I. Wachstum und Wachstumsdebatte — ein kurzer Rückblick
„Vordringliches Ziel der Bundesregierung ist die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und die Rückkehr zu einem dynamischen, sich selbst tragenden Wirtschaftswachstum.“ Wachstum als selbständiges und selbstverständliches Ziel der Wirtschaftspolitik kennzeichnet heute die Absichten der führenden Wirtschaftspolitiker und die Hoffnungen der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung, nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland. Historisch betrachtet war dies nicht immer so, vielmehr lassen sich im Verhältnis zwischen Wachstum und Wachstumsdiskussion schon in der kurzen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland drei Phasen unterscheiden:
1. Bis etwa 1972 etablierte sich Wachstumspolitik bei wachsender Wirtschaft. Schon im Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesminister für Wirtschaft über „Instrumente der Konjunkturpolitik ..." (vom 3. 6. 1956) war, dem postkeynesianischen Denkansatz folgend, Wachstum als eigenständiges Ziel makroökonomischer Politik genannt worden 2). Über das Sachverständigen-rats-Gesetz von 1963 3) bis zum Stabilitätsgesetz von 1967 4) hat es sich dann einen unangefochtenen Platz, auch in der politischen Rhetorik, gesichert. Seine Akzeptanz nahm um so selbstverständlicher zu, je deutlicher die mittelfristigen Wachstumsraten der Wirt-schäft zurückgingen 5). Zweifel betrafen in dieser Phase und besonders seit der Rezession von 1966/67 nicht den positiven Wert w 6. 1956) war, dem postkeynesianischen Denkansatz folgend, Wachstum als eigenständiges Ziel makroökonomischer Politik genannt worden 2). Über das Sachverständigen-rats-Gesetz von 1963 3) bis zum Stabilitätsgesetz von 1967 hat es sich dann einen 1956) war, dem postkeynesianischen Denkansatz folgend, Wachstum als eigenständiges Ziel makroökonomischer Politik genannt worden 2). Über das Sachverständigen-rats-Gesetz von 1963 3) bis zum Stabilitätsgesetz von 1967 4) hat es sich dann einen unangefochtenen Platz, auch in der politischen Rhetorik, gesichert. Seine Akzeptanz nahm um so selbstverständlicher zu, je deutlicher die mittelfristigen Wachstumsraten der Wirt-schäft zurückgingen 5). Zweifel betrafen in dieser Phase und besonders seit der Rezession von 1966/67 nicht den positiven Wert wirtschaftlichen Wachstums, sondern die Leistungsfähigkeit der Marktwirtschaft, aus sich heraus Wachstum sicherzustellen. Daher wurden die staatlichen Akteure dazu verpflichtet, für ein „stetiges und angemessenes Wirtschaftswachstum" zu sorgen (Stabilitätsgesetz, § 1). Infrastrukturpolitik im allgemeinen, Forschungs-und Bildungspolitik im besonderen galten als die erfolgversprechendsten Ansatzpunkte staatlicher Wachstumspolitik.
2. Die Wachstumsdiskussion der zweiten Phase, von 1972 bis 1980, ist durch zwei Tendenzen gekennzeichnet: eine intensive und kritische Zieldiskussion, gerade auch unter Wissenschaftlern, und eine Erweiterung der Strategiediskussion.
Markantester Auslöser der Zieldiskussion war der erste Bericht an den Club of Rome, „Die Grenzen des Wachstums" 6), in dem die Ergebnisse von langfristigen Simulationsrechnungen auf der Basis eines Weltmodells vorgelegt wurden. Der Ressourcenverzehr, die Umweltzerstörung und die Bevölkerungsvermehrung wurden ins Zentrum einer empirisch fundierten Wachstumskritik gestellt.
Nach über zwanzig Jahren weltweit einhelliger Wachstumsfreude wurde hier erstmals durch die integrative Abbildung sonst nur isoliert vorgetragener Argumente versucht, die Unmöglichkeit bzw. Gefährlichkeit und daher moralische Fragwürdigkeit fortdauernden industriellen Wachstums zu begründen. Im Anschluß daran wurden auch in der Bundesrepublik Forderungen nach „qualitativem" statt „quantitativem" Wachstum, nach mehr Le-bensqualität statt mehr Sozialprodukt entwikkelt
Unter denen, die unbeschadet solcher Verunsicherung weiter für Wachstum plädierten — und diese befanden sich stets quantitativ in der Mehrheit und ökonomisch, politisch und wissenschaftlich auf den wichtigeren Positionen —, fand zu gleicher Zeit eine Strategie-diskussion statt, in der der neoklassische Denkansatz, verglichen mit dem postkeynesianischen, an Bedeutung gewann. Seit Mitte der siebziger Jahre wurde die Leistungsfähigkeit des Staates zunehmend bezweifelt, die Ziele des Stabilitätsgesetzes durch eine diskretionäre, nachfragesteuernde Stabilisierungspolitik sichern zu können. Hatte im Stabilitätsgesetz die Diagnose makroökonomischen „Marktversagens" zur Definition neuer politischer Aufgaben durch den Gesetzgeber geführt, so wurde nun analog ein „Politikversagen" diagnostiziert: Nicht zu wenig, sondern zu viel Politik wurde als Problem erkannt und im Abbau der Staatsquote, im Abbau des Wohlfahrtsstaates, im Abbau von politisch geschaffenen Investitionshemmnissen der angemessene Lösungsweg zur Revitalisierung von Markt und privater Investitionstätigkeit gesehen. Von dieser Kritik an der vorherrschenden Globalsteuerung war die Wachstumspolitik allerdings noch weitgehend unberührt, wohl auch, weil die Wachstumsraten gegen Ende des Jahrzehnts noch einmal stiegen 3. Etwa mit dem Jahre 1980 ist der Beginn einer dritten Phase auszumachen. Der zweite Ölpreisschub, die neue Niveauverschiebung der Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik Deutschland vom Niveau 1 Mio. auf das Niveau 2 Mio. und der gleichzeitige Zusammenbruch der Wachstumsraten vervielfältigten das Krisenbewußtsein. Hand in Hand mit politischen Veränderungen (Regierungswechsel vom 1. Oktober 1982 in Bonn) setzte sich der neoklassische Denkansatz endgültig als politisch maßgeblich durch, während zugleich die wachstumskritische Position zunächst in Landtagen und seit 1983 auch im Bundestag durch „alternative" Parteien ihren parlamentarischen Einzug hielt. Mit der Dauerhaftigkeit der Wachstumsschwäche gewann die Strategiediskussion auch innerhalb der beiden Hauptlinien von „mehr Markt" oder „mehr Staat" eine vorher unbekannte Vielfalt und Intensität. Währenddessen ist aber interessanterweise die Diskussion der Frage, wozu dieses Wachstum dienen soll, wieder stärker in den Hintergrund getreten, sicher auch wegen der Dominanz der Arbeitslosigkeit in der politischen Zielskala und der großen Einmütigkeit, mit der Wachstum als Voraussetzung zu ihrer Bekämpfung angesehen wird. Gerade in Anbetracht der Möglichkeit einer Verbesserung der Wirtschaftslage, für die es erste Anzeichen gibt, lautet daher die Frage: „Brauchen wir Wachstum?"
II. Wachstumsdefinitionen
Die gegenwärtige Wachstumsdebatte zeichnet sich durch begriffliche Unschärfe aus, wodurch der Inhalt vieler Aussagen unklar bleibt und Positionen als widersprüchlich erscheinen, die es nicht sind, und umgekehrt. Daher erscheinen zunächst einige definitorisehe Vorbemerkungen nötig.
Wachstum ist ein relationaler Begriff. Dieser bezieht sich stets auf die Veränderung quantifizierbarer Phänomene in der Zeit, und zwar unabhängig davon, wie diese Phänomene inhaltlich definiert und operationalisiert werden. Insofern ist der Wachstumsbegriff „abstrakt". Die Gegenüberstellung von „quantita-tivem" und „qualitativem" Wachstum ist sprachlich irreführend. Entweder verzichtet man auf Indikatoren und deren Messung, dann kann man kein Wachstum identifizieren, oder man verwendet Indikatoren der „Wachstumsqualität" (z. B. umweltschonendes, energiesparendes, arbeitsplatzsicherndes oder -humanisierendes Wachstum), dann müssen auch diese quantitativ ermittelt wer-den, und sei es nur als mindestens konstant bleibende Restriktionen
Wachstum wird gemessen mit Hilfe von absoluten Zuwächsen des jeweiligen Phänomens in einem definierten Zeitraum (z. B. Zuwachs des Bruttosozialprodukts [BSP] im Jahre 1983: BSP 1983 minus BSP 1982) oder — in der Regel — mit Hilfe von Wachstumsraten, die solche absoluten Zuwächse auf das Ausgangs-niveau beziehen (BSP 1983 minus BSP 1982): (BSP 1982). Konstante Wachstumsraten bedeuten steigende absolute Zuwächse, konstante Zuwächse sinkende Wachstumsraten; dies muß gerade beim langfristigen Vergleich oder der langfristigen Fixierung von individuellen oder gesellschaftlichen Wachstumszielen beachtet werden.
In der gesamtwirtschaftlichen Zieldiskussion wird die zentrale Frage: „Wachstum — wovon?" üblicherweise mit Wachstum des Bruttosozialprodukts beantwortet. Die Aussagekraft dieser nützlichen Rechengröße aus der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, insbesondere für Zwecke der Wohlfahrtsermittlung, darf aber nicht überschätzt werden. Ohne die bibliothekenfüllende Literatur zur Frage der (fehlenden) Eignung des Bruttosozialprodukts als Wohlfahrtsmaß hier referieren zu können sei aber kurz auf die wichtigsten Überlegungen hingewiesen:
1. Das Bruttosozialprodukt umfaßt auch die Ersatzinvestitionen zur Erhaltung des Kapitalstocks, die bei einer langfristigen Betrachtung als weitgehend indisponibel von der Wohlfahrtsmessung auszuschließen sind. Daher ist das Nettosozialprodukt/Volkseinkommen, bei dem diese vom Bruttosozialprodukt abgezogen werden, geeigneter
2. Dauerhafte Inflationsprozesse verzerren die nominalen Größen. Bei Wohlfahrtserwägun-gen muß von preisbereinigten, realen Größen ausgegangen werden.
3. Eine Selbstverständlichkeit ist schließlich die Unterscheidung zwischen dem Volkseinkommen und dem Volkseinkommen pro Kopf, kurz: Prokopfeinkommen (PKE). Wenn die Bevölkerung nicht konstant bleibt, laufen die Zeitreihen beider Größen nicht parallel. Bei Änderungen in den gesamtwirtschaftlichen Erwerbsquoten kann schließlich vom Prokopfeinkommen (als Wohlstandsmaß) noch das Einkommen pro Erwerbstätigen (als Produktivitätsmaß) unterschieden werden. Diese drei Argumente führen zu einer Unterscheidung zwischen nominalen BSP-Wachstum und realem PKE-Wachstum, deren Bedeutsamkeit unstrittig ist während die folgenden Überlegungen in der wissenschaftlichen Einschätzung kontrovers beurteilt werden:
4. Bruttosozialprodukt und Volkseinkommen messen „zu wenig". Sie erfassen nur den Wert der in einem Jahr erzeugten und am Markt getauschten Güter und Dienste einer Volkswirtschaft. Viele Güter werden aber nicht auf Märkten getauscht.
5. Bruttosozialprodukt und Volkseinkommen erfassen gleichzeitig „zu viel". Die Bewertung der Güter und Dienste mit Marktpreisen ist fragwürdig, weil sie externe Effekte, vor allem soziale Kosten, nicht widerspiegelt (z. B. Alkohol) Ein wachsender Anteil des Bruttosozialprodukts kompensiert nur bestimmte Schäden. Der Anteil solcher kompensatorischen Komponenten wird im Bruttosozialprodukt der Bundesrepublik Deutschland auf ca. 20 % geschätztI
6. Wer Wertmaßstäbe außerhalb der Marktpreise akzeptiert, wird feststellen, daß der Nettonutzen vieler Güter geringer ist als ihr Marktpreis. Die Meinung, daß nicht nur echte Schäden, sondern auch „Zivilisationsplunder" das Bruttosozialprodukt aufblähen, beinhaltet nicht die Behauptung, man könne ein Verfahren angeben, um diesen im Einzelfall vollständig und wertmäßig zu identifizieren, und sie beinhaltet erst recht nicht die Forderung, daß die wohlfahrts-unangemessene Bewertung des Gutes durch den Markt die Abschaffung der Marktbewertung insgesamt nahelegte.
7. Zwei abschließende Einschränkungen sind besonders hervorzuheben: Produktion erzeugt auch Arbeitsleid und kostet auch (Arbeits-) Zeit. Arbeitsfreude und Freizeit sind superiore Güter; mit wachsendem Wohlstand will der Mensch prozentual mehr davon haben. Ein guter Wohlfahrtsmaßstab müßte neben den produzierten Gütern die Proportionen Arbeitszeit/Freizeit und Arbeitsleid/Arbeitsfreude miterfassen.
Eine wohlfahrtsorientierte Betrachtung muß also vom realen Prokopfeinkommen als Hauptelement ausgehen. Sie muß aber zur Ermittlung der „Wohlfahrt" nicht-monetäre Nutzenströme (z. B. aus Natur) einbeziehen, eventuell bestimmte Bruttosozialprodukt-Komponenten ausschließen, auf jeden Fall aber Arbeitszeit und Arbeitsleid berücksichtigen Außerdem muß sie der Frage nachgehen, ob die These stimmt, daß mit wachsendem Konsum Lebensstandard (Prokopfeinkommen) und Lebensqualität (Wohlfahrt) auseinander-driften bzw.der Grenzertrag des Sozialproduktwachstums sinkt Als überindividuelle Betrachtung muß sie schließlich Fragen der Verteilung dieses Indikators auf Regionen, soziale Gruppen, schließlich weltweit auf Staaten thematisieren.
III. Umriß der heutigen Wachstumskontroverse
Zunächst gilt es zu fragen, inwieweit Indikatoren von Wachstum Zielcharakter besitzen. Dabei sollen die Überlegungen anhand der Argumente entwickelt werden, die in der bisherigen Debatte in der Bundesrepublik tatsächlich eine erhebliche Rolle gespielt haben. Ausgegangen wird von zwei Argumentationsmustern, die die Kernaussagen der beiden „Lager" gut repräsentieren.
Die Argumente der Wachstumsbefürworter unter den Bedingungen der Bundesrepublik Deutschland des Jahres 1980 hat O. Schlecht zusammengestellt (vgl. Übersicht 1). In verschiedenen Variationen und Gewichtungen findet sich diese Liste in allen Stellungnahmen der offiziellen Wirtschaftspolitik.
Übersicht 1:
Argumente der Wachstumsbefürworter*)
1. Wirtschaftswachstum sichert einen hohen Beschäftigungsstand.
2. Wirtschaftswachstum erleichtert den Strukturwandel.
3. Wirtschaftswachstum dämpft die nationalen und internationalen Verteilungskonflikte. 4. Wirtschaftswachstum ermöglicht mehr Umweltschutz ohne Arbeitsplatzrisiko.
5. Wirtschaftswachstum schafft günstige Voraussetzungen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen und für ressourcensparende Investitionen.
6. Wirtschaftswachstum dient der Erhaltung des sozialen Sicherungssystems.
7. Wirtschaftswachstum ist Ausdruck individueller Präferenzen.
*) Quelle: O. Schlecht, Wirtschaftswachstum wozu, wie, womit?, Tübingen 1980.
Zu anderen Zeiten (etwa bis 1975), als Inflation noch ein zentraleres Thema war, wurde Wachstum übrigens auch als Instrument der Inflationsbekämpfung propagiert. Schließlich ist jenseits dieser ökonomischen Vorzüge wiederholt postuliert worden, daß Wachstum positive Beiträge zur Stabilität der Wirtschafts-und Gesellschaftsordnung, zur Sicherung der Freiheit, zur personalen Selbstverwirklichung etc. leistet Die lange Liste dieser positiven Beiträge des Wachstums zur Erreichung wirtschafts-und gesellschaftspoliti-scher Ziele wurde denn auch in die markante Formel verkürzt: „Whatever the goals affluence helps" (Nelson)
Wenn in dieser Form nur die positiven Seiten des Wachstums herausgestellt werden, dann folgt daraus trotz gegenteiliger Versicherung („Niemals ging und geht es den Wirtschaftspolitikern schlichtweg um die Maximierung der Produktion" daß maximales Wirtschaftswachstum offenbar das beste Wirtschaftswachstum ist und daß Wachstumspolitik stets eine Politik der Steigerung der Wachstumsrate sein müsse: „Von mir aus gesehen kann es (das Wachstum, d. Verf.) gar nicht hoch genug sein", sagte beispielsweise Bundeskanzler Kohl am 3. Februar 1983 vor dem DIHT In dieser Unbegrenztheit nach oben liegt im übrigen ein wesentlicher formaler Unterschied zu den Zielen der Stabilitätspolitik (Vollbeschäftigung, Preisstabilität, Zahlungsbilanzausgleich), die als Annäherung eines Indikators nach Null operationalisiert werden können.
Die Forderung nach maximalem Wachstum wird heute allerdings nirgendwo mehr als selbstverständlich akzeptiert. Zu lang ist die Liste von Büchern wie „Die Kosten des Wirtschaftswachstums" oder „Wachstum kostet immer mehr" die negative Nebenwirkungen des industrieorientierten Wachstumsprozesses vor allem auf die Umwelt und den Ressourcenverzehr, aber auch im gesellschaftlichen Bereich aufzählen. In einem systematischen Artikel wurden diese Kritikpunkte 1981, d. h. etwa am Ende der ersten Diskussionsrunde, von Chr. Leipert in zehn Punkten zusammengefaßt (vgl. Übersicht 2) Übersicht 2:
Argumente der Wachstumskritiker’) 1. Umwelt-, energie-und rohstoffbezogene Grenzen des Wirtschaftswachstums.
2. Implikationen der Armut in der Dritten Welt für die Industrieländer in einer endlichen Welt.
3. Verabsolutierung des Prinzips der ökonomischen Rationalität.
4. Soziale und ökologische Grenzen der Konsumgesellschaft.
5. Fortgesetztes Wirtschaftswachstum bringt keine Lösung des Verteilungsproblems.
6. Ökonomisierung der Gesamtgesellschaft.
7. Wirtschaftswachstum, Technologie, Arbeitsteilung und Arbeitszufriedenheit.
8. Zunehmende Abhängigkeit des einzelnen von Markt-und Staatsinstitutionen.
9. Abnehmende Beschäftigungseffekte des Wirtschaftswachstums.
10. Wertwandel von materialistischen zu postmaterialistischen Zielen.
Quelle: Chr. Leipert, Theoretische und wirtschaftspolitische Konsequenzen aus der Kritik an der Wachstumsgesellschaft, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 25/81 vom 20. 6. 1981, S. 31— 52.
Vergleicht man die beiden Referenztexte und die Listen der Argumente, so kommt man zu folgenden Feststellungen: 1. In beiden Texten wird der Definition des Wachstums keine Aufmerksamkeit gewidmet, sondern meist undifferenziert von (Wirtschafts-) Wachstum gesprochen.
2. In beiden Texten wird Wachstum nicht als Selbstzweck aufgefaßt, sondern an seinen Effekten bewertet. Auch die Wachstumsbefürworter betonen seine Instrumentalfunktion: „Wachstum des Sozialprodukts (war) eigentlich immer nur ein Instrument zur Erreichung weitergehender Ziele"
3. Beide „Lager" beziehen sich weitgehend auf denselben „Satz" an übergeordneten ökonomischen Zielen, mit deren Hilfe Wachstum zu evaluieren ist. Während allerdings die eine Seite überall positive Beiträge des Wachstums zur Zielerreichung sieht, postuliert die Gegenseite entweder keine, geringe, abnehmende oder gar negative Effekte. Die Wachstumsbewertung ist daher auch in einem geringeren Maße, als es zunächst scheint, eine normative Frage, bei der es um die Auswahl, Operationalisierung und Gewichtung von Zielen ginge. Sie ist vielmehr auf weiten Strecken eine empirische Frage nach den Bei-trägen des Wachstums zu einem einheitlich akzeptierten Zielbündel.
4. Die These vom identischen Zielbündel muß jedoch relativiert werden. Die geäußerten Orientierungspunkte der Wachstumsgegner transzendieren die Grenzen einer eng ökonomischen Betrachtung. Häufiger und mit größerer Intensität wird hier auf die Wechselbeziehungen zwischen ökonomischen und sozialen Faktoren hingewiesen, werden insbesondere die sozialen Folgen ökonomischer Prozesse herausgearbeitet.
5. Eine ähnliche Überlegung läßt sich hinsichtlich des Verhältnisses von ökonomischem und natürlichem System feststellen, dessen „Verbrauch" (depletion) und „Verschmutzung" (pollution) durch die ökonomischen Prozesse zentrales Thema der Wachstumskritiker ist Diese berücksichtigen in stärkerem Maß eigenständige ökologische Ziele neben den ökonomischen.
6. Schließlich sind die Überlegungen der Wachstumskritiker eher langfristig und global, die der Wachstumsbefürworter eher kurz-bis mittelfristig und national orientiert.
IV. Wachstum und Wirtschaftssystem
In der marxistischen oder von Marx angeregten Interpretation der kapitalistischen Wirtschaftsweise spielt das Wirtschaftswachstum eine zentrale Rolle als Voraussetzung für deren Fortbestand Dabei sind die Positionen keineswegs einheitlich, doch nur selten wird der Versuch unternommen, den „Wachstumszwang" kapitalistischer Systeme realökonomisch zu analysieren Auf der Grenze zwischen definitorischer Setzung und solcher Analyse wäre etwa die folgende Aussage von Habermas einzuordnen: „Kapitalistische Gesellschaften können Imperativen der Wachstumsbegrenzung ohne Preisgabe ihres Organisationsprinzips nicht folgen, weil die Umstellung vom naturwüchsigen kapitalistischen Wachstum auf qualitatives Wachstum eine gebrauchswertorientierte Planung der Produktion verlangt" Offenbar kommt es bei der Einschätzung des Empiriegehalts solcher Aussagen ganz entscheidend darauf an, ob man die heutigen Prozesse z. B. in der Bundesrepublik als „naturwüchsiges kapitalistisches Wachstum" oder als — wenn auch unterentwickeltes — „qualitatives Wachstum" ansieht und wann — d. h. bei welchem Ausmaß staatlicher Intervention oder gesellschaftlichen Wertwandels — das „Organisationsprinzip" des Kapitalismus verlassen ist.
Interessanterweise scheint die Grundfigur dieser Argumentation von Vertretern der Unternehmerschaft in der Bundesrepublik geteilt zu werden; etwa wenn über bestimmte „Wachstumsgegner" geschrieben wird: „Sie wissen, daß die freiheitliche — von ihnen kapitalistisch genannte — Wirtschaftsordnung sich nur solange halten kann, wie sie Wachstum hervorbringt. Vergleichbar einem Zweirad, das umfällt, bevor es zum Stehen kommt." Allerdings fehlt aber für diese „Zweirad-These" — Systemzusammenbruch bei Stillstand — bisher eine überzeugende ökonomische Beweisführung. Da sie außerdem für einzelne Volkswirtschaften und Zeitabschnitte empirisch eindeutig widerlegt werden kann, müßte konkretisiert werden, nach wie vielen Jahren ohne Wachstum der Zusammenbruch erfolgt. Bis dahin hat die Gegenthese mindestens ebensoviel Geltungswahrscheinlichkeit: „Nullwachstum der Gesamtwirtschaft heißt aber nicht, daß damit auch eine Außerkraftsetzung des Wettbewerbsprinzips (und der Möglichkeit zur Gewinnerzielung; d. Verf.) einhergeht, im Gegenteil."
Die Motive hinter der Zweirad-These erscheinen klar: Weil das Wirtschaftswachstum in der Vergangenheit faktisch die soziale Akzeptanz für die Wirtschafts-und Gesellschaftsordnung erhöht hat, soll die Wirtschaft weiter wachsen, um diese Akzeptanz auch in Zukunft sicherzustellen In den Köpfen der Akteure soll Wachstum als eine Systemvoraussetzung statt als verzichtbares Systemergebnis festgeschrieben werden. Der Marktwirtschaft wird damit eventuell ein schlechter Dienst erwiesen, denn es wird übersehen, daß die Kumulation ungesteuerter negativer Nebeneffekte heute zu einer der wichtigsten Quellen für die Ablehnung des industriellen Wachstums geworden ist. Wird Wachstum aber als Systemnotwendigkeit der Marktwirtschaft postuliert, werden Vorwürfe und Aversionen ohne hinreichenden Grund gegen das existierende Wirtschaftssystem als solches gelenkt.
These 1: Bisher fehlt ein schlüssiger Nachweis für den Systemzusammenbruch bei fehlendem Wachstum, und zwar für alle drei Wachstumsindikatoren.
V. Wachstum und Prokopfeinkommen („Wohlstand")
Im Unterschied zu vielen Staaten — besonders der Dritten Welt — haben wir gegenwärtig in der Bundesrepublik Deutschland ein hohes Prokopfeinkommen und kein Bevölkerungswachstum. Das bedeutet: Weder benötigen wir ein Wachstum des Volkseinkommens, um das Prokopfeinkommen konstant zu halten, noch benötigen wir heute ein Wachstum des Prokopfeinkommens, um Menschen die Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse zu ermöglichen und sie über die Armutsschwelle zu heben. Natürlich gilt dies nicht für jeden einzelnen Haushalt bzw. Staatsbürger und nicht für alle Gruppen der Gesellschaft in gleicher Weise. Damit aber wird ein Verteilungsproblem und kein Wachstumsproblem angesprochen. Nur wenn wir alle Verteilungsrelationen als gegeben ansähen und gleichzeitig die Forderung aufstellten, daß niemand unter definierte Armutsschwellen sinken dürfe, könnten wir in der Bundesrepublik Deutschland Wachstum mit dem Verweis auf ein zu geringes Niveau der Prokopfeinkommen legitimieren.
Ausgehend von dem Befund, daß das Durchschnittseinkommen in der Bundesrepublik Deutschland zu den höchsten selbst der Induwohl an Volkseinkommen als auch an Individualeinkommen. Der Radfahrer, der nicht mehr in die Pedale tritt, fällt um. Es muß etwas geschehen; eine neue Wirtschaftspolitik muß her ..." striestaaten zählt, soll hier festgehalten werden, daß wir ein „komfortables Wohlstandsniveau (erreicht haben), auf dem öffentlicher und privater Bedarf weitgehend gedeckt sind." Dies bedeutet nicht, daß wir bei der Transformation von Prokopfeinkommen in Wohlfahrt nicht Fortschritte machen könnten und sollten.
Wenn von O. Schlecht trotzdem das individuelle Streben nach Wohlstand als — wenn auch letztes — Argument zugunsten des Wachstums genannt wird, dann nicht wegen einer Besorgnis, die sich auf das Durchschnittseinkommen der unteren Einkommensklassen richtet, sondern weil er die „wachstumsfixierten Lebenspläne der meisten Bürger" für das politisch-administrative Sy-stem als Daten akzeptiert. Ähnlich argumentierte auch die Interfutures-Arbeitsgruppe der OECD: „Das Bemühen um hohes wirtschaftliches Wachstum wird auch im nächsten Vierteljahrhundert als eine der bevorzugten Maßnahmen weiterbestehen, mit denen die Regierungen versuchen werden, die Bedürfnisse der Bevölkerung zu erfüllen." Damit wird allerdings die Blickrichtung verlagert und das Argument konvergiert mit dem angeführten Systemargument (vgl. Abschnitt IV). Faktisches Wachstum würde nötig, weil die Bürger es wünschen und weil ohne diese Wunscherfüllung offenbar die politische und gesellschaftliche Stabilität nicht mehr gewährleistet wäre. Damit befindet man sich übrigens in einem deutlichen Spannungsverhältnis zur meritorischen Begründung von einigen Staatstätigkeiten, deren Legitimation ja gerade darin besteht, daß der Staat seine Politik nicht in jedem Einzelfall an den (kurzfristigen, „egoistischen") Wünschen der Bürger auszurichten hat.
These 2: Die Prokopfeinkommen sind in der Bundesrepublik Deutschland heute so hoch, daß wir deren Wachstum zwar wünschen können, aber nicht unbedingt brauchen. Wir sollten zufrieden sein, wenn wir sie langfristig erhalten können, und versuchen, ihre Verteilung gut zu organisieren sowie ihre Transformation in Wohlfahrt zu verbessern.
VI. Wachstum und Beschäftigung
Das zentrale Problem der Wirtschafts-und Gesellschaftspolitik in der Bundesrepublik ist heute die Arbeitslosigkeit von über 2 Mio. Menschen oder fast 10 % der Erwerbspersonen. Die negativen wirtschaftlichen, sozialen und psychischen Konsequenzen dieser Arbeitslosigkeit sind so gravierend und unstrittig, daß ihre Beseitigung zu Recht im Vordergrund wirtschaftspolitischer Aktivität steht. Daher stellt sich die Frage: Braucht die Volkswirtschaft der Bundesrepublik Deutschland Wachstum, um die Arbeitslosigkeit zu beseitigen? Wenn dieses bejaht wird, dann meist mit folgender Argumentation: Bezieht man das Bruttosozialprodukt (BSP) auf die Zahl der Arbeitskräfte (A), erhält man deren durchschnittlichen Beitrag zur bewerteten Produktion, die sog. (Arbeits-) Produktivität (p) bei gegebener Kapitalausstattung, gegebener Infrastruktur, gegebenem institutionellem Rahmen, gegebenen internationalen Marktbedingungen usw.:
1. p=BSP Formt man diese definitorische Gleichung um in:
2. BSP = p x A und schreibt sie in der Wachstumsratendarstellung: 3. gasp = gp + Sa» dann ist die Wachstumsrate des Bruttosozialprodukts gleich der Summe der Wachstums-rate der Arbeitsproduktivität und der Wachstumsrate der Arbeitskräfte.
Nimmt man an, daß die Produktivität in Zukunft z. B. um 2 Prozentpunkte pro Jahr wächst, dann werden bei konstanter Produktion jährlich 2 % der Arbeitskräfte freigesetzt. Hätten wir eine konstante Nachfrage nach Arbeitsplätzen, müßte das BSP also um diese 2 % wachsen, um Vollbeschäftigung zu erhalten. Weil in der Bundesrepublik heute noch für etwa zehn Jahre demographische Faktoren und Veränderungen der Erwerbsquoten die Nachfrage nach Arbeitsplätzen steigern (für die Altersgruppe 20— 65 (60) um fast 200000 pro Jahr zwischen 1980 und 1990) muß das BSP schneller wachsen. Weil zusätzlich die vorhandene Zahl der Arbeitslosen und eventuell ein Teil der „Stillen Reserve" abgebaut werden müssen, muß das BSP noch schneller wachsen. Der Zusammenhang zwischen Vollbeschäftigung und Wirtschaftswachstum stellt sich also heute so dar, daß aus dem Vollbeschäftigungsziel die notwendige Wachstumsrate abgeleitet wird, und diese notwendige Rate wächst mit der Höhe der vorhandenen Arbeitslosigkeit, mit dem überwiegend demographisch bedingten Zuwachs an Arbeitskräften und mit der Produktivitätsentwicklung. Auf dieser Art von Überlegungen basieren die Modellrechnungen beispielsweise des Instituts für Arbeitsmarkt-und Berufsforschung (IAB), die für 1990 vorhersagen, daß wir ca. 4 % Wirtschaftswachstum brauchen, um die Arbeitslosenzahl auch nur konstant zu halten. Für jeden Prozentpunkt weniger wächst sie um etwa 1 Mio.
In diesem Zusammenhang sollte man allerdings folgendes bedenken:
1. Die den Überlegungen zugrundeliegende Gleichung ist eine definitorische Beziehung, die keine Information über Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge in der sozioökonomischen Realität enthält. Auch durch die kühnsten Verwandlungen kann die Gleichung diesen definitorischen Charakter nicht verlieren. Kausales Argumentieren kann durch solche Gleichungen gestützt, aber nicht aus ihnen abgeleitet werden; es benötigt eine gedankliche Basis, die anders zu begründen ist.
Aus dem definitorischen Charakter folgt zugleich eine bestimmte inhaltliche Festlegung der Begriffe, die im Verlauf des Argumentierens nicht verlassen werden darf, hier also z. B. ein bestimmter Begriff der Produktivität, in dem alle produktiven Faktoren, die nicht Arbeitsvolumen sind, einbezogen sind und nicht etwa nur eine bestimmte „Eigenschaft" des Durchschnittsarbeiters.
2. Solche definitorischen Beziehungen kann man aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten und muß dies auch tun, will man raum-zeit-spezifische Prozesse erfassen, erklären oder verändern. Ausschlaggebend ist die Art, wie die Gleichung gelesen wird, also deren Interpretation. Alles kommt darauf an, ob die einzelnen Sachunterstellungen (z. B. die angenommene Entwicklung der Produktivität) zutreffen, und insbesondere, ob die generelle methodische Unterstellung zutrifft, daß die Variablen nicht interdependent sind Das sind sie aber gewiß: Das Arbeitskräfteangebot ist abhängig vom Beschäftigungsgrad und vice versa, die Produktivität ist abhängig vom Beschäftigungsgrad und vice versa. Damit steht im Zentrum der Debatte die Frage, ob solche Interdependenzen zusätzlich einge-fangen werden können oder ohne großen Schaden vernachlässigt werden dürfen. Dies bedingt „Schätzurteile" die nur raum-zeit-spezifisch abgegeben werden können und ex post sicher teilweise anders bewertet werden. Hierzu ein Beispiel: Wenn durch die expansive Bildungsbeteiligung der sechziger und siebziger Jahre nicht ein solcher „Entzugseffekt" auf dem Arbeitsmarkt eingetreten wäre, wie ihn um 1970 der Bundesminister für Wirtschaft kritisierte, dann wäre das heutige Beschäftigungsproblem noch größer bzw. noch mehr Wachstum erforderlich, um Vollbeschäftigung zu sichern.
3. Wegen der raum-zeit-bedingten Zusammenhänge gilt das vom Beschäftigungsziel her abgeleitete Wachstumsziel zunächst nur bis 1990. Danach entlastet die demographische Entwicklung den Arbeitsmarkt wieder. Unsere Arbeitslosigkeit ist heute in hohem Maße durch eine demographische „Welle" bedingt d. h. wir brauchen jetzt dieses Wachstum, um — bei gegebener Produktivität — diese spezielle demographische Welle mit Arbeitsplätzen ausstatten zu können. Die Richtigkeit dieses situativen Arguments sagt aber nur wenig über die prinzipiellen und langfristigen Aspekte des Zusammenhangs zwischen Wachstum und Beschäftigung. Und in der — gezielten? — Vermengung dieser Perspektiven liegt eine wesentliche Quelle der feststellbaren Unfruchtbarkeit vieler Beiträge zur Wachstumsdebatte.
Dies soll an einem Beispiel erläutert werden. In einem Vortrag sagte der Präsident der Deutschen Bundesbank, K. O. Pöhl, am 12. November 1982: „Die vor allem in der Bundesrepublik weit über die Umweltschutzbewegung hinaus beliebt gewordene Vorstellung, wir könnten auch ohne wirtschaftliches Wachstum ganz gut und noch dazu in einer weniger belasteten Umwelt leben, ist zu schlicht, um realistisch zu sein. Das zeigt schon eine einfache Überlegung: In einer stagnierenden oder gar schrumpfenden Wirtschaft käme es schon aus demographischen Gründen zu einer ständigen Zunahme der Arbeitslosigkeit, jedenfalls in der überschaubaren Zukunft in der Bundesrepublik." Der Kern der Aussage lautet: Ohne wirtschaftliches Wachstum kommt es zu einer ständigen Zunahme der Arbeitslosigkeit, daher brauchen wir Wachstum. Doch gerade die räumlich-zeitlichen Einschränkungen „in der überschaubaren Zukunft in der Bundesrepublik" machen deutlich, daß es sich hier um eine bloß situative Gegenargumentation, aber keine grundlegende Auseinandersetzung mit dem Nullwachstum als Forderung handeln kann. Diese Einschränkungen drängen geradezu den Umkehrschluß auf, daß ohne sie der Kern der Aussage nicht mehr gilt. Denn langfristig, jenseits der „überschaubaren Zukunft", werden die Bevölkerung und die Erwerbstätigenzahl in der Bundesrepublik zurückgehen und wird es — ebenfalls aus demographischen Gründen — zu einer Entlastung des Arbeitsmarktes kommen. Ob dann eine stagnierende Wirtschaft (Wachstumsrate des BSP = 0) mit Vollbeschäftigung verträglich sein wird, hängt davon ab, ob die Rate des Bevölkerungs-bzw. Erwerbstätigenrückgangs unter sonst gleichbleibenden Bedingungen größer oder kleiner sein wird als die Rate des Produktivitätsfortschritts Vollbeschäftigung kann also auch bei stagnierender Wirtschaft erreicht werden und wir bzw. unsere Kinder könnten dabei auch „ganz gut... leben", weil diese Stagnation des Bruttosozialprodukts mit wachsendem Prokopfeinkommen einherginge. Was wären Alternativen zu einer Vollbeschäftigungspolitik über Wirtschaftswachstum? Zwei Möglichkeiten werden am intensivsten diskutiert: die Beeinflussung der Produktivität und die Beeinflussung der Arbeitszeit. 1. Beeinflussung der Produktivität Ausgangspunkt kann hier erneut die simple Formel sein, mit der oben ein Zusammenhang zwischen Bruttosozialprodukt, Produktivität und Arbeitskräften hergestellt wurde:
gesp = 8, + Durch eine generelle, „künstliche", z. B. staatlich oder tarifvertraglich induzierte Verlangsamung des Produktivitätswachstums wird — bei gegebenem BSP-Wachstum — der Bedarf an Arbeitskräften erhöht. Darin könnte eine Chance für mehr Beschäftigung gesehen werden. Das Problem dieser Strategie liegt in der unrealistischen Annahme eines gegebenen BSP-Wachstums. Eine solche Strategie, z. B. in Form eines „Verbots" bestimmter technisch-organisatorischer Fortschritte, einer Reduktion direkter und indirekter Subventionierung betrieblicher Forschungs-und Entwicklungsausgaben oder eines Unterlassens produktivitätsrelevanter Infrastrukturinvestition (z. B. in Humankapital), würde bei der internationalen Verflechtung der deutschen Wirtschaft sicher kontraproduktiv wirken und ihr Ziel — Vollbeschäftigung — verfehlen. Denn mit dieser Form der Verlangsamung des Produktivitätswachstums würden auch unsere Chancen auf den Weltmärkten verringert, die Nachfrage reduziert und damit das realisierte Bruttosozialprodukt (im Unterschied zum Produktionspotential). Für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit wäre nichts gewonnen. Sie bliebe eventuell konstant, aber bei gesunkenem Prokopfeinkommen.
Da andererseits aber auch eine demographische Komponente bei der Erklärung der Arbeitslosigkeit akzeptiert werden muß, stellt sich automatisch die Zusatzfrage, ob eine proportionale investive Versorgung der demographischen „Welle" mit Arbeitsplätzen aus öffentlichem und privatem Kapital tatsächlich durchgeführt werden sollte, denn „selbst nach Auslastung der Kapazitäten stünde... für weit über 1 Million Arbeitnehmer derzeit kein Arbeitsplatz zur Verfügung" Würde man diese 1 Mio. Arbeitsplätze errichten, wären voraussichtlich spätere Leerkapazitäten vorprogrammiert. Je nach Höhe der Leerkosten und Dauerhaftigkeit der durchgeführten Investitionen in Arbeitsplätze und in komplementäre Infrastruktur könnte dies weniger optimal sein. Jedenfalls ist bei der Abwägung alternativer Strategien der zukünftige Bevölkerungs-und Erwerbspersonenrückgang ins Kalkül einzubeziehen bzw. sind die Kosten der dadurch entstehenden Leerkapazitäten auf der Minus-Seite zu verbuchen und die Strategie eventuell zugunsten einer investitionsärmeren Übergangslösung umzuformulieren. Obwohl dadurch zwischenzeitlich die rechnerische Produktivität sinkt, kann dies langfristig und gesamtwirtschaftlich doch die bessere Wirtschaftspolitik sein.
Die Antwort in der Produktivitätsfrage ist also ambivalent und ohne Eindeutigkeit. Einerseits ist eine gezielte Verlangsamung des Produktivitätsfortschritts abzulehnen, andererseits ist eine demographisch aufgeklärte Investitionszurückhaltung einzelwirtschaftlich teilweise rational und gesamtwirtschaftlich auch dann akzeptabel, wenn zwischenzeitlich die gemessene Produktivität dadurch zurückgehen sollte.
Im Zusammenhang mit der Produktivitätsfrage ist noch darauf hinzuweisen, daß die Wachstumsbefürworter es sich mit ihrer „Widerlegung" der Wachstumskritiker oft zu leicht machen.
Zwei ausführliche Zitate sollen das belegen:
— „Die Gegner wirtschaftlichen Wachstums verweisen allerdings darauf, daß der . Bedarf an Konsumgütern, teilweise auch an öffentlichen Investitionen und Dienstleistungen, doch offensichtlich mehr oder weniger gesättigt sei. Brauchen wir denn wirklich immer mehr Autos, Kühlschränke, Urlaubsreisen, Schwimmbäder, Autobahnen usw.? Führt das nicht im Gegenteil zu einer Verschandelung unserer Umwelt, zu einer wachsenden Wasser-und Luftverschmutzung und zum Raubbau an den Rohstoffreserven? Ich glaube, daß in dieser scheinbar so einleuchtenden Überlegung ein logischer Fehler steckt. Natürlich wäre es unsinnig, die Wachstumstrends und -Strukturen der Vergangenheit einfach in die Zukunft zu extrapolieren, aber ebenso unsinnig wäre es, auf technischen Fortschritt und damit auch auf Produktivitätsfortschritt zu verzichten. Der Rückfall in die Idylle des einfachen Lebens ist keine Alternative. Es wäre weder realisierbar noch würde er von der Mehrheit der Bevölkerung akzeptiert."
— „Ein Wettbewerb, der zum Leistungsvergleich herausfordert, kann nicht mit Verzicht gewonnen werden. Eine freie Wirtschaft ist charakterisiert durch Wettbewerb, Wandel, Entwicklung und Dynamik, so daß der Ruf nach dem , Null-Wachstum'— im Sinne des Festschreibens bisher erreichter Leistungen — nicht nur ein Wortwiderspruch, sondern auch ein Widerspruch in der Sache selbst ist, denn die gleichen Fähigkeiten, die zum Erhalt eines komplexen Wirtschaftsgefüges dienen, führen auch zu neuen Erkenntnissen, Umstrukturierungen, Erweiterungen. Man könnte das Denken verbieten und Erfindungskraft unter Strafe stellen, aber dann würde diese Gesellschaft von selbst aufhören zu existieren.“
Sogar unter Berufung auf die Logik wird versucht, den „Gegnern wirtschaftlichen Wachstums" einen bewußten Verzicht auf Wandel und (Produktivitäts-) Fortschritt, eventuell gar den „Rückfall in die Idylle des einfachen Lebens" oder „Denkverbote" als Maßnahmen anzuhängen. Diesen Unterstellungen — denn ausführliche Argumente und Belege fehlen — ist entgegenzuhalten, daß Wachstumsverlangsamung oder -begrenzung, ja sogar BSP-Nullwachstum mit Produktivitätsfortschritt, wachsenden Prokopfeinkommen und wachsender Wohlfahrt logisch vereinbar sind. Und ein Schluß aus der Tatsache, daß einige Wachstumskritiker auch gegen bestimmte Formen des technischen Fortschritts sind, auf alle Wachstumskritiker und jeden technischen und organisatorischen Fortschritt ist seinerseits logisch unzulässig. 2. Beeinflussung der Arbeitszeit Das Problem der Arbeitslosigkeit kann auch als ein Verteilungsproblem angesehen werden. Ließen sich Arbeit und Arbeitslosigkeit automatisch auf die Arbeitsinteressenten gleichmäßig verteilen, dann hätte heute in der Bundesrepublik wegen des hohen Prokopfeinkommens selbst bei Nullwachstum jeder sein Auskommen und keiner würde die psychisch-sozialen Zusatzlasten tragen müssen, die Arbeitslosigkeit stets bedeuten muß. Doch ist ein solcher Automatismus der permanenten Anpassung nicht in Sicht. Daher muß die gezielte Arbeitszeitverkürzung in die Überlegungen einbezogen werden. Der Produktivitätszuwachs kann nämlich in zweierlei Art und Weise den Arbeitskräften zugute kommen: als Einkommenssteigerung oder als Reduktion der Arbeitszeit. Dabei sind die verschiedenen Varianten zu bedenken: Reduktion der täglichen, wöchentlichen oder Jahresarbeitszeit bzw. Reduktion der Lebensarbeitszeit durch Verzögerung des Eintritts oder durch Vorziehen des Austritts aus der Arbeitsbevölkerung, also eine Veränderung altersspezifischer Erwerbsquoten. In dem Umfang, in dem die Arbeitszeit der Beschäftigten reduziert wird und neue Arbeitsplätze geschaffen werden (können), kann die vollbeschäftigungsnotwendige Wachstumsrate unter der oben ausgewiesenen Wachstumsrate liegen.
Bei der Beurteilung der Reduktion der Arbeitszeit sind allerdings in erster Linie die folgenden Punkte zu bedenken — Starrheiten im Produktionsapparat, Unteilbarkeiten und Immoblilitäten führen dazu, daß nicht alle Arbeitszeitverkürzungen voll in neue Arbeitsplätze umgesetzt werden (können). — Einerseits darf die (tarifliche oder gesetzliche) Arbeitszeitverkürzung nicht durch eine gleichbleibende faktische Arbeitszeit (z. B. durch Überstunden) unterlaufen werden, andererseits wird ein Teil der Arbeitsplatzeffekte durch induzierte Produktivitätsgewinne aufgezehrt.
— Auch wenn die Umsetzung stattfindet und Verhaltensanpassungen fehlen, ist zu beachten, daß eine gleichmäßigere Verteilung der Arbeitszeit auf die Erwerbstätigen insofern volkswirtschaftliche Zusatzkosten hervorruft, als neue Arbeitsplätze kapitalbindend ausgestattet werden müssen.
— Aber auch dort, wo die laufende Anpassung technisch möglich wäre und nur geringe Zusatzkosten hervorrufen würde (Beispiel: Lehrer!), wird sie durch mächtige institutionelle Barrieren behindert, z. B. durch die Forderung nach vollem Lohnausgleich oder durch Rigiditäten wie das Beamtenrecht. Der beschäftigungspolitische Aspekt verschmilzt unausweichlich mit dem verteilungspolitischen. Weil man hoffen kann, im Verteilungskampf per saldo mehr für sich und seine partiellen Interessen herausschlagen zu können, wird zunächst auf die „Verzichtsreserven" bei anderen gesetzt. Aus diesem Verteilungskampf führt nur die Einsicht heraus: . Arbeitszeitverkürzung, die ... einen gewünschten Entlastungseffekt auf dem Arbeitsmarkt haben soll, muß zugleich auch Einkommenskürzung sein."
Betrachtet man die heutige soziale Organisation der Arbeit, konkret die Arbeitszeit, als ein Datum, dann wird eine Wachstumsrate bestimmter Höhe zur notwendigen Voraussetzung der je angestrebten Beschäftigungslage. Betrachtet man die soziale Organisation der Arbeit als variabel, und könnte die Arbeit rasch gleichmäßiger verteilt werden, dann wäre das soziale Problem der Arbeitslosigkeit geringer, müßte Wachstum in einem geringeren Maße aus Gründen der Vollbeschäftigung gefordert werden. Wäre gar Nullwachstum ein von außen gesetztes Datum, dann müßten alle Anstrengungen auf diese Umorganisation der Arbeit gerichtet werden. Denn: „Sollte unter den veränderten Rahmenbedingungen ein starkes Wirtschaftswachstum nicht möglich sein oder nicht angestrebt werden, so muß nach anderen Wegen gesucht werden, um zu einem volkswirtschaftlich hohen Beschäftigungsgrad zurückzukehren und hohe Dauerarbeitslosigkeit zu vermeiden."
Wichtig ist jedoch auch hier der Verweis auf die situativen Faktoren, z. B. im demographischen Bereich. Die demographische Welle legt nämlich nahe, daß die Anpassung der Arbeitszeit nicht über eine erhebliche, allgemeine, „normale" Arbeitszeitverkürzung durchgeführt wird, die als soziale Errungenschaft unantastbar würde (ratchet-effect), sondern eher als zwischenzeitliche Übergangsmaßnahme, verknüpft mit der Absichtserklärung, diese nach 1990 teilweise wieder rückgängig zu machen Es kommt also offenbar weniger auf eine einmalige Arbeitszeitverkürzung an, um heute den Beschäftigungsgrad ad hoc zu stützen, sondern auf eine dauerhafte Erhöhung der Flexibilität im gesamtwirtschaftlichen Arbeitseinsatz insgesamt, eine Erhöhung der Anpassungsfähigkeit der Wirtschaft an demographische Schwankungen, Wachstumspausen, Ölschocks usw.
These 3: BSP-Wachstum „dient" der Vollbeschäftigung, weil die zusätzliche Beschäftigung zum Wachstum der Produktion beiträgt. Dies sind zwei Seiten derselben Medaille und daher „hilft" unter sonst gleichen Bedingungen aktuell jeder Prozentpunkt BSP-Wachstum, die Probleme der Arbeitslosigkeit zu reduzieren. Der Beschäftigungsgrad ließe sich jedoch auch anders, z. B. durch eine gleichmäßigere Verteilung der Arbeit und eine mittelfristige Verkürzung der Arbeitszeit, erhöhen. Zwar bedeutet diese Alternative — verglichen mit dem BSP-Wachstum, nicht absolut! — niedrigere Prokopfeinkommen, aber wegen des Freizeiteffektes sinkt die Wohlfahrt nicht in gleichem Maße, sie kann sogar wachsen.
VII. Wachstum und Einkommensverteilung
In einer offenen und freiheitlichen Gesellschaft wandeln sich die Ziele der wirtschaftlichen Akteure und die Bedingungen der Ziel-erreichung (Faktorausstattung, Produktionsprozesse etc.) fortlaufend. Als dezentraler Koordinationsmechanismus fungiert der Markt, der die relativen Preise und relativen Einkommen laufend verändern muß, soll er seine sektoral-regionale Allokationsfunktion optimal erfüllen. Eine These der Wachstumsbefürworter lautet nun, es müsse über Wachstum eine „Sozialdividende" geben, damit „Leistung sich lohnt". (Zusatz-) Leistung lohnt sich aber auch dann schon, wenn man von einem konstanten Kuchen einen größeren Anteil als diese (Zusatz-) Leistung erhält. Damit ist die Anreizfunktion der relativen Einkommen auch in einer stagnierenden Gesamtwirtschaft gegeben. Die These würde erst dann zutreffen, wenn glaubhaft gemacht werden könnte, daß in einer stagnierenden, im Unterschied zu einer wachsenden Gesamtwirtschaft sich Leistungsdifferenzen nicht mehr in Einkommensdifferenzen abbilden.
Auf einer anderen Ebene liegt die These: Die sektoral-regionalen Verschiebungen sind sozial akzeptabler, wenn sie in einer wachsenden Wirtschaft ablaufen; dann muß keine Gruppe absolut zurückstecken, alle Einkommen können wachsen; sie unterscheiden sich zwar in der Höhe der Wachstumsraten, aber „kurze Wartefristen durch Wachstum dämpfen den angeborenen Sozialneid" In einer stagnierenden Wirtschaft bedeuten dagegen die aus allokativen Gründen notwendigen Verschiebungen der Einkommensstruktur, daß einige Sektoren oder Regionen absolute Einbußen hinnehmen müssen und der „Sozialneid" wächst Dies kann den sozialen Frieden und eventuell die Zustimmung zur freiheitlichen Ordnung insgesamt gefährden
Allerdings darf nicht übersehen werden, daß dieses „Marschkolonnen-Modell" des Wachstums seine Verheißungen nur sehr partiell einlösen kann Viele Güter („Positionsgüter", F. Hirsch) bleiben immer knapp und See und Seevergnügen sind nicht mehr dieselben, wenn der Nachzügler die tausendste Villa errichtet. Von der These: „Es ist aber nicht möglich, den gehobenen Konsum von heute zum Massenkonsum von morgen zu machen. Also verfängt auch die Vertröstung nicht mehr, bei stetigem Wachstum kämen alle einmal dran" ist der erste Satz richtig, der zweite aber fraglich, denn die „Bewußtseinsindustrie" der privaten Wirtschaft — und der praktischen Politik! — vermag viel in der Verschleierung dieses Aspektes wachsender Wirtschaften und in der Mobilisierung von Anstrengung zur Erreichung unerreichbarer Nutzen. Gegenüber der gängigen These, Wachstum entschärfe den Verteilungskampf, muß daher die Gegenthese wenigstens im Blick gehalten werden: „Nur in seinen frühen Stadien ist Wachstum ein Substitut für die Umverteilung .. ."
Ein spezielles Umverteilungsproblem rufen gegenwärtig in der Bundesrepublik Deutschland die demographischen Veränderungen hervor. Der Anteil der Rentner an der Gesamtbevölkerung wächst, u. a. durch den Bevölkerungsrückgang. Deren Unterhalt wird — entgegen landläufiger Meinung — nicht durch irgendwelche früher gezahlten Beiträge sichergestellt, sondern realökonomisch allein aus dem Volkseinkommen, das die aktive Bevölkerung Jahr für Jahr erwirtschaftet. Mit höherem Rentneranteil muß die Umverteilung von der Erwerbsbevölkerung zur älteren Bevölkerung zunehmen, will man nicht die relativen Prokopfeinkommen der Alten drastisch verschlechtern. Diese Umverteilung stößt auf einen natürlichen Widerstand der Erwerbsbevölkerung. Theoretisch führt die Umstrukturierung der Alterspyramide durch den Bevölkerungsrückgang zwar zu einer etwa gleich starken Entlastung bei den Ausgaben für die Kindergeneration. Doch macht dieser Effekt den oben genannten nicht wett. Erstens führen die unterschiedlichen Systeme der Finanzierung der Nicht-Erwerbstätigen zu einer verzerrten Wahrnehmung der Wirklichkeit: Der durchschnittliche Arbeitnehmer rechnet bei der Betrachtung seines Nettoeinkommens Ausgaben für eigene Kinder zu den disponiblen Ausgaben und sieht daher nur die wachsende Belastung für Alte über Sozialabgaben und Steuern, die dieses disponible Einkommen einschränkt, nicht aber die Entlastung durch im Durchschnitt rückläufige Kinderzahlen. Da für das Empfinden und soziale Verhalten das relevant ist, was man für Realität hält und nicht die Realität selbst, fühlt man sich durch die gegenwärtigen Verschiebungen der Altersstruktur selbst dann belastet, wenn man es per Saldo nicht ist.
Zweitens: Wachsende Prokopfeinkommen, die Reduktion der Kinderzahl pro Familie und ein Wertwandel zugunsten einer „Kinderkultur" haben die Ausgaben pro Kind überproportional angehoben. Analoges hat der medizinisch-technische Fortschritt bei den Ausgaben pro Rentner bewirkt. Beide Entwicklungen führen dazu, daß das relative Einkommen der Generation der Erwerbstätigen von zwei Seiten her in die Zange genommen wird. In Wachstumszeiten hielten diese das aus, bei Stagnation bedeutet die Extrapolation dieser Prozesse sinkende Realeinkommen der aktiven Bevölkerung und neue soziale Spannungen. Wachstum kann diese mildern, doch ob wir aus diesem Grunde Wachstum „brauchen", ist damit nicht entschieden.
These 4: Wirtschaftswachstum erleichtert die Umverteilungsprozesse, die einerseits zu funktionsfähigen Märkten, andererseits zu den demographischen Umschichtungen gehören. Wachstum stützt dadurch den sozialen Frieden. Doch bleiben trotz Wachstum viele (Positions-) Güter dem Durchschnittsbürger unerreichbar.
VIII. Wachstum und Einkommensverwendung
Die Argumentationsliste der Wachstumsbefürworter verweist auch auf Ziele im Bereich der Einkommensverwendung, deren Erreichung durch Wirtschaftswachstum erleichtert werden soll. Zwei davon seien hier kurz behandelt
Eine These lautet: Für Umweltschutz brauchen wir Kapital — verstärkte Kapitalbildung — Wachstum Nur der erste Schluß ist weitgehend richtig („weitgehend" insofern, als er die Verhaltens-, Rechts-und Anreizkomponente von Umweltschutz zugunsten eines technischen Umweltschutzbegriffs überspringt). Aber wieso benötigen wir verstärkte Kapitalbildung? Warum reicht eine pure Fortführung heutiger Umweltschutzinvestitionen oder eine Umstrukturierung innerhalb der Investitionen zugunsten der Umweltschutzinvestitionen nicht aus? Und selbst wenn verstärkte Kapitalbildung notwendig wäre, wieso brauchen wir dann Wachstum? Warum reicht eine Umstrukturierung innerhalb des Sozial-produkts zu Lasten des Konsums und zu Gunsten der (Umweltschutz-) Investitionen nicht aus? Letztlich lautet demnach der Schluß: Aus der Forderung nach mehr Umweltschutz und auch mehr Investitionen in dafür nötige technischen Einrichtungen folgt die Notwendigkeit eines allgemeinen Wachstums nur dann logisch zwingend, wenn alle Verhaltensweisen und Proportionen als starr gelten. Gerade diese stillschweigende Implikation bleibt aber unbegründet und ist so nicht akzeptabel. Schließlich: Eine Strategie des bisherigen Wachstumspfades, d. h. „umweltpolitisch ungesteuertes Wachstum" ohne wesentliche Umstrukturierungen, nur damit wir den Umweltschutz finanzieren können, erscheint kontraproduktiv Bei der Verankerung des Umweltschutzgedankens auf der Verwendungsseite des Sozialprodukts statt auf der Entstehungsseite droht die Gefahr, daß die wachstumsinduzierte Umweltbelastung (progressiv?) mitwachsen wird, ebenso die Kosten des Schutzes, so daß die Netto-situation eher schlechter sein dürfte als bei reduziertem Wachstum. Daher auch E. Epplers These: „Wenn ... ungesteuertes Wachstum läuft, brauchen wir immer die finanziellen Ergebnisse dieses Wachstums, um mit den negativen Folgen eben dieses Wachstums fertig zu werden"
Ähnlich ist die These einzuschätzen, die Wachstum als Voraussetzung unserer Hilfe an die Länder der Dritten Welt plausibel machen möchte: „Denn wie könne man sich ernsthaft aus einer Industriegesellschaft ausschalten, angesichts des Hungers in der Dritten Welt?" Doch: dreißig Jahre Nachkriegs-wachstum in den Industrieländern haben uns trotz öffentlicher und privater Entwicklungshilfe, also trotz Bemühungen auf der Seite der Einkommensverwendung in den Industrieländern, unfähig gesehen, wesentliche Schritte bei der Überwindung der absoluten Armut in der Dritten Welt und bei der Überwindung des relativen Abstandes zwischen Industrie-ländern und Entwicklungsländern zu unternehmen Auch ernstgemeinte Vorschläge leiden vor allem an zwei perspektivischen Verzerrungen — Der Überbetonung der Verwendungsseite gegenüber der Entstehungsseite von Einkommen und — der Fehleinschätzungen der quantitativen Relationen, so daß auch hier mit „Teilen", konkret: dem Verlagern von Industrie, wenig geholfen ist In einer wirklich an den Interessen der Dritten Welt orientierten Strategie muß also nicht unsere Einkommensverwendung, sondern deren Einkommensentstehung, z. B. durch Abbau unseres Protektionismus, im Vordergrund stehen.
In beiden behandelten Interrelationen scheint dasselbe Grundmuster auf: „Whatever the goals affluence helps". Dieser Satz würde aber nur dann uneingeschränkt gelten, wenn die Bedingungen, unter denen (unsere) „affluence" entsteht, nicht selbst Zielerreichungen beeinträchtigen würden. Damit aber wird die objektive Ambivalenz von Wirtschaftswachstum unterschätzt.
These 5: Weil aber unsere staatlich mitzuverantwortenden Produktions-und Marktverhältnisse neben ihren Wachstumsbeiträgen uno actu auch zu Umweltverschmutzung und Ressourcenerschöpfung, Protektionismus und aggressiven Exportstrategien führen bzw. diese erlauben, kann die Vertröstung auf die potentiell zielstützende Verwendung gewisser Anteile der Wachstumsgewinne nicht über die zielverletzende Entstehung des Volkseinkommens hinwegtäuschen.