologie und die westlichen Beobachter in den letzten Jahren in den Mittelpunkt ihrer Analyse gestellt haben, so lassen sich diese in fünf Komplexen zusammenfassen:

1. Die Folgen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts und der Veränderungen der industriellen Arbeit, die Auswirkungen neuer Technologien auf die Arbeitsbedingungen und Arbeitsorganisation, die Qualifikationsanforderungen und Einstellungen der Arbeitskräfte.

2. Die sozialstrukturellen Veränderungen angesichts sozio-ökonomischer Rahmenbedingungen und des Einflusses wissenschaftlich-technischer Veränderungen auf alle Lebensvollzüge, vor allem den Arbeitsprozeß.

3. Die Auswirkungen auf soziale Gruppen, die — wie die Jugendlichen — noch nicht oder — wie die Rentner — nicht mehr im Arbeitsprozeß stehen, und auf die Struktur und Funktion der Familie.

4. Die Folgen für Einzelpolitiken: die Organisation des Planungsprozesses, Agrarpolitik, Regionalplanung, Kulturpolitik, Gesundheitspolitik usw.

5. Die Auswirkungen der gesellschaftlichen und politischen Veränderungen auf das Denken und Handeln der Menschen.

Sowohl die Policy-Analyse als auch eine politische Soziologie müssen bei der Untersuchung dieser Probleme beachten, daß es sich 1. um z. T. systemübergreifende Fragen handelt, die jedoch in den verschiedenen Systemen unterschiedlich gelöst werden, daß es sich 2. um Fragen handelt, die die Struktur der Länder des „realen Sozialismus" berühren, da sie eng mit der gesamtgesellschaftlichen Problemlösungskapazität dieser Länder verbunden sind, und daß 3. die politischen, ökonomischen und ideologischen Grundlagen dieser Länder mitreflektiert werden müssen, da ein Großteil dieser Probleme auch Ergebnisse des gesellschaftlichen Lenkungs-und Planungsprozesses sind

Man kommt auch nicht umhin, sich jeweils neu mit den Konstitutionsbedingungen der sozialistischen Systeme auseinanderzusetzen, mit ihren gesellschaftlichen und politischen Zielprojektionen, mit ihren Vorstellungen einer den historischen Gesetzmäßigkeiten folgenden planmäßigen Entwicklung der Gesellschaft, ihrer Herrschaftskonzeption und den spezifischen historischen Bedingungen und kulturellen Traditionen, die den Prozeß des Aufbaus des Sozialismus beeinflussen. Doch kann hinter einer solchen Sichtweise, die sich bemüht, systemare, regionale, historische und kulturelle Besonderheiten ernst zu nehmen, nicht die Einsicht verlorengehen, daß es sich bei den angesprochenen Problembereichen um allgemeine Fragen industrialisierter Gesellschaften handelt.

III. Vergleichende Kommunismusforschung — Probleme und Perspektiven

Unter dem Einfluß der angelsächsischen Diskussion versteht sich die Kommunismusforschung in den beiden letzten Jahrzehnten — zumindest intentional — als vergleichende Forschung. Das Schwergewicht hat sich in dieser Zeit vom Ost-West-Vergleich oder intersystemaren Vergleich (wie etwa bei Brzezinski/Huntington) auf intrasystemare Vergleiche des „comparative communism" verlagert, wobei es in aller Regel empirisch gesättigte Länder-oder Regionalstudien waren, die die empirische Basis für einen solchen Vergleich lieferten.

Der Systemvergleich bietet eine Reihe von Vorteilen, bringt aber auch erhebliche methodische Probleme mit sich. Am deutlichsten sind sie beim Ost-West-Vergleich. Die Gegenüberstellung der politischen Systeme, der Struktur und Funktion des Staates, der Parlamente, der Rolle der Parteien, Verbände, Massenorganisationen, ebenso wie der Vergleich der normativen und rechtlichen Grundlagen erfordert eine Antwort auf die Frage, ob die gleichen Institutionen, Organisationen und rechtlichen Regelungen ohne weiteres vergleichbar sind, haben sie doch in den verschiedenen Systemen fundamental andere Aufgaben und Funktionen.

Vielversprechender ist da schon ein Vergleich von Problemlagen, wie Fragen des ökonomischen Wachstums, des Umweltschutzes, der Urbanisierung, der Stadtentwicklung usw. Hier handelt es sich um symmetrische Probleme, die sich nicht zuletzt aus dem in beiden Systemen favorisierten Konzept stetigen Wachstums ergeben.

Es geht um die Analyse symmetrischer Probleme in einem unsymmetrischen politisch-ökonomischen,sozialen und ideologischen Kontext. Die bisherige Forschung krankt daran, daß sie entweder den Aspekt der Symmetrie einseitig betonte und isoliert behandelte, wie in den modernisierungstheoretisch geprägten Studien, oder aber diesen Aspekt sträflich vernachlässigte und sich — wie die totalitarismustheoretischen Arbeiten — auf den politisch-ideologischen überbau konzentrierte. Dringliche Aufgabe der Forschung ist die Integration beider Sichtweisen.

Einige dieser Probleme stellen sich bei intrasystemaren Vergleichen nicht, doch bleibt auch hier zu berücksichtigen, daß die verschiedenen sozialistischen Länder Osteuropas, die UdSSR, die DDR und erst recht sozialistische Entwicklungsländer wie China, Vietnam, Korea oder Kuba erhebliche Unterschiede im Entwicklungsstand, der Industrialisierung der Gesellschaft, der Kultur, der Tradition und der politischen Kultur aufweisen, die es zu berücksichtigen gilt, soll nicht der falsche Eindruck eines monolithischen Blocks entstehen, der in der Realität nicht vorfindbar ist. Diese Probleme sind in der von der Systemtheorie maßgeblich beeinflußten Diskussion über den Systemvergleich eher vernachlässigt worden. In jüngster Zeit scheint sich hier für den Bereich der Kommunismusforschung ein Wandel anzubahnen

In der Bundesrepublik ist die Forderung nach einer vergleichenden Analyse der sozialistischen Systeme und nach einem Ost-West-Vergleich am deutlichsten von Peter Christian Ludz vertreten worden; realisiert hat sie bislang nur Klaus von Beyme mit einem umfassenden Werk über „Ökonomie und Politik im Sozialismus" Beyme benennt drei poli33) tisch relevante Bereiche der Gesellschaft, die Produktionssphäre, die Distributionssphäre und die Legitimations-und Sicherungssphäre, denen er vier Zielbereiche (Redistribution, Effizienz, Protektion, Partizipation) und bestimmte policies (materielle Politiken) zuordnet. Beyme hat damit — eine freilich noch recht abstrakte — Verkoppelung der verschiedenen Bereiche der Gesellschaft, von politischen Zielvorstellungen und politischen Handlungsbereichen vorgenommen, die er für eine vergleichende Analyse der sozialistischen Systeme verwendet. Er hat in seine Typologie auch Aspekte des diese Systeme prägenden Selbstverständnisses und der von ihnen formulierten Ziele eingebracht, deren Berücksichtigung notwendig ist, um die politischen und sozialen Vorgänge in den sozialistischen Ländern bewerten zu können.

Trotz aller — letztlich wohl kaum zu beseitigenden — methodischen Probleme gewährleistet nur eine vergleichende Sicht der sozialistischen Systeme die notwendige Verallgemeinerung theoretischer Aussagen. Aus Länderstudien allein können sie nicht gewonnen werden. Das Dilemma jeder vergleichenden Untersuchung wird hier deutlich: Die fundierte empirische Analyse ist Sache von Spezialisten, die zwar „ihr“ Land kennen, darüber hinaus aber nur über allgemeine Kenntnisse verfügen. Da längerfristige Forschungsprojekte mit einer Vielzahl von Länderspezialisten und Vertretern unterschiedlicher Disziplinen nicht bestehen oder allenfalls in Ansätzen erkennbar sind, beschränkt sich der empirische Vergleich sozialistischer Systeme in der Regel auf eine parallele Darstellung von Fakten, die im günstigsten Falle von einer gemeinsamen Fragestellung strukturiert werden.

Angesichts dieser Probleme erscheint eine Forschungsstrategie sinnvoll und erfolgversprechend, die 1. eine Fortsetzung und Intensivierung empirisch fundierter area-studies gewährleistet, die 2. stärker als bisher die alten Konflikt-und neuen und Problemlagen dieser Länder unter dem Aspekt ihrer sozialen Entstehungsursachen und ihrer politischen Bewältigung thematisiert und die hoch-entwickelte Systemanalyse durch eine intensivere Policy-Analyse ergänzt und schließlich 3. auch Länder-und Regionalstudien mit einer vergleichenden Perspektive betreibt, wohl wissend, daß die Gemeinsamkeiten der Systeme sowjetischen Typs so groß sind wie ihre Unterschiede.

Fussnoten

Fußnoten

  1. St. White, What is a Communist System/in: Studies in Comparative Communism, 16 (1983) 4, S. 247ff.

  2. Vgl. C. J. Friedrich, Totalitäte Diktatur, Stuttgart 1957.

  3. Vgl. H. Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt/Main 1955.

  4. Vgl. D. F. Triska/P. M. Cocks (Ed.), Political Development in Eastern Europe, New York-London 1977; F. J. Fleron Jr. (Ed.), Communist Studies and the Social Sciences: Essays on Methodology and Empirical Theory, Chicago 1969; eine der wenigen Ausnahmen ist K. von Beyme, Ökonomie und Politik im Sozialismus. Ein Vergleich der Entwicklung in den sozialistischen Ländern, München-Zürich 1975.

  5. Vgl. dazu ausführlich G. -J. Glaeßner, Sozialistische Systeme. Einführung in die Kommunismus-und DDR-Forschung, Opladen 1982.

  6. C. Johnson (Ed.), Change in Communist Systems, Stanford (Cal.) 1970, S. 3.

  7. H. G. Skilling, Development or Retrogression?, in: Studies in Comparative Communism, 15 (1982) 1/2, S. 125ff.

  8. Zur neueren Diskussion vgl. die bei H. G. Skilling (Anm. 7) angegebene Literatur.

  9. Ebd., S. 126.

  10. J. H. Kautsky, Communism and the Comparative Study of Development, in: F. J. Fleron Jr. (Ed.), (Anm. 4), S. 199f.

  11. W. W. Rostow, Stadien wirtschaftlichen Wachstums. Eine Alternative zur marxistischen Entwicklungstheorie, Göttingen 1967 3.

  12. Vgl. Zivilisation am Scheideweg (Richta Report). Soziale und menschliche Zusammenhänge der wis19nschaftlich-technischen Revolution, Freiburg

  13. D. Bell, Die nachindustrielle Gesellschaft, Reinbek bei Hamburg 1979, S. 11 f.

  14. Ebd., S. 79.

  15. Vgl. H. Schelsky, Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation, Köln-Opladen 1961.

  16. Vgl. D. Lane, The Socialist Industrial State. Towards a Political Sociology of State Socialism, London 1976, S. 56ff.

  17. Vgl. D. Rüstow, Communism and Change, in: C. Johnson (Ed.), (Anm. 6), S. 353.

  18. Vgl. P. Chr. Ludz, Parteielite im Wandel. Funktionsaufbau, Sozialstruktur und Ideologie der SED-Führung. Eine empirisch-systematische Untersuchung, Köln-Opladen 19703, S. 4f.

  19. R. Aron, Die industrielle Gesellschaft, Frankfurt/Main 1964, S. 69ff., 256 ff.

  20. Vgl. J. K. Galbraith, Die moderne Industriegesellschaft, München-Zürich 1968; J. Tinbergen, Convergence of Economic Systems in East and West, Rotterdam 1965; H. Marcuse, Die GesellSchaftslehre des sowjetischen Marxismus, Darmstadt-Neuwied 1964.

  21. Vgl. Z. Brzezinski/S. P. Huntington, Politische Macht USA/UdSSR. Ein Vergleich, Köln-Berlin 1966.

  22. Als Beispiel für diese Positionen vgl. K. A Wittfogel, Die orientalische Despotie. Eine vergleichende Untersuchung totaler Macht, Köln-Berlin 1962; C. Bettelheim, Ökonomischer Kalkül und Eigentumsformen. Zur Theorie der Übergangsgesellschaft, Berlin 1970; T. Cliff, Staatskapitalismus in Rußland. Eine marxistische Analyse, Frankfurt/Main 1975.

  23. Vgl. P. Hennicke (Hrsg.), Probleme des Sozialismus und der Übergangsgesellschaften, Frankfurt/Main 1973; P. W. Schulze (Hrsg.), Übergangsgesellschaft. Herrschaftsform und Praxis am Beispiel der Sowjetunion, Frankfurt/Main 1974.

  24. Vgl. A Hegedüs, Sozialismus und Bürokratie, Reinbek bei Hamburg 1981; S. Stojanovic, Kritik und Zukunft des Sozialismus, Frankfurt/Main 1972; G. Konräd/I. Szelnyi, Die Intelligenz auf dem Weg zur Klassenmacht, Frankfurt/Main 1978.

  25. A. G. Meyer, The Soviet Political System. An Interpretation, New York 1965, S. 205 ff.

  26. Vgl. A. Hegedüs (Anm. 24), S. 76 ff.; G. Konräd/J. Szelnyi (Anm. 24), S. 22ff; G. -J. Glaeßner, Ende der Reformen? Bedingungen und Grenzen der Wandlungsfähigkeit sowjet-sozialistischer Systeme am Beispiel der DDR, in: Deutschland Archiv, 15 (1982) 7, S. 706; vgl. ferner T. W. Luke/C. Boggs, Soviet Subimperialism and the Crisis of Bureaucratic Centralism, in: Studies in Comparative Communism, 15(1982) 1/2, S. 95ff.

  27. H. G. Skilling/F. Griffiths (Ed.), Pressure Groups in der Sowjetunion, Wien 1974.

  28. Zur neueren Diskussion vgl. die Diskussion unter dem Titel „Pluralism in Communist Societies: Is the Emperor Naked?" in: Studies in Comparative Communism, 12 (1979) 1.

  29. T. H. Rigby, The Need for Comparative Research, in: Studies in Comparative Communism, 12 (1979) 2/3, S. 204 ff.; vgl. auch die anderen Beiträge zum „Clientelism" in diesem Heft

  30. Vgl. G. A. Almond, Communism and Political Culture Theory, in: Comparative Politics, 15 (1983) 2, S. 127; ferner G. A. Almond/S. Verba (Ed.), The Civic Culture Revisited, Boston 1980.

  31. Vgl. M. Drath, Totalitarismus in der Volksdemokratie, Einleitung zu E. Richert, Macht ohne Mandat Der Staatsapparat in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, 2. erw. Aufl. Köln-Opladen 1963.

  32. A. G. Meyer, Communist Revolutions and Cultural Change, in: Studies in Comparative Communism, 5 (1972) 4, S. 345 ff.

  33. 2A Brown/J. Gray (Ed.), Political Culture and Pontical Change in Communist States, London-Basinstoke 1977.

  34. Vgf. A. M. Mallinckrodt, Wanted: Theoretical Framework for DGR Studies. For Sale: A System/Functional Approach, in: GDR Monitor, 10 (1983/84), S. 12ff.; Comparative Communist Political Culture, in: Studies in Comparative Communism, 16 (1983) 1/2, S. 9ff.

  35. Als Beispiel für eine so verstandene Policy-Analyse vgl. K. v. Beyme/H. Zimmermann (Ed.), Policymaking in the German Democratic Republic, Aldershot 1984.

  36. Vgl. F. H. Eidlin, Soviet Studies and „Scientific’ Political Science, in: Studies in Comparative Communism, 12 (1979) 2/3, S. 133 ff.

  37. K. v. Beyme (Anm. 4).

Weitere Inhalte

Gert-Joachim Glaeßner, Dr. rer. pol, geb. 1944; Privatdozent für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Veröffentlichungen u. a.: Herrschaft durch Kader. Leitung der Gesellschaft und Kaderpolitik in der DDR am Beispiel des Staatsapparates, Opladen 1977; Macht durch Wissen. Zum Zusammenhang von Bildungspolitik, Bildungssystemen und Kaderqualifizierung in der DDR. Eine politisch-soziologische Untersuchung (zusammen mit Irmhild Rudolph), Opladen 1978; Sozialistische Systeme. Einführung in die Kommunismus-und DDR-Forschung, Opladen 1982; Die Bundesrepublik in den siebziger Jahren. Versuch einer Bilanz (hrsg. zusammen mit Jürgen Holz/Thomas Schlüter), Opladen 1984.