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Die nachrevolutionäre Ära in der Sowjetunion und in China | APuZ 31/1984 | bpb.de

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APuZ 31/1984 Artikel 1 Die nachrevolutionäre Ära in der Sowjetunion und in China Entwicklung und Stand der Totalitarismusforschung Neue Konzepte der Kommunismusforschung

Die nachrevolutionäre Ära in der Sowjetunion und in China

Richard Löwenthal

/ 35 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

In Hinblick auf die Entwicklung der führenden kommunistisch regierten Staaten sind zwei Hauptzüge erkennbar, die sich im geschichtlichen Verlauf verschlungen haben: Ein Hauptzug beruht auf dem ursprünglich „totalitären“ Charakter dieser Systeme und auf der Legitimation der Machtfülle durch ein utopisches Endziel, dessen versuchte Verwirklichung immer neue „Revolutionen von oben" erfordert. Der Konflikt zwischen diesem Versuch der Institutionalisierung der Revolution und dem unvermeidlichen Bemühen um die wirtschaftliche Modernisierung der kommunistisch regierten Staaten hat sowohl in der Sowjetunion wie in China zum Erlöschen der institutionalisierten Revolution geführt. In diesem Sinne leben beide kommunistisch regierten Großmächte heute in einer nachrevolutionären und insoweit auch nachtotalitären Ära, ohne Tendenzen zu einer Liberalisierung zu zeigen. Der andere Hauptzug beruht auf der Tatsache, daß die kommunistischen Bewegungen und Staaten zwar nicht durch ihre Ideologie auf die despotische Allmacht eines Führers festgelegt sind, daß aber die innerparteilichen Konflikte um den Vorrang der institutionalisierten Revolution oder der ökonomischen Modernisierung in der Sowjetunion zur Erhebung Stalins und in China zum Versuch einer Erhebung Mao Zedongs zum Despoten geführt haben. In beiden Ländern ist das institutioneile Primat der Partei nach dem Tode des Despoten oder Despotie-Kandidaten wiederhergestellt worden. In beiden ist auch der Übergang zu einer endgültig nachrevolutionären Phase erst nach dem Ende der despotischen oder quasi-despotischen Periode möglich geworden. In beiden ist die Frage noch offen, wieweit die nachrevolutionäre Einparteiherrschaft die Gefahr einer Stagnation vermeiden kann.

I.

Die großen kommunistischen Bewegungen unseres Jahrhunderts haben sich, soweit sie aus eigenen Kräften und nicht durch die äußere Einwirkung schon bestehender kommunistischer Staaten zur Macht gekommen sind, lange durch eine Tendenz ausgezeichnet, die in der Geschichte der politischen Umwälzungen neu ist, nämlich die Tendenz, den Prozeß der Revolution zu institutionalisieren, die Legitimation der einmal gewonnenen Macht nicht in der Stabilisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse auf der neu geschaffenen Grundlage, sondern in immer neuen gewaltsamen Veränderungen ihrer Struktur zu suchen. Das Wirksamwerden dieser Tendenz beruhte einerseits auf dem diesen Bewegungen zugrunde liegenden, im strikten Sinne des Wortes „utopischen", das heißt für Menschen auf dieser Erde unerreichbaren Ziel einer konfliktfreien Gesellschaft — auf dem Charakter der kommunistischen Ideologie als einer Diesseitsreligion, deren Anhänger sich dem unerreichten Ziel durch immer radikalere Gewaltmaßnahmen zu nähern suchen (wie das im Ansatz schon beim Versuch der Verwirklichung der rousseauistischen Utopie in der großen französischen Revolution zu erkennen war). Es beruhte andererseits auf der historisch neuen Machtstruktur des modernen Einparteistaates, dessen „totalitäres“ Monopol der politischen Entscheidungen, der gesellschaftlichen Organisation und der Information bei gleichzeitiger Freiheit von allen rechtlichen Beschränkungen der Staatsgewalt (was die jederzeitige Möglichkeit staatlich ausgeübten Terrors einschließt) die Fortdauer solcher Regime trotz aller von ihnen verursachten Leiden und Enttäuschungen bisher ermöglicht hat, so daß an Stelle des aus der französischen und vorher der englischen Revolution bekannten Zyklus von Radikalisierung, Gegenrevolution und späterer Normalisierung eben die Tendenz zur jahrzehntelangen Institutionalisierung der Revolution trat

In diesem Sinne konnte es jahrzehntelang erscheinen, als sei insbesondere den führenden kommunistischen Großmächten, der Sowjetunion und der chinesischen Volksrepublik, die Erfindung des revolutionären Perpetuum mobile gelungen. Doch dies ist trotz der bemerkenswerten Lebensdauer beider Regime in der Tat nicht der Fall: Die Regime haben sich behauptet, doch der revolutionäre Impuls ist schließlich in beiden erloschen — nur eben, im Unterschied zu den „bürgerlichen" oder „demokratischen" Revolutionen der Vergangenheit, ohne gegenrevolutionären Umsturz. Der entscheidende Grund dafür liegt m. E. darin, daß die großen originären kommunistischen Bewegungen, die ja nur in seinerzeit unterentwickelten Ländern siegreich gewesen sind, von vornherein stets zwei einander teilweise widersprechende Triebkräfte hatten: Neben dem ideologischen Motiv der Herbeiführung der klassenlosen, konfliktfreien Gesellschaft stand notwendig das primär ökonomische, aber auch außenpolitisch wesentliche Motiv der nationalen Modernisierung. In manchen Fragen wirken beide Triebkräfte in der gleichen Richtung — etwa wenn es sich um die Beseitigung eines vormodernen und parasitären Großgrundbesitzes handelt, die zugleich der sozialen Gerechtigkeit und der wirtschaftlichen Modernisierung eines Landes dienen kann. Aber in vielen anderen Fragen, wie der Zweckmäßigkeit einer „Kollektivierung" bäuerlicher Betriebe oder der weitergehenden Schaffung von „Volkskommunen“, der Auswahl für verantwortliche Positionen in Politik und Wirtschaft nach sozialer Herkunft und Gesinnung oder nach Fähigkeit und Leistung, der Erziehung zur Arbeit durch Zwang und Propaganda bei gleicher Entlohnung oder durch differenzierte materielle Anreize, tendieren ideolo-gisch-egalitäre Motive und Modernisierungsmotive häufig zu entgegengesetzten Schlüssen; und sie haben in der Sowjetunion wie in China wieder und wieder zu Konflikten innerhalb der herrschenden kommunistischen Parteiführungen geführt Im einzelnen haben sich diese Konflikte in beiden Ländern ganz verschieden entwickelt; im Ergebnis können wir heute sagen, daß das Modernisierungsmotiv zuerst in der Sowjetunion und später auch in China endgültig die Oberhand gewonnen hat — so daß beide seither in ihre nachrevolutionäre Ära eingetreten sind

Wie schon gesagt, hat sich dieser Prozeß in beiden Ländern ohne einen „gegenrevolutionären" Umsturz, in Kontinuität der kommunistischen Parteiherrschaft vollzogen. Doch seine Etappen sind in beiden Fällen durch wiederkehrende innere Konflikte in den Parteiführungen gekennzeichnet gewesen; und diese Konflikte haben in beiden Fällen zu be-deutenden, wenn auch verschieden langen Phasen der teilweisen Lähmung der Institutionen der Parteiherrschaft und zur Errich. tung eines persönlichen Despotismus — oder doch eines Versuchs dazu — geführt, der sich über diese Institutionen erhob. Besonders bemerkenswert ist dabei die Tatsache, daß nach dem Tode des Despoten Stalin und des Nahe-zu-Despoten Mao Zedong die Institutionen der Parteiherrschaft in beiden Ländern wiederhergestellt worden sind. Doch das Beharrungsvermögen der Institution erwies sich als größer als das Beharrungsvermögen der Ideologie, die ursprünglich diese Institution inspiriert hatte: In der Tat hat sich die endgültige Abkehr des kommunistischen Regimes vom Prozeß der institutionalisierten Revolution in Rußland wie in China nach dem Tode des Despoten oder Nahezu-Despoten im Rahmen der wiederhergestellten Parteiherrschaft vollzogen.

ll.

Nach dieser einleitenden Skizzierung des Gesamtprozesses der Entwicklung kommunistischer Staaten von der „institutionalisierten Revolution" zur „nachrevolutionären Ära" und der Rolle von Entstehen und Vergehen von Phasen des persönlichen Despotismus oder einer Annäherung daran in diesem Prozeß soll im folgenden ein Überblick über die Hauptphasen beider Prozesse in der Sowjetunion und in China gegeben werden

Wie schon erwähnt, war die Enteignung des Großgrundbesitzes zugunsten der Bauern am Beginn der Revolution in beiden Ländern sowohl eine egalitäre wie eine potentiell entwicklungsfördernde Maßnahme. Dagegen wußten sowohl Lenin wie Mao Zedong, daß eine ebenso schnelle Enteignung der Indu-striellen, die oft als Manager nicht kurzfristig zu ersetzen waren, entwicklungshemmend wirken mußte. Lenin versuchte daher anfangs, sich mit einer „Arbeiterkontrolle" der industriellen Produktion ohne Enteignung zu begnügen — doch die Konflikte des russischen Bürgerkrieges erzwangen eine solche innerhalb kurzer Frist. Mao versprach anfänglich den Unternehmern, die nicht direkt mit dem gestürzten Guomindang-Regime verquickt waren, ausdrücklich die Schonung ihres Eigentums; doch unter dem Druck der Kosten des Koreakrieges führte er schnell zuerst hohe Zwangsabgaben, dann Staatsbeteiligung an den Fabriken und dann Verstaatlichung mit dem Angebot an die Unternehmer ein, als Manager zu verbleiben.

Die Idee der Kollektivierung des Bauernlandes war von Lenin in seinem letzten Lebensjahr, als die Bauern unter der „Neuen Ökonomischen Politik“ ihre Produkte frei verkaufen konnten, als langfristige Perspektive für einen freiwilligen Zusammenschluß zu einer Zeit konzipiert worden, da die staatliche Industrie im Stande sein würde, den Kollektiven moderne Maschinerie zur Verfügung zu stellen. Doch in den Jahren nach Lenins Tod veranlaßte die Entstehung einer neuen Oberschicht erfolgreicher Bauern und deren wachsender Einfluß in den Dörfern zuerst die „linke Opposition" in der KPdSU, härteren Druck auf die bäuerliche Oberschicht zu fördern; und Ende 1927 begann Stalin selbst, diesen „Kulaken die Schuld für die wachsenden Schwierigkeiten der Getreideablieferung zu staatlich fest gesetzten Preisen zuzuschieben und 1928/29 eine brutale Wendung zur „Entkulakisierung" und Zwangskollektivierung durchzusetzen, die er später selbst als eine „zweite Revolution, doch diesmal von oben“, bezeichnete. Die Folge waren die Deportation von Millionen von Bauern in Arbeitslager, eine Hungersnot im Jahre 1932 und eine jahrzehntelang nachwirkende Verringerung des sowjetischen Viehbestandes.

In China versuchte Mao Zedong in Kenntnis dieser Vorgänge zunächst, die Kollektivierung des Bauernlandes langsam, auf drei Fünfjahrespläne verteilt, vorzunehmen, doch auch er reagierte auf zeitweilige Mangelerscheinungen 1954 mit der Durchführung nahezu des ganzen Prozesses im Laufe von zwei Jahren! Dennoch scheint der Prozeß dieser . zweiten Revolution“ in China weniger brutal als in der Sowjetunion gewesen zu sein; er hatte auch weniger katastrophale Folgen. Doch eine 1956 beschlossene, überfällige Erhöhung der Löhne der Industriearbeiter führte 1957/1958 zu einem raschen Ansteigen der Landflucht in die Städte, wo die Industrie die Neulinge aus Kapitalmangel nicht absorbieren konnte. Mao reagierte 1958 mit einer . dritten Revolution": Die Kollektive ganzer Landkreise wurden unter extrem egalitären Bedingungen zu „Volkskommunen" zusammengefaßt, in denen ihre Mitglieder neben der Landarbeit lokale Industrien einschließlich primitiver Hochöfen aufbauen und überdies Bewässerungsarbeiten durchführen, militärisch ausgebildet und politisch geschult werden sollten; zugleich erhielten sie überwiegend gleiche Naturallöhne, und die Einspannung auch der Bauernfrauen in den ganzen . revolutionären“ Prozeß ließ kaum mehr Raum für das Familienleben. Die wirtschaftlichen Ergebnisse waren so verheerend, daß erste Korrekturen schon nach einem Jahr angeordnet wurden, doch die Folgen blieben ernst.

Im Bemühen um forcierte Industrialisierung haben Stalin und Mao zum Teil sehr verschiedene Methoden angewandt, obwohl die allgemeine Industrieplanung Chinas sich noch in dem 1952 begonnenen ersten Fünfjahresplan weitgehend am sowjetischen Vorbild orientierte. Die Unterschiede zeigten sich jedoch bald nach Stalins Tod vor allem in der einSchätzung des relativen Gewichts der aus hem revolutionären Kampf hervorgegangenen politischen und der nach der Machtergreifung ausgebildeten technisch-ökonomischen Eliten und in der Bewertung differen-ierter materieller Anreize zur Arbeitsleistung.

Stalin hatte nach einem wenig erfolgreichen Versuch forcierter technischer Ausbildung von gesinnungsfesten Arbeitersöhnen mit geringer Schulbildung am Beginn seines ersten Fünfjahresplans schon nach zwei Jahren begonnen, die Anforderungen an die Vorbildung zu erhöhen und die Barrieren gegen „bürgerliche" Herkunft zu senken. In dem Maße, wie sich ein Konflikt zwischen vor-revolutionären politischen und nachrevolutionären technischen Eliten ankündigte, begünstigte er mehr und mehr die letzteren und benutzte seine Blutsäuberung von 1936 bis 1938 unter anderem zur Liquidierung vieler anfänglichen „roten Direktoren" und zur Beförderung der neuen Generation, deren Loyalität mehr auf begründeter Furcht als auf ideologischer Überzeugung beruhte.

Schon aus dem Jahre 1931 stammt Stalins grundlegende Stellungnahme gegen die „Gleichmacherei“ in der Lohnpolitik, die in der Folgezeit jahrelang zu einer extremen Niedrighaltung der Einkommen der ungelernten Arbeiter führte, die erst nach Stalins Tod — gleichzeitig mit dem Rückgang der Massenbedeutung der Zwangsarbeit in den Lagern — gemildert wurde.

Mao Zedong ist dagegen seit dem „Großen Sprung vorwärts" von 1958, der parallel mit der Schaffung der Volkskommunen auf dem Lande das Wachstum der industriellen Produktion beschleunigen sollte, für die Unterstellung der Betriebsleiter unter die lokalen und regionalen Parteifunktionäre in allen wichtigen Entscheidungen eingetreten. Seine Formulierung, daß Betriebsleiter und Ingenieure „sowohl rot wie sachkundig" seih müßten, wirkte sich eindeutig zugunsten der Ideologie und auf Kosten der Sachkunde aus. In dieselbe Richtung wirkte seine Aufforderung der frühen sechziger Jahre, alle sollten von der Armee lernen — eine Armee, die starke Guerrilla-Traditionen und wenig moderne Waffen hatte. Vor allem aber wurde Mao seit dem Beginn seiner außenpolitischen Differenzen mit Chruschtschow zunehmend überzeugt, daß die ideologische Entartung der Sowjetunion wesentlich auf dem „kapitalistischen Geist“ ihrer materiellen Anreizpolitik — auf der Akzeptierung des homo oeconomicus — beruhe, und daß die revolutionäre Zukunft Chinas nur durch die Änderung des Bewußtseins der Massen im Sinne eines Primats ideologischer Anreize zu sichern sei: Hier liegt die tiefste Wurzel seiner letzten Revolution — der „Großen Proletarischen Kulturrevolution“. Unter westlichen Kennern der sowjetischen Entwicklung wird häufig die Ansicht vertre5 ten, daß das Absterben der institutionalisierten Revolution in der Sowjetunion bereits unter Stalin vollendet worden sei: Zur Begründung wird auf seine Liquidierung des Großteils der revolutionären Elite in der Blutsäuberung von 1936 bis 1938 und auf die Konzessionen hingewiesen, die Stalin im Zweiten Weltkrieg an die ideologischen Traditionen des großrussischen Nationalismus und der orthodoxen Religion, aber auch an die ökonomischen Bedürfnisse der Bauernschaft machte. Doch der Elitenwechsel, der selbst eine Form der „Revolution von oben" war, hat nicht verhindert, daß die ideologischen Zügel bald nach Kriegsende in der Shdanow-Ära wieder straff angezogen und den Kollektivbauern, die sich im Kriege in aller Stille Geräte und Vieh aus dem gemeinsamen Besitz privat angeeignet hatten, diese „Erwerbungen“ prompt wieder weggenommen wurden. Von 1950 an folgte dann die — von Chruschtschow als neuem Agrarspezialisten des Politbüros durchgeführte — Zusammenlegung der Kolchosen in größere Einheiten, die ihre Zahl bis Ende 1952 auf ein Drittel reduzierte und damit zwar nicht, wie Chruschtschow gehofft hatte, ihre Leistungsfähigkeit erhöhte, wohl aber die Parteikontrolle über ihre Leitung wesentlich festigte. Anfang 1951 kündigte Chruschtschow dann eine weitere grundsätzliche Umwälzung an — eine Umsiedlung der in den neuen Großkolchosen zusammengefaßten Bauern in neue zentrale „Agrostädte", die ihnen ein reicheres Kulturleben um den Preis des Verlusts ihrer bisherigen privaten Boden-stücke gegen wesentlich reduzierten Ersatz bringen sollte. Doch dieses neue revolutionäre Projekt ist erstmals an breitem Widerstand innerhalb der Parteiführung gescheitert, die sowohl die Beschaffbarkeit der notwendigen Baumaterialien bezweifelte, als auch die Folgen für Loyalität und Produktivität der Bauern fürchtete. Dieser Widerstand und die Tatsache, daß Stalin in diesem Fall Chruschtschows Projekt ohne Versuch der Durchführung fallen ließ, zeigen in der Tat, daß Anfang der fünfziger Jahre der Endkampf um den Vorrang der ökonomischen Notwendigkeiten über die Fortsetzung der institutionalisierten Revolution in der Sowjetunion begonnen hatte. Aber Stalin hatte die Hoffnung auf weitere gewaltsame Schritte zur Verwirklichung der Utopie noch nicht aufgegeben.

Das wurde deutlich, als Stalin in seiner am Vorabend des 19. Parteitags der KPdSU veröffentlichten letzten Schrift — „Ökonomische Probleme des Sozialismus in der UdSSR" — das Projekt einer viel radikaleren revolutionären Umwälzung veröffentlichte: Die Gefahr eines Wiederauftretens kapitalistischer Tendenzen, so erklärte er, würde so lange beste, hen, wie die Kolchosen als Eigentümer ihre Produkte in Marktbeziehungen mit dem Staat und dem industriellen Sektor verbunden sei. en. Nur die Ersetzung dieser Marktbeziehu gen durch organisierten Austausch ländlicher und städtischer Produkte im Rahmen eines staatlichen Verteilungsapparats könne die Voraussetzungen einer Weiterentwicklun der „sozialistischen" Sowjetgesellschaft zu der angestrebten „höheren Stufe des Kommunis mus“ schaffen. Wie die einzelnen Briefe und Aufsätze in diesem letzten theoretische! Werk Stalins erkennen lassen, war die Verwirklichung dieser Utopie ihm im Laufe des Jahres 1952 von Monat zu Monat immer drin, gender erschienen. Doch sie wurde auf den 19. Parteitag nicht systematisch diskutiert, ge, schweige denn zum Beschluß erhoben. Es mag mit dem stillen Widerstand wesentlicher Teile der bis dahin stalintreuen Parteiführung gegen diese Wahnidee zusammengehangen haben, daß auf diesem Parteitag das bisherige Politbüro durch ein wesentlich zahlreicheres Parteipräsidium mit vielen neuen Mitgliedern ersetzt wurde — und daß Stalin in den letzten Monaten seines Lebens nach der späteren Aussage Chruschtschows eine neue Blutsäuberung unter seinen bisher engsten Mitarbeitern vorbereitete. Als er im März 1953 starb, war kein Versuch zur Verwirklichung seines letzten revolutionären Projektes gemacht worden — und seine Nachfolger haben es nicht wieder aufgenommen. Tatsächlich wandten sich diese Nachfolger in den ersten Jahren ihrer Kämpfe um die Führung eher realistischen Verbesserungen der Lebensbedingungen der Arbeiter und Bauern als neuen utopischen Abenteuern zu. Doch Chruschtschow, der bei diesen Verbesserungen eine wichtige Rolle gespielt hatte, kam nach seiner 1957 erfolgten eindeutigen Durchsetzung als Parteiführer 1959 noch einmal auf sein altes Projekt der „Agrostädte“ zurück und verband nun die Kampagne für eine Umsiedlung der Kollektivbauern mit der für den Verkauf ihrer privaten Viehbestände an die kollektiven Stallungen. Beides sollte auf „freiwilliger" Grundlage geschehen; Chruschtschow war überzeugt, daß auf dem erreichten Stand der Entwicklung des Sowjet-staates weitere Umwälzungen nicht mehr mit Methoden des Massenterrors durchgesetzt werden könnten. Doch es zeigte sich bald, daß seine Kampagne nur da Anfangserfolge hatten, wo lokal massiver Druck ausgeübt wurde, so daß entsprechende ökonomische Rückschläge ihnen alsbald folgten. Chruschtschow mußte sein Projekt erneut aufgeben; und als der Entwurf seines neuen Parteiprogramms von 1961 veröffentlicht wurde, zeigte sich, daß weitere Änderungen der Gesellschaftsstruktur nicht mehr als Ziele revolutionärer Aktionen der herrschenden Partei geplant, sondern nur noch als Nebenprodukte wachsender Produktivität und steigenden Lebensstandards erwartet wurden. Damit war das Ende der Epoche der „institutionalisierten Revolution" von der herrschenden Partei der Sowjetunion implizit programmatisch anerkannt; und es entsprach diesem historischen Wendepunkt, daß das gleiche Programm explizit erklärte, die Sowjetunion sei nicht mehr eine „Diktatur des Proletariats", sondern ein „Staat des ganzen werktätigen Volkes". Das änderte freilich nichts am Fortbestehen des diktatorischen Parteimonopols: Nur die revolutionäre Dynamik, zu deren Verwirklichung es ursprünglich geschaffen wurde, hatte sich endgültig totgelaufen.

III.

Im China Mao Zedongs ist die Endphase der institutionalisierten Revolution weit dramatischer verlaufen. Sie begann mit der Lancierung des „Großen Sprungs nach vorn“ und der Vorbereitung der „Volkskommunen“ auf der zweiten Tagung des 8. Parteitags Anfang 1958, und führte schnell zu Maos Losung von der . ununterbrochenen Revolution.“ Die schweren wirtschaftlichen Rückschläge, zu denen beide revolutionären Maßnahmen schon in den ersten zwei Jahren führten, brachten ernste innerparteiliche Kritik an Mao, der bis dahin ein überaus populärer und unumstrittener Parteiführer, aber kein Despot über der Partei gewesen war, und eine Reihe praktischer Korrekturen, denen er sich anfänglich unterwarf. Doch je mehr er im Zuge des — ursprünglich primär außenpolitischen — sowjetisch-chinesischen Konflikts zu der Auffassung kam, der eigentliche Kern des Konflikts sei die Abwendung der sowjetischen Führung unter Chruschtschow von ihrer revolutionären Aufgabe und der „Diktatur des Proletariats", desto mehr versteifte er sich auf die Fortsetzung einer utopisch-revolutionären Politik in China bis zur Verwirklichung des kommunistischen Endziels, die „fünf bis zehn Generationen oder ein oder mehrere Jahrhunderte“ dauern könne, wie er 1964 in seiner Polemik gegen „Chruschtschows Pseudo-Kommunismus“ schrieb. Es war der wachsende Widerstand eines großen Teils — wahrscheinlich der Mehrheit — des Zentralkomitees gegen dieses Konzept der „ununterbrochenen Revolution“, der Mao schließlich in der Krise von 1965/66 veranlaßte, seine persönliche Alleinherrschaft über die institutioneilen Regeln der Partei hinweg mit Hilfe der ihm ergebenen Armee und der von ihm mobilisierten und von der Armee gestützten „Roten Garden" von Oberschülern und Studenten zu errichten. Das war der Kern der „Großen proletarischen Kulturrevolution"

Doch die resultierende Desorganisation der bis dahin herrschenden kommunistischen Partei, die weit über die seinerzeitigen Folgen der Stalinschen Blutsäuberung hinausging, verhinderte in China sowohl die Errichtung eines einigermaßen stabilen Despotismus wie eine einigermaßen konsequente Politik der „ununterbrochenen Revolution." Die letzten Jahre Mao Zedongs bis zu seinem Tode im Jahre 1976 waren von bitteren, aber niemals endgültig entschiedenen Konflikten zwischen den Anhängern dieses Konzepts und den Anhängern des Vorrangs der Modernisierung gekennzeichnet. Erst nach Maos Tod im September 1976 begann mit der Verhaftung seiner Witwe Jiang Qing und ihrer führenden Anhänger die Zurückdrängung der Vertreter der „ununterbrochenen Revolution"; und erst 1978 erfolgte die eindeutige Entscheidung für den Primat der Modernisierung als Hauptaufgabe des Regimes, mit der die nachrevolutionäre Ära in Ghina begann.

IV.

Bevor im folgenden Charakter und Perspektiven dieser Ära in den beiden führenden kommunistischen Mächten abschließend erörtert werden, sind einige vergleichende Bemerkungen über die Art nötig, in der sich in beiden Ländern der Konflikt zwischen der am utopischen Ziel ausgerichteten institutionalisierten Revolution und der materiellen Notwendigkeit der Modernisierung mit dem Konflikt zwischen den Institutionen der Parteiherrschaft und der Tendenz zum persönlichen Despotismus verschlungen hat.

Dieser zweite Konflikt wird grundsätzlich dadurch ermöglicht, daß die kommunistische Ideologie, im Unterschied zur Ideologie des Faschismus oder des Nationalsozialismus, nicht von vornherein das absolute Entschei-dungsrecht eines Führers proklamiert Wohl wird die Partei zentralistisch von oben nach unten aufgebaut und verlangt von ihren Mitgliedern strikte Disziplin gegenüber der Führung; andererseits wird die Führung von Delegierten der Mitglieder gewählt und ist diesen „demokratisch" verantwortlich. Das bedeutet in der Praxis, daß eine kommunistische Parteiführung sich immer durchsetzen kann, wenn sie einig ist. Doch für den Fall ernster Gegensätze in der Führung hat Lenin zwei entgegengesetzte Regeln hinterlassen:

Vor der Machtergreifung hat er es für die Pflicht eines Führers erklärt, wenn er überzeugt ist, daß er den rechten Weg der Revolution kennt, die Partei lieber zu spalten, als sich einer irrenden Mehrheit zu unterwerfen;

nach der Machtergreifung hat er, als unangefochtener Führer, jede „fraktionelle" Opposition gegen Beschlüsse der leitenden Parteiorgane als Gefahr für das Parteimonopol und daher als potentiell konterrevolutionär bezeichnet. Die Folge ist, daß bei Konflikten innerhalb der Führung, die von beiden Seiten als für die Sache der Revolution lebenswichtig angesehen werden, die Mehrheit sich zur Erzwingung und die Minderheit zur Verweigerung der Disziplin auf Lenin berufen können. Die Konflikte um den Vorrang der Verwirklichung der Utopie durch immer neue Revolutionen oder den Vorrang der Modernisierung im Interesse der staatlichen Lebensfähigkeit waren solche lebenswichtigen Grundsatzkonflikte. Sie konnten ohne Gewaltanwendung . nur überwunden werden, wenn ein Führer . faktisch mehr oder weniger unangefochtene Autorität besaß — wenn auch seine Kritiker dazu neigten, sich ihm zu fügen, weil er vorher immer wieder durch die Resultate seiner Politik gerechtfertigt worden war. Solche Führer waren Lenin in den Jahren von der Machtergreifung bis zu seiner lähmenden Erkrankung und Mao Zedong von der Machtergreifung bis zur Zeit des Großen Sprungs vorwärts. Nach Lenins Tod gab es in der Sowjetunion und nach dem Großen Sprung in der chinesischen Volksrepublik keinen derart unangefochtenen Führer.

In Rußland haben daher schon unmittelbar vor Lenins Tod Richtungskämpfe in der KPdSU angefangen, die zunächst mit den Methoden der „innerparteilichen Demokratie'ausgetragen wurden. In diesen Kämpfen war Stalin von vornherein gegenüber seinen Rivalen im Vorteil, weil er den Parteiapparat kontrollierte und dies ausnutzen konnte, um seine Kritiker als Kritiker „der Partei" darzustellen. Das war leicht bei den „linken" Kritikern, die eine Verschärfung der Politik gegenüber den Bauern, also einen Bruch mit Lenins „Neuer ökonomischer Politik", forderten. Es war schwerer gegenüber den „rechten“ Kritikern, die an jener Politik im Gegensatz zu Stalins neuer Politik der forcierten Industrialisierung und Zwangskollektivierung um 1928/29 festhalten wollten. Stalin gelang es jedoch, auch diese in die Rolle der fraktionellen Opposition" zu drängen. Doch all dies spielte sich noch im Rahmen einer vorwiegend innerparteilichen Auseinandersetzung, ohne Polizeimaßnahmen und Gewaltanwendung — mit Ausnahme der Verfolgung der bereits geschlagenen Anhänger Trotzkys nach 1927 — ab.

Die Konflikte verschärften sich, als die Zwangskollektivierung zu einer schweren Hungerkrise führte: Jetzt wollte Stalin den Verfasser einer illegal zirkulierenden Schrift den Kommunisten Ryutin, der seinen Sturz forderte, wegen . Aufforderung zum Mord" bestrafen. Doch das Stalin sonst ergebene Politbüro verweigerte seine Zustimmung: Stalin war noch kein Despot. Doch seine NeigungiM despotischer Machtausübung gegen seine Kritiker war nun schon erkennbar, und sie verstärkte sich, als nach der Überwindung der Krise, während der Stalins starke Hand den meisten Kommunisten als unentbehrlich erschienen war, auf dem 17. Parteitag im Februar 1934 eine Tendenz sichtbar wurde, seine Vollmachten einzuschränken: Der Parteitag änderte seinen Titel von „Generalsekretär" zu „Erster Sekretär“, suchte die „Kollektivität" des Sekretariats durch Zuwahl des populären Leningrader Parteisekretärs Kirow zu stärken und verweigerte Stalin anscheinend in geheimer Neuwahl des Zentralkomitees 292 von 1225 der abgegebenen Stimmen Offenbar müssen es diese Anzeichen einer Bedrohung der institutionellen Grundlage von Stalins Macht gewesen sein, die ihn ver-anlaßten, aktive Schritte zur Errichtung einer despotischen Macht zu unternehmen, die den Parteiinstitutionen übergeordnet sein würde. Er brachte seine persönlichen Vertrauten in Schlüsselpositionen der Geheimpolizei, der Staatsanwaltschaft und des Gerichtswesens. Nach einem erfolglosen Attentat auf Kirow hat er zumindest nichts unternommen, um ein zweites, erfolgreiches Attentat des gleichen Täters auf das gleiche Opfer zu verhindern; und er nahm dann die Ermordung Kirows zum Anlaß für die große Blutsäuberung, die mit Maßnahmen gegen einstige Oppositionelle mit ihrem Höhepunkt in den berüchtigten Schauprozessen begann und sich bald auf alte Anhänger Stalins ausdehnte, die Zweifel an seinen neuen Maßnahmen äußerten: Am Ende gehört die Mehrzahl sowohl der Delegierten des Parteikongresses von 1934 wie des dort gewählten Zentralkomitees zu den Opfern, und mit ihnen die hervorragendsten Armeeführer und ein großer Teil der industriellen Eliten. Diese Säuberung markierte den Augenblick, in dem Stalin die ganze Machtvollkommenheit eines Despoten übernahm: Die Partei blieb zwar dem Namen nach die Trägerin der Legitimität, war aber von nun an in Wirklichkeit nur eines der Instrumente Woschd — weniger wichtig als die Geheimpolizei, und im Kriege nicht wichtiger als die Staatsbürokratie und die Armee.

Zwischen dem 18. Parteitag von 1939, der das Ende der Massensäuberung verkündete, und dem 19. Parteitag im Herbst 1952 trat das Zentralkomitee nur selten und das Politbüro meist in von Stalin nach Gutdünken ausgewählten Teilgruppen zusammen; während des Krieges war das wichtigste Organ, dessen sich Stalin — der nun auch Oberhaupt der Regierung war — bediente, kein Parteiorgan, sondern das „Staatliche Verteidigungskomitee.“ In der Nachkriegszeit fanden kleinere . Säuberungen“ ihre Opfer vor allem in den Parteiorganisationen Leningrads und des Kaukasus sowie unter prominenten jüdischen Kommunisten. Doch die Partei wurde niemals aufgelöst; und nach Stalins Tod im März 1953 erwies sich Chruschtschows Kampf um die Nachfolge als Erster Sekretär zugleich als ein Kampf um die Wiederherstellung des Primats der Partei gegenüber den anderen Machtapparaten.

Die wichtigsten Etappen dieses Kampfes waren der Reihe nach erstens der Sturz Berias und die Unterordnung der Geheimpolizei, zweitens die Absetzung Malenkows als Regierungschef, drittens die „Entstalinisierung", die mit der Enthüllung von Stalins Verbrechen auf dem 20. Parteitag begann, viertens die teilweise Dezentralisierung der zentralen Wirtschaftsbürokratie und der Sieg über die sogenannte „parteifeindliche Gruppe“, d. h. die sich dieser Maßnahme widersetzende Mehrheit des Politbüros, und fünftens und letztens die Absetzung von Marschall Shukow als Oberkommandant der Streitkräfte wegen allzu großer Unabhängigkeit. Ende 1957 war Chruschtschow als erster Sekretär des Zentralkomitees der Partei so zum unverkennbaren politischen Führer der Sowjetunion geworden — ohne die Rolle eines Despoten anzustreben, und in der Tat ohne ihrer zu bedürfen. Die Entscheidung zur Beendigung der institutionalisierten Revolution fiel 1960/61, wie schon dargestellt, unter seiner Führung.

Chruschtschows Führungsmethoden erwiesen sich in der Folgezeit zwar keineswegs als despotisch, doch als zu sprunghaft und unberechenbar für eine nachrevolutionäre Periode. So wurde er 1964 durch Beschluß erst des Politbüros und dann des Zentralkomitees gestürzt — ohne ernsthaften Widerstand und ohne eine neue Nachfolgekrise. Er war das Opfer der Inkonsequenz seiner bahnbrechenden Leistung geworden: Chruschtschow hatte der hohen Parteibürokratie, deren Angehörige unter Stalin nie aufhören konnten, um ihr Leben zu zittern, Existenzsicherheit gegeben und sie damit zur herrschenden Oligarchie gemacht — doch er hatte sich geweigert, ihr die Stabilität ihrer Posten und gesicherten Einfluß auf die zentralen Entscheidungen zu sichern! Das wurde besonders deutlich, als er 1962 den Versuch einer Reorganisation des Parteiapparates an Haupt und Gliedern durch seine Konzentration auf ökonomische Verantwortung bei gleichzeitiger radikaler Teilung in einen industriellen und einen landwirtschaftlichen Sektor auf allen Stufen unternahm: Die Parteibürokraten fühlten sich zugleich verunsichert und überfordert. Der Mann, der die Sowjetunion in einer kühnen Wendung von dem Alptraum der institutionalisierten Revolution befreit und auf die Aufgaben stetiger Wirtschaftsentwicklung gelenkt hatte, verstand nicht, daß nach Meinung der tragenden Kräfte des Systems für diese Aufgaben nicht nur kein Despot, sondern überhaupt kein dynamischer Führer mehr nötig war, der über den Apparat hinweg an die Massen appellierte — wie Chruschtschow das immer wieder tat So wurde er friedlich in Pension geschickt und zur Unperson gemacht — ein Opfer der Oligarchie, die er vom Despotismus befreit hatte, aber deren Gesetzmä-ßigkeiten er nicht verstand — oder wenn man will, das erste, unblutige Opfer der nachrevolutionären Ära, der er in der Sowjetunion den Weg gebahnt hatte

V.

In China hatte Mao Zedong angesichts der innerparteilichen Kritik seiner Politik des „Großen Sprungs“ nicht nur die Rolle des Staatschefs seinerzeit an Liu Shao-qi abgegeben, sondern sich als Parteiführer zeitweise aus den wirtschaftspolitischen Alltagsentscheidungen zurückgezogen und sich offiziell auf die ideologischen Grundfragen, faktisch aber auch auf seine enge Beziehung zur Armee konzentriert. Nach der Veröffentlichung seines 1964er Grundsatzdokuments gegen Chruschtschow begann er jedoch, den „Kampf zwischen zwei Linien" mit Hilfe von zwei ideologischen Kampagnen — der „Sozialistischen Erziehungsbewegung" und der Kampagne „Lernt von der Armee" — in einer Form wieder aufzunehmen, die den Entscheidungskampf um die Macht unmittelbar vorbereitete. Mit Hilfe der Armee unter der Führung seines alten Anhängers Lin Biao setzte er im August 1966 in einer Sitzung des Zentralkomitees, bei der anscheinend nur eine Minderheit von dessen Mitgliedern anwesend war, das Programm der „Kulturrevolution" durch, die nicht nur das Erziehungssystem radikal umwälzte und die Hochschulerziehung zeitweise völlig lähmte, sondern Millionen von Jugendlichen zum Sturm auf die Parteibüros und viele der Ministerien mobilisierte und die Parteiorganisationen faktisch lahmlegte, während die offizielle Jugendorganisation der Partei und die Gewerkschaften formell aufgelöst wurden. Die Entfesselung der politisch ungeschulten Roten Garden führte schnell zu anarchischen Zuständen, zur willkürlichen Verhaftung, Demütigung und Mißhandlung vieler leitender Partei-und Staatsfunktionäre bis hinauf zum Staatspräsidenten Liu Shao-qi und zu massenhaften Todesopfern sowohl dieser Aktipnen wie der sich ausbreitenden Konflikte unter rivalisierenden „Roten Garden". Mao, der im Unterschied zu Stalin seine Machtergreifung ursprünglich als Volksbewegung durchführen wollte und die Armee zunächst für Unterstützung und Transport der „Roten Garden" benutzt hatte, war schon 1968 gezwungen, die gründlich ernüchterten Streitkräfte zur Wiederherstellung der Ordnung einzusetzen, um 1969 mit ihrer Hilfe den Wiederaufbau der Partei von ober her zu beginnen.

Der Versuch des Despotismus führte also in China nicht wie im Falle Stalins zu einer relativ stabilen Alleinherrschaft, sondern zu wachsender Abhängigkeit Maos von der Armee, die den Kern der neuen „Revolutionskomitees" und der daraus entwickelten Provinz-komitees der Partei stellte und deren Oberbefehlshaber, Lin Biao, auf dem 9. Parteitag von 1969 zu Maos Stellvertreter und statutorisch festgesetztem Nachfolger gewählt wurde. Doch scheinen die anhaltenden Konflikte in der Parteiführung und die zunehmende Entscheidungsschwäche des alternden Mao Lin zu dem Versuch veranlaßt zu haben, seine Nachfolge vorweg zu nehmen und eine offene Militärherrschaft zu errichten, in der das Programm der „ununterbrochenen Revolution“ nun nicht mehr „maoistisch" und chaotisch von unten, sondern diszipliniert von oben durchgeführt werden sollte. Der Versuch scheiterte jedoch am Widerstand der meisten Provinzgenerale und der zivilen Parteiführer aller Richtungen, und Lin Biao verlor 1971 sein Leben.

In den letzten Jahren Maos war es vor allem Zhou Enlai, der in den früheren Kämpfen Mao zugleich loyal gestützt und nach Möglichkeit gebremst hatte, der sich um den Wiederaufbau der Partei und die Normalisierung des Regimes bei schrittweiser Wiederherstellung seiner wirtschaftlichen Leistungskraft bemühte; doch angesichts der zunehmenden Entscheidungsschwäche Maos ging zugleich der Machtkampf der konsequenten Anhänger seiner utopischen Revolutionsideen weiter. Die vorzeitige Nachfolgekrise, die sich so entwickelte, wurde noch dadurch verschärft, daß Zhou noch vor Mao starb. Mao blieb bis zu seinem Tod 1976 abhängig von einer ungewissen und unstabilen Balance zwischen militärischen Führern, überlebenden Anhängern einer realistischen Modernisierungspolitik um Zhou und den zweimal verbannten Deng Xiaoping sowie unbelehrbaren Anhängern der ununterbrochenen Revolution im Umkreis seiner Frau: Er war nicht nur kein Despot geworden, sondern nicht einmal ein effektiver Führer mit einer klar erkennbaren und entschlossen durchgeführten politischen Linie geblieben.

Obwohl die Funktionsfähigkeit der chinesischen Partei von Mao zeitweise gründlicher erschüttert worden war als die der sowjetischen seinerzeit von Stalin, erwies sich die Wiederherstellung ihres Primats nach Maos Tod als leichter als nach dem Tod Stalins: Der Despotismus war faktisch erloschen, die Partei hatte sich unter Zhous fürsorglicher Hand zu erholen begonnen und der politische Ehrgeiz der Armee war nach ihrer wenig ruhmreichen Rolle in den vorhergehenden Jahren zunächst gebrochen. Dagegen ging der ungelöste innerparteiliche Konflikt um den Vorrang der revolutionären Utopie oder der dringenden ökonomischen Modernisierung zunächst weiter. Der erste Schritt zu seiner Lösung war die blitzartige Ausschaltung der utopischen Extremisten um Jian Qing, die nun als „Viererbande" bekannt wurden; sie erfolgte zunächst nicht durch die entschiedenen Anhänger der Modernisierung, deren überlebender Führer Deng Xiaoping zu dieser Zeit noch verbannt war, sondern durch den eher farblosen Hua Guofeng, dem Mao angeblich auf dem Sterbebett die Führung übertragen hatte und der sich theoretisch zur Unfehlbarkeit Maos bekannte, aber in der Praxis nicht bereit war, die ununterbrochene Revolution fortzusetzen — und dem die Garnison von Peking und die Leibwache Maos folgten. Unter seiner Führung begann ein Interregnum des Nachbetens der revolutionären Losungen bei gleichzeitiger Vermeidung revolutionärer Experimente. Doch schon im Juli 1977 wurde Deng zum zweiten Mal rehabilitiert und begann eine Kampagne für die Notwendigkeit, „die Wahrheit in den Tatsachen zu suchen", die in gewolltem Gegensatz zu der Lehre von Maos Unfehlbarkeit stand; und Ende 1978 erklärte ein Plenum des Zentralkomitees Hua die von festgehaltene Losung von des Klassenkampfes der als in Abwesenheit feindlicher Klassen absurd und die Modernisierung Chinas als Hauptaufgabe der Partei.

Damit war der Weg zu einer nachrevolutionären Rolle der Partei offenbar geöffnet; um ihn zu beschreiten, bedurfte es jedoch noch einer grundsätzlichen Kritik am Mao Zedong der Jahre seit dem Großen Sprung und vor allem der Kulturrevolution. Während Deng nun zum faktischen Führer der Partei aufstieg, ohne den formellen Titel anzunehmen — er begnügte sich mit offiziellen Stellvertreterrollen in Partei und Armee und mit der Beförderung jüngerer Anhänger in Schlüsselpositionen —, wurde Hua erst als Regierungschef und auf dem Parteikongreß von 1981 auch als Parteivorsitzender abgesetzt. Der gleiche Kongreß brachte eine grundlegende Resolution über die Parteigeschichte seit der Gründung der chinesischen Volksrepublik, die bei voller Anerkennung der Verdienste Maos um den Weg zur Macht und um die frühen Auf-baujahre die Politik des Großen Sprungs entschieden kritisierte und die „Kulturrevolution" als total verfehlt und verhängnisvoll verdammte; dabei wurden die „Viererbande" und Lin Biao für spezifische Verbrechen und Grausamkeiten, aber Mao selbst eindeutig für die falsche Gesamtpolitik verantwortlich gemacht. Das ganze Dokument hat ein erheblich höheres intellektuelles Niveau als alle offiziellen Dokumente der sowjetischen „Entstalinisierung". Der seitherige Verlauf hat bestätigt, daß die Volksrepublik China seit diesem Kongreß von 1981 endgültig in ihre nachrevolutionäre Ära eingetreten ist — 32 Jahre nach dem Sieg der ursprünglichen Revolution. Wenn wir Chruschtschows Pateiprogramm von 1961 als den endgültigen Beginn der nachrevolutionären Ära in der Sowjetunion ansehen, so hat der parallele Prozeß dort 44 Jahre gedauert. Das entspricht dem wesentlichen Unterschied, die nachrevolutionäre Ära in der Sowjetunion erst eingesetzt hat, nachdem diese sich zu einer bedeutenden industriellen Macht entwickelt hatte, während China, das seine revolutionäre Geschichte auf einer wesentlich niedrigeren Entwicklungsstufe begann, auf die Fortsetzung der institutionalisierten Revolution verzichten mußte, bevor es einen vergleichbaren Stand der industriellen Entwicklung erreichen konnte.

VI.

Die nachrevolutionäre Sowjetunion hat ihre charakteristische politische Form erst nach dem Sturz Chruschtschows im Herbst 1964 mit dem Machtantritt des um Breschnew und Kossygin gruppierten Kollektivs gefunden. Dieses Kollektiv hat, mit gelegentlichen individuellen Veränderungen, aber ohne fraktionelle Konflikte, 18 Jahre lang über die stabilste Phase der sowjetischen Geschichte präsidiert. Das Politbüro war nicht mehr ein Schauplatz bitterer Kämpfe — sei es um revolutionäre Prinzipien, sei es um die Macht. Es war die Spitze einer autoritär regierenden Oligarchie von Bürokraten, die sich diszipliniert an bindende Entscheidungsprozeduren hielt und deren „Kabinettsdisziplin" den Appell an die Öffentlichkeit im Falle von Meinungsverschiedenheiten in der Führung strikt ausschloß, Weil die Mitglieder des „Kabinetts" sich ihrer Pflicht zur kollektiven Soli-11 darität bewußt waren, aber keinerlei demokratische Verantwortung gegenüber Außen-stehenden anerkannten. Sie gewährten auch den nachgeordneten Schichten der „Nomenklatura'1 jene Sicherheit der einmal erreichten Position und des allmählichen Aufstiegs nach Anciennität, die Chruschtschow ihnen noch verweigert hatte — nur in Fällen skandalöser Verfehlungen oder dramatischen Versagens wurden einzelne Ausnahmen gemacht. Die Kehrseite dieser ungewohnten Stabilität war so eine mit den Jahren wachsende Tendenz zur Stagnation und zur Überalterung in den leitenden und mittleren Positionen. Doch für mehr als ein Jahrzehnt hat dieses Regierungs-System der nachrevolutionären Sowjetunion im großen und ganzen gemäß den eigenen Ansprüchen funktioniert, ohne Massenterror und ohne Liberalisierung, und ihre Rolle als Weltmacht ist dabei gewachsen.

Gleichzeitig erwies sich ein Wandel in der nachrevolutionären Legitimation des Parteimonopols als unvermeidlich. Die traditionelle Verheißung einer Gesellschaft ohne soziale Unterschiede, aber auch die Verheißung der Überholung des amerikanischen Lebensstandards bis 1970 und der Erreichung der „höheren Stufe des Kommunismus“ bis 1980, die Chruschtschow unvorsichtig genug gewesen war, in sein Parteiprogramm zu schreiben, mußten fallengelassen werden; und der zugrundeliegende Gedanke, ökonomische Leistung zur entscheidenden Legitimation der Parteiherrschaft zu machen, hatte sich schon vor Chruschtschows Sturz als bei der Partei-bürokratie unpopulär erwiesen. Die Lücke kam der neuen Parteiführung in dem Maße zum Bewußtsein, wie Erscheinungen ideologischer Dissidenz sich bemerkbar machten — besonders zur Zeit des Echos des „Prager Frühlings" von 1968 in der Sowjetunion. Im April 1968 enthüllte Breschnew auf einer Moskauer Funktionärsversammlung die neue Antwort auf das Problem: Die Sowjetunion sei von Gegnern ihres sozialistischen Systems umgeben, die sich auch in Zeiten der militärisch friedlichen Koexistenz ständig bemühten, die verschiedenen sozialen Schichten und Nationalitäten des Sowjetstaates gegeneinander auszuspielen; das Monopol der kommunistischen Partei sei daher eine unentbehrliche Klammer, um die sozialistische Ge-Seilschaft zusammenzuhalten. Die zentrale Bedeutung dieser ideologischen Legitimation des Systems der Parteiherrschaft als Sicherung gegen die Intrigen äußerer Feinde ist seither in der Sprachregelung der sowjetischen Oligarchie um so unbestrittener geblieben, je mehr die traditionelle kommunistische Zukunftsverheißung an ideologischer Glaubwürdigkeit verlor.

Doch dieser Verschiebung in der ideologi.sehen Legitimation des nachrevolutionären Systems entspricht eine Verschiebung in der relativen Bewertung seiner praktischen Aufgaben. Der späte Chruschtschow hatte, besonders nach dem Scheitern des kubanischen Abenteuers, parallel zur Propaganda der kommenden Verbesserung der Lebensbedingungen der Massen sich für reale Planverschiebungen in dieser Richtung eingesetzt und die Forderungen der Militärs nach erhöhten Rüstungsausgaben enttäuscht. Seine Nachfolger zogen aus der karibischen Niederlage sofort die Folgerung eines massiven Rüstungsprogramms, auch wenn sie sich anfänglich zugleich um einen Versuch der Reform des ökonomischen Planungssystems bemühten. Doch der Versuch der Wirtschaftsreform scheiterte, während das Rüstungsprogramm nach einigen Jahren zum Abschluß des ersten SALT-Abkommens mit den USA auf der Grundlage nuklearer Gleichberechtigung führte. Während in den ersten Jahren der auf Verhandlungen gegründeten Entspannung die Sowjets sich im wesentlichen mit den Früchten der getroffenen Vereinbarungen für ihre Sicherheit und ihr internationales Ansehen begnügten, begannen sie seit Mitte der siebziger Jahre — im Angesicht einer zeitweisen Handlungs-und Verhandlungsschwäche der USA in der Nachwirkung von Vietnam und Watergate — zugleich mit Rüstungen neuer, in den Verträgen nicht vorgesehener Art, wie den SS 20, und mit Vorstößen in der Dritten Welt.

Diese weltpolitische Offensive der Sowjets erfolgte im Zeichen der letzten Jahre Breschnews, die bereits durch eine zunehmende Disproportion zwischen der enttäuschenden ökonomischen und der forcierten militärischen Entwicklung der Sowjetunion gekennzeichnet waren. Die Folgen der langjährigen administrativen Stagnation machten sich nicht zuletzt in der wachsenden Rolle der planwidrigen „Schattenwirtschaft" und der direkten Korruption bemerkbar-, es gab in der nachrevolutionären Sowjetunion wenig zu bewundern, außer der wachsenden militärischen Stärke und dem darauf gegründeten weltpolitischen Einfluß. Von der alten Losung, die Amerikaner „einzuholen und zu überholen", war nur ihre militärische Anwendung übriggeblieben. Doch damit begann die nachrevolutionäre Sowjetunion eine merkwürdige Verwandtschaft mit dem vorrevolutionären Rußland der Zaren zu zeigen, in dem auch die wesentlichen Anstöße zur Neuerung nicht aus den inneren Antrieben der meist stagnierenden russischen Gesellschaft, sondern aus dem Willen der Zaren gekommen waren, wirklichen oder vermeintlichen äußeren Bedrohungen durch größere militärische Leistungsfähigkeit entgegenzutreten.

Inzwischen hat der Tod des 76jährigen Breschnew im Herbst 1982 und die Wahl zweier Nachfolger im Laufe weniger Jahre die ganze Überalterung der nachrevolutionären Oligarchie gezeigt, die sich nun mit der Reaktion erst der amerikanischen Öffentlichkeit und dann des neuen amerikanischen Präsidenten auf die ebenso kurzsichtige wie brutale sowjetische Ausnutzung einer kurzen amerikanischen Schwächeperiode — mit der amerikanischen Abkehr von der Entspannungspolitik und Hinwendung zu massiver Rüstung — auseinanderzusetzen hat. Andropows Ansätze zum Kampf gegen die Korruption waren zweifellos auch gegen die Privilegien der erstarrten Oligarchie gerichtet; wie weit sie darüber hinaus auf echte wirtschaftspolitische Reformen abzielten, bleibt auf Grund der Schnelligkeit seiner Erkrankung und seines Ablebens ungewiß. Der noch ältere und kaum weniger kranke Tschernenko erscheint als ein schwächerer Zögling und Helfer Breschnews, ein Exponent der erstarrten Oligarchie ohne Anzeichen eigener Ideen und eigenen Willens. In der außenpolitischen Sackgasse, die der nachrevolutionären sowjetischen Führung zweifellos bewußt ist, zeigt sie bisher ebensowenig Phantasie wie ihre amerikanischen Gegenspieler — doch sie hat ungleich geringere Kraftreserven. Innenpolitisch wie außenpolitisch riskiert diese Führung heute, zum Objekt der Folgen ihrer eigenen Politik zu werden. Die Tatsache, daß sich heute Verteidigungsminister Ustinow und Außenminister Gromyko jene Rolle des „Königsmachers“ bei der Wahl eines neuen ersten Sekretärs zu teilen scheinen, die lange Zeit der verstorbene Suslow ausübte, ist ein Symbol dafür, wie sehr die zaristische Tradition des Primats der vermeintlichen außen-und militärpolitischen Notwendigkeiten in der nachrevolutionären Sowjetunion wiedergekehrt ist.

VII.

In China ist die nachrevolutionäre Ära noch jung, und sie zeigt bisher Zeichen ungleich größerer Frische und Originalität. Sie hat aber auf Grund der niedrigeren Entwicklungsstufe des riesigen Landes, der krassen Disproportion zwischen seinen Menschenmassen einerseits und seinen Ressourcen an Kapital und technischen und wissenschaftlichen Fachleuten andererseits %nd der noch frisch erinnerten Erschütterung des Glaubens an das System durch die Wirren und Grausamkeiten der „Kulturrevolution" auch mit ungleich größeren objektiven Schwierigkeiten zu kämpfen als die nachrevolutionäre Sowjetunion. Auf der positiven Seite steht der undogmatische Realitätssinn und die Entscheidungsfreudigkeit Deng Xiaopings, der an Originalität und Führereigenschaften alle sowjetischen Führer der nachrevolutionären Ära überragen dürfte. Zwar ist er mitverantwortlich für die anfänglichen Sprunghaftigkeiten der neuen Ära, die zu kostspieligen Fehlern geführt haben, wie ökonomisch in den überhöhten Bestellungen westlicher Maschinerie und außenpolitisch in der „Strafexpedition 1'gegen Vietnam, in der sich die Schwächen der chinesischen Streitkräfte offenbarten. Doch auf dem zentralen Gebiet der Parteiorganisation und Personalpolitik hat Deng sich erfolgreich nicht nur um eine stabile und einigermaßen homogene Zusammensetzung der Führung im Gegensatz zu den Wirren der jüngsten Vergangenheit, sondern — im Bewußtsein des eigenen Alters — von Anfang an um deren Verjüngung bemüht. Zugleich hat er in der Wirtschaftspolitik klar erkannt, daß die Modernisierung eines Landes mit der Bevölkerungsverteilung Chinas nicht durch einseitige Industrialisierung, sondern nur gemäß der „maoistischen" Formel über das „Gehen auf zwei Beinen" (Industrie und Landwirtschaft) und zugleich mit der radikal unmaoistischen Freisetzung des Eigeninteresses der Bauern durch Ermutigung des privaten Anbaus und Verkaufs ihrer Produkte möglich ist; diese sprunghafte Erweiterung des „privaten Sektors" hat binnen kurzer Zeit den Lebensstandard sowohl der Bauern wie großer Teile der nun besser versorgten Stadtbevölkerung dramatisch gehoben. Zugleich wird angesichts des Bevölkerungsdrucks die industrielle Produktion für den Eigenbedarf, etwa die Versorgung mit Textilien, nicht schnell technisch modernisiert, wohl aber das unterentwickelte Transportwesen und bestimmte Schwerindustrien (einschließlich der rüstungswichtigen) vorangetrieben.

Andere wichtige Entscheidungen betreffen das wiederhergestellte Erziehungswesen und das unterentwickelte Rechtswesen. Der Aufwand für den Wiederaufbau der Hochschulen, für das Studium von Chinesen im westlichen Ausland und für Gastprofessuren ausländi13 scher Fachleute ist beträchtlich. Die Experimente mit der „Mauer der Demokratie" sind schnell beendet worden, und einige ihrer beredtesten Vertreter haben für die Verbreitung regimefeindlicher Auffassungen lange Gefängnisstrafen erhalten: An die Gewährung politischer Freiheiten zur Kritik der Partei wird so wenig gedacht wie in der Sowjetunion. Dagegen wird die Entwicklung eines modernen Zivil-und Prozeßrechts systematisch gefördert.

Unsicherheit herrscht im Prinzip bei der Öffnung für das Ausland. Aus Gründen des Lernens, zum Teil aber auch der allgemeinen Außenpolitik ist sie erwünscht; aus Gründen der ideologischen Anfälligkeit vor allem der jungen Generation wird sie als Gefahr gesehen. In der Tat ist die kommunistische Glaubens-bereitschaft der chinesischen Massen und zumal der Jugend nach den Schrecken der Kulturrevolution und dem Sturz Mao Zedongs wahrscheinlich tiefer erschüttert als die der sowjetischen Massen nach der „Entstalinisierung" oder auch heute. Doch wie in der Sowjetunion ist für die Massen nach Jahrzehnten kommunistischer Herrschaft ein völlig anderes Regime kaum vorstellbar; und die praktische Einstellung zum existierenden Regime richtet sich primär nach dessen aktuellem Verhalten — nach den Möglichkeiten der materiellen Versorgung, der Erziehung, des lernbedingten Aufstiegs und dem Ausmaß der Freiheit im nicht-politischen Bereich. Es ist das Ausmaß der greifbaren Verbesserung des Lebens auf diesen Gebieten in den nach-revolutionären Jahren, das dem Regime eine Chance gibt.

Dennoch bleibt die Frage, wieweit die nach-revolutionär revidierte Ideologie für den Zusammenhalt der Partei selbst und für den Widerstand ihrer Mitglieder gegen die ständige Versuchung zur Korruption ausreicht. Die Ideologie der äußeren Bedrohung ist heute in China wahrscheinlich von weniger zentraler Bedeutung als in Rußland: Es wird verstanden, daß weder Amerika noch die Sowjetunion die notwendigen und ewigen Feinde sind und daß die nationale Unabhängigkeit die Chinas wichtigste revolutionäre und nachrevolutionäre Errungenschaft ist, es ihm erlaubt, je nach den wechselnden internationalen Konstellationen gemäß seinen Interessen zu manövrieren. So mag sich auf die Dauer eine Ideologie herausbilden, die aus dem Stolz auf die historische Größe, die junge Unabhängigkeit und die künftigen unbegrenzten Möglichkeiten Chinas und aus der Loyalität gegenüber der Partei gemischt ist, die wesentlich jene Unabhängigkeit erkämpft hat und trotz aller vergangenen Irrwege den Weg zu den künftigen Möglichkeiten noch finden mag.

VIII.

In diesem Essay wurde von zwei charakteristischen inneren Konflikten kommunistischer Systeme gesprochen: Von dem ihnen durch ihre Entstehungssituation eingeborenen Konflikt zwischen der Tendenz zur institutionalisierten Revolution und den Erfordernissen der Modernisierung, und dem nicht zwangsläufigen, aber in wichtigen Fällen aufgetretenen Konflikt zwischen der Tendenz zur Verwandlung der Parteiherrschaft in einen persönlichen Despotismus und der Gegentendenz zur Wiederherstellung der Parteiherrschaft nach dem Tod des Despoten. Die Ergebnisse können in fünf Thesen zusammengefaßt werden:

1. Die ideologische Leidenschaft, die sich mit dem Kampf um neue Stufen der institutionalisierten Revolution verbindet, hat sich als Haupthindernis zur Hinnahme von Mehrheitsentscheidungen in kommunistischen Parteien erwiesen. Daraus folgt, daß eine gelungene oder versuchte Errichtung eines Despotismus in solchen Parteien nur zu erwarten ist, solange der Glaube an die Fortsetzung der Revolution nicht aufgegeben ist. Mit anderen Worten, der Übergang zum Despotismus ist nur wahrscheinlich, solange der Glaube an die Verwirklichung der Utopie lebendig ist 2. Umgekehrt ist sowohl in der Sowjetunion wie in China der Verzicht auf die institutionalisierte Revolution erst nach dem Tod des Despoten oder Despotie-Kandidaten erfolgt In beiden Fällen hat die Befreiung von seinem Terror es dem Wunsch für ein normaleres Leben erleichtert, zum Vorschein zu kommen, vor allem in der Oligarchie der Partei; und die Sicherheit einer Oligarchie wird am besten durch den Verzicht auf weitere revolutionäre Umwälzungen garantiert.

3. Heute haben wir es in der Sowjetunion und in der Volksrepublik China mit zwei kommunistischen Parteiregimen zu tun, die sich sowohl in ihrer nachrevolutionären wie in ihrer nachdespotischen Ära befinden. Beide werden daher von bürokratischen Oligarchien mit mehr oder weniger allgemein akzeptierten Entscheidungsprozeduren regiert, deren Innenpolitik nicht mehr von ideologischen Konflikten, sondern von dem Konflikt zwischen dem Ziel der ökonomischen Moderni-B sierung und der Tendenz zur bürokratischen Stagnation bestimmt wird. Beide Oligarchien halten an ihrem Parteimonopol fest und beide lehnen eine politische Liberalisierung entschieden ab; doch keine von beiden neigt zu einer Rückkehr zu den Massenvernichtungen der revolutionären Periode.

4. Ein wesentlicher Unterschied zwischen den beiden Ländern betrifft die Entwicklungsstufe, auf der der revolutionäre Prozeß zum Stillstand kam. Als Chruschtschow sein Programm von 1961 verkündete, war die Sowjetunion, bei allen strukturellen Schwächen, eines der wichtigsten Industrieländer der Welt. China ist gegenwärtig von dieser Stufe noch weit entferpt, und seine Schwierigkeiten auf dem Wege dahin sind gewaltig — wegen seines Kapitalmangels relativ zur Bevölkerung, seines Mangels an wissenschaftlichen und technischen Kadern in Proportion zur Größe der Probleme, und vielleicht auch wegen der Nachwirkungen der Absurditäten der Kultur-revolution auf die Arbeitsmoral und das allgemeine Vertrauen in das System (doch ich bin mir der Tragweite dieses letzten Faktors, nicht gewiß).

5. Die Tatsache, daß China fast zwei Jahrzehnte nach der Sowjetunion ebenfalls in die nachrevolutionäre Ära eingetreten ist, hat eine bedeutende weltpolitische Konsequenz: Der Machtkonflikt zwischen diesen beiden Nachbarn hat seine ideologische Komponente verloren Die chinesischen Kommunisten können den Sowjets nicht mehr vorwerfen, daß sie ihre revolutionären Grundsätze verraten haben, und die Sowjets können die Chinesen nicht mehr des Utopismus und des Abenteurertums in ihrer Innenpolitik beschuldigen. Die Tatsache, daß beide Parteien sich dieser nachrevolutionären Veränderung bewußt sind, hat es für sie leichter gemacht, eine mögliche Normalisierung ihrer Beziehungen zu diskutieren. Doch dies bedeutet nicht, und kann nicht bedeuten, daß diese Beziehungen irgendwann in der Zukunft wieder — wie einst vor langer Zeit — durch eine anscheinende ideologische Gemeinsamkeit anstelle des ideologischen Konfliktes gekennzeichnet sein werden. Vielmehr werden sie, gleich anderen Beziehungen zwischen Großmächten, durch ihre Interessen bestimmt werden — und daß heißt durch wichtige widerstreitende Interessen, aber potentiell auch durch einige gemeinsame Interessen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Ich habe die Tendenz zur Institutionalisierung des revolutionären Prozesses in eigenständigen kommunistischen Systemen zuerst 1960 in meinem Artikel „Totalitäre und demokratische Revolution" als ein Wesensmerkmal der spezifisch „totalitären" Eynamik behandelt (vgl. Der Monat, 13 [1960] 146).seither auch in: B. Seidel/S. Jenker (Hrsg.), Wege

  2. Der Begriff des „Erlöschens" von revolutionären Regimen stammt von Robert Tucker, in: Toward a Comparative Politics of Movement Regimes, 1961; deutsch: „Auf dem Weg zu einer vergleichenden politikwissenschaftlichen Betrachtung der Massenbewegungsregime"", in: B. Seidel/S. Jenker (Anm. 1), S. 382— 404. Er wird dort aber nur auf nichtkommunistische Regime mit schwächerer Ideologie, z. B. in der Dritten Welt, angewandt.

  3. Ich habe diesen Grundkonflikt eigenständiger kommunistischer Regime zuerst ausführlich in meinem Essay „Development vs. Utopia in Communist Policy", in: Ch. Johnson (Ed.), Change in Communist Systems, Stanford (Cal.) 1970, behandelt.

  4. Das Eintreten der Sowjetunion in die „nachrevolutionäre Ära" habe ich zuerst in meinem Artikel „The Revolution withers away", in: Problems of Communism, (1965) Jan. /Febr. (deutsch jetzt in: R. Löwenthal, Weltpolitische Betrachtungen, Göttingen 1983, S. 95— 109), und in meiner 1966 verfaßten Nachschrift zu dem in Anm. 1 genannten Beitrag zu Wege der Totalismusforschung (1. c. S. 37981) behandelt. In meiner in Anm. 3 zitierten Schrift habe ich den Vorgang in die Gesamtentwicklung der Sowjetunion hineingestellt und für China als möglich bezeichnet (vgl. vor allen 1. c., S. 101/102).

  5. Für eine umfassendere Darstellung des Gesamt-themas vgl. jetzt meinen Beitrag . Jenseits des Totalitarismus?', in: D. Hasselblatt (Hrsg.), 1984 — Orwells Jahr, Berlin 1984, S. 204— 269.

  6. Ich habe diese Interpretation von Maos Kultur-revolution bereits in Encounter, 28 (1967) 4, unter dem Titel „Maos Revolution: The Chinese Handwriting on the Wall" entwickelt. Deutscher Text jetzt in: R. Löwenthal, Weltpolitische Betrachtungen, hrsg. von Heinrich August Winkler, Göttingen 1983, S. 130— 143.

  7. Diese Auffassung unterscheidet sich grundsätzlich von der vor allem von Leonard Schapiro vertretenen, die Totalitarismus mit „Führerismus“ gleichsetzt und die Herrschaft Stalins, Maos, Hitlers und Mussolinis unter diesem Begriff zusammenfaßt. Vgl. L. Schapiro/J. W. Lewis, The Role of the Monolithic Party under the Totalitarian Leader, in: J. W. Lewis (Ed.), Party Leadership and Revolutionary Power in China, London-New York 1970, und L. Schapiro, Totalitarianism, London 1972.

  8. Stalins schlechtes Resultat bei der geheimen Wahl des 17. Parteitages wurde zuerst von Roy Medvedyev, Let History Judge, New York 1971, unter Berufung auf Mitteilungen des stellvertretenden Vorsitzenden der damaligen Wahlkommission berichtet, doch in Adam Ulam's „Stalin", New York 1973, angezweifelt Seither hat jedoch Anton Antonov-Ovseenko in seinem neuen Buch über Stalin einen nicht veröffentlichten Bericht des selben stellvertretenden Vorsitzenden zitiert, der einer

  9. Vgl. meine in Anmerkung 4 zitierte Analyse von Anfang 1965.

  10. Für eine ausführlichere Behandlung dieses Aspekts vergleiche meinen Beitrag „The Degeneration of an Ideological Dispute", in: D. Stuart/W. T. Tow (Eds.), China, the Soviet Union and the West, Boulder (Col.) 1982.

Weitere Inhalte

Richard Löwenthal, Dr. phil., geb. 1908; 1961— 1974 Professor für Theorie und Geschichte der auswärtigen Politik an der Freien Universität Berlin; nach der Emeritierung zahlreiche Gastprofessuren an amerikanischen und israelischen Universitäten sowie Forschungsjahre in England und Amerika. Veröffentlichungen u. a.: Chruschtschow und der Weltkommunismus, Stuttgart 1963 (Übersetzungen in vielen Sprachen); Model or Ally: The Communist Powers and the Developing Countries, New York 1978; Weltpolitische Betrachtungen, Göttingen 1983.