„Weil die Geschichte des Widerstandes in Deutschland ... von weiterwirkender politischer Bedeutung ist, muß von denjenigen, die sich ihrer Erforschung widmen, ein hohes Maß von politischer Einsicht und historischer Ehrlichkeit verlangt werden."
Greta Kuckhoff, Mitglied der Schulze-Boysen/Harnack-Gruppe („Rote Kapelle"), Ehefrau des in Berlin-Plötzensee hingerichteten Adam Kuckhoff (in: Zur Erforschung des deutschen Widerstands, in: Einheit, 2. Jg., H. 12 [1947], S. 1168)
I. Die Bundesrepublik Deutschland
1. Die politische Funktion der Gedenkreden Alljährlich wiederkehrende Gedenktage — wie der 17. Juni oder der 20. Juli — laufen wegen der von Amts wegen verordneten offiziellen Gedenkreden sowie der publizistischen Nutzung in Presse und Fernsehen Gefahr, zu einem Ritual zu erstarren, das — als mehr oder weniger lästige Pflicht empfunden — absolviert wird, ohne jedoch die beabsichtigte emotionale Betroffenheit oder aufklärerische Wirkung zu erreichen. Gedenktage sind Erinnerungstage an Höhen und Tiefen in der Geschichte einer Nation; sie spiegeln gewissermaßen das kollektive Gedächtnis eines Volkes wider, sie sind entweder Jubeltage — wie die amerikanischen, französischen oder italienischen Nationalfeiertage — oder Trauertage wie der 17. Juni oder 20. Juli. An diesen beiden Tagen wird Vergangenheit „bewältigt", „Trauerarbeit 11 (A. Mitscherlich) geleistet, „Bekenntnis" (Th. Heuss) abgelegt und vor allem das Vermächtnis beschworen, „das bleibende Erbe“ (E. Gerstenmaier) als „mahnende Verpflichtung" (G. Schröder) an die Nachgeborenen weiterzugeben.Die Reden und publizistischen Äußerungen zu den Gedenktagen sind jedoch keine erratischen Blöcke im Fluß des Geschehens, sondern, spiegeln Veränderungen des politisch-sozialen Umfeldes wider, nehmen Bezug auf aktuelle Ereignisse oder historische Daten und geben nicht zuletzt Aufschluß über Zustand und Wandel des öffentlichen Bewußtseins. Die Gedenkreden der politischen Repräsentanten unterscheiden sich von anderen
Gedenkreden — wie sie z. B. im Rahmen von Universitätsveranstaltungen gehalten werden — in mehrfacher Hinsicht. Erstens ist ihr Adressatenkreis meist nicht eine bestimmte Zielgruppe, sondern die gesamte Bevölkerung. Zweitens ist es nicht in erster Linie die Zielsetzung, anhand des historischen Datums lediglich eine Darstellung zu leisten, sondern vielmehr politische Wirkung auszuüben, d. h. Impulse zu Veränderungen im politischen Bewußtsein der Öffentlichkeit durch Verstärkung oder Korrektur bestimmter Geschichtsauffassungen zu geben. Diese Beeinflussung mittels historischer Reminiszenz „gehört zu den Daueraufgaben jeder politischen Führung — eine Bemühung, die ebenso wichtig ist wie die ständige Vermittlung ordnungspolitischer Grundvorstellungen" -Bestimmte Geschichtsbilder — wie das eines „deutschen Sonderweges" — können damit eine legitimatorische Funktion erhalten Sie beeinflussen Aufbau, Sprache und Stil der politischen Reden und offenbaren sich besonders in Gedenkreden. Wenn hier zeitgenössische Erfah-* rung und Betroffenheit nicht mehr unmittelbar zum Tragen kommen, gewinnt die Sprache, in der vermittelt wird, noch größere Bedeutung. Zwar „werden ja ohnedies nie nur Tatsachen, sondern immer nur interpretierte Vorgänge vermittelt", aber ein bestimmter Begriff, wie z. B. „. Drittes Reich', transportiert für in dieser Sache erfahrungslose Generationen nichts von den Schrecken der modernen Tyrannis" Inhalt und Sprache der Gedenkreden zum 20. Juli 1944 in der Bundesrepublik Deutschland geben Aufschluß über „Vergangenheitsbewältigung", Selbstverständnis und politischen Wandel unseres Staates. Der Widerstandskreis des 20. Juli 1944 hat für die Bundesrepublik eine ähnlich große Bedeutung wie der kommunistische Arbeiterwiderstand für die DDR. Beide deutsche Staaten benutzen das von ihnen jeweils verschieden interpretierte und beanspruchte Vermächtnis des NS-Widerstandes als eine Legitimationsgrundlage ihrer Staatsgründung.
Im folgenden soll versucht werden, anhand der Analyse der offiziellen Gedenkreden zum 20. Juli in der Bundesrepublik einige Veränderungen in der Deutung des Ereignisses aufzuzeigen und sie auf dem Hintergrund innen-und außenpolitischer Ereignisse zu interpretieren. Es wird keine Vollständigkeit der Dokumentation aller von Politikern in der Bundesrepublik gehaltenen Gedenkreden angestrebt. Nur auf einige wenige Reden und einzelne Aspekte kann im Rahmen dieser Untersuchung eingegangen werden. Sicherlich wäre es sehr aufschlußreich, in weiteren Analysen bestimmte wichtige Wendepunkte der politischen und gesellschaftlichen Geschichte der Bundesrepublik im Spiegel der Gedenkreden zu verdeutlichen. Diese Spiegelung — auch mentaler Veränderungen und Trends in der Öffentlichkeit sowie in der Reflexion der Politiker und politischen Amtsinhaber — könnte am Beispiel der Interpretationslinien und Veränderungen der Rezeption des 20. Juli 1944 einen Beitrag leisten, die vielschichtigen Beziehungen zwischen Öffentlichkeit und Gesellschaft, Politik und historischer Forschung aufzudecken. Dazu könnte ein Frageraster hilfreich sein, das die Gedenkreden erschließt, z. B.: Inwiefern wird in der Interpretation des 20. Juli 1944 eine bestimmte Geschichtsauffassung deutlich? Wird an bestimmten Traditionen der deutschen Geschichte (demokratisch, liberal, sozialistisch) angeknüpft? Werden aus der Berufung auf eine spezifische Tradition bestimmte politische Forderungen abgeleitet und wie sollen sie realisiert werden? Welche Daten und Ereignisse aus der deutschen Geschichte dienen dazu, bestimmte Traditionen abzuleiten? An dieser Stelle können jedoch nur einige „Schlaglichter" auf ein noch zu bestellendes „Forschungsfeld" geworfen werden. 2. Zur Beurteilung des 20. Juli 1944 Die Identifizierung Deutschlands mit Hitler, die die Auslandskontakte der bürgerlich-militärischen Widerstandsgruppen während des Zweiten Weltkrieges zunehmend erschwert hatte, sollte für die Einschätzung des 20. Juli 1944 in der deutschen Öffentlichkeit zu einer schweren Hypothek werden. Vor allem die westlichen Alliierten hatten den 20. Juli „als bloße Anti-Hitlerbewegung" beurteilt und die Träger dieses Widerstandes als reaktionäre Adelsclique eingestuft. Doch ist dieser Vorwurf schon 1946 von Churchill in einer Rede vor dem Unterhaus mit folgenden Worten revidiert worden: „In Deutschland lebte eine Opposition, die durch ihre Opfer und entnervende internationale Politik immer schwächer wurde, aber zu dem Edelsten und Größten gehört, was in der politischen Geschichte aller Völker hervorgebracht wurde ... Diese Toten vermögen nicht alles zu rechtfertigen, was in Deutschland geschah, aber ihre Taten und Opfer sind das Fundament eines neuen Aufbaus." Diese positive Würdigung wurde deshalb vor allem in den fünfziger Jahren von Politikern in ihren Gedenkreden zum 20. Juli häufig zitiert, weil sie innenpolitisch der Zurückweisung der Kollektivschuld-These dienen konnte und außen-politisch die Aufnahme der Bundesrepublik in die Gemeinschaft der westlichen Staaten erleichterte. Dennoch befand sich der 20. Juli anfänglich in einer Verteidigungsposition. Die Diskussion kreiste um Widerstandsrecht und Widerstandspflicht, um Tyrannenmord, Gehorsamspflicht und Eidestreue, Landesverrat und Hochverrat und fand einen publizistischen Höhepunkt in zwei Sondernummern der Wochenzeitung „Das Parlament" 1952 stand die Publikation im Zusammenhang mit dem Prozeß gegen Major Remer, mit der Absicht. eine neue Dolchstoßlegende zu verhindern. Doch blieb das Verhältnis der Öffentlichkeit zum Widerstand weiterhin ambivalent. Das wurde zum Beispiel sichtbar, als der Minister für gesamtdeutsche Fragen, Jakob Kaiser, anläßlich der John-Affäre 1954 im Deutschen Bundestag den deutschen Widerstand verteidigen mußte.
Die offiziellen Gedenkreden in den fünfziger Jahren bis 1966, die mit Ausnahme der Rede von Bundespräsident Heuss im Jahre 1954 von CDU-Politikern gehalten wurden, spiegeln diese Ambivalenz nicht wider. Denn im Selbstverständnis der CDU liegt „eine historische Wurzel" im Widerstand — Männer und Frauen des Widerstandes," die sich nicht anpaßten, die Widerstand leisteten und nach 1945 in der Christlich-Demokratischen Union arbeiteten ..., haben das moralische und politische Vermächtnis des Widerstandes in die Politik der zweiten deutschen Republik eingebracht," schreibt Helmut Kohl Er nennt u. a. Adenauer, Arnold, Ehlers, Gerstenmaier, Hermes, Müller, Kaiser, Lehr, Lenz, Steltzer, Frau Teusch — Persönlichkeiten, die zum Teil in der Gründungsphase der CDU und später in wichtigen Partei-und Regierungsämtern eine herausragende Rolle gespielt haben, zum Teil aber auch bald, wie Theodor Steltzer, an politischem Einfluß verloren. Aus den Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus und aus der Mitarbeit im Widerstand, z. B. im Kreisauer Kreis, flossen die starke Einbindung christlichen Gedankenguts, die Bewahrung der Werte des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates, aber auch die im Ahlener Parteiprogramm vorgesehene Verstaatlichung verschiedener Wirtschaftszweige in das Gründungskonzept der Partei ein.
Die Gedenkreden der CDU-Politiker geben nicht nur das moralisch-politische Vermächtnis des Widerstandes wieder, sondern in ihnen kommt auch deutlich die Veränderung in den Ost-West-Beziehungen zum Ausdruck. Schon 1946 hatte Churchill in einer Rede in Fulton von einem Eisernen Vorhang gesprochen, der in Europa niedergehe. Berlin-Blokkade und der Beginn des Korea-Krieges zeigten die Verschärfung des Ost-West-Konfliktes. Diese Ereignisse führten in den westlichen liberalen Demokratien, vor allem in der Bundesrepublik, zur Ausbildung der Totalitarismus-Theorie. Das Bewußtsein der Gefährdung der freiheitlich-demokratischen Ordnung in der Bundesrepublik durch die Sowjetunion bzw.den Ostblock und ihre Anhänger in der Bundesrepublik rief — zusammen mit der Erinnerung an die Zerstörung der Weimarer Republik durch den Nationalsozialismus — die Gleichsetzung beider Herrschaftssysteme unter dem Schlagwort des Totalitarismus hervor. Ein kämpferischer Antikommunismus und Antitotalitarismus prägten bis in die Mitte der sechziger Jahre Inhalt und Stil der Gedenkreden, besonders in der Auseinandersetzung mit dem anderen deutschen Staat. Diese Grundeinstellung zeigt sich in dem Teil der Reden, der das als Mahnung, Verpflichtung oder Vermächtnis empfundene Erbe des Widerstandes in den aktuellen Bezugsrahmen stellt. Die Gleichsetzung des 20. Juli mit dem 17. Juni, bzw.der ausdrückliche Bezug auf den Aufstand von 1953, findet sich in vielen Gedenkreden, wie z. B. bei G. Schröder (1954), E. Lemmer (1962), K. -U. von Hassel (1963), F. Thedieck (1963), E. Gerstenmaier (1964), J. B. Gradl (1966) und schließlich wieder bei H. Windelen (1983). Der Hinweis auf den 13. August 1961 taucht nur in den Reden von E. Lemmer (1962) und F. Thedieck (1963) auf.
Aufschlußreich ist nun, wie diese beiden Gedenktage miteinander in Beziehung gesetzt werden. Das wird z. B. aus den Reden von E. Lemmer (1962) und H. Lübke (1964) ersichtlich. E. Lemmer, Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, führte u. a. aus, daß der 20. Juli 1944, der 17. Juni 1953 und der 13. August 1961 „zu den erschütternden Begebenheiten unserer jüngsten Vergangenheit" zählen. „Als Bundesminister für die gesamtdeutsche Not" wolle er „auf das traurige Los jener 16 Millionen Landsleute" hinweisen, „die ohne ihre besondere Schuld noch unter der schweren Hypothek dessen stehen, was die Männer und Frauen vom 20. Juli von unserem Volk fernhalten wollten. Sie sind bis auf den heutigen Tag nicht in den Genuß der Freiheit und Menschenrechte gekommen, weil eine Diktatur eine andere ablöste." Bundespräsident H. Lübke sagte u. a.: „Wir sind heute versammelt in der Hauptstadt Deutschlands, die für unser Volk zum Symbol der Sehnsucht nach Einheit und für die ganze Welt zum Fanal des Freiheitswillens geworden ist. Berlin war 1944 und 1953 Herzmitte eines AufStands des Gewissens. Plötzensee und Bendlerstraße, Potsdamer Platz und Leipziger Straße sind Begriffe geworden aus Tagen, in denen unser Volk auf Herz und Nieren geprüft wurde, ob es den Sinn seiner Heimsuchung erkannt hatte.“
Noch stärker als bei der CDU ist für das Selbstverständnis und den Neuaufbau der SPD nach Kriegsende die persönliche Erfahrung des Widerstandes zum Tragen gekommen. Kurt Schumacher wollte sogar nur diejenigen SPD-Funktionäre wieder in die Partei aufnehmen, die Widerstand geleistet hatten Für Widerstandskämpfer wie Kurt Schumacher, die eine jahrelange KZ-Haft erlitten hatten, oder wie Willy Brandt, die aus der Emigration kamen, wurde es zur Grundhaltung, daß die Freiheit das am stärksten bedrohte Gut ist und eine Wiederholung der schrecklichen Erfahrungen der Vergangenheit verhindert werden müsse Das Vermächtnis des Widerstandes, die Freiheitsund Menschenrechte zu wahren, wurde in Grundsatzerklärungen der SPD immer wieder betont und bestimmt bis heute das Selbstverständnis der Partei
Wie die CDU ist auch die FDP eine Neugründung. Sie wurde 1948 in der Nachfolge verschiedener liberaler Parteien der Weimarer Republik gegründet. Die FDP sieht zwar nicht wie die CDU ihre „Wurzeln" im Widerstand oder leitet — wie die SPD — ihre politischen Grundforderungen aus den Erfahrungen des Widerstandes ab. Gleichwohl kann ihr Grundverständnis an die Programmatik der Widerstandsbewegung anknüpfen. Die Betonung von Freiheit, Toleranz und Menschenwürde als zentrale Forderungen des klassischen Liberalismus, die es gegenüber allen freiheits-und rechtsbedrohenden staatlichen Maßnahmen zu schützen gilt sind auch Grundgedanken des Widerstands.
Während der Großen Koalition und der sozial-liberalen Koalition hielten zumeist SPD-oder FDP-Politiker die Gedenkreden. In ihnen tritt jetzt die Verbindung des 20. Juli mit dem 17. Juni 1953 oder mit dem 13. August 1961 zurück. Ziel ist vielmehr, durch die Anknüpfung an Ereignisse wie die Revolution von 1848/49 die demokratische Traditionslinie in der deutschen Geschichte ins Bewußtsein zu rücken. Die Zeit vom Ende der sechziger bis zum Anfang der achtziger Jahre brachte der Bundesrepublik nachhaltige innenpolitische und gesellschaftliche Veränderungen wie die Studentenunruhen und die APO, Diskussionen um die Notstandsgesetzgebung, den Einzug der NPD in kommunale Parlamente, links-und rechtsextremistische Gewalttaten, Bürgerinitiativen und Alternativgruppen, die Friedensbewegung sowie Aussteigermentalität, Zukunftsängste und Technikfeindlichkeit. Auf diese Probleme wird in fast allen Gedenkreden eingegangen. Die Würdigung des 20. Juli dient weniger der „Vergangenheitsbewältigung" als der Auseinandersetzung mit den Gegenwartsproblemen. Ein zentrales Vermächtnis des Widerstandes, die Wiederherstellung des Rechtsstaates, wird nun in Verbindung mit den Gefährdungen der freiheitlich-demokratischen Ordnung besonders herausgestellt und mit dem Problem des Rechtes auf Widerstand (GG, Art. 20, Abs. 4) verbunden, z. B. in der Gedenkrede von G. Jahn 1973 und in der Rundfunk-und Fernseherklärung von Bundeskanzler Schmidt 1974.
Veränderungen zeigten sich auch im Bereich der Widerstandsforschung. Arbeiten über die außenpolitischen Konzeptionen und die staats-und gesellschaftspolitischen Vorstellungen des Kreisauer-und Goerdeler-Kreises trugen zur kritischen Auseinandersetzung mit den bürgerlichen, konservativen und militärischen Widerstandskreisen des 20. Juli bei Außerdem wandte man sich nunmehr verstärkt auch anderen Widerstandsgruppen und -formen zu, wie dem Widerstand der Arbeiterschaft einschließlich dem der Kommunisten, Widerstand von Jugendgruppen und -verbänden, dem Widerstand in Konzentrationslagern und Gefangenschaft und dem vielfältigen Widerstandsverhalten im Alltag (nach Martin Broszat „Resistenz").
Die Erkenntnis, daß der Widerstand breit und vielfältig war, fand ihren Ausdruck auch in den Gedenkreden. Der 20. Juli steht jetzt stellvertretend für den gesamten Widerstand, z. B. in der Rede von G. Jahn 1973: „Der Widerstand . gegen das Unrecht des Nationalsozialismus hat am 20. Juli 1944 seinen sichtbaren Ausdruck gefunden. Dieser Tag ... steht deshalb stellvertretend für alle Taten der ungezählten, unbekannten und ungenannten Menschen unseres Volkes, die nicht bereit waren Juli steht jetzt stellvertretend für den gesamten Widerstand, z. B. in der Rede von G. Jahn 1973: „Der Widerstand . gegen das Unrecht des Nationalsozialismus hat am 20. Juli 1944 seinen sichtbaren Ausdruck gefunden. Dieser Tag ... steht deshalb stellvertretend für alle Taten der ungezählten, unbekannten und ungenannten Menschen unseres Volkes, die nicht bereit waren, sich dem Unrecht zu beugen oder ihm bequem aus dem Wege zu gehen." 16)
Ein Höhepunkt in dem Versuch, NS-Herrschaft und Widerstand zu deuten, stellt die Gedenkrede des Bundespräsidenten Heine-mann im Jahre 1969 wegen seines persönlichen Schuldbekenntnisses dar 17). Auch er selbst, der nach eigenem Bekenntnis den Nationalsozialismus nie angefochten hat, empfindet Schuld: „Mich läßt die Frage nicht los, warum ich im Dritten Reich nicht mehr widerstanden habe. Aus dieser Frage heraus habe ich als früheres Mitglied des Rates der Evangelischen Kirche Deutschlands die Stuttgarter Erklärung vom Oktober 1945 auch persönlich mitgesprochen, in der es unter anderem heißt: „Was wir unseren Gemeinden oft bezeugt haben, das sprechen wir jetzt im Namen der ganzen Kirche aus: Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat; aber wir klagen uns an, daß wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben." 18) Schon 1945/46 hatte Karl Jaspers die Schuldfrage in seiner bekannten Vorlesung „Die geistige Situation in Deutschland" angesprochen und dabei zwischen „krimineller", „politischer", „moralischer" und „metaphysischer" Schuld unterschieden 19). Im Sinne Jaspers bekennt sich Heinemann zu einer „metaphysischen" Schuld, d. h.der mangelnden Mitverantwortung für das geschehene Unrecht.
Während die Generation des Bundespräsidenten Heinemann der Frage der Mitschuld nicht ausweichen kann, trifft sie für einen Angehörigen der Nachkriegsgeneration nicht zu. So stellt sich für A. von Schoeler, seinerzeit Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Innern, in seiner Gedenkrede zum 20. Juli 1980 vielmehr die Frage, „welche Bedeutung der Widerstand für unsere heutige Situation hat, welchen Stellenwert er für die junge Generation einnimmt oder einnehmen sollte" 20). Nach seiner Ansicht sollte die Beschäftigung mit dem Widerstand dazu dienen, der Jugend „die demokratischen Ideale unseres Staates näher zu bringen" und ihr durch das Bewußtsein positiver historischer Orientierungspunkte die Möglichkeit zu geben, „sich mit der Geschichte des eigenen Volkes" zu identifizieren.
Il Ddr
1. Die Legitimierungsfunktion historischer Ereignisse Die Legitimierung politischer und wirtschaftlicher Ordnungen kann auf vielfältige Weise erreicht werden. Ein wichtiges Mittel ist die Bildung historischer Kontinuität. Da beide deutsche Staaten ein Produkt des Ost-West-Konfliktes sind, stellt sich ihr Legitimitätsproblem auch in entsprechender Weise. Sowohl die Bundesrepublik Deutschland als auch die DDR müssen nachweisen, daß sie in der der deutschen Kontinuität Geschichte stehen. Dabei spielt das Verständnis des Widerstandes gegen die NS-Herrschaft eine besondere Rolle. Denn letztlich ist es der von NS-Deutschland entfesselte und verlorene Krieg, der die Zweistaatlichkeit brachte. Der schon bald nach dem Zweiten Weltkrieg beginnende Konflikt zwischen den Westmächten und der Sowjetunion führte schließlich dazu, daß sich die Siegermächte über das Schicksal des besiegten Deutschland nicht zu einigen vermochten. Die Linie, mit der zunächst die Aufteilung Deutschlands in drei westliche Besatzungszonen und eine östliche Besatzungszone festgelegt worden war, wurde schließlich zu einer ideologischen und staatlichen Trennlinie.
Bodo Scheurig hat einmal zum Verhältnis der Deutschen in der Bundesrepublik zum 20. Juli 1944 festgestellt, daß sie dieser Tag trenne und entzweie. Das gilt vor allem für die Deutung des Widerstandes in den beiden deutschen Staaten. Denn die Ablehnung des jeweils anderen Staates und seiner historischen Tradition wird als Voraussetzung und Mittel zur Entwicklung einer staatlichen Identität angesehen. Das galt und gilt noch stärker für die DDR als für die Bundesrepublik. Die Interpretation des Widerstandes ist auch ein Gradmesser dafür, wie sich in den verschiedenen Zeitabschnitten nach dem Zweiten Weltkrieg die ideologische Abgrenzung zwischen Ost und West verschärft bzw. vermindert hat.
Die Bundesrepublik suchte in der Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit diejenigen Kräfte des Widerstandes zu finden, die nach Beendigung der NS-Herrschaft einen Anschluß an die freiheitlichen Traditionen der westlichen Demokratien ermöglichten. Die DDR benutzt den Widerstand in anderer Weise als eine Legitimierungsgrundlage, mit deren Hilfe sie ihre Gesellschaftsordnung und ihren weiteren Ausbau rechtfertigen will. Das Verhältnis zur Bundesrepublik ist allerdings in zweifacher Weise ungleich. In der DDR besteht ein ganz eindeutiger Vorrang der politischen Zielsetzung bei der Interpretation deutscher Geschichte; ein derartiges eindeutiges Zuordnungsverhältnis kann es in einer demokratisch-pluralistischen Gesellschaft wie der der Bundesrepublik nicht geben. Zudem muß sich die DDR stärker abgrenzen, weil der Einfluß der Bundesrepublik auf die DDR ungleich größer ist als umgekehrt. Daraus erklärt sich auch mitunter eine gewisse Aggressivität und Undifferenziertheit der DDR-Äußerungen in bezug auf die Interpretationsmuster des Widerstandes in der Bundesrepublik. Weil die Interpretation des NS-Widerstandes für die DDR auch eine Frage der ideologischen Auseinandersetzung und Abgrenzung zur Bundesrepublik ist, spiegeln sich in ihr auch die Stufen der Staatswerdung der DDR, der verschiedenen Phasen der Deutschland-Politik und des Ost-West-Verhältnisses wider.
Die Sowjetunion hatte ebenso wie die westlichen Alliierten nicht von vornherein die Teilung in zwei deutsche Staaten beabsichtigt, sondern vielmehr eine Einflußnahme auf das ganze Deutschland. Einflußnahme im sowjetischen Sinne hieß, daß die politische und wirtschaftliche Ordnung Gesamtdeutschlands so gestaltet sein mußte, daß sie die Stabilität der neuerrungenen sowjetischen hegemonialen Position in Osteuropa nicht gefährden konnte, besser noch, sie absichern half. Unter diesem Gesichtspunkt muß die Proklamierung einer „antifaschistischen Front" aller ehemaligen Widerstandsgruppen gesehen werden.
Sie war der Versuch der Sowjetunion, sich eine entsprechende politische Basis in Gesamtdeutschland zu verschaffen. Doch der entstehende globale Ost-West-Konflikt zwischen den USA und der UdSSR beendete diesen Ansatzpunkt. Allerdings hatte die Sowjetunion auch danach ihr Ziel der Einflußnahme auf Gesamtdeutschland nicht aufgegeben.
Nach der Gründung der DDR betrachtete sie diese als den Kern eines künftigen, nicht gegen die Sowjetunion gerichteten deutschen Einheitsstaates. Stalin hatte in seinem Gruß-telegramm vom 13. Oktober 1949 die DDR als den „Grundstein für ein einheitliches, demokratisches und friedliebendes" Deutschland bezeichnet.
Der Eintritt der beiden deutschen Staaten in die jeweiligen Verteidigungsbündnisse Mitte der fünfziger Jahre brachte auch einen Einschnitt in das historische Selbstverständnis der DDR. Es „war klar geworden, daß die DDR kein episodisches Provisorium oder kurzes Durchgangsstadium in der deutschen Geschichte darstellte, sondern sich als selbständiger souveräner Staat auf sozialistischen Grundlagen mit einer langen geschichtlichen Perspektive etabliert hatte" Die DDR konnte davon ausgehen, daß die Sowjetunion von jetzt an ihren Bestand garantierte, die Bundesrepublik dagegen nach wie vor ihre Existenz bestritt und ihre internationale Anerkennung zu verhindern suchte. Während die Staaten Osteuropas ab Mitte der sechziger Jahre versuchten, die Konfrontation mit Westeuropa abzubauen und ein kooperatives Verhältnis zu entwickeln, grenzte sich die DDR gegenüber der Bundesrepublik ab. Demzufolge wandte sie sich auch gegen die Auffassung eines gemeinsamen Geschichtsbildes Obwohl in der Bundesrepublik im Gleichklang mit den Ansätzen zur Entspannungspolitik ab Mitte der sechziger Jahre zunehmend die Tatsache berücksichtigt wurde, daß es im Widerstand gegen die NS-Herrschaft nicht nur den 20. Juli gab, ignorierte die DDR diese Veränderung der Forschungsrichtung in der Bundesrepublik. Nach wie vor warf sie der Bundesrepublik im Stil des Kalten Krieges vor, daß sie die Macht derjenigen wiederherstelle, die die „Hauptverantwortung für den Hitler-Faschismus und den Krieg" getragen haben. Hier fand kein „Wandel durch Annäherung" statt.
1968 gab sich die DDR eine neue Verfassung, in der sie vom Bestehen zweier deutscher Staaten ausging. Die siebziger Jahre waren durch den Versuch gekennzeichnet, die staatliche Trennung auch zu einer Trennung der Nation zu machen. 1971 wurde der Art. I der Verfassung abgeschafft, in welchem die DDR als „sozialistischer Staat deutscher Nation" bezeichnet worden war. In der Folge wurde die Entwicklung einer Nationalgeschichte der DDR propagiert. Der Zweck ist klar: Da eine Nation nicht allein durch die Streichung eines Verfassungsartikels entsteht, muß eine Geschichte dieser „sozialistischen deutschen Nation" geschaffen werden. In der vom Zentralkomitee der SED herausgegebenen „Einheit" wurde 1984 ausgeführt: „Niemand aber kann sich wohl der Einsicht verschließen: wenn sich in der DDR eine sozialistische deutsche Nation entwickelt, d. h. eine Nation, die ihrem Charakter nach sozialistisch, ihrer ethnischen Herkunft nach deutsch ist, so ergibt sich daraus die unabweisbare Konsequenz, daß sie in ihrem Bewußtsein die gesamte deutsche Geschichte von der Warte des Sozialismus verarbeiten muß. Die Sicht auf die gesamte deutsche Geschichte ist ein unveräußerliches Element unseres historischen Selbstverständnisses, Teil unserer nationalen Identität." Diese Erweiterung der historischen Traditionslinie der DDR muß im Zusammenhang mit der Neuordnung des Verhältnisses zwischen den beiden deutschen Staaten durch den Grundlagenvertrag von 1972 gesehen werden. Die DDR kann sich auf die Entspannungspolitik im Verhältnis zur Bundesrepublik Deutschland nur einlassen, wenn dadurch nicht einem gesamtnationalen Anspruch der Bundesrepublik gedient wird. 2. Die Beurteilung des 20. Juli 1944 Zur progressiven Traditionslinie, die zur Entstehung und Ausbildung des „sozialistischen deutschen Staates" — der DDR — hinführt, gehört auch der antifaschistische Widerstandskampf von 1933— 1945 Er wird von der DDR als ein „wesentliches Stück ihrer Vorgeschichte" begriffen. Unterschieden wird zwischen dem Widerstand gegen Hitler, d. h.der Verschwörung des 20. Juli, und dem „antifaschistischen Kampf". In ihrem Teil des Zugriffs auf den Widerstand beansprucht die DDR die kommunistischen und sozialdemokratischen Widerstandskämpfer und die Antifaschisten aus bürgerlich-demokratischen sowie christlichen Kreisen, die von Anfang an Widerstand geleistet haben. Diejenigen aber, die sich später bei der Verschwörung des 20. Juli fanden und den Nationalsozialismus anfänglich unterstützt haben, als seine Herrschaft nocht nicht gefestigt war, werden der bundesdeutschen Traditionslinie zugeordnet.
Bei dieser Zuordnung spielt in DDR-Sicht eine wesentliche Rolle, daß der Kreis um Goerdeler die Absicht hatte, den Krieg nur im Westen zu beenden. Schon 1947 schrieb Albert Norden: „Einstellung des Widerstandes im Westen und Fortsetzung des Krieges im Osten — das war aber nicht nur die Lieblings-idee der Generale. Auch Goerdeler, ein konservativer Freund der monarchischen Staatsform und leitender Kopf bürgerlicher antinazistischer Oppositionskreise, bekannte sich zu dieser Plattform." Goerdeler war be-kanntlich davon ausgegangen, daß die westlichen Alliierten — im besonderen Großbritannien — ein substantielles Interesse daran haben mußten, daß die Sowjetunion nicht weiter nach Westen vordringen würde. Davor könnten sie sich nur mit Hilfe eines genügend starken Deutschlands und unter Einbeziehung des früheren Polens in einer westalliierten Eindämmungspolitik gegenüber der Sowjetunion schützen. Man muß sich dabei vor Augen halten, daß die junge Sowjetmacht in den zwanziger Jahren ihre Sicherheit durch die Westmächte und Polen bedroht sah und daß Deutschland durch den Vertrag von Rapallo aus einer möglichen antisowjetischen Einheisfront ausschied.
Während der Zeit des Kalten Krieges wird der Widerstandskreis des 20. Juli immer deutlicher als antisowjetisch und imperialistisch eingestuft und der Bundesrepublik unterstellt, die damals gescheiterte Absicht des Goerdeler-Kreises heute mit Unterstützung der USA realisieren zu wollen. „Was damals ... die Absicht der Hintermänner der Verschwörer war, ist heute offizielle Bonner Politik: Unterordnung und Zusammengehen mit den westlichen imperialistischen Staaten gegen die Sowjetunion und das sozialistische Lager."
Dennoch verzichtet die DDR nicht vollständig auf die Einbeziehung des 2O. -Juli-Widerstandes in ihre Nationalgeschichte. Während die Beck-Goerdeler-Gruppe der Traditionspflege der Bundesrepublik zugewiesen wird, werden die Offiziere um Stauffenberg und Mitglieder des Kreisauer Kreises sowie SPD-und Gewerkschaftsführer wie Leber, Reichwein, Haubach und Leuschner für die historische Tradition der DDR beansprucht. „Goerdeler gehört nach Bonn, Brüssel und Washington, Stauffenberg nach Berlin. Womit nicht der Kurfürstendamm gemeint ist, sondern die Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik, in der alles Gute, Anständige, Edle der Geschichte des deutschen Volkes und der deutschen Politik seine Heimstatt gefunden hat — im Sinne Karl Marx', Karl Liebknechts, Ernst Thälmanns und Rudolf Breitscheids. Aber auch im Sinne des Grafen Claus Schenk von Stauffenberg." In den sechziger Jahren findet sich eine starke Häufung der publizistischen Äußerungen zu Stauffenberg und zum „Nationalkomitee Freies Deutschland"
(NKFD) — offenbar unter dem Gesichtspunkt der Ausbildung patriotischen Bewußtseins in der Nationalen Volksarmee der DDR.
In diesem Sinne werden folgende Absichten der Stauffenberg-Gruppe hervorgehoben. Erstens: Die Ablehnung des Planes von Goerdeler, die Sowjetunion gemeinsam mit den Westmächten östlich der polnischen Grenze „einzudämmen". Außerdem die Idee eines Ausgleichs mit der Sowjetunion und Polen, die einige Mitglieder der Gruppe um Stauffenberg unter dem Gesichtspunkt der Aussöhnung mit diesen, von NS-Deutschland überfallenen Ländern hatten. Und schließlich die Ablehnung einer einseitigen Westorientierung Deutschlands. Zweitens: Das Eintreten für eine Zusammenarbeit mit dem kommunistischen Widerstand. Es wird darauf hingewiesen, daß Leber und Reichwein mit Billigung Stauffenbergs Kontakte zur KPD aufgenommen hatten, denen weitere mit dem Ziel eines Bündnisses folgen sollten
Nach all dem ist auch der Hinweis verständlich, daß sich Stauffenbergs Konzeption stark dem Programm des NKFD angenähert habe Zwar ist im Grunde genommen nicht nachweisbar, ob Moskau im Gegensatz zur ablehnenden Haltung Washingtons und Londons zu Verhandlungen mit dem Widerstand des 20. Juli bereit gewesen wäre. Doch hatte sich die Sowjetunion immerhin mit dem NKFD und dem Bund deutscher Offiziere (BDO) auf ein „anderes Deutschland" eingestellt, in welcher Weise sie auch immer mit dieser Gruppierung ihre Nachkriegs-Deutschland-Politik vorbereitet haben mochte. Partner in einer sowjetischen Deutschland-Konzeption hätte das NKFD ohnehin nur bei einer erheblich größeren Breitenwirkung werden können.
Es sei noch einmal angemerkt, daß die Bindung der DDR an die Sowjetunion — auch wenn diese nicht unbedingt ausschließlich sein muß — eine Voraussetzung ihrer Stabilität ist. An der Beurteilung des Widerstandes in seiner Haltung zur UdSSR wird deutlich, daß der Rückgriff auf bestimmte historische Traditionen nicht nur die Aufgabe der Förderung eines DDR-Staatsbewußtseins hat, sondern gleichzeitig auch die der außenpolitischen Orientierung. Ein Beispiel dafür bildet auch die Neueinschätzung Bismarcks, der in dieser Hinsicht in eine Reihe mit Stauffenberg gestellt wird. Kurt Hager, Mitglied des Politbüros und Sekretär des ZK der SED, führte dazu aus: „Die Geschichte kennt Beispiele, wo Vertreter von Ausbeuterklassen, ohne ihren klassenbedingten Erkenntnishorizont zu sprengen, sich den Blick auf die Realitäten zu bewahren ... vermochten. Dafür können in der deutschen Geschichte Persönlichkeiten wie Yorck von Wartenburg, Bismarck, Rathenau, Stauffenberg und Persönlichkeiten der Verschwörung vom 20. Juli 1944 stehen .. Bismarck sei in der Lage gewesen, „in wichtigen Fragen, insbesondere auf außenpolitischem Gebiet, nüchtern zu kalkulieren, für gute Beziehungen zu Rußland zu plädieren"
III. Schlußbemerkung
Zum Abschluß drängt sich die Frage auf, ob es zu einer größeren Gemeinsamkeit in der Beurteilung des Widerstandes gegen die NS-Herrschaft kommen könnte. DDR und Bundesrepublik Deutschland haben sich grundlegend auseinanderentwickelt. Doch gibt es auch einen Grundbestand nationaler Gemeinsamkeiten. Dazu gehört nicht nur die Sprache, sondern auch eine gemeinsame Geschichte. Ein eigenes Nationalbewußtsein in der Bundesrepublik und in der DDR kann sich nur bei einem eigenen Geschichtsbewußtsein entwikkeln. Eine Beurteilung des Widerstandes, die verschieden ist, verwischt nationale Gemeinsamkeit; eine Annäherung in der Beurteilung kann zur Akzeptanz eines gemeinsamen historischen Erbes führen. Seit Mitte der sechziger Jahre spielt in der Bundesrepublik bei der Einschätzung des Widerstandes gegen das NS-Regime der 20. Juli 1944 nicht mehr die zentrale Rolle. Zunehmend wurde auch der linke Widerstand, der Widerstand aus der Arbeiterschaft bzw. ihrer politischen Gruppierungen einschließlich der Kommunisten gewürdigt. Diese Einbeziehung anderer Widerstandsgruppen hing offensichtlich mit der Entwicklung des Ost-West-Verhältnisses und dem Charakter der Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten zusammen. Die einsetzende Entspannung im Ost-West-Konflikt — 1964 hatte der amerikanische Präsident L. B. Johnson die Absicht geäußert, „to build new bridges to Eastern Europe" — entschärfte auch die ideologische Konfrontation zwischen den beiden Blöcken. Von jetzt an wurden Sachverhalte auch politisch ansprechbar, die bis dahin durch die alle politischen und gesellschaftlichen Bereiche umfassende Ost-West-Konfrontation unterdrückt worden wa-ren. Einige Beispiele sollen diese Einschätzung illustrieren.
1964 hatte Bundespräsident H. Lübke in seiner Gedenkrede den antifaschistischen Widerstandskampf der Kommunisten neu bewertet. Er wies darauf hin, daß es unredlich wäre, wenn man ihnen unterschieben würde, daß sie nur als Handlanger einer fremden Macht gehandelt hätten. Fritz Erler, Stellvertretender SPD-Vorsitzender, stellte in seiner Gedenkrede 1966 fest, daß auch Kommunisten viele Opfer gebracht hätten. Aber gleichzeitig sprach er das besondere Problem im Verhältnis der beiden deutschen Staaten zueinander an: „Trotz des neuen Schreckensregimes jenseits der Mauer dürfen wir die Teilnahme der Kommunisten am Widerstand nicht einfach verschweigen.“ Deutlich anders äußerte sich Bundespräsident Heine-mann in seiner Gedenkrede 1969. Unter Vermeidung konfrontativer Bezüge zur DDR schloß er die Kommunisten in die Würdigung des Widerstandes ein und stellte fest, „sie alle handelten und starben für eine bessere Welt" K. von Dohnanyi, damals Staatsminister im Auswärtigen Amt, führte 1978 in seiner Gedenkrede aus, daß die Kommunisten auch NS-Gegner waren und es eine gefährliche Fehldeutung sei, Kommunisten und Faschisten gleichzusetzen. Damit wandte er sich gegen das in den fünfziger Jahren entwikkelte Interpretationsmuster der Totalitarismuskritik, die ja beide politischen Herrschaftssysteme gleichgesetzt hatte. Zudem forderte von Dohnanyi: „Zur sogenannten Bewältigung unserer Vergangenheit gehört des-wegen auch eine Aufarbeitung des Kommunismus der 20er Jahre in Deutschland und eine Analyse seiner demokratischen Ansätze sowie seiner revolutionären Irrtümer.“
Dieses Problem anzugehen, heißt natürlich auch sich daran zu erinnern, daß die kommunistische Einschätzung der Sozialdemokraten als „Sozialfaschisten" in der Weimarer Republik das Zusammenwirken beider Parteien bei der Abwehr des Nationalsozialismus verhinderte.
Wir hatten bereits darauf hingewiesen, daß bei der Konstruktion von Ahnenreihen der deutschen Geschichte durch die DDR Beck und Goerdeler ihren Platz in der Bundesrepublik erhalten haben. Auch 1979 übersah K. E. von Schnitzler noch, daß die sozialliberale Koalition die Verständigung mit der UdSSR gesucht hatte und durch den Abschluß des Moskauer Vertrages von 1970, kurz nach dem 26. Jahrestag des 20. Juli 1944, der Ausgangspunkt im gegenseitigen Normalisierungsprozeß gesetzt worden war. Vergleichbare Absichten aus dem Stauffenberg-Kreis finden sich also in der Außenpolitik der Bundesrepublik wieder. In diesem Zusammenhang sollte die Gedenkrede des damaligen Bundesministers der Justiz, G. Jahn, bei der Feierstunde am 20. Juli 1970 hervorgehoben werden Er stellte einen Bezug zwischen dem 20. Juli und der Begegnung zwischen Brandt und Stoph in Erfurt am 19. März 1970 her, weil beide Ereignisse die Chance geboten hätten, mit Frieden und Verständigung in Europa Ernst zu machen Die DDR reagiert auf diese Veränderungen in der Würdigung des Widerstandes in der Bundesrepublik abwehrend, und sie muß es auch. Wenn sie zur Gewinnung nationaler Identität eine eigene Nationalgeschichte benötigt, dann ist es erforderlich, Ansprüche der Bundesrepublik auf die demokratischen, revolutionären, antifaschistischen Elemente der deutschen Geschichte, die zu einem ähnlichen Traditionsbild führen könnten, abzuwehren. Mit der Einbeziehung des linken Widerstandes in der Bundesrepublik gerät der Alleinvertretungsanspruch der DDR für diese Traditionslinie in Gefahr. Hier scheint ein unlösbares Dilemma zu bestehen:
Aus einem Aufeinanderzugehen resultiert ein Abgrenzungsbedürfnis der DDR — eben weil sie zu ihrer Legitimation eine eigene Identität braucht. Aber vielleicht hat der Wettbewerb um Traditionslinien des deutschen Widerstandes, wie der deutschen Geschichte überhaupt, durchaus wünschenswerte Ergebnisse zur Folge, so wie es der damalige Vizepräsident des deutschen Bundestages, R. von Weizsäcker, bei der Gedenkfeier am 20. Juli 1980 angedeutet hat: „Da gibt es zum Beispiel eine Neubelebung von geistigen Epochen und Persönlichkeiten der Geschichte im anderen deutschen Teilstaat. Zwar dient dies im offiziellen Auftrag einer Gegenwartsideologie. Die geschichtlichen Vorbilder für eine progressive Nation in der DDR sollen ermittelt werden gegen die reaktionären Ahnherren einer anderen deutschen Teilnation. Manche bei uns sind beunruhigt, da sie fürchten, daß ihnen auf diesem Weg jetzt zum Beispiel Martin Luther aus Anlaß seines 500. Geburtstages entfremdet werden könnte. Aber diese Sorgen sind unbegründet. Ein Wettbewerb um den fortdauernden Wert geistiger Strömungen und Persönlichkeiten der Geschichte kann nur die Einsicht in das Wesentliche und damit Gegenwärtige vertiefen."