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Do imensionen des Wertewandels <fussnote> Das Thema wird vom Autor ausführlicher behandelt in: Die Collagegesellschaft. Zur Wertkrise in der Industriekultur, Köln-Wien 1984 (in Vorbereitung). </fussnote> | APuZ 25/1984 | bpb.de

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APuZ 25/1984 Artikel 1 Do imensionen des Wertewandels Das Thema wird vom Autor ausführlicher behandelt in: Die Collagegesellschaft. Zur Wertkrise in der Industriekultur, Köln-Wien 1984 (in Vorbereitung). Computer, Wertewandel und Demokratie Öffnet die Informationsgesellschaft die Chancen für mehr politische Partizipation? Sozialwissenschaftliche Politik-Beratung Probleme und Perspektiven

Do imensionen des Wertewandels <fussnote> Das Thema wird vom Autor ausführlicher behandelt in: Die Collagegesellschaft. Zur Wertkrise in der Industriekultur, Köln-Wien 1984 (in Vorbereitung). </fussnote>

Hasso von Recum

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Zusammenfassung

Der „Wertewandel" in den westlichen Industriestaaten ist Ausdruck einer tiefgreifenden Akzeptanzkrise der technisch-industriellen Hochzivilisation, die sich in vielfältigen Formen der Ablehnung und des Protestes, in den Entwürfen einer „postmaterialistischen" Gegenkultur und in den „neuen sozialen Bewegungen" manifestiert Im Gegensatz zu optimistischen Prognosen, die eine relativ reibungslose Ablösung des tradierten Wertesystems durch ein neues, postmaterialistisches unterstellen, vollzieht sich der Wertewandel keineswegs als „stille Revolution" oder „sanfte Verschwörung". Er ist vielmehr zunehmend gekennzeichnet durch eine konfliktträchtige Wertepolarisierung und Risse im sozial-kulturellen Gefüge, hervorgerufen durch Schwächung und Entstrukturierung gesellschaftlicher Institutionen, mit deren Hilfe Werte und Normen als Orientierungsmaßstäbe des Verhaltens verbindlich gemacht werden. Wesentlich hieran beteiligt sind konfliktfördernde systemimmanente Widersprüche der zur Überflußgesellschaft avancierten Industriegesellschaft, die sich einerseits als Produktions-und Leistungsgesellschaft organisiert, andererseits hedonistischer Konsumkultur und sozial-kultureller Permissivität weiten Raum gibt. Da der Postmaterialismus „Beliebigkeit" zum Leitprinzip erhoben hat, läuft er Gefahr, sich selbst den Weg zu konsistenten, verbindlichen neuen Wertestrukturen zu verbauen. Wertewandel erschöpft sich dann im Abbau tradierter Wertesysteme und Institutionen und — da eine enge Affinität zwischen Postmaterialismus und dem Prinzip der „Collage" besteht — in der collageartigen Zusammenfügung entstrukturierter Elemente zu beliebigen neuen Gebilden von meist kurzer Lebensdauer. Das Bildungs-und Erziehungswesen scheint wie kaum eine andere Institution geeignet zu sein, den sich abzeichnenden gesellschaftlichen Destabilisierungsprozessen entgegenzuwirken. Es unterliegt jedoch in weit stärkerem Maße gesellschaftlichen Einflüssen, als es selbst in der Lage ist, gesellschaftsprägend zu wirken. In weiten Bereichen bietet es ein Spiegelbild epochaltypischer gesellschaftlicher Kräfte und Strömungen und ihrer Widersprüche: Die gesamtgesellschaftlichen Entstrukturierungstendenzen finden im Bildungswesen ebenso ihre Entsprechung wie die konfliktreiche Polarisierung von Leistungsorientierung und Permissivität. Der Wertewandel ist eine Herausforderung an die Selbsterneuerungsfähigkeit der Gesellschaft. Daß Gesellschaften zur Selbsterneuerung immer wieder fähig sind, zeigt die historische Erfahrung. Sie zeigt zugleich, daß den Reformern der Vergangenheit bewußt war, daß eine völlige Abkehr von den Traditionen, Sinngehalten und Techniken der zu verändernden Gesellschaft keine günstige Voraussetzung für den Wandel ist. Das unterscheidet sie grundsätzlich von den Anhängern des modernen Postmaterialismus.

I. Akzeptanzkrise der technisch-industriellen Zivilisation

n der Bundesrepublik und anderen von der industriellen Zivilisation besonders stark geprägten westlichen Ländern entfaltet sich seit den siebziger Jahren ein tiefgreifender Konflikt zwischen traditionellen industriegesellpschaftlichen Orientierungen und sogenannaen postmateriellen, nichtindustriellen WertVorstellungen und Lebensstilen Dieser ‘Wertkonflikt ist Ausdruck einer Akzeptanz-krise des Gesamtsystems der technisch-industriellen Zivilisation, die in der Bundesrepublik in mancher Hinsicht intensiver erlebt wird und größere Turbulenzen verursacht als in anderen Industriestaaten. Für diese Krise sind die unter dem Banner des „antimoderniistischen Protestes" sich sammelnden „neuen sozialen Bewegungen" — Ökologie-, Alternativ-, Frauen-, Friedensbewegung — mit ihren aggressiv vertretenen Abgrenzungsbedürfnissen und ihren Wachstums-, technik-und herrschaftskritischen Gegenpositionen zur Mehrheitskultur ebenso symptomatisch wie eine generell gesteigerte Sensibilität gegenüber möglichen schädlichen Folgen der technisch-ökonomischen Entwicklung, wach! sende Zweifel an der Problembewältigungsfähigkeit des politischen Systems, zunehmende Autoritätsfeindlichkeit, Infragestellen der Legitimität traditioneller Institutionen und nachlassende Verbindlichkeit der „klassir sehen" Arbeits-und Leistungstugenden In der Berufs-und Arbeitswelt wird seit geraumer Zeit eine abnehmende Mobilitäts-und Risikobereitschaft und eine zunehmende Berufs-und Karriereunlust registriert. Zugleich besteht ein ausgeprägtes berufliches Sicherheitsdenken. Die ihres ethischen Überbaus entkleidete Arbeitsmoral zieht sich zurück auf eine nur noch rational und rechtlich begründete „Vertragsmoral" (Helge Pross). Der Lebensschwerpunkt wird zunehmend in der Privatsphäre unter Betonung individueller hedonistischer Ziele gesehen und weniger in der Berufssphäre. Die moralischen Potentiale verlagern sich. Während auf der einen Seite in der Berufs-und Arbeitswelt und auch anderwärts die traditionellen ethischen Imperative tendenziell an Bedeutung verlieren, herrscht auf der anderen Seite kein Mangel an moral-und emotionsgesättigtem Engagement für neue gesellschaftliche und politische Ziele.

Mittlerweile zeichnet sich mit wachsender Deutlichkeit ab, daß das Vordringen postmaterieller Wertvorstellungen weder eine kurzfristige Verhaltensänderung noch eine kurzlebige Mode-und Übergangserscheinung darstellt. Es handelt sich auch nicht ausschließlich um eine Angelegenheit jüngerer Altersgruppen. Wenn auch bei der Jugend zweifellos die größte Zustimmungsbereitschaft zu postmateriellen Orientierungen besteht (sechs Prozent aller 15— 30jährigen fühlen sich selbst als Teil der Alternativbewegung, 42 Prozent bringen ihr Sympathie entgegen) so läßt sich der industriegesellschaftlich-postmaterialistische Wertekonflikt nicht auf den schlichten Nenner eines herkömmlichen Generationenkonfliktes bringen. Nach einer 1982 durchgeführten Repräsentativerhebung des SINUS-Instituts sind Wertwandel und Werteverunsicherung „kein jungendtypisches Phänomen". Diese Erscheinungen lassen sich „auch bei einem beträchtlichen Teil der Elterngeneration diagnostizieren" Träger der „gegenkulturellen Kritik des Industrialismus" und des Wertewandels sind insbesondere besser Gebildete und Angehörige der im sozialen Dienstleistungsbereich tätigen „neuen Mittelschichten". Klassen-oder sozialschichtenspezifische Exklusivität des Postmaterialismus bedeutet das jedoch nicht. Seine Ausstrahlung erfaßt auch andere Bevölkerungsschichten Die bisherigen Erfahrungen legen es nahe, den Wertewandel als einen dauer-. haften gesellschaftlichen Prozeß von grundsätzlicher Art und Wirkung zu begreifen, dessen kulturrevolutionäre Qualität nicht unterschätzt werden sollte

Eine Herausforderung an den gesellschaftlichen Grundkonsens stellt insbesondere die nachlassende Zustimmungsbereitschaft für das traditionell als zentrales gesellschaftliches Gestaltungsprinzip wirksame Leistungsprinzip dar. Der Grundsatz, die individuelle Leistung zum Zuteilungskriterium für materielle und soziale Chancen zu machen und dadurch zugleich Leistungsbereitschaft zu erzeugen, wird von einer wachsenden Zahl von Menschen nicht mehr länger als verpflichtend und gerecht empfunden. Der Sinn und die Belohnung von Leistung werden fragwürdig. Zweifel an der Legitimität von Unterschieden, Besitz und Eigentum mehren sich Man orientiert sich an Gegenpositionen zur Leistungswelt, für die insbesondere Herbert Marcuse und Erich Fromm als geistige Väter in Anspruch genommen werden Diese Gegenpositionen sind geprägt von der Idee unbegrenzter individueller Persönlichkeitsentfaltung — „kompromißlose Selbstverwirklichung" (Fromm) — und von der Vorstellung umfassender sozialer Gerechtigkeit, die in maximaler Gleichheit ihren Ausdruck findet. In dem Entwurf für eine neue Gesellschaft, die an die Stelle der ökonomisch-technischen Leistungswelt treten soll und an die mitunter ans Messianische grenzende Hoffnungen und Erwartungen geknüpft werden, sind „authentische Bedürfnisse", „neue Sinnlichkeit", „Solidarität", „Selbstorganisation", „Partizipation", „Dezentralität" zentrale Fixpunkte. Narzißtisch-hedonistische Bedürfnisse spielen eine ausschlaggebende Rolle. Dem Leistungsprinzip wird als Alternative das Lustprinzip gegenübergestellt. Dabei werden nicht nur die möglichen luststiftenden Eigenschaften von Leistung übersehen. Unbedacht bleibt auch, daß das Lustprinzip aufgrund seines privatistisch-hedonistischen Charakters zur massenhaften Anwendung und als zentrales Gestaltungsprinzip für Großgruppen und Gesellschaften nicht taugt. Es wirkt in diesem Zusammenhang entstrukturierend und desintegrierend. Freilich sollte auch nicht vergessen werden, daß ein Leistungsprinzip, das als oberste Norm unterschiedslos alle Lebensbereiche beherrscht (und epochaltypische Leitprinzipien, das zeigt die Sozialgeschichte, haben diese Tendenz), dort, wo es nicht hingehört, ebenfalls gesellschaftlich destruktiv und kontraproduktiv wirken kann.

Die sich im historischen Ablauf ständig verstärkende Dynamik des technischen, sozioökonomischen und intellektuellen Wandels macht es immer schwieriger, „die Grundwerte unserer Zivilisation durch erneuernde Um-deutung und durch Anpassung der von ihnen abgeleiteten Moralnormen und Institutionen an veränderte Bedingungen zu bewahren"

Fehlt es an Kraft zur schöpferischen Bewältigung des Wandels, dann entsteht ein Gestaltungsvakuum, in dem sich Gefühle existenzieller Sinnlosigkeit und des Herausfallens aus Vergangenheit und Zukunft einnisten können. Als Akt des Aufbegehrens und des Protestes gegen diesen Zustand kann ein Sturmlauf gegen die für'das Übel haftbar gemachten und nicht mehr hinreichend durch gesellschaftlichen Gestaltungswillen gesicherten traditionellen Werte und Normen einsetzen. Damit verbunden sein kann eine „romantische" Umorientierung, eine „antimaterialistische Sehnsucht", die keineswegs erst ein Spezifikum unserer Tage ist. Ihre Verbreitung hat Arthur Koestler bereits für die Zeit der Weimarer Republik diagnostiziert

Zur Akzeptanzkrise der industriellen Hochzivilisation dürfte ferner nicht unerheblich beigetragen haben, daß die wissenschaftliche, die technisch-ökonomische und die militärtechnische Entwicklung die Menschheit heute mit Problemen und Gefährdungen von bislang unbekannter Art und Größe konfrontiert. Technischer Fortschritt führt in zunehmendem Maße zu einer Anhäufung von Problemen, deren Bewältigung vielfach Entscheidungen von großer Tragweite und mit schwer abzuschätzenden Konsequenzen für die Zukunft impliziert. Die von Außenstehenden immer weniger zu durchschauenden technischen Strukturen und Prozesse, ihre Überdimensionalität und ihre vermutete Irreversibilität können existenzielle Verunsicherung, Ängste und das Gefühl einer wachsenden Inhumanität verursachen, was ohne Frage die Abkehr von industriegesellschaftlichen Wertorientierungen begünstigt. Dabei gesellt sich zu realen Gründen, die Anlaß zur Furcht geben, eine zeittypische, spezifisch bundesrepublikanische, unseren europäischen Nachbarn weitgehend fremde Angstbereitschaft, die als Ausweis von Modernität und Progressivität gilt, und die von Parteigängern des „antimodernistischen Protestes" mit beträchtlichem „theoretischen Selbstängstigungsauiwand" (Odo Marquard) gestützt und aufrechterhalten wird. Da sich die technisch-ökonomische Entwicklung in den westlichen Ländern im Rahmen des . kapitalistischen Systems" vollzieht, unterliegt der Kapitalismus“ in ähnlicher Weise tenden-ziell der Skepsis und Ablehnung wie die Technik. Dies um so leichter, als die seit längerem stattfindende „Marxifizierung des westlichen Denkens" (Aron) die Kapitalismus-kritik zu einer Dauerinstitution gemacht hat: „Der Marxismus, ob vulgär oder subtil, bleibt das bequemste, nicht zu übertreffende Mittel der westlichen Selbstkritik."

II. Erklärungsmodelle des Wertwandels

Zur Erklärung des Wertwandels wird regelmäßig Ronald Ingleharts „klassisches" Konzept der „stillen Revolution" herangezogen Die mit der Akzeptanzkrise der technisch-industriellen Hochzivilisation einhergehende Ausbreitung postmaterialistischer Wertvorstellungen ist nach Inglehart eine Folge der industriegesellschaftlichen Prosperität. In Anlehnung an die Maslow'sche Theorie der Bedürfnishierarchie vertritt Inglehart die Auffassung, daß jeweils diejenigen Bedürfnisse am höchsten bewertet werden, die den höchsten Hierarchierang haben und noch nicht befriedigt sind. Höchste Priorität besitzen zunächst materielle Bedürfnisse. Sind sie befriedigt, treten an ihre Stelle immaterielle (soziale, kulturelle, intellektuelle) Bedürfnisse. Während der langen Wohlstands-und Friedensphase nach dem Zweiten Weltkrieg ist es in den westlichen Industriegesellschaften zu einer weitgehenden Sättigung materieller Bedürfnisse gekommen. Ihr Wert hat abgenommen, die Wertschätzung immaterieller Bedürfnisse dagegen ist gestiegen. Da nach Inglehart Wertstrukturen weitgehend durch die jugendliche Sozialisation geprägt werden und im Erwachsenenalter relativ stabil bleiben, kann damit gerechnet werden, daß die im Wohlstandsmilieu empfangene postmaterialistische Wertprägung später beibehalten wird. Es kommt zu einem undramatischen, kontinuierlichen Prozeß des Wertwandels, einer „stillen Revolution", die zu einer langfristig stabilen Etablierung postmaterialistischer Struktur-und Verhaltensmuster von allgemeiner Verbindlichkeit führt.

Ingleharts Erklärungsmodell des Wertewandels, dessen empirische Fundierung erhebliche Lücken aufweist, orientiert sich an einem zur Analyse des sozialen Wandels nach dem Vorbild von Ogburn häufig herangezogenen, aber nichtsdestoweniger problematischen Konzept mechanistischer Art Dieses Konzept basiert auf der Grundannahme, daß die „unmodernen" Bestandteile eines sozialen Systems zum Absterben verurteilt sind und mit fortschreitender Zeit in einem mehr oder weniger beschleunigten Phasenablauf von der Bildfläche verschwinden, da das soziale System stets auf einen Gleichgewichtszustand der Harmonie der Einzelelemente hintendiert. In Ingleharts Modell wird, dem Leitbild prästabilisierter Harmonie entsprechend, die relativ reibungslose Ablösung eines Wertesystems durch ein anderes unterstellt. Damit kommt aber nur ein Teilaspekt des Wandlungsprozesses ins Blickfeld. Zwar läßt sich seit geraumer Zeit eine schleichende Erosion und ein „sanftes Dahinscheiden" traditioneller Werte im Gefolge wachsender gesellschaftlicher Permissivität beobachten. Aufs Ganze gesehen ist der Wertwandlungsprozeß jedoch im hohen Maße konfliktträchtig. Denn erstens sind traditionelle Werte und postmaterialistische Orientierungen scharf voneinander abgehobene Kontrastwerte. Zweitens schüren militante Kräfte der postmaterialistischen Bewegung den Konflikt, indem sie die traditionellen Werte als Unwerte verteufeln, deren man sich möglichst rasch entledigen sollte, um Platz zu schaffen für eine neue Wertehierarchie mit Alleinherrschaftsanspruch. Der Postmaterialismus in seiner militanten Spielart will dominieren und die Gesellschaft von Grund auf verändern. Die Radikalität dieses Anspruchs erlaubt keine Konkurrenz und Koexistenz unterschiedlicher Werte oder eine Wertesynthese.

Problematisch an Ingleharts Prognose des Wertwandels ist ferner, daß eine Zwangsläufigkeit der Entwicklung unterstellt wird, die nicht gegeben sein muß. Soziale Prozesse müssen nicht gradlinig verlaufen. Sie können verschlungene Umwege einschlagen, auseinanderdriften, abbrechen, eine neue Qualität erhalten. Die suggestiv-deterministische Botschaft von der „stillen Revolution" begünstigt eine vorschnelle Kapitulation vor dem „Zeitgeist" und seinen vermeintlich schicksalhaften Zwängen. Sie wirkt damit als „Self-Fulfilling-Prophecy". Ein neuer, von Klages und Herbert entwickelter Ansatz vermeidet die Einseitigkeiten des Inglehart’schen Modells. Er sieht drei empirisch ermittelte Wertwandlungsalternativen vor — Wertverlust, Wertumsturz, Wert-synthese —, die als elementare „Muster" bzw. konkurrierende „Pfade" jeglichen Wertwandels begriffen werden. Die Alternative „Wertverlust" ist gekennzeichnet durch das Herausfallen aus eindeutigen Wertbindungen, Abhängigkeit der Einstellungen und Verhaltensweisen von situationsgebundenen Einflüssen und impulshaftes Reagieren. Beim „Wertumsturz" verdrängen neue Werte, insbesondere kontrastierender Natur, tradierte Werte; heftiges Wertengagement verbindet sich mit permanenter Unruheneigung. Bei der Alternative „Wertsynthese" wird eine Vereinigung älterer Wertbestände mit neuen vollzogen, und es erfolgt eine Ausweitung des Einstellungs-und Verhaltensspielraums.

Den drei Typen des Wertwandels ließ sich insgesamt rund ein Drittel der von Klages und Herbert befragten Personen zuordnen. Ein Fünftel der Befragten verfügte über stark ausgeprägte „konventionelle" Dispositionen.

Eine extrem enge Bindung an tradierte Werte scheint demnach nur bei einer Minderheit der Bevölkerung der Bundesrepublik vorzuliegen Klages und Herbert gehen allerdings davon aus, daß sich größere Teile der Bevölkerung im unmittelbaren Umleid dieses „harten Kerns" bewegen und noch überwiegend von ihm beeinflußt werden. Zugleich registrieren sie jedoch in weiten Bereichen eine Abschwächung „konventioneller" Dispositionen, die „zwar nicht unmittelbar einen , Wertwandel'verkörpert, andererseits aber eine . Unbestimmtheit'und wertstrukturelle . Offenheit'herbeiführt, die vielfältige Wertwandlungstendenzen möglich werden läßt" Klages und Herbert kommen zu dem Fazit, „daß es in unserer heutigen Gesellschaft eine Fülle von Sachverhalten gibt, die den Wertverlust, den Wertumsturz und die Wertdiffusion begünstigen". Angesichts der derzeit wirksamen Veränderungstendenzen vertreten sie die Auffassung, „daß unser gesellschaftliches System in einer sozialpsychologischen Schieflage ist, die in eine Krise hineinführt" Diese Feststellung steht in auffälligem Kontrast zu der optimistisch getönten Aussage der SINUS-Studie . Jugend und Wertewandel", wonach „alte" und „neue" Werte „bei der Mehrheit der Bundesbürger eine Art widersprüchliche Werteharmonie bilden"

III. Wertepolarisierung und sozial-kultureller Riß

In erster Linie — das legen die Analysen und Interpretationen von Bell und Janowitz nahe — dürfte die Akzeptanzkrise der industriellen Hochzivilisation eine systemimmanente Krise sein, die sich auf widersprüchliche Struktur-und Entwicklungstendenzen der zur Wohlstandsgesellschaft avancierten Industriegesellschaft zurückführen läßt. Diese Gesellschaft organisiert sich einerseits als eine auf das Ziel der Wohlstandsmaximierung fixierte arbeitsteilige Leistungs-und Konkurrenzgesellschaft, die an Maßstäben wie Effizienz, Fleiß, Ordnung, Selbstdisziplin, Karriere-und Erfolgsstreben ausgerichtet ist und an ihnen festhält. Andererseits produziert und fördert sie aus Absatzerfordernissen eine hedonistische Konsumkultur und eine Expansion der Ansprüche und Selbstverwirklichungsbedürfnisse, die über eine kontinuierliche Normenaufweichung zu einer gesellschaftlichen und kulturellen Permissivität führt, die — wenn einmal eine bestimmte Grenze überschritten ist — auf die Produktions-und Leistungsgesellschaft zurückschlägt und ihre Funktionsfähigkeit in Frage stellt.

Dieser kritische Zustand der Gegenwartsgesellschaft ist das Produkt eines langfristigen historischen, ökonomischen und sozialkulturellen Prozesses: Die kapitalistische Zivilisation des 19. Jahrhunderts — so analysiert es Daniel Bell — war auf ihrem Höhepunkt „ein integriertes Ganzes, in dem Kultur, Charakterstruktur und Wirtschaft aus ein und demselben Wertsystem erwuchsen. Die Ironie des Schicksals aber wollte es, daß all dies vom Kapitalismus selbst unterminiert wurde, der durch Massenproduktion und Massenkonsum die protestantische Ethik zerstörte und an ihrer Stelle eifrig eine hedonistische Lebensweise förderte. Um die Mitte des 20. Jahrhun-derts suchte sich der Kapitalismus nicht länger durch Arbeit oder Eigentum zu rechtfertigen, sondern begnügte sich mit den Statussymbolen materiellen Besitzes und der Ausweitung der Vergnügungen. Ein höherer Lebensstandard und eine Lockerung der Sitten wurden nun als Zeichen persönlicher Freiheit gewertet und zum Selbstzweck erhoben" Der Postmaterialismus besitzt demnach nicht die Qualität einer aus eigener Bestimmung entstandenen Gegenkultur. Er ist vielmehr das Kontrastelement im Rahmen der gleichen gesellschaftlichen Matrix, nämlich der aus der industriellen Zivilisation hervorgegangenen permissiven Wohlstandsgesellschaft. Bell stellt die Marx'sche Krisentheorie gleichsam auf den Kopf: Unterhöhlt wird der Kapitalismus nicht durch Verelendung und Repressivität, sondern durch materiellen Überfluß und Permissivität

In der westlichen Welt waren die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg geprägt von Bestrebungen weitreichender Liberalisierung und Demokratisierung. Es entstand der moderne Typ der „pluralistischen" Gesellschaft mit einem Maß an Toleranzbereitschaft, „das geschichtlich als extrem eingestuft werden kann" Eine lange Periode wirtschaftlicher Prosperität ermöglichte die Finanzierung umfassender sozialer Reformen. Die außerordentlich günstige wirtschaftliche Lage mit hohem Wachstumsniveau und Voll-bzw. Über-beschäftigung wurde nicht in ihrer historischen Besonderheit erkannt, sondern als Regelfall gewertet.

Durch die „Revolution der steigenden Erwartungen und der steigenden Rechtsansprüche" mit ihrer überbordenden sozialen Begehrlichkeit, durch rasche Expansion hedonistischer Konsumwünsche auf der Basis massenhafter Ausbreitung eines vielfältigen Güter-und Freizeitangebots und durch rücksichtslose Ausschöpfung bestehender und neu zuwachsender Liberalitäts-und Toleranzspielräume wird aus der pluralistischen eine egozentrische permissive Gesellschaft. In ihr breitet sich narzißtisches Denken und Handeln aus. Bereits in den fünfziger Jahren hatte Herbert Marcuse für den Narzißmus als Inbegriff einer freien Kultur plädiert und damit der permissiven Gesellschaft frühzeitig die Richtung gewiesen. Inzwischen charakterisiert Christopher Lasch die Gegenwart als „das Zeitalter des Narzißmus", und Richard Sennett stellt die Diagnose: „Der Narzißmus ist die protestantische Ethik von heute." In dieser „Me Culture" bezieht sich alles Sinnen und Trachten auf das Ich und die unverzügliche Befriedigung von Wünschen. „Mir geht nichts über Mich" und „Wir wollen alles, und zwar subito" lauten die an Mauern gesprühten Parolen moderner narzißtischer Weitsicht, womit die Verkünder solcher Parolen, die sich gern als Gegner des „Konsumerismus" ausgeben, unbeabsichtigt offenbaren, daß sie in Wahrheit von den Begehrlichkeit weckenden Gefühls-und Denkschablonen der ihnen verhaßten Waren-gesellschaft beherrscht werden.

Die zentrale Handlungsanweisung in der permissiven Gesellschaft lautet, das zu tun, wozu man Lust hat. Die Rechte des Individuums rangieren weit vor seinen Pflichten. Weitreichende Ansprüche auf privates Wohlergehen, auf Bedürfnisbefriedigung, Selbstverwirklichung und Glück werden gestellt. Diese Anspruchshaltung kümmert sich in aller Regel weder um die Voraussetzungen der Verwirklichung der Ansprüche noch um die möglicherweise nachteiligen Folgen für andere. Die narzißtischen Ansprüche bilden eine Spirale ohne Ende, sie lassen sich nie befriedigen, denn das Wesen des Narzißmus besteht „in der nicht endenden Suche des Selbst nach Gratifikation, wobei das Selbst zugleich verhindert, daß diese Gratifikation tatsächlich eintritt. ... Die ständige Steigerung der Erwartungen, so daß das jeweilige Verhalten nie als befriedigend erlebt wird, entspricht der Unfähigkeit, irgend etwas zu einem Abschluß zu bringen."

Zur Minimierung gesellschaftlicher Konflikte und zur Beschaffung von Legitimität (Unterstützung) neigt der moderne demokratische Staat dazu, Forderungen nach mehr gesellschaftlicher Permissivität eher nachzugeben als ihnen Widerstand entgegenzusetzen. Aber noch so große Bereitschaft zur Nachgiebigkeit wird ihn im „narzißtischen Zeitalter“ nicht davor bewahren, binnen kurzem wieder mit neuen Forderungen konfrontiert zu werden. Das eigentliche Problem besteht jedoch darin, daß der Staat durch seine Nachgiebigkeit die normative Verbindlichkeit gesellschaftlicher Institutionen schwächen kann.

Institutionen regeln und ordnen gesellschaft-liches Leben. Werte und Normen, die als grundlegende, allgemein akzeptierte Orientierungsmaßstäbe für das menschliche Handeln Verhaltens-und Erwartungssicherheit ermöglichen, werden über Institutionen verinnerlicht. Die Verkündung neuer Werte bewirkt allein noch nicht viel. Erst die Schwächung der Institutionen begünstigt die Erosion tradierter Werte, Desorientierung und Verhaltensunsicherheit.

Im Gleichtakt mit sich ausbreitender soziokultureller Permissivität sind zahlreiche westliche Industrienationen auf dem Weg zu einer Gesellschaft, die versucht, das „alte Ziel der Einkommens-und Konsummaximierung mit dem neuen der Minimierung von Leistung und Disziplin" zu kombinieren Verbunden mit dieser Doppelorientierung, die einen fundamentalen ökonomischen und sozialen Zielkonflikt herausfordert, ist eine Polarisierung der Grunddispositionen der individuellen Wertorientierungen, „die auf fundamentale Spannungsverhältnisse (auf einen Riß) im sozialkulturellen Gefüge unserer Gesellschaft und unserer politischen . Kultur'hinweist" Diese Polarisierung begünstigt unter gesamtgesellschaftlichem Dach die Entstehung von zwei voneinander abgeschotteten Teilgesellschaften, „die miteinander immer weniger zu tun haben, vielfach nicht mehr dieselbe Sprache sprechen, die Wirklichkeit an jeweils anderen Maßstäben bemessen und in jeweils anderen Kategorien auslegen, die von gänzlich unvereinbaren Sehnsüchten, Erwartungen und Aspirationen umgetrieben werden" Diese konfliktträchtige Gleichzeitigkeit unterschiedlicher gesellschaftlicher Orientierungen und Bestrebungen, die Aufspaltung in eine industrielle Kerngesellschaft und in eine postmaterialistische Gegengesellschaft, scheint zum zentralen Charakteristikum westlicher Industrienationen im ausgehenden 20. Jahrhundert zu werden.

Würde sich die Gesellschaft für einen Postmaterialismus extremer Form entscheiden, dann wäre ein Zusammenbruch des bisherigen . Wohlstandsniveaus und ein Zerreißen des Netzes sozialer Sicherheit kaum zu vermeiden. Der radikale Postmaterialismus, wie er z. B. in den „neuen sozialen Bewegungen" anzutreffen ist, vertritt kompromißlos die Abschaffung der industriellen Produktions-und Wachstumsgesellschaft. Angestrebt wird eine Selbstversorgungswirtschaft, d. h. eine für ein Exportland wie die Bundesrepublik ruinöse Abkoppelung vom weltwirtschaftlichen Verbundsystem, ferner die Auflösung von Großbetrieben und wirtschaftlichen Großorganisationen zugunsten einer dezentralen, gebrauchswert-und bedürfnisbezogenen Produktion sowie die Substitution des marktwirtschaftlichen Regelungssystems durch Entscheidungen der „Betroffenen" an der Basis darüber, was, wie und wo produziert wird

Wo der Postmaterialismus in gemäßigteren Formen auftritt, stößt die Frage, wie Wohlstand entsteht und aufrechterhalten werden kann, meist auf Gleichgültigkeit. Wohlstand wird als eine gleichsam naturgegebene Selbstverständlichkeit betrachtet. Eine Mentalität, die an den bei manchen Naturvölkern verbreiteten „Cargo" -Kult erinnert, bei dem ökonomische Wohltaten — die aus Übersee eintreffende Fracht — als Geschenk eines magischen Spenders begriffen werden. Bereits vor einem halben Jahrhundert hat Ortega y Gasset die Mentalität und auch die narzißtischen Neigungen des verwöhnten Menschentyps der modernen Massenzivilisation, „der zur Welt gekommen ist, um das zu tun, wozu er Lust hat", hellsichtig beschrieben: „Die verwöhnten Massen nun sind harmlos genug zu glauben, daß diese materielle und soziale Organisation, die ihnen zur Verfügung steht wie die Luft, desselben Ursprungs ist, da sie, scheinbar, auch nie versagt und fast so vollkommen ist wie Naturdinge."

Da materieller Wohlstand zur Selbstverständlichkeit geworden ist, richtet sich postmaterialistisches Interesse auf höher gesteckte Ziele. Kultiviert werden gesinnungsethisch motivierte und gesteuerte Überzeugungen von der Realisierbarkeit unbegrenzter Ansprüche auf immaterielle Güter, die jederzeit für jedermann überall verfügbar sein sollen. Das Anspruchsdenken richtet sich zum einen auf zentrale humane und kulturelle Werte wie Frieden, Glück, Liebe. Zum anderen wird die Egalisierung von „Positionsgütern"'angestrebt. Diese attraktiven und knappen Minderheitsgüter (insbesondere Bildungsgüter, Berufspositionen, Dienstleistungen), die markieren, was in der Gesellschaft als „vorn" oder „oben" gilt, lassen sich nicht wie materielle Massengüter beliebig vermehren. Sie verlieren an Bedeutung, wenn sich die Nutzungsbedingungen aufgrund der Egalisierung ändern Die Erreichbarkeit der Ziele ist für Postmaterialisten oft nur eine Frage des guten Willens, der rechten Gesinnung. Sachzwänge, auf die man Rücksicht nehmen müßte, gibt es ebensowenig wie Knappheit. Be-wußt oder unbewußt wird unterstellt, daß materielle wie immaterielle Güter kostenlos zu haben sind. Ein neuer Machbarkeitsglaube tritt an die Stelle des materialistischen Rauschs der „Machbarkeit der Sachen". Die postmaterialistischen Kritiker eines materialistischen und technokratischen „Machbarkeitswahns" unterliegen ihm selbst — lediglich die Zielrichtung hat sich geändert.

IV. Die entstrukturierte „Collage" -Gesellschaft

Die Ausbreitung des Postmaterialismus begünstigt tendenziell die gesellschaftliche Ent-Strukturierung. Die neuartige Teilgesellschaft, die sich im Konflikt mit der angestammten Leistungsgesellschaft zu etablieren versucht und danach trachtet, die Gesamtgesellschaft mit ihren Maximen zu durchdringen, orientiert sich am Leitprinzip der „Beliebigkeit". Regellosigkeit wird zur Regel, Eindeutigkeit schwindet, Vieldeutigkeit macht sich breit Es wächst die Neigung, die Anzahl der gesellschaftlichen Rollen mit hoher Verbindlichkeit zu minimieren und diejenigen von hoher Beliebigkeit zu maximieren. Konsequent fortgesetzt, führt diese Entwicklung zu einer — dem narzißtischen Verhaltensmodell entsprechenden — Zurückweisung jeglicher Rollen-verbindlichkeit und Verantwortlichkeit. Eine rasche Expansion des Postmaterialismus bewirkt eine schubartige Verstärkung gesellschaftlicher und kultureller Permissivität. Dies wiederum begünstigt und beschleunigt das Brüchigwerden und Auseinanderfallen traditioneller Wertesysteme und Institutionen. Infolge der Vorherrschaft von Regellosigkeit, schwindender Gemeinsamkeiten, mangelnder Zukunftsinteressen, Negation von Vergangenheit und Erfahrung und eines kaleidoskopartigen Wechsels von Interessen, Bedürfnissen, Informationen, Meinungen und Orientierungsmaßstäben in der narzißtisch geprägten postmaterialistischen Gesellschaft, in der nichts konsequent zu Ende gebracht wird, haben neue Wertstrukturen nur geringe Chancen, sich fest zu etablieren. Vielmehr werden Bruchstücke entstrukturierter Werte-systeme nach dem Prinzip der „Collage" zu beliebigen neuen Gebilden von meist kurzer Lebensdauer montiert. Ein Vorgang, der es nahelegt, den sich konstituierenden Typ der postmaterialistischen Gegengesellschaft als „Collage" -Gesellschaft zu charakterisieren.

Das Prinzip der „Collage" mit seinem nicht selten bis zur Absurdität reichenden Eklektizismus ist schon lange Bestandteil von Kunst, Mode, Theater, Film und Literatur. Auch das von den Massenmedien vermittelte Weltbild ist weitgehend eine „Collage" -Welt. Mittlerweile befindet sich das „Collage" -Prinzip auf einem zügigen Vormarsch in weitere Lebensbereiche. Es wird zunehmend zum Weltbild einer „nachindustriellen" Gesellschaft, die sich mehr und mehr in ein „Ensemble von Minderheiten", in ein Nebeneinander unterschiedlicher „Lebensstilgruppen" (E. K. Scheuch) und in „lokale Sonder-und Gegen-mächte" (R. König) aufspaltet und bestrebt ist, das gesellschaftliche Leben nach der Maxime „Small is beautiful" zu organisieren. Vor dem Hintergrund international sich ausbreitender regionaler und lokaler Autonomiebestrebungen, der Aufwertung der (sozialtechnisch rekonstruierten) Kleingruppe und Bemühungen zur Weckung eines neuen Heimatgefühls und Nachbarschaftsbewußtseins fordert man „Selbstbestimmung und Selbstverwaltung in dezentralen, überschaubaren Lebensräumen", setzt wirtschaftlicher „Gigantomanie“ die Idylle einer kleinbetrieblichen Selbstversorgungswirtschaft entgegen und repräsentativer Demokratie das basisdemokratische Modell. Ein augenfälliges Beispiel für die Affinität von Postmaterialismus und „Collage" -Prinzip liefern die flickwerkartig zusammengesetzten, in sich widersprüchlichen Vielzweckprogramme der „neuen sozialen Bewegungen" und der Eklektizismus ihrer Argumentationsmuster und Strategiekonzepte. Basisdemokratische, rätesozialistische, anarchistische, neomarxistische, utopisch-sozialistische, ökologische, lebensreformerische, agrarromantische und konservative Elemente vereinen sich hier zu einer neuartigen politischen Collage. In der entstrukturierten Collage-Gesellschaft verlieren die großen politischen Ideologien und das traditionelle politische Rechts-links-Schema ihre Bedeutung als zentrale Orientierungsinstanzen. Die alten Weltanschauungen werden zu ideologischen Steinbrüchen, aus denen man sich nach Belieben bedient Ungeniert wird Unterschiedliches entgrenzt, miteinander kombiniert oder übereinanderkopiert. Die Moralisierung und Psychologisierung von Politik einerseits und die Politisierung von Religion andererseits ist unter diesen Umständen nichts außergewöhnliches. Das Collageprinzip bietet optimale Möglichkeiten, die Realität zu verschleiern und zu verfremden. Das Durchschauen von Zusammenhängen wird immer schwieriger. Auch das politische Geschäft — insbesondere die Beschaffung politischer Legitimation — wird zu einer höchst schwierigen Angelegenheit. Die politische Konsensfähigkeit schwindet, desgleichen die Planungs-und Steuerungsfähigkeit gesellschaftlicher Prozesse.

Eine spezifische „Entrüstungsethik" spielt in der „Collage" -Gesellschaft eine wichtige Rolle. Bevorzugtes postmaterialistisches Instrument gesellschaftlicher Mobilisierung ist die permanente Erzeugung von selektiver Empörung, von „Betroffenheit", häufig verstärkt durch Vermittlung eines latenten Gefühls von Angst und apokalyptischen Endzeitstimmungen. Sozialwissenschaftlich besitzt „Betroffenheit" mittlerweile den Rang einer zentralen Kategorie zur Herbeiführung gesellschaftlicher Bewußtseinsänderungen als Vorstufe sozialen Wandels. Die Voraussetzungen, „Betroffenheit" als gesellschaftliche Antriebs-kraft nutzen zu können, sind günstig: Aufgrund sozio-kultureller Permissivität aus ihren traditionellen Bindungen gelöste, fragmentarisierte Werte und Normen vagabundieren und neigen dazu, rasch wechselnde, beliebige Ziele zu besetzen. Durch Erzeugung von „Betroffenheit" lassen sich solche „freischwebenden" Werte „einfangen", bündeln und für unterschiedliche Interessen, etwa für neuartige weltanschauliche „Bewegungen"

oder für pseudoreligiöse Zwecke, nutzen. Umweltkrise, Rüstungswettlauf, atomare Bedrohung, wirtschaftliche Rezession liefern herausragende aktuelle Anlässe, die sich zur „Betroffenheitserzeugung" eignen. Imperialismus, Faschismus, Dritte-Welt-Probleme sind weitere bevorzugte Objekte, die „zur Empörung anstiften".

Das politischen Themenkonjunkturen unterliegende und durch raschen Wechsel der Thematik stimulierte „Betroffenheitsengagement" besitzt vor allem psychologischen Gratifikationswert und dient vorrangig Zielen der „Selbstverwirklichung". Zwar kann es auf vergessene oder nicht hinreichend berücksichtigte politische und gesellschaftliche Problemkomplexe aufmerksam machen und Bürger und Politiker aufrütteln, aber eine Verbesserung politischer Entscheidungsprozesse dürfte es kaum bewirken. Eher begünstigt es durch raschen Paradigmenwechsel einen Aufmerksamkeitsverschleiß, eine allgemeine politische Desorientierung sowie Unstetigkeit, Unberechenbarkeit und Hysterisierung des politischen Betriebs. Die großen existenzentscheidenden politischen Probleme unserer Zeit lassen sich so nicht meistern. Ihre Bewältigung verlangt langen Atem, Zähigkeit und Rationalität.

V. Das entstrukturierte Bildungswesen

Wie kaum eine andere Institution scheint das Bildungswesen — vor allem das Schulwesen — geeignet zu sein, den sich abzeichnenden gesellschaftlichen Entstrukturierungs-und Destabilisierungsprozessen entgegenzuwirken — insbesondere durch effektive Wahrnehmung seines Sozialisationsauftrags. Die Fähigkeit des Bildungswesens, auf Herausforderungen dieser Art reagieren zu können, ist jedoch begrenzt. Zum einen ist die Prägekraft konkurrierender „Miterzieher" — Familie, Gruppe der Altersgenossen, Weltanschauungsgemeinschaft — nicht selten größer als die der Schulen. Zum anderen haben die Erfahrungen eines Vierteljahrhunderts weltweiter Bildungsexpansion — im Gegensatz zu den Erwartungen vieler Bildungsreformer — gezeigt, daß das Bildungswesen in viel stärkerem Maße von gesellschaftlichen Einflüssen beherrscht wird, als es selbst in der Lage ist, gesellschaftsändernd und -prägend zu wirken. Epochaltypische, die Gesamtgesellschaft prägende Einflüsse mit ihren Widersprüchen, Spannungen und Konflikten schlagen auf das Bildungswesen durch und beeinträchtigen seine Eigenständigkeit und Handlungsfähigkeit. In weiten Bereichen bietet das Bildungswesen ein Spiegelbild epochaltypischer gesellschaftlicher Kräfte und Strömungen und ihrer Widersprüche. Die Leistungs-und Konkurrenzorientierung der Gesellschaft spiegelt sich in ihm ebenso wie die Konsumorientierung. Die gesamtgesellschaftlichen Entstrukturierungstendenzen finden im Bildungswesen — insbesondere in den Schulen und im organisatorischen und curricularen Bereich — ihre Entsprechung, desgleichen die konfliktreiche Polarisierung von Leistungsorientierung und Permissivität.

Einflüsse der Leistungs-und Konsumgesellschaft verwandeln Schule tendenziell in eine Institution, in der das Prinzip von Konkurrenz und Auslese herrscht, in der Schüler ihre Lernstrategie am ökonomischen Rationalprinzip orientieren, in der schulische Gratifikationen als knappe Güter fungieren und pluralistische Bildungsinhalte als Ware angeboten und konsumiert werden. Der Produktionsgesellschaft entlehnt sind arbeitsteiliges Unterrichten und Lernen, standardisierte und normierte Erfolgskontrollen und eine „ReißbrettStrategie" der Curriculumplanung. Durch den Doppeleinfluß von Leistungs-und Konsum-orientierung gerät die Schule „in einen Widerspruch, der immer weniger mit Mitteln der Pädagogik aufgelöst werden kann: Die meritokratische Funktionalisierung von Lehren und Lernen verschärft den Wettbewerb der Schüler um lizensierte Lernleistungen, ausgerichtet auf Zensuren und Zertifikate; der konsumistische Zug der Massenkultur unterhöhlt aber gleichzeitig die Lernbedingungen: Wie sind dann hohe Lernanforderungen mit leichtem, gar unterhaltsamen Erwerb der Wissensgüter zu vereinbaren? Und was geschieht, wenn die Schüler die Warenästhetik der Wissensgüter als bloßen Schein erkennen, weil es doch erheblicher Anstrengungen bedarf, das Wissenskapital zu erwerben?" Dem überbordenden Warenangebot der Konsumgesellschaft entspricht im Bildungswesen eine ständig wachsende Flut von Unterrichtsstoffen, die in Ermangelung fester Maßstäbe der Eingliederung den traditionellen Unterrichtsstoffen aufgeschichtet werden. Eine Nebensächliches von Wichtigem trennende-Auswahl des Wissenswerten ist schon deswegen nicht möglich, weil im Zuge epochaltypischer Egalisierung alle Fächer als gleichrangig und alle Unterrichtsstoffe als gleichwertig betrachtet werden. Das Fehlen gültiger Auswahlkriterien disponiert zu Eklektizismus, Beliebigkeit und Austauschbarkeit der zu vermittelnden Unterrichtsinhalte. Begünstigt wird die Warenstückelung des Bildungsangebots in der Bundesrepublik insbesondere durch die länderspezifische Zersplitterung des Bildungswesens, die schultypenspezifische Zergliederung, die . Atomisierung" der Lehrpläne, die „Verkursung" und Spezialisierung des Unterrichts, das Auseinanderstreben von Organisationsformen, Richtlinien, Normen und Curricula. Hinzu kommt die unbewältigte Allgemeinbildungs-Problematik, der zum bildungspolitischen Programm erhobene bewußte Verzicht auf die Festlegung allgemein verbindlicher Inhalte und die für notwendig erachtete „ständige Wandlung der Unterrichtsinhalte"

Der Abschreckungseffekt der komplexen und komplizierten Allgemeinbildungsproblematik hat dazu geführt, daß vielen der Versuch einer verbindlichen Neuorientierung allgemeiner Bildung von vornherein als aussichtslos gilt, oft auch für naiv gehalten wird. So bleibt unklar, welche nicht-spezialistischen Grund-fähigkeiten und -kenntnisse vermittelt werden sollten, die den einzelnen in den Stand setzen, sich in der wissenschaftlich-technischen Zivilisation des ausgehenden 20. Jahrhunderts zurechtzufinden und an ihrer Gestaltung mitzuwirken Zugleich entfernen sich die Schulen vom traditionellen Auftrag und Rollenverständnis, indem ihnen einerseits zahlreiche neuartige Aufgaben insbesondere gesellschaftlicher Defizitkompensation übertragen werden und ihnen andererseits durch die bildungspolitische Entwicklung und durch die gesellschaftlichen Erwartungen und Anforderungen, die einen Zwang zur Überbetonung der Aufgaben der Stoffvermittlung und Leistungskontrolle ausüben, der Spielraum zur Erziehung immer mehr abhanden kommt. Damit wird die Schule immer weniger bestimmend für das persönliche Bildungserlebnis und überhaupt für die Persönlichkeitsformung — ein Vorgang, der auf die Dauer nicht ohne Folgen für das Selbstkonzept von Pädagogen und Erziehern bleiben dürfte.

Als Agenturen des Wertewandels haben „Bildungsrevolution" und „emanzipatorische Erziehung" zweifellos eine wichtige, manchmal freilich auch überschätzte Rolle gespielt. Es gibt hinreichende Indizien dafür, daß sie den „Werteverlust“ und den „Werteumsturz" (Klages/Herbert) begünstigt haben, aber nicht die Werteintegration Die „emanzipatorische Pädagogik" verstärkte Tendenzen zur Ent-Strukturierung der Gesellschaft, indem sie zum Traditionsbruch aufrief und „an die Stelle eines Werte-und Normenkonsenses einen Wertrelativismus setzte, der grundsätzlich alle Werte, Normen, Institutionen und Grundordnungen in Frage stellte und sie durch . Hinterfragungen'zu enthüllen und aufzulösen versuchte" Auch der Verbreitung von Permissivität leistete das Konzept der „emanzipatorischen Erziehung" Vorschub, denn „es wurde von vielen ganz unkritisch als Rechtfertigungsform einer Lebens-und Erziehungspraxis verstanden, in der Tüchtigkeit vor allem darin gesehen wird, daß man sämtliche . Chancen der Bedürfnisbefriedigung’ nutzt, . soziale Abhängigkeiten'abbaut und die Hindernisse auf den Wegen zur Erfüllung seiner Wünsche möglichst geschickt umgeht", was auf eine „Erziehung zum wohlverstandenen Eigennutz, zum klugen Egoismus" hinausläuft

Die Problematik einer solchen Erziehung verschärft sich noch dadurch, daß Kinder und Jugendliche, die unter dem Einfluß der Überflußgesellschaft besonders stark in der Konsumentenrolle aufgehen, dazu neigen, narzißtische Verhaltens-, Denk-und Kommunikationsmuster zu entwickeln. Vor einigen Jahren wurde bei uns der „Narziß" als „neuer Sozialisationstypus" entdeckt und durch Merkmale wie Eskapismus, Desinteresse, Orientierungsangst, fehlendes Triebaufschubvermögen, geringe Unlusttoleranz charakterisiert Durch unkritische Verallgemeinerung und Sensationsbedürfnisse wurde der „neue Sozialisationstypus" häufig zum Durchschnittstypus des modernen Jugendlichen hochstilisiert. So falsch dieses Globalurteil ist, nicht zuletzt weil es die nach wie vor große Zahl an Leistung und Technik orientierter Jugendlicher ignoriert, so wenig läßt sich die Ausbreitung narzißtischer Verhaltensmuster bei Teilen der Jugend grundsätzlich in Abrede stellen, wobei dieser Prozeß durch Konsumkultur, Permissivität und Erziehungsstil der Erwachsenenwelt wesentlich vorgeprägt ist.

Dem „kulturellen Riß" quer durch die Gesellschaft und deren zunehmender Polarisierung entspricht im Bildungswesen ein eklatanter Widerspruch von nebeneinander existierenden permissiv-egalitären und meritokratischen Zielsetzungen. Besonders augenfällig wird das bei der Bildungspolitik: Im Widerspruch zu den Egalisierungsbestrebungen und emanzipatorischen Zielsetzungen, die die Bildungsexpansion begleiteten, steht das Prinzip von Konkurrenz und Auslese. Paradoxerweise haben gerade die durch die Bildungsexpansion erzeugten Massenprobleme und die Notwendigkeit ihrer Bewältigung das Selektionsprinzip als bildungspolitisches Denkund Handlungsmuster reaktiviert. Allerdings werden die bildungspolitischen Selektionsbestrebungen durch die Schulen (insbesondere die Gymnasien) teilweise konterkariert, indem diese sich durch erhöhte Durchlässigkeit den Bildungsansprüchen der Bevölkerung an ein modernes Massenbildungssystem anpassen und sich auf die Zurückweisung von Bildungsansprüchen bei Unterschreitung leistungsmäßiger Grenznormen beschränken

Der Widerspruch von permissiven und leistungsorientierten Zielsetzungen setzt sich fort im Binnenraum der Schule. Zwar ist das Schulklima zwangloser geworden, doch schafft die „Verwissenschaftlichung" des Unterrichts neue Belastungen: „Was ehemals der Lehrer an Restriktionen vertrat und durchsetzte, das geht jetzt von den Stoffen aus. Ein . Sachzwang', hinter den der Lehrer sich schuldlos zurückzieht, bedrängt die Schüler nun. Irritation setzt ein: Der Lehrer ist liberal und . partnerschaftlich', die vermittelte Sache hingegen wirkt schwierig und abstrakt"

Der Widerspruch von nebeneinander existierenden permissiv-egalitären und meritokratisehen Zielsetzungen im Bildungswesen hat in der Öffentlichkeit Verwirrung gestiftet: Für die einen leistet die Schule zu wenig, nach der Auffassung anderer verlangt sie zuviel. Tatsächlich schließt das eine das andere nicht aus, wenn Permissivität und „Leistungsdruck"

Parallelerscheinungen sind.

Die Schule — so kann man zusammenfassen — ist nicht sonderlich gut gerüstet, um den gesamtgesellschaftlichen Entstrukturierungsund Destabilisierungstendenzen korrigierend entgegenwirken zu können. Sie ist selbst in erheblichem Maße organisatorisch entstrukturiert. Die Inhalte, die sie vermittelt, sind häufig bruchstückhaft. Diskontinuität des Lernens, Beliebigkeit und collagehafte Anlage von Stoff-und Lehrplänen breiten sich aus. Die erzieherische Funktion der Schule ist durch den vorrangigen Auftrag der Wissensvermittlung reduziert. Und einen verbindlichen Kanon von Werten zu vermitteln, wird schon lange nicht mehr als ihre Aufgabe angesehen — zumindest nicht von einer sich als „fortschrittlich" begreifenden Bildungspolitik. Die Verwirklichung der Ideen der „neuen sozialen Bewegungen" würde die Entstrukturierung im Bildungswesen mit großer Wahrscheinlichkeit eher verstärken als reduzieren. Vernünftig klingende Forderungen nach einer „Schule, die Spaß macht", nach Entbürokratisierung, Dezentralisierung, Überschaubarkeit, mehr Entscheidungskompetenz an der Basis, Berücksichtigung vernachlässigter Interessen und Bedürfnisse können sich dann als dysfunktional erweisen, wenn sie, was zu befürchten ist, dem Prinzip der Beliebigkeit untergeordnet werden. In diesem Fall würde auch die Chance vertan, die Lebensqualität der Bildungseinrichtungen zu verbessern, die sich durch den Entlastungseffekt rückläufiger Schülerzahlen anbietet. Die „neuen sozialen Bewegungen" sind keine Bildungsbewegungen. Radikales Infragestellen der Sozialisations-, Qualifikations-und Allokationsfunktionen von Schule weist sie eher als Anti-Bildungsbewegungen aus. Das Angebot an Ideen, die als bildungspolitisches Innovationspotential genutzt werden könnten, ist begrenzt, meist nicht neu und läßt — wie es dem collagegesellschaftlichen Muster entspricht — einen systematischen Begründungszusammenhang vermissen: „Die Versuche der Grün-Alternativen zur Begründung einer schul-und bildungspolitischen Alternative (sind) insgesamt eine Zusammenstellung von Positionen, die aus ihrem ursprünglichen Begründungs-und Argumentationszusammenhang gelöst worden sind. Eine Zusammenstellung, die es vielen recht machen will und in den inhaltlichen Ambivalenzen kein geschlossenes Konzept entstehen läßt." Organisatorisch geht es vor allem um eine Reform der Gesamtschule, die Aufhebung der Eigenständigkeit von Realschulen und Gymnasien, die Einrichtung von (privaten) „Alternativ" -Schulen sowie einer neuen Ganztagsschule, in der es keine Trennung von Schule und Freizeit mehr geben soll Im Rahmen dieser neuen Ganztagsschule wird den Schülern bei umfassender sozialpädagogischer und psychologischer Betreuung „ein Angebot für alle . Lebenslagen'gemacht, dessen Wahrnehmung ihnen freigestellt ist und aus dem sich für sie keinerlei Verpflichtungen ergeben" Das Schulmodell ist nicht nur ein Paradebeispiel für Permissivität und „Konsumerismus" (den man‘ja eigentlich radikal bekämpfen will), es zeigt auch, daß die Abschaffung der „alten" Schule keineswegs zu einer Entschulung der Gesellschaft führt, sondern im Gegenteil zu mehr „anderer" Schule und zu einer weiteren Pädagogisierung des Daseins.

Die aufgebrochene Wert-und Orientierungskrise stellt zweifellos eine schwere Belastungsprobe für den gesellschaftlichen Grundkonsens, die Kohäsionskraft der Gesellschaft und die Funktionsfähigkeit ihrer Planungs-, Organisations-und Steuerungsapparaturen dar. Es besteht jedoch kein Grund für zivilisationspessimistische Resignation. Krisenhafte Herausforderungen sind ein normaler Bestandteil gesellschaftlicher Entwicklung. Historische Erfahrung zeigt — und Historiker wie Toynbee und Rosenstock-Huessy haben es als Gewißheit vermittelt —, daß Gesellschaften immer wieder zur Selbsterneuerung fähig sind. Auch für die Gesellschaft unserer Tage läßt sich eine solche Prognose wagen, denn „so gewiß unsere westliche Zivilisation sich in einer ernsten Krise befindet, so gewiß ist sie noch nicht zusammengebrochen. Ihre grundlegenden Werte und Triebkräfte sind, obwohl gefährdet, noch wirksam, ihre institutionellen und normativen Gestalten noch der Umformung fähig."

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. H. Klages/P. Kmieciak (Hrsg.), Wertwandel Iund gesellschaftlicher Wandel, Frankfurt-New York 1979.

  2. Vgl. K. -W. Brand/D. Büsser/D. Rucht, Aufbruch in eine andere Gesellschaft. Neue soziale Bewegungen in der Bundesrepublik, Frankfurt-New York 1983; C. Mast, Aufbruch ins Paradies? Zürich-Osnabrück 1980; Freibeuter, (1983) 15, S. 41 ff. („Das grüne Ei").

  3. P. Kmieciak, Wertstrukturen und Wertwandel in der Bundesrepublik Deutschland, Göttingen 1976, sowie E. Noelle-Neumann, Werden wir alle Proletarier?, Zürich-Osnabrück 1978.

  4. SINUS-Institut, Die verunsicherte Generation. Jugend und Wertewandel, Opladen 1983, S. 17.

  5. Ebd., S. 28.

  6. Vgl. Brand/Büsser/Rucht, a. a. O. (Anm. 3), S. 250 f.

  7. Vgl. H. Klages/W. Herbert, Wertorientierung und Staatsbezug. Frankfurt-New York 1983.

  8. Vgl. E. Noelle-Neumann, a. a. O. (Anm. 4), S. 44 ff.

  9. Vgl. H. Marcuse, Der eindimensionale Mensch, Neuwied-Berlin 1967; E. Fromm, Haben oder. Sein, Stuttgart 1976.

  10. R. Löwenthal, Gesellschaftswandel und Kultur-krise, Frankfurt 1979, S. 94.

  11. Vgl. A. Koestler, Der Yogi und der Kommissar, Esslingen 1950, S. 30 f.

  12. R. Aron, Plädoyer für das dekadente Europa, Berlin-Frankfurt-Wien 1979, S. 97.

  13. R. Inglehart, The Silent Revolution, Princeton 1977.

  14. W. F. Ogburn, Social Change, New York 1922.

  15. Vgl. Klages/Herbert, Wertorientierung und Staatsbezug, a. a. O. (Anm. 8), insbes. S. 104 ff.

  16. Ebd., S. 75.

  17. Ebd., S. 113.

  18. Ebd., S. 18.

  19. SINUS-Institut, a. a. O. (Anm. 5), S. 16.

  20. Vgl. D. Bell, Die nachindustrielle Gesellschaft, Frankfurt-New York 1976; ders., Die Zukunft der westlichen Welt, Frankfurt 1979.

  21. M. Janowitz, Social Control of the Welfare State, Chicago 1976.

  22. D. Bell, Die nachindustrielle Gesellschaft, a. a. O. (Anm. 21), S. 363.

  23. Vgl. M. Kelpanides, Probleme der normativen Integration in wohlfahrtsstaatlich organisierten Demokratien. Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung, Frankfurt/M. 1983, S. 12.

  24. R. Aron, a. a. O. (Anm.. 13), S. 352.

  25. Ch. Lasch, Das Zeitalter des Narzißmus, München 1980.

  26. R. Sennett, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt 1983, S. 373 ff.

  27. Ebd., S. 251 und S. 376.

  28. H. -D. Ortlieb, Generationswechsel in unserer Bildungsgesellschaft, in: Meves/Ortlieb, Die ruinierte Generation, Freiburg-Basel-Wien 1982, S. 158.

  29. Klages/Herbert, a. a. O. (Anm. 8), S. 12. Siehe auch dort die empirischen Belege für den „Riß" im sozio-kulturellen Gefüge der Bundesrepublik.

  30. B. Guggenberger, An den Grenzen der Mehrheitsdemokratie, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30. Okt. 1982.

  31. Vgl. Brand/Büsser/Rucht, Wertwandel und gesellschaftlicher Wandel, a. a. O. (Anm. 3).

  32. J. Ortega y Gasset, Der Aufstand der Massen, Stuttgart 1949, S. 110 und S. 62.

  33. Vgl. F. Hirsch, Die sozialen Grenzen des Wachstums, Reinbek bei Hamburg 1980.

  34. Vgl. G. Höhler, Die Kinder der Freiheit, Stuttgart 1983.

  35. H. -G. Rolff, Unterricht und Massenkultur, in:

  36. Vgl. H. Becker, Auf dem Weg zur lernenden Gesellschaft, Stuttgart 1980.

  37. Zur Allgemeinbildungsproblematik vgl. die instruktiven Ausführungen von W. Ross, Kanon und Konsens, in: Merkur, 37 (1983) 4, S. 407ff.

  38. Vgl. Klages/Herbert, a. a. O. (Anm. 8), S. 114 ff.

  39. E. Stein, Gesellschaftslehre als fächerübergreifender Unterricht im Lande Hessen. Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung, Frankfurt 1982, S. 5f.

  40. W. Brezinka, Die „Emanzipatorische Pädagogik" und ihre Folgen, in: PR (Sankt Augustin), 35 (1981), S. 367.

  41. Vgl. H. Häsing/H. Stubenrauch/Th. Ziehe (Hrsg.), Narziß. Ein neuer Sozialisationstypus?, Bensheim 1979.

  42. Vgl. W. Wiese/H. Meulemann/M. Wieken-Maysei, Soziale Herkunft und Schullaufbahn von Gymnasiasten. Zentralarchiv für empirische Sozialforschung der Universität zu Köln, Juli 1983.

  43. G. Höhler, Die Kinder der Freiheit, a. a. O. (Anm. 35), S. 64.

  44. Grün-Alternative Schulpolitik: nein, nein — ja?, in: Westermanns Pädagogische Beiträge, (1983) 2, S. 98. Dort auch S. 99 eine Literaturzusammenstellung der regionalen Grün-Alternativen politischen Programme.

  45. Vgl. C. Hornig/H. Wagner (Hrsg.), Grüne Alternativen zur Bildungspolitik. Diskussionsstand, Ansätze und Dokumente, Bad Bentheim 1983, sowie Westermanns Pädagogische Beiträge, a. a. O. (Anm. 45), S. 98.

  46. Schulorganisation: Zwischen Alternativschulen und Gesamtschule, in: Westermanns Pädagogische Beiträge, (1983) 2, S. 98.

  47. R. Löwenthal, Gesellschaftswandel und Kultur-krise, a. a. O. (Anm. 11), S. 20.

Weitere Inhalte

Hasso von Recum, Dipl. -Volksw., Dr. sc. pol., o. Professor am Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung in Frankfurt a. M.; geb. 1929; Leiter der Abteilung „Bildungsökonomie" und von 1970 bis 1975 Direktor des Forschungskollegiums des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung. Veröffentlichungen u. a.: Perspektiven der Bildungsplanung in Entwicklungsländern, 1966; Perspektiven der Bildungsplanung, 1967; Aspekte der Bildungsökonomie, 1969; Der Finanzbedarf eines expandierenden Vorschulsystems, 1971; Bildungsökonomie im Wandel, 1978; Internationale Tendenzen der Weiterbildung, 1979; Education in the Affluent Society, 1980; Bildung zwischen Expansion und Rezession, 1984 (in Vorbereitung); Die Collagegesellschaft — Zur Wertkrise in der Industriekultur, 1984 (in Vorbereitung).