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Graffiti — Sprachliche Wirkungsmuster und Aktionsziele einer Kontrakultur . beschmieren Tisch und Tuch, besprühen Haus und Wände" | APuZ 21/1984 | bpb.de

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APuZ 21/1984 Artikel 1 Stimmungskanonen für die Kämpfe der Zeit Die Unterhaltungskunst der DDR 1984 zwischen Resignation und Reorganisation Mediale Gewaltdarstellung und ihre Effekte Graffiti — Sprachliche Wirkungsmuster und Aktionsziele einer Kontrakultur . beschmieren Tisch und Tuch, besprühen Haus und Wände" Jugendliche Fußballfans als gesellschaftliches Phänomen

Graffiti — Sprachliche Wirkungsmuster und Aktionsziele einer Kontrakultur . beschmieren Tisch und Tuch, besprühen Haus und Wände"

Reinhard Roche

/ 41 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

In dem Beitrag wird das Thema der Inschriften, Parolen, Sprüche und Zitate als aktuelle Äußerungsform einer „Alternativkultur''aufgegriffen und an einer Fülle von Beispielen illustriert Es wird versucht, durch eine sprachwissenschaftliche Analyse einen Überblick über die verschiedenen Äußerungsformen, Wirkungsabsichten und Sprachmittel zu gewinnen: Graffiti, Bankinschriften und Demosprüche werden hinsichtlich ihrer Veränderungsintensität in fünf Gruppen eingeteilt und jeweils exemplarisch (semantisch-pragmatisch) erläutert Die Verwandtschaft mit Theorie und Praxis der Agitation ist auffällig ebenso wie das Zirkulieren in eigenen „Sprachspielen“ (Wittgenstein). Dadurch erscheint der Dialog mit „etablierten“ Gesellschaftschichten abgebrochen. Das Selbstverständnis dieser „Kontrakultur“ wird verdeutlicht und ihre Motive und Aktionsformen werden erläutert, indem politische, soziale, philosophische und historische (Kritik an dem Sekundärwertsystem) Erklärungsmuster ergänzend herangezogen werden. Die Provokation der „Etablierten“ ist ein Wirkungsziel; weniger klar dagegen erscheint die eigene, erneuerte Wertsetzung der Agierenden (Intellektuellenkultur). Es wird versucht, die erkennbaren Umrisse dieser (positiven) Vorstellungswelt und Aktionsformen abschließend nachzuzeichnen. Insgesamt wird der veränderte und verändernde Umgang mit dem Kommunikationsmittel Sprache bestürzend klar und verlangt insofern von der „Gesellschaft" besonnene Reaktionen.

I. Inschriften — Parolen — Sprüche — Zitate

Waß Gott wird fugen — Soll mir genügen, oder:

Wir Menschen kinder trachten nach hohen dingen, — Und wenn wir solches thun erwerben. — So legen wir uns nieder und sterben, oder:

Traw Gott es wird wolt wieder guth.

Heute noch kann man solche und ähnliche Sprüche am Fachwerk liebevoll restaurierter Häuser entdecken (diese am Marktplatz in Hornburg). Und neben touristischer Neugier und ästhetischer Bewunderung ist es wohl erlaubt, darüber zu spekulieren, was einen gottesfürchtigen Vorfahren anno 1609 bewogen haben mag, solche Inschriften — rhythmisch z. T. holprig — anzufertigen: Bekennertum? Demut? Appell? Mahnung? Hoffnung, in Kunstwerk und Moralität weiterzuleben? Identifikation mit einem als gut und richtig empfundenen öffentlichen (gesellschaftlichen) Weltverständnis?

Welches Motiv es'auch gewesen sein mag: über Jahrhunderte hin wird ein knapper Dialog geführt zwischen jenem Individuum und einem zufälligen Passanten dieser Tage. Wir brauchen nicht immer das teure Pergament oder das billige Papier, um uns wechselseitig verständlich zu machen; „kommunizieren" nennt man diesen Prozeß heute gern. Kinder und Kaufleute, Verliebte und „Narren", Politiker und Geheimbünde nutzten schon häufig Kreide, Steine oder Messer als Schreibmittel und Bäume, Wände, Tafeln, Gehsteige als Unterlagen. Und auch die Antwort auf solche Produkte einer „Subkultur" war bekannt: „Narrenhände beschmieren Tisch und Wände."

Ob Bakunin — 1853 — an die Züricher Börse schrieb: Kein Gott, kein Staat, kein Sklave, oder ob die Arbeiter in der Weimarer Republik für ihre Rechte stritten: jahrzehntelang galt diese Äußerungsform als außer-gesellschaftlich, subversiv, als ungehörig — bis freilich die merkantile und politische Werbung die „Macht des Wortes" entdeckte und sich vor Plakat, Spruchband, nächtlicher Aufschrift nicht scheute: Räder müssen rollen für den Sieg (unter Benutzung des Stabreims); Wissen ist Macht — Reaktivierung und Übersetzung einer philosophischen Devise Francis Bacons ([For] knowledge [itself] is power [1598] /nam et ipsa scientia potestas est [1597]) durch W. Liebknecht 1872; Schlagt Hitlerl Wählt Hindenburg! — Parole der SPD vom 27. Februar 1932 unter Beziehung auf die Losung Thälmanns vom 12. Januar 1932: Wer Hindenburg wählt, wählt Hitler, wer Hitler wählt, wählt den Krieg!; Plaste und Elaste aus Schkopau — Reime und Neuwörter aus dem Sprachgebrauch der DDR.

Eine Fülle von Beispielen ließe sich einfach aus der Beobachtung oder der Erfahrung (etwa der jeweiligen Wahlkämpfe) beibringen bis hin zu der literarisch, naiv-verfremdenden Parole der Freunde Momos: EURE KINDER — RUFEN LAUT — EURE ZEIT WIRD EUCH GEKLAUT!

Die antike Rhetorik kannte diese sprachliche Wirkung, diese prägnante Zusammenfassung schon, die wir seit etwa 1807 nach einer Prägung Jean Pauls unter der Bezeichnung „Schlagwort" zusammenfassen Damit wird die Erfahrung ausgedrückt, daß von der Sprache eine Wirkung ausgeht, die andere Prozesse (z. B. wirtschaftliche, politische) unterstützt, begleitet, oft sogar in einem spiralartigen Verstärkungseffekt vorantreibt.

Die Sprachwissenschaftler unterscheiden gern drei Funktionen der Sprache: die expressive, die appellative und die referentielle* Funktion. In unserem Homburger Beispiel aus dem Mittelalter zeigt sich die erste Funktion: auszudrücken, was einen bewegt; formulieren, was man denkt; sagen (oder schreiben), was man sich bisher nur vage vorgestellt hat. Bei den meisten anderen Beispielen überwiegt deutlich der Appell: die Aufforderung an andere, ihr Bewußtsein zu ändern und daraus möglichst-zu einem gleichgerichteten Handeln zu kommen (Sprechhandlung); ein Dialogpartner soll dazu gebracht werden, die Ansicht des Redenden (einer Partei) zu übernehmen. Zwischen Überredung (Agitation) und Überzeugung eröffnet sich in der Praxis ein weites Feld, natürlich auch das Problem, wie diese Beeinflussung gerechtfertigt werden kann (z. B. aus politischen, religiösen, ethischen, nationalen, gruppenzentrischen Voraussetzungen; die erkennbaren nennt man heute gern „Präsuppositionen", die verborgenen dagegen „Implikationen"). Die Sprachmittel schwanken dabei — je nach Situation und Autor — zwischen direktem Anspruch (Ausrufesatz) über die „offenen" Formulierungen, die also dem Angesprochenen die Vorstellung/Illusion lassen, die Gedankenkette selbst zu entdecken, bis hin zu den verkürzenden Formeln, eben den Schlagwörtern. Die dritte Funktion der Sprache wird später noch ausgeführt

II, Die „Scene" und ihre Graffiti/Bankinschriften

Eine besondere Ausprägung erhalten die Sprüche, die man seit einigen Jahren allenthalben auf Wände oder das Straßenpflaster gesprüht und auf Spruchbänder gemalt sieht „Graffiti“ werden diese Wandsprüche heute genannt; „Graffito“ meint die Gesamtheit dieser Äußerungsform einer Gesamtszene, z. B. Berlins. Die Sprühdose ist ihr beliebtestes Mittel. Wir feiern die weiße Wand, sprühten Studenten nächtlich auf eine frisch getünchte Hochschulfassade in Frankfurt. Und wie zur Bestätigung sprühte in Berlin ein Anonymus: Die Farbe ist saugut! oder ein anderer in Frankfurt: Ich kam, sah und sprühte Immer an der Wand lang — sprühen (Berlin).

unsortierte eigener Eine Beispielreihe aus Sammlung mag fürs erste die Spannbreite und die Vielfalt dieser „neuen Volkskunst“ darlegen:

Auf Schulbänken (mit Filzstift oder Kugelschreiber): Ei Gude wie? (Aus dem Hessischen „übersetzt": Hallo Freund /Freundin, wie geht's Dir, was machst Du denn?!) — Hoiner is bleed — Wer schreibt mir? Ich sitze jeden Donnerstag hier und langweile mich! — It's very boring, isn t it? — Lieber ein Voller /als ein Lehrer! — Sex, Geld und Anarchie, /das braucht's in Western Germany. — An alle CDU-Wähler: Machen sie das Kreuz an die richtige Stelle! SPD I I C I I (worauf natürlich ein anderer korrigierte: CDU [X SRD I I). Auf Hörsaalbänken:

Widersetzt euch viel /Gehorcht wenig! — Endstation /Alles Einsteigen /Parole der Opportunisten. — Physiker raus! (aus dem Fach-3 bereich Jura der FU Berlin) — Seid erotisch Goethe /Seid pornographisch Schiller /Ja, ja Johannes B.... — Anarchie /jetzt oder nie. — Petting statt Pershing!

An Wänden, Säulen, Fassaden:

@rotic bringt 's — Petra ick liebe Dir — Antje igitt — Dieses Klo ist atomwaffenfrei — Haftverschonung für Inge Meysel — In Berlin gibt's ein Drogenproblem: es gibt zuwenig — Ein Weg entsteht dadurch, daß man ihn geht! — KEINE ROTE H® UT WIRD SICH DEM GESETZ DES WEISSEN MANNES BEUGEN — Berlin brennt /Freiburg denkt, wie lange noch. — Geh n Bullen an die Häuser ran, wird ® bald Freiburg zu msterdam — Fighting for Peace is like Fucking for Virginity.

Als Aufkleber:

Hilfe für bedrohte Tiere. Rettet die Gummibärchen. Kein Verkauf, Kein Verzehr. — I bin A Südtiroler (und zwar so gesetzt, daß die beiden Vokale sowohl als Dialektform gelten können als auch als nationales Autokennzeichen. Insgeheim also ein Bekenntnis zu den deutschsprachigen Südtirolern!) — GER-MONY (dabei das O in Form eines Ein-Mark-Stückes ausgeprägt!) — Atomkraft? — nein danke! — Wozu Atomkraft? Bei uns kommt der Strom aus der Steckdose! — Achtung /Keinen Atommüll auf den Mars! /Denn Mars bringt verbrauchte /Energie sofort zurück. — Vorsicht! Frau — Vorsicht Pazifist!

Diese Beispielreihe ließe sich beliebig lange fortsetzen. Spontan entstehen immer wieder neue Sprüche, so daß eine Darstellung im Augenblick der Niederschrift schon nicht mehr ganz aktuell ist. Im übrigen hat das etablierte wie das alternative Verlagswesen längst seine Chance erkannt und einschlägige Sammlungen vorgelegt, aus denen im folgenden noch zitiert werden wird Bei aller Zufälligkeit der vorstehenden Beispiele kann man doch zunächst einmal einige Beobachtungen festhalten: — Der Ausdruck „Graffiti“ wird mehr und mehr ausgeweitet Während man im Italienischen darunter ursprünglich nur „in die Mauern eingekratzte Inschriften“ verstand, wie beispielsweise bei kulturgeschichtlich wichtigen wie in Pompeji, faßt man heute die gesprühten und gemalten Schriftzüge und die dazu gehörenden Zeichnungen darunter zusammen, oft auch die Inschriften auf Bänken. Der Umweg des Wortes über Amerika hat diese Erweiterung des Begriffes begünstigt bzw. verursacht.

— Die Themen sind sehr vielseitig. Oft genug wird nur persönlicher Unmut geäußert, Langeweile artikuliert oder Liebesdruck abgeladen. Häufig genug erscheinen auch Kommentare zu einem Lehrstoff (Wie der Faschismus /Wieder Faschismus /Wider Faschismus^. Allgemein werden Weltansichten in (gereimter) Kurzform geäußert, und natürlich sind politische Äußerungen darunter vertreten. (Krieg dem NATOD!) Allerdings ist festzustellen, daß „im Repertoire dagegen nahezu vollkommen Zeugnisse fehlen, die sich auf brennende Fragen der umfassenden Diskussion unseres Umweltschutzes ... beziehen ... Diese, vor allem die radikalen und aggressiven, bleiben den Demosprüchen, Flugblättern und Plakaten vorbehalten.

— Wenn man von den Funktionen der Sprache ausgeht, so überwiegt hier die des Ausdrucks, die expressive Funktion. Insofern ist eine Vergleichbarkeit mit den am Anfang vorgestellten alten Inschriften gegeben. Der Ausdruck freilich entwickelt sich weniger aus einer festgefügten Weltansicht, als vielmehr aus der augenblicklichen Situation, die Anlaß zu Gedankensplittern oder Reaktionen auf Provokationen gibt Dementsprechend sind sie unterschiedlich ernst zu nehmen. Jux und Witz durchbrechen aktiv die Rollenzuweisung des passiven Zuhörers. — Verbietet Posaunenchöre /Bürgerinitiative Jericho — Ich wünscht'ich wär /bei Gretchen /und nicht bei diesem Herrn! — Bei diesem tu ich schla fen, /bei jener tat ich's gern. — Bin kluges Wort /und schon ist man /Kommunist.

— Die Äußerungen sind in der Regel anonym. Trotzdem werden sie häufig so zugespitzt, in Frageform, offen angelegt, daß sie als Kommunikationsaufforderung angenommen werden. Antworten werden gegeben, unerwartete Wendungen des Argumentationsansatzes zugefügt, andere Positionen zurückgewiesen. — Du sprechen Türkisch? /Du nix spreche dirkisch! /Zum Glück! — Gott ist tot (Nietzsche) /Nietzsche ist tot (Gott).

— Die Tonart wird so gewählt, daß insgesamt ein Gefühl allgemeinen Einverständnisses vorausgesetzt wird/aufkommen kann. Sie richtet sich allgemein, wenn auch nicht aggressiv, aber doch hintersinnig, gegen eine als feindlich empfundene Umwelt (Autoritäten/Staat/Leistungsanforderung/nicht-progressive Ideologie/Berufschancen). Dieses (diffuse) Kollektivgefühl, das sich übrigens auch in Kleidung und Anrede ausdrückt (das automatische Duzen aller Jungen — bis dreißig?), wird sowohl vorausgesetzt wie gepflegt, so daß Beobachter gern von der „Scene“ oder von einer „Subkultur“ sprechen.

— Dem Beobachter fällt nicht nur diese Geschlossenheit auf, sondern auch ihr ungewollt (?) elitäres Auftreten: Der sprudelnde Sprach-witz, die Verballhornung „klassischer" Zitate, die Persiflage, die Verwendung englischer Wörter und Wendungen, das Spiel mit den Versalien und die bewußte „Verletzung'grammatischer wie orthographischer Konventionen, all das ist nur auf dem Niveau zumindest einer abgeschlossenen Gymnasialausbildung zu verstehen und zu genießen. Andere Gesellschafts-und Altersschichten bleiben auf diese Weise ausgeschlossen oder werden provoziert. — Man kann sich /an alles gewöhnen, /nur nicht am Dativ. — ca-put — Mens sana in corpore sano /(= Wer in die Mensa geht, /braucht einen gesunden Körper) — Power auf dauer — Warum haben die Alternativen so viele Kinder? /Jute statt Plastik. — Kuhrikkulum — rächt Schreibung.

Bei seinem Beschreibungsversuch nimmt Siemons Henri Bergsons Werk über das Lachen zu Hilfe: „Man erhält einen komischen Ausspruch, wenn man eine absurde Idee in ein herkömmliches Satzmodell einfügt.“ Nach diesem „Rezept" sind solche Spottverse erstellt, wie: Es gibt viel zu tun — fangt schon mal an —, oder ... — nichts wie weg! — Edel sei der Mensch, Zwieback und gut. Hier werden, ähnlich wie im Beispiel „Mars“ -Werbung, Versatzstücke aus Werbeslogans und der Klassik in andere Zusammenhänge gebracht. Damit greifen diese spottenden und witzelnden Sprüche nicht auf eine allgemeine Lebenserfahrung zurück, sondern auf gespiegelte Realitäten, auf vorgestanzte Wendungen, d. h. Stereotypen, auf „gemeinsame Medienerfahrungen'1 (Siemons), angeblich gesicherte Lebenserfahrungen anderer Generationen (Sprichwörter/Redewendungen): Sie wollen unser Bestes, doch das kriegen sie nicht.

Die Wirkung bleibt auf den Kreis beschränkt, der die Spielregeln dieses Zitatenhumors kennt, zieht diese Lacher auf ihre Seite und mischt sie mit der (Schaden-) Freude über die „verschandelten" Wände: ein Gruppenspaß, Meta-Kritik im wörtlichen Sinne, Spott und Erschütterung („etablierter" Positionen) aus der Sicht von Leuten, die jene Lebenseinstellung (z. B. das Weltbild des Bürgertums) im Grunde kaum noch interessiert, von der sie sich innerlich und auch als Gruppe längst distanziert haben. „Intellektuellenkultur"? Freilich verfahren sie ebenso mit Fraktionen im eigenen „Lager" und z. T. sogar mit sich selbst; nicht eben selbstkritisch, aber doch sensibilisiert gegenüber Übertreibungen, politischen Schlagworten, eigenen Forderungen und Ansichten, die zu Stereotypen zu erstarren drohen. So z. B. durch die Persiflage des Nieder mit... -Parolentyps durch den Spruch: Nieder mit dem Fahrstuhl! — Nie wieder Jungfrau! — Besetze die Villa deines Vaters!

III. Demosprüche

In dieselbe Szene gehören Sprüche, die auf Plakaten oder Spruchbändern herumgetragen werden. Sie werden bei . Aufzügen", wie die Demonstrationen amtlich genannt werden, mitgeführt und sollen die jeweiligen Forderungen sinnfällig machen und pointiert zusammenfassen. Insofern wären Traditionsbeziehungen zu Demonstrationen politischer Parteien und Gruppierungen (etwa in der Weimarer Republik) zu vermuten. Verstärkt tauchen allerdings auch die Parolen im kollektiven Chor auf; dazu mußten sie in metrisch-rhythmische Betonungsgesetze eingebracht werden, um sich dem Marschschritt anzupassen. — Ho-Ho-Ho-Tschi-Minh! — Schah-Schah-Scharlatan! — Laßt die Leute frei! — Brecht dem Schütz die Gräten, /alle Macht den Räten. — Der Trochäus (x/xk kx/..) feierte in den sechziger Jahren lautstark Urstände! (LASST DIE GEFANGENEN FREI! eignet sich nur fürs Schreiben, nicht fürs Rufen, weil der Spruch nicht in die metrischen Gesetze paßt.)

Aus der Fülle der Demosprüche eine Auswahl Richter! Wo sind unsere Rechte? — Schluß mit dem Völkermord in Vietnam! — Tod dem Franco-Faschismus! — Bringt die Atomlobby zu Fall — Widerstand ist überall! Stoppt den Flughafen. Rettet unseren Wald. Keine Startbahn West! — Bagger Putt! — Frau schlag zurück! — Ein frohes neues 1933! — Scheiben klirren und ihr schreit, /Menschen sterben und ihr schweigt. — Die Scheibe klirrt, der Sponti kichert, Hoffentlich ALLIANZ versichert! — Es ist besser unsere Kinder besetzen fremde Häuser als fremde Länder! — WÜRG — Wollt ihr den totalen Frieden? — Lieber Arbeitsplätze statt Raketen /DKP.

Wiederum sollen vorläufig auch für diese Gattung der sprachlichen Äußerung einige Beobachtungen festgehalten werden:

— Für die Graffiti mag folgendes gelten: „Graffiti sind Markierungen politischer oder sozialer Bewegungen ... — Die Subkultur hatte ihr Revier." An gleicher Stelle werden die Gewohnheiten im Tierreich, „Herrschaftsbereiche mit irgendwelchen Zeichen zu versehen", mit diesen sprachlichen Markierungen verglichen. Demosprüche dagegen sind darauf aus, diese Bereiche zu verteidigen oder auszuweiten — und sei es nur im Bewußtsein der Öffentlichkeit.

— Von den drei Funktionen der Sprache steht hier vor allem die appellative im Vordergrund. So treten denn auch die typischen direkten Sprachmittel in Aktion: Imperative, auf bestimmte Gruppen gezielte Aufrufe, Aufforderungen zum Mithandeln, rhetorische Fragen, vertrauliche Anredeformen und vor-gestanzte Alternativformeln. Seltener benutzt man indirekte Sprachmittel, also echte Fragen (Evokationen), die verschiedene Antworten und Reaktionen zulassen.

— Hier nun finden sich die konkreten politischen Themen, die bei den zuerst beschriebenen Typen (Hörsaalinschriften, Graffiti) viel stärker in den Hintergrund gerückt worden waren. In der Beispiel-Liste wurden besonders Sprüche zu Beginn der siebziger Jahre ausgewählt. Sie vermitteln in etwa noch einen Eindruck von den seinerzeit aktuellen politischen Themen: Vietnam-Krieg, Schah-Besuch in Berlin, Kampf gegen Autoritäten) und verkrustete Strukturen im Universitätsbereich, APO-Themen gegen die Große Koalition, Kritik am „Wiederaufbau“ der Städte, besonders der Abrißmentalität und der Betonbauweise, Frauenemanzipation.

Zehn Jahre später hat sich die Themenwahl verschoben: Atomkraft, Startbahn West in Frankfurt, Umweltproblematik, Ausländer-feindlichkeit, Alternative Lebensformen, Drogen — und Sexualprobleme, Wettrüsten in West (und Ost), Arbeitslosigkeit, Dritte Welt — Nach-Rüstung kommt Krieg — No West! — Keine Macht den Komputern! (anläßlich der geplanten Volkszählung) — 0 TOD DEN RAKETENRUSTERN — Amis raus aus der BRD — Laßt Euch nicht BRDigen! — Kiel ist eine deutsche Stadt! /NPD (!) — Hände weg von $218!. — Das beharrliche Einprägen bestimmter Formeln, der Versuch des Einwirkens auf das Bewußtsein der Massen, das Isolieren bestimmter Themen aus einem politischen Wirkungskomplex und die sprachlich wirksame Verkürzung auf Losungen gehört zu den Mitteln der Propaganda und Agitation. Die „Scene" hat diese Mittel wiederentdeckt und zielstrebig in ihren Dienst genommen. Es entsteht der Anschein, als hätten die Autoren die „Bibel" der Agitation von G. Klaus, eines Kybernetikers (!) aus der DDR, gründlich studiert und ausgewertet:

w.. Daraus ergibt sich eine zweifache Funktion der Agitation bzw. Propaganda und politischen Rede: Es gibt Reden, Zeitungsartikel, Rundfunksendungen usw., die auf ein direktes und unmittelbares Ziel gerichtet sind (sei es nun positiv oder negativ). Dabei interessiert nur die voraussichtliche Verhaltensweise der angesprochenen Leser und Hörer. Bei dieser Form der Agitation ist die Hauptfrage: Wie wirken die benutzten rhetorischen und politischen Sendungen? Sind sie geeignet, die gewünschte Verhaltensweise hervorzurufen?

Eine zweite, mit der ersten oft verbundene Form der Agitation hat keine Nahziele. Ihr Sinn ist die Füllung des . Speichers'. Es ist gewissermaßen ein Arbeiten für die Zukunft! .. . „... Normierte sprachliche Ausdrücke müssen bei allen Formen der Agitation und Propaganda Verwendung finden, und es ist wesentlich, durch sprachsoziologische und sprach-psychologische Untersuchungen festzustellen, welche normierten Ausdrücke die größte Wirksamkeit besitzen. Normierte Ausdrücke, deren Verwendung sich als nützlich erwiesen hat, gewinnen für uns oft große Autorität und behalten diese Autorität häufig auch dann noch, wenn die Verhältnisse, unter denen sie nützlich waren, sich geändert haben und der Nutzen dieser Normierung möglicherweise in einen Nachteil umgeschlagen ist...

— Ziel dieses Einwirkens ist es, das „richtige Bewußtsein" zu erzeugen. Die Sprache wird so gestaltet, daß sie andere Gruppen überredet („persuadiert" /„persuasive Kraft der Sprache"). Die Agierenden wissen, daß sie als Minderheit (. Avantgarde") darauf angewiesen sind, die Massen („das Volk" /die Basis) auf ihre Seite zu ziehen. Man spricht in diesem Zusammenhang von „Transmission“, „Transformation" und greift damit auf erprobte Techniken marxistischer Beeinflussung zurück. Wie beispielsweise seit etwa 1968 das Verbum „jemanden) agitieren" in den westdeutschen Wortschatz überhaupt erst eingeführt und gleichzeitig positiv bewertet (konnotiert) worden ist (in Wörterbüchern vor dieser Zeit wird Agitation umschrieben mit „Aufwiegelung/Aufreizung"), so ist für die Zielgruppe das ebenfalls positiv konnotierte Wort „Sympathisant“ gebildet worden, um das negative Wort „Mitläufer" zu vermeiden oder zu verdrängen. Mit anderen Worten: Dieser Beeinflussungsprozeß sollte durch semantische (und politische) Umstellungen/Umdeutungen legitimiert und in das eigene (revolutionäre) Gesellschaftsmodell eingepaßt werden

IV. Fünf sprachliche Wirkungsmuster in Richtung Realität

1. Die radikale Gruppe „Die Wörter einer Sprache machen durch die Benennung die außerlinguistische Realität verfügbar und zusammen mit dem grammatischen System Umweltdaten kommunizierbar." „Die politische Sprache ist in dieser Hinsicht ein Mittel zur Festigung von politischen Institutionen. Dies bedeutet, daß eine wirkungsvolle Bekämpfung solcher Institutionen wie z. B.des imperialistischen Staates und seiner Politik Hand in Hand gehen muß mit einer Bekämpfung der spezifischen sprachlichen Symbole dieser Einrichtungen.“

Zwei Autoren aus unterschiedlichen „Lagern" bestätigen auf ihre Weise den Zusammenhang von Sprache und Realität. Damit wird auf die dritte, die „referentielle Funktion der Sprache" aufmerksam gemacht: Wir können die objektive Realität, „das Ding an sich" nicht direkt erfassen, sondern operieren mit Bezeichnungen, Ordnungshierarchien oder Generalisierungen und verständigen uns dabei in einer von Sprachgemeinschaft zu Sprach-gemeinschaft differierenden Weise über die so „vorgeordnete", vorbeurteilte Welt in Form von . Abbildern“, in „Weltbildern". Für den Normalbürger kann es ohne brennendes Interesse sein, ob es das Sternbild „Orion“ gibt (es existiert in der Realität nicht) oder ob die Bezeichnungen „Unkraut“ und „Ungeziefer" menschenbezogene ungerechte, ja falsche Zusammenfassungen sind, denn der Normalbürger lebt in einer „vereinfachten“, konventionell geordneten Realität und hat sich in ihr eingerichtet. Anders derjenige, der diese Gesetzlichkeit pragmatisch/politisch in seinen Dienst nehmen will. Politische Sprecher wollen häufig genug ihre Vorstellung, ihr Weltbild und ihre Ideologie anderen nahebringen und durch diese entsprechende Bewußtseinsfixierung dem daraus resultierenden Handeln eine ganz bestimmte Richtung geben. Diese sprachwissenschaftliche Erkenntnis wird in die Agitationstendenzen zusätzlich eingebracht. Schauen wir uns das Beispiel an: SIE HABEN DAS GESETZ, WIR HABEN DAS RECHT! (Vilbeler Straße in Frankfurt am Main, Oktober 1981). Offenbar handelte es sich dabei um einen Streit mit dem Magistrat um eine Haus-

Besetzung, hier das Jugendzentrum. Viele Passanten bezogen den Spruch jedoch auf den Streit um den Bau der Startbahn West des Frankfurter Flughafens. Zur selben Zeit wurde mit der Forderung agitiert: Die Mauer muß weg! Der Text verwies zusammen mit einem Foto auf die „Schandmauer". Hier wird der Sprachgebrauch mancher Politiker bzw. Medien im Hinblick auf die Berliner Mauer parodierend reflektiert, allerdings war die Absperrung aus Betonfertigteilen bei Mörfelden gemeint.

Offenkundig wird in diesem Beispiel das bewußte Abweichen vom konventionellen Sprachgebrauch. „Recht“ meint die Gesamtheit der Rechtssätze oder Ansprüche, die innerhalb einer rechtsstaatlichen Verfassung für die Rechtsgenossenschaft gültig sind. Unter „Gesetz“ versteht man die Regeln, die verbindlich den Umgang aller, diesem Geltungsbereich unterworfenen Mitglieder untereinander und mit der normsetzenden Autorität formulieren. Der Oberbegriff ist danach „Recht“, der Unterbegriff, die praktische Regelung, ist das „Gesetz". In dem Spruch jedoch werden die Begriffe zu Gegenbegriffen (Antonymen) umgewandelt und dabei noch parteiisch bewertet (konnotiert). Das Ziel ist klar: Die eigene Ordnung der Welt soll der Situation und der Öffentlichkeit aufgeprägt und die Handlung (hier die Hausbesetzung) legitimiert werden. Die Solidarisierung läuft besonders über die Fürwörter: dem kollektiven, solidarischen „Wir" wird ein anonymes, formalrechtlich handelndes „Sie" gegenübergestellt. Deshalb kann man diese Gruppe von Sprüchen als radikale bezeichnen

Die „Scene" hat seit 1968 mit Vorliebe das Wort „Veränderung" benutzt. Die Kritik an dieser „Leerformel" (sie ist so abstrakt gehalten, daß nichts über Urheber, Ziel, Motiv, Zweck, Sinn, Legitimierung gesagt wird) wird hiermit umgangen und in eine konkrete politische Situation eingebracht.

Ähnliches geschieht in der Formel: LEGAL, ILLEGAL: SCHEISSEGAL! In raffinierter Komposition werden gut eingebürgerte Fremdwörter vom Klang her gleichgerichtet und — unter Ausblendung von „legitim" — als austauschbare Bezeichnungen für bestimmte Verhaltensmuster im Rechtsbereich eingesetzt. Echte Antonyme werden wie Synonyme behandelt. Auf der Sachebene soll damit die Abgrenzung im Verhalten des einzelnen, dem Rechtsrahmen (staatlicher Ordnung) gegenüber, abgebaut, sollen Skrupel der persönlichen Moralität bagatellisiert und damit subjektives Handeln legitimiert werden. Zielte das erste Beispiel vor allem auf „Inhalte", mußte also versucht werden, die Konstanz der Wortdeutung zu ändern, so kann das zweite vor allem als ein formalorientiertes angesehen werden, in dem die Methode erst des Differenzierens, dann die des Egalisierens verwendet und eine „allgemeine Reaktion" suggeriert wird.

KOMMT ZEIT — KOMMT RAT — KOMMT ATTENTAT! Dieses Telegramm erhielt der Hessische Ministerpräsident am 29. Januar 1982. Zur selben Zeit brachte die Frankfurter „Stadtzeitung" PFLASTERSTRAND (Nr. 124/30. 1. — 12. 2. 1982) als Titelbild — ohne direkten Bezug zu einem Artikel im Innern — eine Montage, in deren oberen Hälfte ein Foto des Arbeitgeberpräsidenten Schleyer am „ 31. Tag in RAF-Haft" gezeigt wurde und in deren unteren Hälfte ein rot überlegtes Schwarzweiß-foto des hessischen Ministerpräsidenten im Frack zu sehen war. Beide Teile waren verbunden durch den Spruch: „HOLGER, DER KAMPF GEHT WEITERr.

Verschiedene Urheber konzentrieren sich auf denselben politischen Vorfall (Urteil des Staatsgerichtshofes) und den politisch Verantwortlichen. Sie drohen.

Die erste Gruppe verlängert das bekannte Sprichwort und gibt der sehr allgemeinen Lebensregel konkrete Orientierung. Von der einfachen, aber wirkungsvollen Skandierung her wird um das Reimwort „(Atten) -tat" die Assoziation zu „Tat“ aufgebaut und umspielt. Die hessische SPD hat diesen Spruch durchaus als Morddrohung verstanden (und dieses Verständnis publiziert).

Die zweite Gruppe kombiniert optische Eindrücke mit verbaler Formulierung: Zum einen den Kontrast zwischen dem lachenden Börner und dem deprimierten Schleyer (mit dem RAF-Stern im Hintergrund). Zum anderen die verbale Verknüpfung durch dn Spruch/das Zitat, der bei der Beerdigung von Holger Meins gesprochen wurde. Der Gleichklang des Vornamens HOLGER ermöglicht die Beziehung auf die aktuelle politische Situation. Das ist die Sprache der Gewalt — und zwar nicht als Metapher gemeint, etwa wenn diese Formulierung zur Kennzeichnung oder Rechtfertigung steinewerfender Jugendlicher verwendet wird, sondern in der wörtlichen Bedeutung.

WO RECHT ZU UNRECHT WIRD, WIRD WIDERSTAND ZUR PFLICHT. Dieser Demo-spruchgeht in die siebziger Jahre zurück. In dialektischer Verschränkung werden hier (wiederum) Begriffe ausgetauscht, Bedeutungen parteiisch geändert. Insgesamt mag beabsichtigt gewesen sein, den Unmut/Haß (?) gegen diesen Staat zu verbinden und assoziativ zu vergleichen mit Prozessen im „Dritten Reich" (zur selben Zeit war es üblich geworden, nur die Abkürzung FDGO zu wählen, um dadurch besonders verächtlich von der freiheitlich demokratischen Grundordnung zu sprechen). Zutreffender wäre der Vergleich allerdings ausgefallen, wenn das Satzgefüge als Bedingungssatz formuliert worden wäre (,, Wenn/Falls‘r). Diese ungezielte, allgemeine Ortsbestimmung dagegen läßt Spielraum genug für Interpretation und Anwendung. So konnte der Appell allgemein verstanden, aber auch auf Artikel 20 Abs. 4 des Grundgesetzes bezogen werden („Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist"). Gegen den Willen des Volkssouveräns wäre dann ein „Widerstandsrecht" gerechtfertigt, wenn man den Nachsatz (... wenn andere Abhilfe nicht möglich ist) wegläßt und im übrigen jenen Staat als morbid, als illegitim hingestellt hat. In den achtziger Jahren schließlich konnte diese Formel auf die Friedensbewegung gemünzt erscheinen, die allerdings sicher nicht — wie seinerzeit die Anarchoszene — die Grundordnung stürzen will, sondern sch auf das Naturrecht beruft, wenn sie das Leben oder den Frieden retten will und in Kauf nimmt, nicht legal (im Rahmen des Grundgesetzes) zu handeln Korrekter und klarer wäre es jedoch in diesem Falle, die Begriffe nicht zu verwischen, sondern sich auf Artikel 5 und 8 des Grundgesetzes zu berufen, sowie von „zivilem Ungehorsam" zu sprechen. In diesem Zusammenhang muß auch die Diskussion um den Gewaltbegriff erwähnt werden: „Gewalt gegen Sachen" (und manchmal auch gegen Personen) wurde um das Jahr 1970 als Reaktionsmuster auf die als autoritär oder ungerecht perzipierte Staatsmacht interpretiert und als „Gegengewalt" (im Sinne demokratischer Notwehr) deklariert. Im affirmativen Kommentar zum Selbstverständnis der „Instandbesetzerszene“ klingt das (noch 1981) so:

„Die zierlichen Mittelstandskaninchen unterscheiden fein säuberlich in strukturelle, latente und manifeste, in ökonomische und außerökonomische Gewalt. — Die arbeitslosen Jugendlichen in Kreuzberg pfeifen derweil auf solche Differenzierungen; das macht: sie erleben die Summe jeglicher Gewalt. — Beton, Glas, Aluminium, Asphalt wuchern auf die Außenbezirke zu; gewachsene Strukturen werden durch die unheilige Allianz von Staat und Kapital zerschlagen; zwischen die Eingeborenen und die Welt schiebt sich das Versprechen von Freiheit und Glück, die Ware. Da werden Schaufensterscheiben zur Provokation. Plünderer nehmen sich nicht nur, von dem sie annehmen, daß es ihnen zusteht, sie erobern sich ein Stück ihrer Menschenwürde zurück. Ihre Gegner und die zierlichen Mittelstandskaninchen hören nur das Brechen und Splittern des Glases, die ständige Verletzung der Menschenwürde durch Beton, Arbeitslosigkeit, Streß, enge Wohnungen, Fließbandarbeit, überbordende Schaufenster, ist ihnen gleich. Der Dialog mit der Jugend findet statt: mit dem Gummiknüppel, der Exmittierung, dem Knast. Die Sprache der Kolonial-herren entfernt sich ständig von der Sprache der Kolonisierten. Der Diskurs wird naturgemäß immer gewalttätiger. Hilflos ringen die Dolmetscher die Hände, die Mittelstandskaninchen beschwören die Apokalypse, tanzt die Neue ApO (Außerparlamentarische Opposition) ihren Kalypso ....

(Dabei mag u. U. zu berücksichtigen sein, daß jenes Vorwort im „Knast Hakenfelde zu Berlin" geschrieben wurde) 2. Die verbalradikale Gruppe Gott ist tot, jetzt leben wir @— Macht kaputt, was euch kaputt macht! — Fällst du dem Kapital zur Last, steckt der Staat dich in den Knast — Ohne Imperialismus kein Krawall — Kapitalismus führt zum Faschismus! — Schießt den Albrecht auf den Mond, damit sich Raumfahrt wieder lohnt! — Polizei marschiert — Demokratie krepiert! — Emanzipation statt Indikation — Die Armeen zerschlagen, die Bonzen verjagen, ein selbstbestimmtes Leben wagen — Verbot aller faschistischen Organisationen!...

In solchen Parolen schwingt das Bewußtsein mit, daß zwischen der Real-und der Verbal-welt ein (referentieller) Unterschied bleibt. Sie erscheinen relativ offener, implizieren einen Rest von Zweifel an der unmittelbaren Realisierung, richten dennoch das Bewußtsein allgemein auf „Veränderung“. Die Wirkungsabsicht ist auch affirmätiv-agitatorisch, aber weniger rationalistisch gerichtet als emotional. Dementsprechend kann bei ihrer sprachlichen Gestaltung eine Füllung mit „hochaggregierten Symbolen" und „Drohsymbolen" beobachtet werden d. h., es werden Bezeichnungen aus sehr allgemeinen, hohen Abstraktionsstufen im hierarchischen Feld gewählt (Friede, Gewalt, Faschismus, Fortschritt, Veränderung, Integration, Emanzipation, Freiheit ... /Insofern unterscheiden sie sich nicht von den Auswahlprinzipien der Schlagwörter aller politischer Parteien, besonders im Wahlkampf (Freiheit statt Sozialismus! ...). Da diese verkürzenden Formeln (Losungen, Parolen, Schlagwörter) wenig an eigentlicher Information enthalten und praktisch nur das Thema anreißen und seine Bewertung, d. h. die Art der Betrachtung vorgeben, arbeiten sie oft mit „primitiven Dichotomien" d. h. Gegensatzpaare werden grobschlächtig (man denke an die Schimpfwörter!), oft in künstlicher Polarisierung und Verallgemeinerung verwendet.

Der Interpretationsspielraum wird z. B. auch besonders deutlich an dem Slogan AUF-STEHN FÜR DEN FRIEDEN (Motto der Großdemonstration am 10. Juni 1982 in Bonn aus Anlaß des Reagan-Besuchs). Der Infinitiv kann als Appell zu einem Aufstand (mit vielen denkbaren Konkretisierungen) wie als allgemeiner Impuls gegen Untätigkeit verstanden werden. Zur Erläuterung sei hinzugefügt: In der „Scene" gilt AUFSTEHN (seit dem 10. Oktober 1981, der ersten Demonstration der Friedensbewegung auf dem Hofgarten-platz in Bonn) als Formel des Einverständnisses der Demonstrierenden. Damals hatte die holländische Rockgruppe „bots“ besonderen Erfolg mit dem Text:

Alle, die nicht schweigen, auch nicht, wenn sich Knüppel zeigen, solln aufstehn Die zu ihrer Freiheit auch die Freiheit ihres Nachbarn brauchen, solln aufstehn Alle für die Nehmen schön wir Geben ist und Geld verdienen nicht das ganze Leben ist, die von ihrer Schwäche sprechen und sich kein'dabei abbrechen, soll'aufstehn.

Alle, die gegen Atomkraftwerke sind, solln aufstehn Die Angst vor Plastikwaffen haben in der Hand von einem Kind, solln aufstehn Alle, die ihr Unbehagen immer nur im Magen tragen, nicht wagen was zu sagen, nur von ihrer Lage klagen, solln aufzustehn.

Alle Frauen, die nicht auf zu Männern schauen, soll'aufstehn Alle Lohnempfänger, die den Bund nicht länger enger schnall'n, soll'n aufstehn Alle Schwulen, die nicht um Toiletten buhlen, soll'n auzfstehn Alle Alten, die sich nicht für ihre Falten schämen, soll'n aufstehn Alle Menschen, die ein besseres Leben wünschen, soll'n aufstehn.

Aus der Litanei alternativer und linker Kritikpunkte sticht diese Sentimentalvokabel so hervor, daß sie das assoziative Solidarisierungsmotto für den 10. Juni 1982 abgeben konnte. Bewußt wurde wohl — nach jenen kritisierenden/destruktiven Ermunterungsappellen — eine konstruktive Ergänzung eingesetzt (... für den Frieden).

Der Vergleich mit der offiziellen Losung der CDU zur Großdemonstration am 5. Juni 1982 in Bonn — Gemeinsam für Frieden und Freiheit, — zeigt, daß dieselben hohen Abstraktionsstufen verwendet werden. Die Erläuterungen im Aufruf jedoch machen deutlich, daß auf der Realitätsebene sehr Verschiedenes darunter verstanden wird, daß das Zeremoniell ebenfalls sehr unterschiedlich geplant und gestaltet wird. Für das Wort „Gemeinsam" ist eine engere Interpretation (die CDU in der Bundesrepublik Deutschland und ihre Freunde) oder eine weitere möglich (die Westdeutschen und die Amerikaner).

Man muß sich für den politischen Alltag deutlich machen, daß im Abstand von knapp einer Woche mit fast denselben Begriffen demonstriert wurde, aber die jeweiligen Teilnehmer sicher sehr unterschiedliche, fast gegensätzliche Vorstellungen und Ziele gehabt haben, weil die Bedeutung der Zentralvokabel zu abstrakt gewählt wurde. Die Schwierigkeiten der Interpretation oder Verständigung entstehen erst, wenn man auf niedrigeren Stufen des Wortfeldes konkret nach Festlegungen fragt. 3. Die korrektive Gruppe Eine dritte Gruppe greift einzelne Ziele, Werte, Probleme und „Realitätsbereiche" heraus. Ihre Methode ist die der fordernden Darstellung oder die der Relativierung konventioneller Ordnungsysteme. Diese Stufe könnte somit als „korrektiv“ gekennzeichnet werden. WUNSCHKINDER JA, MUSSKINDER NEIN! — KEIN AKW IN BROKDORF UND AUCH NICHT ANDERSWO! — FÜR UNS KEINE BESSERE AUSBILDUNG? — BOYKOTT DER FAHRPREISERHÖHUNG. FAHRT SCHWARZ! — Lieber instand-Besetzen als kaputt-Besitzen. — 22 im Knast, 800

Prozeße, PASS BLOSS AUF, STAAT! — Ich esse KOB's (Kontaktbereichsbeamte) uff een mal kloppt's — Lieber rot als tot. — Darf Meier lenken, was Lehrer denken? — Für wen schaffen Atomkraftwerke Arbeitsplätze? (die dazugehörigen Zeichnungen verweisen auf Polizisten, Bestattungsunternehmen, „Kapitalisten“). Frauenpower macht Männer sauer — Werder Si! Nato No! — Berlin stirbt abrißweise — Es wird also jeweils ein relativ konkretes Thema ausgewählt und direkt angesprochen (NAI HÄMMER GSAIT! — Nein haben wir gesagt! — Kein Atomkraftwerk in Whyl und anderswo) oder metaphorisch umschrieben („Rot“ für Kommunismus, „Bullen“ für Polizisten). Dabei werden diese Forderungen so konkret gestellt, daß das Ansinnen woanders nicht ohne weiteres verständlich ist — Freiburg: Die Vita soll es jetzt schon wissen, ihr Palast wird ABGERISSEN.

Andere Forderungen werden erst durch das „Zeremoniell“ der Demonstration klar, so beispielsweise beim dritten Beispiel dadurch, daß Lernschwestern die Transparente trugen. Schließlich sammeln sich hier gern die (konstruierten) Alternativformeln (Lieber ... als ...), die so suggestiv einander gegenübergestellt werden, daß andere, an sich mögliche Perspektiven ausgeschlossen bleiben. Rhetorische Fragen als Mittel der Verstärkung kommen vor und endlich die Gleichsetzungsformeln: Akkord ist Mord — Aussperrung bleibt Unterdrückung — Die Partei ist die Vorhut der Arbeiterklasse!, von Spontis verspottet: Die DKPist die Vorhaut derArbeiterklasse; wenn's ernst wird, zieht sie sich zurück.

Forderungen dieser Art haben in der Regel die meisten Mitläufer, weil sie auf ein erkennbares Objekt bezogen werden, also für größere Gruppen verständlich sind. Diese Muster werden darum auch gern von anderen Protestgruppen übernommen, die inzwischen von der „Scene" gelernt haben, wirksamer (zumindest gereimt) zu formulieren: Wir bekommen keine Renten mehr/, dafür müssen Bomben her! — Das ist die Wende. Wir stehen im Regen (Bonn 18. 9. 83) — Kohl wir kommen, Du hast Dich schlecht benommen — Lieber HDW (Howaldtwerke-Deutsche Werft AG) besetzen als zum Arbeitsamt hinhetzen (12. 9. 83) — Wir wachen Tag und Nacht, sonst werden wir hier zugemacht (Werksbesetzung „AG Weser" — Bremen 19. 9. 83). Leicht verständlich ist auch die Symbolik der Friedensbewegung in der DDR: SCHWERTER ZU PFLUGSCHAREN, Micha 4. Sie wurde, wie bekannt, vorschnell verboten und verfolgt Ihre Interpretation ist in Wirklichkeit jedoch wegen der Beziehung auf verschiedene Bibel-stellen äußerst kompliziert 4. Sponti-Sprüche Während bei der vorangestellten Gruppe die Korrektur an der Wirklichkeit oder die Relativierung ihrer Strukturen beabsichtigt war, während alle drei Gruppen ernstgemeint sind und in unterschiedlicher Intensität die vorgefundene . Realität" angreifen und verändern wollen, entfalten sich in einer vierten, spielerischen Gruppe Witz, Selbstironie, Nonsens, blankes Wortspiel, Persiflage durch Zitat usw. „Die vielen Gesichter der schönen Frau Demo" zeigen denn auch solche Abteilungen wie: „Einsame Herzen“ (Bürger runter vom Balkon, wir verlangen mehr Pension! ... unterstützt den Vietcong . Schweinkram" (Lieber Orgasmus als Apfelmus), „Abteilung für Selbstbezichtigung“ (Wir sind die, vor denen uns unsere Eltern immergewarnt haben), „Abteilung für Philosophie“ (Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment!) ^ 0). Insbesondere was als „Sponti-Sprüche" Wände oder Transparente ziert, gehört in diese kreative, nur auf der Verbalebene operierende Stufe: Lieber massenhaft als Einzelhaft! — Brot für die Welt, aber die Wurst bleibt hier — Lieber arm dran, als Arm ab — Lieber Feste feiern, als feste arbeiten! — Zwischen Leber und Milz ist noch Platz für ein Pils! — Ob Eltern oder keine, entscheiden wir alleine! — Ich geh kaputt, gehst du mit? — Freiheit für Grönland — weg mit dem Packeis! — Keine Macht für niemand! — Berufsverbot für alle, bei vollem Lohnausgleich! — Coitus, ergo sum — Freiheit 1918: Gefühl und Härte, Freiheit 1983: Gewühl und Hertie — Guck nicht so blöd — küß mich! — Hoffentlich werden wir so alt, wie wir aussehen — Jeder braucht Lebensmittel — Brot, Käse, Liebe — Revolution vorbei, Liebe futsch, Spaghetti kalt. Vielfältig wie die Gruppierungen erscheinen hier die Sprüche: sich selbst oft genug in Frage stellend („Aussteiger"), auf das Individuum (oder Gruppen) zentriert, „bürgerliche" Umgangsformen und Tabus verletzend. über die Bewertung dieser Sponti-Sprüche wird später noch einiges zu sagen sein. Fest steht aber wohl, daß sie sich zunehmender Beliebtheit erfreuen und längst — wie früher die Ostfriesenwitze — die privaten Zirkel wie die Stammtische erreicht haben. Buchverlage wetteifern neuerdings um immer neue Sammlungen Genau betrachtet sind die „Spontis“ nur eine Ingroup der Scene gewesen; und die Weiterverbreitung ihrer Sprüche heute ist ein Nachwirken einer vergangenen Lebens-, Denk-und Aktionsform:

„Die Spontis waren eine Gegenbewegung innerhalb der Linken gegen die sich seit Anfang der 70er Jahre ausbreitenden marxistisch-leninistischen Parteien und Gruppen (ML-oder K-Gruppen). Sie können im Gegensatz zu diesen meist maoistischen und stalinistischen, streng organisierten Kaderparteien in der Tradition der hedonistisch-anarchistischen Strömung innerhalb der Studentenbewegung gesehen werden, die — wir denken hier z. B. an die Kommune 1 und ihr Umfeld — die radikale Veränderung der Verkehrsformen als notwendige Voraussetzung einer Gesellschaftsformation angesehen hatte.

Die zentrale Stellung von Subjektivität in der Theorie der Gesellschaftsveränderung machte den Politikbegriff der Spontis zweischneidig: Zum einen in der öffentlichen Sphäre: Anders als die ML-Gruppen, die die privaten Probleme ihrer Mitglieder im Grunde nur als Störfaktoren verstehen konnten, die einer effektiven Organisierung des Klassenkampfes im Wege standen, sahen die Spontis in den Bedürfnissen und Gefühlen der Handelnden selbst einen wichtigen Bestandteil der politischen Diskussion und Aktion. Betroffenheit sollte zur Voraussetzung und Grundlage für politisches Handeln werden. Die Forderung, sich in einem politischen Prozeß als Subjekt einbringen zu können, war überspitzt formuliert in der Parole: . Politik muß Spaß machen! Zum anderen in der privaten Sphäre: Man sah dort, daß die eigenen Bedürfnisse gesellschaftlich produziert, damit veränderungsfähig und -bedürftig waren. Das führte zu der Forderung, auch das eigene Privatleben zu verändern und alle Lebensbereiche der Diskussion zu öffnen ...

Wenn Spontisprache auch als geschriebene noch gesprochen werden wollte, so schlug sich in ihrem Parlando der Anspruch nieder, der ein wichtiger Grundsatz spontaneistischer oder undogmatischer Politikauffassung war: keine bürgerliche Trennung zwischen Politischem und Privatem zu akzeptieren, Politik in der ersten Person zu machen und die privaten Konflikte auch als politische zu verstehen sowie öffentlich zu artikulieren ... Für diese subjektivistisch engagierte Denkform fand die Gruppe eigene Lebensformen in WGs (Wohngemeinschaften), im Zusammenleben („Zweierkiste“), in Kneipen, in Musik-gruppen, z. T. in der Drogenszene, in alternativen Buchläden und Zeitungen, bei Straßenfesten und (wenigen) Demonstrationen. Um die „verkrustete" Bürgerwelt in ihren festgefügten Normen und Strukturen aufzulösen und um das eigene Weltverständnis dynamisch zu gestalten verwandelte man die Sprache in ein passendes Kommunikationsmittel: die Relativierung alles Gesagten durch ein nachgestelltes irgendwie /oder so; schier endlose Beziehungsdiskussionen; Verwendung offener Abstrakta wie Verhältnisse, Strukturen; spontane Bestätigungs-/Verstärkungsformeln wie irre, geil, unheimlich, total, stark, wahnsinnig, echt, ehrlich; durch die Bereitschaft, sich dauernd selbst zu „hinterfragen" (Metadiskussion); durch Auswahl aus Allgemeinbegriffen — zur Vermeidung fixierender Rollenzuweisungen! — wie Typ für Mann, Fräulein, Frau, Bekannter, sowie für nicht zur Gruppe Gehöriger; durch Abkürzungen (Prolli /Wessi /Prommi /Chauvi /Mollis... aber: paschos).

Viele dieser Ausdrucksformen sind mittlerweile Allgemeingut — und die Spontis sind älter geworden. Insofern haben sie zwar nicht „die Verhältnisse" geändert, sicher aber die Sprache und sie aus der Dogmatisierung auch der K-Gruppen erlöst. Geblieben ist ein Solidarisierungskode, in den sich längst schmarotzend die Werbung eingeschlichen hat — Wer es noch nicht geschnallt hat — wir wissen was Ihr wollt: „Denn Schulmilch ist Discoaction!“. 5. NO FUTURE Eine fünfte Gruppe drängelt sich an Wänden, in Hinterhöfen, besonders an Haltestellen wie verschüchtert in die Lücken jener Spruchlandschaft. Gemeint sind die expressiven, sentimentalistischen Formulierungen. Durch sie scheinen alle Konturen aufgelöst, also auch das Spiel mit den verschiedenen Realitätsebenen; weniger Wirkung als Ausdruck eines Situationsgefühls; einsilbiger Kommentar, oft zur Zukunftsaussicht: PFFHH! — HÄRTE UND GEFÜHL — SELBST DENKEN? — LEBEN? /LIEBE? GEFÜHLE VERBOTEN! (an Betonwand) — ICH BIN ALLEIN, WIR SIND ALLEIN, BERLIN IST ALLEIN (Cafe Einstein. Berlin) — DENK MAL (auf dem Sockel eines Reiterinnen Denkmals im Großen Tiergarten, Berlin) — NULL BOCK — WIR SIND DIE LEUTE, VOR DENEN UNS UNSERE ELTERN IMMER GEWARNT HABEN — HIGH NUN — DENN MORGEN KÖNNEN WIR TOT SEIN — DAS LEBEN GEHT WEITER — ABER OHNE UNS — HEUTE SCHON GELEBT? — DIE SCHÖPFUNG WAR DER ERSTE SABOTAGEAKT (Salzburger Dom) — VERSCHWENDE DEINE JUGEND! (Schule in Frankfurt).

Es sieht so aus, als ob sich diese Ausbrüche mehrten und auch sie eine Verschiebung der Grundpositionen einer jüngeren Generation signalisierten. Als NO FUTURE-/NULL-BOCK-GENERATION wird sie wohl offiziell bezeichnet, fast bemitleidet; „Schlaffis" werden sie fast liebevoll benannt, als „Freaks" klassifiziert und in die Szene integriert.

V. Reaktionsmuster der „Etablierten“

Wenn die Sprüche (und Handlungen) der Szene — in unterschiedlicher Stärke — auf Veränderung der Gesellschaft aus sind, so stoßen sie naturnotwendig auf den Widerstand der „Etablierten“. Sprachliche Forderung, Lebensform und Auftreten werden als Provokation, zumindest als Ärgernis angenommen; sie sind besonders in den ersten drei geschilderten Gruppen natürlich auch als solche angelegt. Für die Situation des nur innerhalb bestimmter Gruppen zirkulierenden Weltverständnisses wurde der Terminus „Sprachspiel" geprägt (entsprechend den „geschlossenen Systemen“ z. B.des Marxismus). Sprache wird demnach als Kommunikationsmittel nur noch innerhalb desselben, so gestalteten Sprachspiels — im semantischen Zirkel — verwendet; zum anderen Lager hin wird naturnotwendig der Dialog als abgebrochen, unsinnig und unmöglich angesehen, häufig bewußt verweigert (Vgl. z. B. Transparentaufschrift anläßlich einer Podiumsdiskussion am 4. April 1982 beim „ 1. Frankfurter Streitgespräch": WIR SCHEISSEN AUF DEN DIALOG.) Daraus entsteht wiederum häufig der (falsche) Eindruck von der „sprachlosen Jugend". • •• Neben dieser Ungleichzeitigkeit bei der Verarbeitung der geschichtlichen Gegenwart erfahren die . sprachlosen'Jugendlichen Tag für Tag, wie die Öffentlichkeit von den politischen Propagandamaschinen mit Sprachverfälschungen überschwemmt wird. Die Politiker sagen . Nachrüstung'und meinen . neues Wettrüsten'. Sie reden von der . Verteidigung des Rechtsstaates', wo es um behördlichen Rechtsbruch geht Sie nennen . vorbeugende Verhaftung', was einfach . Rache'ist Sie sagen . Erhaltung von Arbeitsplätzen', meinen aber die Förderung zerstörerischer Großobjekte. Sie bezeichnen als . staatliche Energiepolitik', was doch nur Hilfestellung für die Profitsucht ist.der Energiekonzerne Sie berufen sich auf . Sachzwänge', wo sie Angst vor neuen Wegen haben. Sie jammern . Weimar, Weimar!, wo ihre parteipolitischen Besitzstände gefährdet sind. Unsere politische Kultur ist durchsetzt von solchen Doppelbödigkeiten und Doppelzüngigkeiten. Es kann nicht verwundern, wenn bei den Jugendlichen das Bedürfnis nach einer einfachen, authentischen Sprache so rasch wächst Sie erleben den öffentlichen Sprachdunst als erstickend. Auch deshalb die bitteren und scharfen Parolen in der Jugend-revolte. Die Sprache wird zum Messer .. Treffend werden die voneinander getrennten, in sich zirkulierenden Sprachspiele geschildert wenn die (wechselseitige) Besetzung semantischer Positionen derart exemplifiziert wird bis hin zu der Schlußfolgerung: . Es gibt keine gemeinsame Sprache, weil es keinen politischen und lebenspraktischen Konsens gibt’ Die sprachlichen Formeln sind dann nur Indikatoren für die grundsätzlichen Divergenzen der Kontrakulturen.

Jedes System versucht, sich in sich zu stabilisieren, und reagiert auf Kontaktversuche nervös, mißtrauisch, unverständig und feindlich, stets auf dem Sprung zur Gegenmission (Agitation), Reizung oder Abwehr (praktischen Anschauungsunterricht bietet das Auftreten der „GRÜNEN" in den Parlamenten).

Und dieser Konflikt beschränkt sich nicht aufs Öffentliche, sondern reicht — bevorzugt in studentischen und gymnasialen Kreisen — ins Persönliche und ins Familiäre hinein, wo es als Generationskonflikt oft genug harte, spontane, „konsequente" Reaktionen bewirkt (Auszug, Kündigung, Flucht). Die Ohnmacht (?), das ökonomische Überlegenheitsgefühl, der Stolz auf die Aufbauleistungen der eigenen Generation, die geringe Übung in differenzierendem, innovierendem Denken produziert auf der Seite der Etablierten dann oft Stereotypen wie: DANN GEH DOCH NACH DRÜBEN! — Als wir so alt waren wie ihr,... — Kommt ihr erst mal in unsere Situation... — Als wir zum Barras mußten, da hat uns auch keiner gefragt, ob... — Das sind doch Sprüche; lernt erst mal was Ordentliches, laßt euch den Wind um die Nase wehen (die Hammelbeine langziehen), dann sprechen wir uns wieder!... — Auf diese Weise ist natürlich kein Brücken-schlag möglich, sondern wird im Gegenteil die Einbindung ins jeweilige Sprachspiel verstärkt Geradezu tragisch entwickeln sich diese Divergenzen in jenen Bevölkerungsschichten, in denen die Kinder einen höheren Bildungsgang absolvieren, als die Eltern ihn (der Vater!) gehabt haben.

Ein anderes Reaktionsmuster besteht darin, diese Kontrakultur quasi mit ihren eigenen Waffen schlagen zu wollen. Es setzt einen höheren Bildungsstand (mitunter nur eine gesicherte Position) voraus. Man geht auf die Agitationsmuster ein und versucht sie zu zerschlagen. umzudrehen. Ein solches Beispiel hat die Öffentlichkeit 1983 stark bewegt Ausgangspunkt war der Spruch: STELL DIR VOR /ES IST KRIEG /UND KEINER GEHT HIN! — Eine (konservative) Gruppe, ebenso wie auch H. Geißler auf einem Parteitag (vgL FAZ vom 26. Mai 1983), verwies darauf, daß dieser beliebte Spruch von Brecht stamme und folgendermaßen weiterginge: Wer zu Hause bleibt, /wenn der Kampf beginnt /Und läßt andere kämpfen für seine Sache /Der muß sich vorsehen: denn /Wer den Kampf nicht geteilt hat /Der wird teilen die Niederlage. /Nicht einmal den Kampf vermeidet /Wer den Kampf vermeiden will: denn /Es wird kämpfen für die Sache des Feinds /Wer für seine eigene Sache nicht gekämpft hat.

Eine Überprüfung ergab freilich, daß dieser Zusammenhang nicht existiert, daß nur diese Fortsetzung aus Brechts fragmentarischer „Koloman-Wallisch-Kantate" stammt und auf den Widerstandskampf im Februar 1934 in Österreich („Februarputsch“, von Dollfuß niedergeschlagen) bezogen wird. Der Versuch, Brecht als Kronzeugen gegen diesen pazifistischen (?) Spruch zu aktivieren, ist also fehlgeschlagen. Dagegen findet man die wirkliche Vorlage im Amerikanischen überhaupt sind Brecht-Zitate sehr beliebt als Gegenparolen, aber auch solche (spärlichen) Anti-Witze wie: Ihr /Die Spontis /Die... bestreiten alles — nur nicht ihren Lebensunterhalt Ein drittes Reaktionsmuster besteht in einer Art von sympathischer Reaktion auf den unerschöpflichen Sprachwitz der Kontrakultur. Man nimmt den sozialen Hintergrund praktisch nicht wahr, man ignoriert die sprachlichen Wirkungsabsichten; dafür ergötzt man sich an der geistreichen Verdrehung, am Erkennen einer Chance. Z. B., wenn . offizielle“ Aufschriften unvollständig sind und als solche Versatzstücke in andere Sinnzusammenhänge gepreßt werden: BERLIN GRÜSST SEINE GÄSTE und prügelt seine Einwohner. Oder aus der Werbung für eine Agentur für Zeitarbeit: Kann man in zwei Jahren mehr für sich tun? JA KÜNDIGEN! Oder auf Postkästen, indem ALLE RICHTUNGEN mit „irren" Subjekten und Prädikaten versehen wird, z. B. John Lennon geht... Auf ein viertes Muster wurde eingangs schon hingewiesen: die formale Übernahme (Reim, Rhythmus, witziger Jargon) bei . normalen“ Demonstrationen, etwa der Arbeiterschaft in ihrem Existenzkampf; auf ein fünftes auch: auf die korrumpierende Inbesitznahme durch die Werbung.

VI. Auswirkungen der Kontrakultur

Fragt man nach den „Erfolgen" dieser neueni Jugendbewegung“ so gilt es zu differenzieren. Vorschnell geurteilt könnte man sagen,. daß der massive politische Durchbruch, ihn die Studenten 1968 versucht haben, gescheitert sei. Fast in allen blicken die ehemaligen Teilnehmer, die APO-OPAs, wie nostalgisch auf jene zurück. Die Demosprüche, die Transparentinschriften, die in den ersten beiden Gruppeni beschrieben worden sind, sie treten im Erscheinungsbild der Städte zurück; einem großen Teil der heutigen Jugend ist die marxistische Stereotypie zuwider (vgl. die Sponti-Sprüche). Trotzdem hat sich natürlich auchi die gesellschaftliche Landschaft verändert. Unter den Talaren, der Muff von Tausend! Jahren, hieß es einst; heute lesen die Demonstranten von einst — in gesicherter Stellung; der „Institutionen“ — an deren Mauerwänden: JUGEND 1983: DAS PRODUKT DES DEUTSCHEN WAHNSINNS! oder: Ich bin gegeni alles.

Die Taktik hat sich jedenfalls verändert; sie hat sich von der brachialen zu einer eher stichelnden hin verlagert Zusätzlich zur Wirkungsabsicht wäre also auf die Effektivität in längeren Zeiträumen zu achten. Und gerade hier zeigen die verschiedenen Agitationsmuster Wirkung (die beschriebenen fünf Gruppen sind zwar nach Intensitätsabstufungen geordnet worden; sie spiegeln grob jedoch auch eine zeitliche Abfolge, Ersetzung). Wie beschrieben, haben sich zwischen den Generationen, zwischen den Kulturen tiefe Gräben im Bewußtseinsstand (verweigerter Dialog) aufgetan. Die „Sprachspiele“ zirkulieren munter in internen Kreisen und wurden im „Heißen Herbst" 1983 vor allem durch die (außer-parlamentarischen) Friedensaktionen gegeneinander gerichtet.

Parallel zu dieser sprachlich-agitatorisch-politischen Entwicklung vollzog sich jedoch auch eine philosophisch-soziale. Erkennt die Ofwief meistens nur deren sichtbaren Ausdruck (in Kleidung, Haartracht, Auftre-Selbstdarstellungeni so hatte Carl Amery das eigentliche Motiv auf eine Formel gebracht: . Das Schlüssel-Aktionszeiteni für das kleinbürgerliche Tugendsystem in Deutschland ist das Wort Anstand.. „Sie umfaßten Dinge wie Ehrlichkeit, Arbeitsamkeit Sauberkeit Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit im Dienst, Mißtrauen gegen alle Exzesse und gegen alles Schillernde, Zweideutige, Ambivalente, sowie Gehorsam gegen die Obrigkeit." Ale die Normen, so Amery, seien jedoch Sekundärtugenden, die keine Ziele in sich enthalten. Primärtugenden (Gläubigkeit, Demut, Caritas) seien darin nicht enthalten. Der Trick des Nationalsozialismus war es demnach, dem „Milieu“, dem deutschen Volk jene Sekundärtugenden als Primärwerte glaubhaft darzustellen (Meine Ehre heißt Treue!). Diese fatale Vertauschung sei nicht durchschaut, ihre rassistisch-totalitäre Gefährlichkeit nicht erkannt worden, sondern gar noch als im Sinne deutscher Weltgeltung interpretiert und militaristisch praktiziert worden. Diese kluge und richtige Analyse löste — im Rahmen der Vergangenheitsbewältigung — den abgrundtiefen Haß gegen jene bürgerlichen Sekundärwerte aus, wodurch allzu leicht die stereotyp propagierten Primärwerte wie z. B. die politische Grundordnung unserer Republik (parlamentarische Demokratie, Rechts-und Sozialstaat föderatives System, Volkssouveränität, Gewaltenteilung, Legalität) in den Strudel jener Kritik geraten könnten, besonders wenn sie sich — wegen ihres Gleichheitsprinzips — notgedrungen formell und starr darstellen.

Ohne diese Grundsatzanalyse zu kennen, „realisiert“ die heutige Jugend doch munter deren praktische Konsequenzen (Unpünktlichkeit, unordentliches Aussehen, „chaotisches“ Wohnen, Vernachlässigung vieler Formalien, z. B.der Rechtschreibung, etc.). In diesen Prozeß greifen die witzelnden, relativierenden Sprüche verstärkend ein. Ihre Zahl und Ausprägung nimmt etwa in dem Maße zu, wie die frontal angreifenden Demosprüche abnehmen. Auf die Dauer gesehen, unter dem Aspekt der Langzeitwirkung, der „Füllung eines Speichers’ erweisen sich diese Sprüche sogar als wirksamer. Die Taktik erscheint beweglicher, hat größere Resonanz in der Masse, zeigt zumindest auch Amüsement im „anderen Lager“, kurz: diese Wirkungsmuster sind durchaus nicht gescheitert

Man könnte diesen Prozeß als ein undifferenziertes Zermürben, Zerbröseln der Werte beschreiben. Er wird unterstützt durch einen weiteren Trend, den nach den amerikanischen nun auch die deutschen Pädagogen beklagen: Die Forderung (der Schüler) nach „Relevanz" aller Themen. Diese sollen „plausibel", praktisch verwendbar, nützlich sein und möglichst einen sozialen Touch haben. Insofern sind die Zeiten grundsätzlicher, hochabstrakter, utopischer Diskussionen der Studentenrevolte pass, die neuen Forderungen jedoch kaum erfüllbar, weil die Jugend geistig und vor allem seelisch noch mehr verarmen würde. Eine Lieblingsvokabel in diesem Zusammenhang ist, „daß alles Schwachsinn sei“, oder daß „der/das es nicht bringe". Gemeint ist damit, daß man keinen Sinn, keinen Nutzen sehen könne, daß das pädagogische Bemühen um Aneignung methodischer Fertigkeiten ein unnützer Umweg sei und man eine egozentrische „Interpretation" bevorzuge.

Die Studentenrevolte hatte ihre wortgewandten Führer. Sie gaben die Erklärungsmuster, sie prägten den politischen Willen in prägnante Formeln, und sie riskierten die politische Konfrontation. Die heutigen Sprüher dagegen bleiben mit Vorliebe anonym. Die Autoren schwimmen lieber im Wasser des sympathisierenden Kollektivs. Trotzdem setzen die Formulierungen voraus, daß ihnen Bildungs-und Sprachwissen zu Gebote steht Der angebliche Brecht-Spruch zeigt exemplarisch die komplizierten Adaptionsvorgänge: Aus der nach links neigenden Akademiker-schicht der dreißiger Jahre in den USA kommend, taucht er irgendwie in Deutschland auf, gewinnt jene klug und treffend zugespitzte Anekdote hier als isolierter Spruch Beliebtheit und Sprengkraft. Metrische Einheiten werden in den Dienst genommen, wenig bekannte Autoren zitiert sprachliche Muster aufgenommen und umgewandelt offene Vorsatzstücke bei etablierten Äußerungen als Eingriffschancen genutzt, Floskeln parodiert usw. Und das erstaunlich fix: kaum hatte ein Abgeordneter der Grünen das Bonmot geprägt: Der Zimmermann erspart die Axt im Walde, war es wenige Tage später auf einer Schulbank zu registrieren (Sept 1983).

Müller-Thurau vergleicht den geistigen Habitus der Szene mit literarischen Vorbildern; er nennt in diesem Zusammenhang: Kafka, Camus, Musil (nicht Brecht!) In ihnen sieht die Szene ihre Form der Entfremdung am treffendsten gespiegelt Sie selbst hat sich — durch die „Gevattern“ — vor allem lyrisch geäußert; wenn sie Disziplin genug aufbrachte, sich im Zusammenhang zu äußern, allenfalls in handlungs-oder bewußtseinsorientierter, pragmatischer Kurzprosa. Als symptomatisch kann auch angesehen werden, daß die erste (einzige?) literarische Selbstäußerung der 68er-Generation in Prosa sich mehrfach gebrochen darstellte. Peter Schneider wählte (1973) als Vorbild den „zerrissenen" livländischen Edelmann und Autor Lenz (1751— 1792), auf den auch Büchner (biographisch) und Brecht (thematisch) schon zurückgegriffen hatten. Authentische, direkte Äußerungen fehlen — bis auf „Christiane F." Für große Teile der DDR-Jugend übrigens haben Plenzdorf und Rolf Schneider („Die Reise nach Jaroslaw“) den Jargon und die Mentalität treffend wiedergegeben. Im Schlagertext biedern sich verschiedene Autoren als „Gevattern" an („Ich will alles — aber sofort" /„Ich will leben, wie mir's gefällt...).

Man könnte insofern in der Tat von einer Jntellektuellenkultur" sprechen. Was dort jedoch spontan ist oder nur so erscheint, das erweist sich hier häufig als gedankenlose, fröhlich adaptierte Wiederholung und verweist damit auf einen bedenklichen Mitläufereffekt Viele Schüler wissen vor allem nicht was sie tun; sie treiben in einem modischen Trend mit und wundern sich, daß sie in den Realitäten des Schul-und Wirtschaftslebens auf andere Verhaltensformen und Anforderungen stoßen (bei Studenten und Referendaren spricht man dann von einem „Praxisschock“).

VII. Andere Werte?

Die Szene hat sich geändert, so wie sich auch die ökonomischen (und politischen) Verhältnisse geändert haben. Die Jahre des ungebremsten Wachstums verlangten nach gerechterer Verteilung jener allgemeinen Güter (Demosprüche); sie sollten in gesellschaftlichen Utopien neu geordnet werden. Die achtziger Jahre haben das . Ende der Leiter“ gezeigt, eine Mangelsituation im weiten Sinne offenbart, die Vorstellung von den leichten und’gesicherten Lösungen zerschlagen, depressive Äußerungen (Graffito) gezeugt Die Etablierten haben zu allen Zeiten nur herausgehört: Verneinung (z. B. in den Bürgerinitiativen: Keine Autobahn durchs Wohngebiet! — Neuhof...), Verweigerung, Egozentrik, Aggression, keckes, selbstbewußtes Auftreten, Verspottung von Karriere und Wohlstand (. Knete“) und Wohlanständigkeit (Sekundär-werte). In diesem Sinne wäre „Kontrakultur“ weit zutreffender als „Subkultur"

Einige Gruppen haben sich auf Konfrontation mit dem Establishment festgelegt so die Autonomen“ und die „Antiimpis". Man spricht von Minigruppen, die . direkte Aktionen“ im Rahmen der Friedensdemonstrationen planen und durchführen, denen die „Latschdemos" zu lasch seien* ). In dem weiten Feld bis zu den Spontis allerdings entfaltet sich ein vielfältiges Spektrum der Anschauungen und der Taktik Die offizielle Kultur wäre gut beraten, nicht alle Gruppen über einen Kamm zu scheren; Angebote zu einem wechselseitig kritischen Miteinander, wie sie vor allem von den Basisgemeinden und den Grünen ausgehen, sollten nicht voreilig oder autoritär in den Wind geschlagen werden. Schließlich war es schon immer das Vorrecht der Jugend, das Unbedingte zu fordern und anzustreben; man denke nur an die Geschichte des Wandervogels.

Will man den derzeitigen Stand dieser Kontrakultur schlagwortartig verdeutlichen, so könnte man etwa folgende Kennzeichnung versuchen:

1. Suche nach geschlossenen Systemen. (Marxistisches System —• Adaption H. Hesses —• Religiöse Systeme, allerdings von der Basis her erneuert)

2 Enges, intimes, schnell geknüpftes Gruppenverständnis und lockeres Kommunika-tionsverhalten, allerdings im Rahmen in sich zirkulierender „Sprachspiele“. Die gemeinsame Sprache spielt dabei eine wichtige Rolle, und zwar sowohl die eines „Schlupflochs", eines Solidaritätskodes wie andererseits die eines Mittels der Auseinandersetzung. Man könnte letztere Funktion mit der politischer Witze in autoritären Systemen vergleichen.

3. Nach Ablehnung bürgerlicher Lebensformen erfolgt Ersatz durch eigene, lose gefügte Lebensformen in neuer, rigoroser Moralität, um so eine neue Identität zu gewinnen (Lokkerung“ der Sprechmuster; Sprengung der Floskel

4. Glück wird fast als Bürgerrecht in Anspruch genommen; eingeschränkte Formen, etwa der Zufriedenheit schon als Verrat Verlust empfunden. Insofern lassen sich eine Reihe von autistischen Zügen der Szene erklären.

5. Neu-Aufbau von Bürgertugenden (im Rückgriff auf ursprüngliche Sinngebung, z. B. auch der Grundrechte), allerdings in steter Angst doch wieder in verfestigte Formen (Stereotype) zu geraten (semantische Neubesetzungen).

6. Persönliches Engagement . Politik der ersten Person“ (Spontis, ihr Grundverständnis und ihre Spruchwelt).

7. Trotzige Versuche, eine alternative Lebens-und Arbeitswelt (network) aufzubauen, wenn es oft auch wie romantische Flucht aussieht (Landkommunen) und ihnen die Abhängigkeit von der „Knete“ peinlich wird.

8. Beschränkung auf überschaubare, kleine Projekte.

Es sind also (nicht nur) Narrenhände, die die Wände beschmieren. Es sind Anhänger einer Kontrakultur, die auf einen mehr oder minder aktiven Sympathisantenkreis vertrauen. Für die Gegenwelt haben sie nicht einmal einen Sammelnamen gefunden (sieht man von der Bullen- und Schweinemetapher (amerikanisch: pigs vom „Papiertiger" und den „Greisen* ab, die übrigens bei Thomas Mann vorgeprägt worden sind — aus „Unordnung und frühes Leid. *, 1926!). Sie schließen sich in sich eng aneinander, ignorieren quasi die Bürgerwelt und differenzieren — in einem eigenen „Scene-Jargon" (vgl. Anm. 11) einander liebevoll bis grimmig — Typ, Freak. Fan, Macker, Softi, Chaot, Maso, Muffkaiser, Schote, Knacker, Schleimi, Spasti, Tussi__ Die Vorstellung, daß vieles noch nicht ausprobiert wurde, daß manche Entwicklungen um Gottes willen nicht weitergetrieben werden dürfen (Umweltbelastung) und daß allerlei „machbar" ist, beflügelt Phantasie wie Aktivität der Kontrakultur. Allerdings sucht man sich die Experimentierfelder selbst aus (— und überläßt die Routine und die undankbaren dem „System"). Diese Taktik wird nicht Einseitigkeit wahrgenommen: Es würde als keinem Demonstranten oder Sprüher einfallen, einen Spruch wie Russki idi damoi (gar in Buchstaben) zu schreiben, kyrillischen eben weil er's nicht will er sich auch wie — kaum selbst durch Reisen, Lagerleben oder Sprachaufenthalte ein realistisches Bild vom sogenannten Ostblock, besonders nicht von der Sowjetunion, verschafft weil’s sowieso und keiner verstünde (!) (entsprechende englische, türkische, spanische „Übersetzungen" sind durchaus geläufig). An diesem Thema ist heute schon abzusehen, welche historischen Versäumnisse ihre Kinder ihnen einmal vorwerfen werden.

Abgemildert wird dieser Trend zur einseitigen, gruppenbezogenen Auswahl allerdings dadurch, daß die Vielzahl kleiner Gruppen eine Vielzahl von Themen, Aktionen und Lebensbereichen abdeckt — nur eben nicht systematisch, wohl aber einander ergänzend. Hatte H. Becker für die Erziehung im technischen Zeitalter die drei Leitbegriffe geprägt: Zuverlässigkeit — Mobilität — Weltverständnis, so kann die gegenwärtige junge Generation mit dieser Zielsetzung wenig anfangen. Selbst der Toleranzbegriff scheint ihr nicht von hohem Rang zu sein

Die Ablehnung der Sekundärwerte (und die Kritik an republikanischen oder humanistischen Primärwerten) schafft noch keine neue Werteordnung. Falls man positiv schon neue, erneuerte Primärwerte nennen soll, so vielleicht den der Emanzipation, vor allem aber den der Solidarität. wird nicht klassenge Er -bunden verstanden, sondern weltweit ausgedehnt. Er erzeugt respektable Leistungen einer angeblich sprachlosen und „schlaffen" Generation, trägt allerdings den Kern ideologischer Spaltung schon in sich, wenn entschieden werden muß, welcher Region — und damit welchem System — man solidarisch helfen will. Ein drittes läßt kaum benennen, Ziel sich eher umschreiben: Engagement im überschaubaren, Eigenbestimmung, praxisorientierte, tatkräftige Aktion, selbst wenn dadurch an der Gesamtsituation wenig geändert werden kann. Wichtig erscheint dabei das Motiv, vor sich glaubhaft eine Identität zu erzeugen.

Sponti — Kommentar:

Wissen ist Macht!

Wir wissen nichts.

Macht nichts! (U-Bahn-Baustelle, Frankfurt Hauptwache), oder: Take it easy — but take it!

logo? LOGO!

Fussnoten

Fußnoten

  1. Momos Einladung zu einer wichtigen Versammlung, „die die Welt verändern sollte". Vgl. M. Ende, Momo, Stuttgart 1973, S 110.

  2. „Denkwürdige und lebenskräftige Worte wechseln mit leichter Tagesflitterware, die plötzlich aufgewirbelt und oft rasch wieder verweht wird, geschichtlich Bedeutsames mit dem Allermodernsten. Und doch möchte ich diese mannigfaltigen Zeugnisse unter dem einen gemeinsamen Nenner einfangen: Schlagworte. Darunter sollen im folgenden solche Ausdrücke und Wendungen verstanden werden, denen sowohl eine prägnante Form wie auch ein gesteigerter Gefühlswert eigentümlich ist ...“ Vgl. O. Ladendorf, Historisches Schlagwörter-buch (1906), Nachdruck, Hildesheim 1968.

  3. M. Siemons, Signale der Sippe: Ich kam, sah und sprühte, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14. 8. 1982.

  4. T. Capelle, Rettet dem Dativ! (Hörsaalbänke), Münster 1972; W. Krolow/P. -P. Zahl, Instandbesetzer-Bilderbuch, Berlin (West) 1981; H. Schmitz/D. Michel, Spray-Athen, Berlin (West) 1982; I. Blaschzok. Ächt Ätzend!, Münster 1983; C. P. Müller-Thurau, Laß uns mal 'ne Schnecke angraben, Düsseldorf—Wien 1983; Jugendwerk der Deutschen Shell (Hrsg.), Jugend '81, Hamburg 1981 (besonders über Aufkleber, Ansteckabzeichen, Auftreten ganz allgemein).

  5. T. Capelle, a. a. O. (Anm. 4), S. 9.

  6. Vgl. M. Siemons, a. a. O. (Anm. 3).

  7. B. Scherer/U. P. Schewietzek/H. Schmid (Hrsg.), Ein guter Spruch zur rechten Zeit, Gießen 1981.

  8. D. Michel, a. a. O. (Anm. 4). S. 8.

  9. G. Klaus, Sprache der Politik, Berlin (Ost) 1971, S. 108.

  10. Ders„ Die Macht des Wortes, Berlin (Ost) 19726, S. 155.

  11. In einem „Wörterbuch“ der Szene (M. Rittendorf u. a„ angesagt: scene-deutsch, Frankfurt 1983) wird z. B. erläutert: Sympi, Anhänger einer militanten Politik - Demo, ostentatives öffentliches Zurschaustellen von politischer Meinung, Manifestation kollektiver Empörung und/oder Freude. Aktion, Tal, Akt demonstrativen Charakters. Action, Handlung, Turbulenz Remmidemmi; - Aktion Action! Propaganda der Tat Scene (sprich: ßiehn) kleine Gemeinde in (fast) jeder großen Gemeinde. Entwertet die herkömmliche Diasporasoziologie, da keiner ihrer Mitglieder sich zu ihr definiert. In der Mitte statisch, vermufft, klatschsüchtig, zu den Rändern hin lebendig, kreativ.

  12. W. Dieckmann, Sprache in der Politik, in: M. Greiffenhagen (Hrsg.), Kampf um Wörter? Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 163, Bonn 1980. S. 47.

  13. G. Klaus, a. a. O. (Anm. 9), S. 66.

  14. R. Roche, Demosprüche und Wandgesprühtes, in: Muttersprache, 93 (1983) 3— 4, S. 181 ft.

  15. Vgl. dazu: Der Spiegel vom 29. 8. 1983, S. 34ff.

  16. P. -P. Zahl, a. a. O. (Anm. 4), 11. Absatz — ohne Seitenzahl.

  17. Vgl. G. Klaus, a. a. O. (Anm. 9), S. 169ff.

  18. Vgl.ders„ a. a. O. (Anm. 9), S. 153.

  19. Vgl. R. Roche, a. a. O. (Anm. 14), S. 189f.

  20. Vgl. B. Scherer/P. Schewietzek/H. Schmid (Hrsg.), a. a. O. (Anm. 7).

  21. J. Blaschzok, a. a. O. (Anm. 4), und: W. Hau u. a., Sponti-Sprüche 1- 3, Frankfurt 1981/1983, vgl. T Capelle, a. a. O. (Anm. 4).

  22. W. Behrendt u. a., Zur Sprache der Spontis, in: Muttersprache, 92 (1982) 3- 4, S. 146 ff.

  23. Vgl. z. B. L. Wittgenstein, über Gewißheit, Frankfurt 1970, S. 177 (Register).

  24. J. Bopp, Trauer-Power, in: Kursbuch, (1981) 65, S. 156f.

  25. Ebd., S. 157.

  26. R. Bülow, Stell dir vor, es gibt einen Spruch... in: Der Sprachdienst — Gesellschaft für deutsche Sprache, 27 (1983) 7— 8. S. 97ff„ und R. Roche, Stell dir vor... in: Der Sprachdienst, 27 (1983) 9— 10, S. 158ff.

  27. The little girl saw her first troop parade and asked, „What are those?" . Soldiers". „What are soldiers?" . They are for war. They fight and each tries to kill as many of the other side as he can.“ The girl held still and studied. „Do you know ... I know something?" „Yes, what is it you know?“ . Sometime theylleive a war and nobody will come.“ C. Sand-burg, The People, Kap. 23.

  28. C. Amery, Die Kapitulation oder Deutscher Katholizismus heute, Reinbek 1963, S. 20ff.

  29. Vgl. G. Klaus, a. a. O. (Anm. 9), S. 108.

  30. Vgl. C. -P. Müller-Thurau, a. a. O. (Anm. 4), S. 61 ff.

  31. Aus der Fülle der Selbsterzeugnisse sei hier nur verwiesen auf: H. Hübsch, Alternative Öffentlichkeit. Frankfurt 1980; K. Weichler, Gegendruck. Reinbek 1983.

  32. Vgl. Der Spiegel vom 26. 9. 1983, S. 35ff.

  33. Russki geh heiml/Iwan verpiß dich! analog etwa zu: Ami go home! — YANKS CO WEST!

  34. Vgl. Hübsch, a. a. O. (Anm. 31), S. 37.

Weitere Inhalte

Reinhard Roche, geb. 1928; Germanist, tätig im Gymnasialdienst (Michelstadt/Odw.) und der Referendarausbildung (Darmstadt). Veröffentlichungen: zahlreiche Veröffentlichungen in Fachzeitschriften über Prager Deutsch, semantisch-pragmatische Problemsituationen der Gegenwartssprache, DDR-Literatur, didaktisch-methodische Fragen des Unterrichts.