Wie geht es nach dem Stationierungsbeginn nuklearer Mittelstreckenwaffen auf dem Boden der Bundesrepublik weiter und worauf kommt es in Zukunft im Verhältnis der beiden deutschen Staaten zueinander an? Die Antwort Honeckers — andere führende Repräsentanten der SED haben sie wiederholt — auf diese selbstgestellte Frage lautet: „Mit der politischen Entscheidung, die der Bundestag der BRD getroffen hat, indem er grünes Licht für die Stationierung der USA-Raketen gab, nimmt die Regierung Kohl eine schwerwiegende Verantwortung auf sich. Durch diese Entscheidung erleidet... das europäische Vertragssystem, einschließlich des Grundlagenvertrages über die Beziehungen zwischen der DDR und der BRD, ernsthaften Schaden. Wir sind dafür, den Schaden möglichst zu begrenzen ... Deshalb werden wir jeden vernünftigen Vorschlag der BRD, die Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten entsprechend dem Vertragssystem auf ein normales Gleis zu bringen, sorgfältig prüfen, aber alle Angriffe auf die Souveränität der DDR auch künftig konsequent zurückweisen."
Diese Stellungnahme des SED-Generalsekretärs ist als Absicht der DDR interpretiert worden, die Gesprächskontakte mit der Bundesrepublik aufrechtzuerhalten und sie nicht im Klima verschärfter Ost-West-Konfrontation erstarren zu lassen. Tatsächlich belegt der Fortgang der Sachgespräche zu Beginn des Jahres 1984, daß die vielfach beschworene Eiszeit der deutsch-deutschen Beziehungen nicht in dem vorausgesagten Ausmaß eingetreten ist. Welche Motive hat die DDR, den Dialog mit der Bundesrepublik fortzuführen? Handelt und handelte sie aus einem spezifiMit einigem Erstaunen ist registriert worden, daß der Dialog zwischen den beiden deutschen Staaten sowohl den Doppelbeschluß sehen Eigeninteresse? War und ist Ost-Berlin ein willfähriges Instrument im westpolitischen Kalkül der Sowjetunion?
Eindeutige und endgültige Antworten lassen sich auf diese Fragen nicht geben. Was jedoch möglich ist, ist die Ambivalenz und die Vielschichtigkeit des Verhaltens der DDR insonderheit gegenüber der Bundesrepublik aufzuzeigen, um so einer vorschnellen Kategorisierung ihrer Politik, bei der Nuancierungen und Veränderungstrends unerkannt bleiben, vorzubeugen.
Die vier vergangenen Jahre brachten Entwicklungen und Konflikte im Ost-West-Verhältnis, die die DDR in besonderer Weise berührten und zur Verdeutlichung ihrer spezifischen Interessenlage sowie politischen Prioritäten herausforderten. Die Ereignisse, von denen hier die Rede ist, sind der Doppelbeschluß der NATO vom Dezember 1979, die Invasion sowjetischer Truppen in Afghanistan zwei Wochen später, die Entwicklung in Polen seit dem Sommer 1980 und schließlich der Vollzug der vier Jahre zuvor getroffenen Rüstungsentscheidung der NATO. Jedes dieser Ereignisse hat die Ost-West-Beziehungen insgesamt und damit zugleich das Verhältnis der beiden deutschen Staaten zueinander beeinflußt. Die Reaktion der DDR auf die genannten Konflikte hat innere und äußere Bestimmungsfaktoren ihrer Interessenlage gegenüber der Bundesrepublik Deutschland erkennen lassen, die über die zurückliegenden Jahre hinauswirken und Aussagen über die gegenwärtigen wie zukünftigen Entwicklungsmöglichkeiten in den Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten erlauben.
I. Der Dialog geht weiter
der NATO als auch die Invasion sowjetischer Truppen in Afghanistan nicht nur nahezu unberührt überstanden hat, sondern zu weiteren Vereinbarungen führte und sich positiv von der allgemeinen Verschlechterung des Ost-West-Klimas abhob. Ilse Spittmann zog nach den ersten vier Monaten des Jahres 1980 das Resümee: „Die internationale Lage war seit langem nicht so ernst, die deutsch-deutschen Beziehungen waren seit langem nicht so gut — dieses Paradoxon könnte als Fazit über einer aktuellen Situationsbeschreibung stehen" Dieses Erstaunen über die fortdauernde deutsch-deutsche Entspannung war begründet: Die DDR hatte in den Monaten zuvor nicht mit Warnungen gespart, im Falle einer Zustimmung Bonns zum Doppelbeschluß Konsequenzen in ihren Beziehungen zur Bundesrepublik zu ziehen
Bereits am Tage nach der entscheidenden NATO-Ratstagung gab Honecker eine erste Stellungnahme Der SED-Generalsekretär betonte das besondere Friedensinteresse der DDR und verwies auf die bedeutenden Ergebnisse des Entspannungsprozesses der siebziger Jahre: „Sie (die DDR) ist und bleibt zur Zusammenarbeit mit jedem bereit, dem daran liegt, die mühevoll erreichten Grundlagen für ein Gebäude der europäischen Sicherheit zu bewahren und darauf weiter aufzubauen." Bemerkenswert war jedoch vor allem, daß Honecker an dem im November 1979 vereinbarten Treffen mit Schmidt festhielt und hinzufügte, daß die DDR auch nach dem „RaketenDiktat" für eine Politik der Friedenssicherung und der Beendigung des Wettrüstens „auch gegenüber der BRD" eintrete.
Diese moderate Reaktion der SED auf den Brüsseler Beschluß der NATO wiederholte sich nach der sowjetischen Invasion in Afghanistan. Zwar zählte die DDR zu den ersten im Warschauer Pakt, die sich mit den „progressiven Kräften Afghanistans" unter der Führung Babrak Karmals „solidarisch" erklärten und Verständnis für die guten Motive, „die die Sowjetunion veranlaßt haben, Afghanistan ... entschlossene Hilfe zu erweisen", bekundeten Gleichzeitig ließ sie jedoch ihre Sorge darüber erkennen, daß die „Verschärfung der internationalen Situation" die Entspannung torpediere und sich „negativ auf die sich so hoffnungsvoll entwickelnden Beziehungen zwischen der DDR und der BRD auswirken könne"
Die ersten neun Monate des Jahres 1980 schienen zu bestätigen, daß die DDR gewillt war, ihren Dialog mit der Bundesrepublik fortzuführen. Diese Feststellung beruht nicht nur auf den programmatischen Aussagen der SED im zeitlichen Umfeld des Doppelbeschlusses und der sowjetischen Invasion in Afghanistan, sondern bezieht sich insbesondere auch auf eine Reihe von Kontakten und Vereinbarungen in der ersten Hälfte des Jahres 1980 Auf dieses insgesamt positive Bild des deutsch-deutschen Verhältnisses, trotz verschlechterter Supermachtbeziehungen, warf die Absage Honeckers, in die Bundesrepublik zu reisen, nur einen vorübergehenden Schatten.
Doch der DDR ging es nicht nur um einen Dialog mit der Bundesrepublik. „Natürlich sind wir gemeinsam mit unseren Verbündeten bemüht", beantwortete Honecker im Juli des Jahres eine Frage seines britischen Verlegers Maxwell, „ein Durchschlagen der derzeitigen internationalen Spannungen auf die europäischen Beziehungen zu verhindern" Noch auf der Leipziger Herbstmesse 1980 erklärte der SED-Generalsekretär, obwohl kurz zuvor — dieses Mal — Bundeskanzler Schmidt einen geplanten Besuch in die DDR abgesagt hatte, das Interesses seiner Regierung „an der weiteren Normalisierung der Beziehungen" zur Bundesrepublik und betonte dabei abermals das enge Wechselverhältnis dieser Beziehungen mit der Zukunft des Entspannungsprozesses in Europa. Gleichzeitig verband Honecker damit die Aussicht auf „neue Horizonte für die Zusammenarbeit" zwischen Ost-Berlin und Bonn
II. Gera und danach
Wenige Wochen später verdunkelte sich jedoch dieser Horizont wie schon lange nicht mehr. Mit Wirkung vom 13. Oktober verfügte das DDR-Finanzministerium eine drastische Erhöhung der Oktober verfügte das DDR-Finanzministerium eine drastische Erhöhung der Mindestumtauschsätze für Besucher der DDR aus „nicht-sozialistischen Staaten". Am Oktober veröffentlichte das „Neue Deutschland" Auszüge aus der Rede Honeckers auf einer Parteiaktivtagung in Gera zu aktuellen innen-und außenpolitischen Fragen, die einer Weiterentwicklung der Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten unüberwindbare Hindernisse entgegenzustellen schienen n). In einer seit Jahren ungewohnten Schärfe wurde die Bundesrepublik dafür verantwortlich gemacht, weitergehende Regelungen im Interesse der Bürger beider deutscher Staaten zu verhindern. Nahezu ultimativ forderte Honecker die . Anerkennung der Staatsbürgerschaft der DDR", „die Auflösung der sogenannten . Zentralen Erfassungsstelle'Salzgitter", die Um-« Wandlung der Ständigen Vertretungen der DDR und der Bundesrepublik in Botschaften und schließlich eine „Regelung des Grenzverlaufs auf der Elbe entsprechend dem internationalen Recht".
Wer die Forderungen von Gera als Vorbedingungen für den weiteren Dialog sah, konnte für die Zukunft der deutsch-deutschen Beziehungen kaum Hoffnungen hegen. Doch schon auf der 13. Tagung des ZK der SED im Dezember 1980 nahm Günter Mittag auf die Ausführungen Honeckers vom Oktober zwar mehrfach Bezug, ohne allerdings den Vierpunktekatalog im einzelnen zu wiederholen. Statt dessen legte er den Akzent auf die Bereitschaft der DDR, sich in den Beziehungen zur Bundesrepublik „weiterhin" von den Prinzipien der friedlichen Koexistenz leiten zu lassen, wenn Bonn „von der Existenz zweier souveräner, voneinander unabhängiger Staaten mit unterschiedlicher Gesellschaftsordnung" ausgehe 12). Noch deutlicher als Mittag wies einige Zeit später Honecker „Vorbedingungen für Gespräche, die dazu beitragen sollen, im Interesse des Friedens Spannungen abzubauen und die Beziehungen zwischen den Staaten zu normalisieren", ausdrücklich zurück 13). Auch in einem Interview Honekkers mit dem Zentralorgan der französischen KP „l’Humanit" erscheinen die Forderungen von Gera nur als langfristiges Ziel, nicht je-doch als Voraussetzung für eine weitere Normalisierung der Beziehungen zur Bundesrepublik 14).
Obwohl die DDR in allen Verlautbarungen den „Imperialismus" und den Rüstungskurs der NATO für die internationalen Spannungen verantwortlich machte und insbesondere Honecker immer wieder den Zusammenhang zwischen der Politik Bonns in der westlichen Allianz und weiteren Fortschritten in den deutsch-deutschen Beziehungen herausstellte, verdichtete sich in den ersten Monaten des Jahres 1981 der Eindruck, daß die DDR nach Anknüpfungspunkten für eine Aktivierung des Dialogs mit der Bundesrepublik suchte. In seiner Grußansprache an den 26. Parteitag der KPdSU unterstrich Honekker die Bereitschaft der DDR zu „gutnachbarliche(n) Beziehungen zu Ländern mit anderer sozialer Ordnung, einschließlich zur BRD" und befand sich darin offensichtlich in Übereinstimmung mit Moskau
Der X. Parteitag der SED im April 1981 bestätigte die grundsätzliche Dialogbereitschaft der DDR und verdeutlichte die deutschland-politischen Positionen Ost-Berlins. Prononcierter als zuvor verknüpfte jedoch Honecker im Rechenschaftsbericht des Politbüros die Zukunft der deutsch-deutschen Beziehungen mit der Rüstungsentwicklung im Westen. „Wer", so führte er aus, „die NATO-Hochrüstung vorantreibt, wer mit neuen Atomraketen das militärisch-strategische Gleichgewicht in Europa antastet, der schafft Tatbestände, die gegen die weitere Normalisierung der Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten wirken und Erreichtes gefährden."
Bis zum Sommer 1981 befand sich das deutsch-deutsche Verhältnis in einer Schwebelage. Es war weder endgültig blockiert noch gab es konkrete Anzeichen für substantielle Fortschritte. In dieser Situation fand eine Formulierung Beachtung, die Bewegungsmöglichkeiten zwischen den beiden deutschen Staaten zu signalisieren schien. In der Berichterstattung über das jährliche Treffen Honeckers mit dem Generalsekretär der KPdSU auf der Krim hieß es: „Die Gesprächspartner sind der Meinung, daß in der gegenwärtigen komplizierten Situation breiter internationaler Austausch sowie rege politische Kontakte zwischen Staatsmännern von Ländern mit unterschiedlichen Systemen besonders wertvoll und notwendig sind." Auf der Leipziger Herbstmesse wurde diese Meldung wiederholt aufgegriffen und veranlaßte Honecker schließlich zu der Feststellung: „Selbstverständlich gilt das auch für ein Treffen mit Herrn Schmidt."
Das Treffen fand vom 11. bis 13. Dezember 1981 in der DDR statt, ohne unmittelbar zu Vereinbarungen — sieht man von der Anfang 1982 bekanntgegebenen Verlängerung der Swingregelung bis zum Juni des Jahres ab — und Konzessionen in Punkten der jeweiligen Wunschkataloge zu führen. Das Drängen Bonns auf eine Reduzierung des Pflichtumtausches bei Reisen in die DDR blieb ebenso ergebnislos wie Ost-Berlins Vorstöße in der Staatsbürgerschaftsfrage und der übrigen Forderungen von Gera. Während das Kommuniqu die breite Palette bilateraler Probleme auch in heiklen humanitären Bereichen auflistete, bemühte sich die DDR vor allem darum, die Bedeutung des Treffens für den Frieden sowie den Fortgang der Abrüstung und Zusammenarbeit in Europa herauszustreichen. So befaßte sich Honecker in einem Interview für das Neue Deutschland wenige Tage nach Abschluß des Besuches vorrangig mit Fragen der Ost-West-Spannungen und Themen der Abrüstung und Rüstungskontrolle. Er versäumte es nicht, die Warnung zu wiederholen, daß eine Stationierung neuer Nuklearwaffen in der Bundesrepublik „sich auch auf die Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten auswirken würde". Darüber hinaus, so als gelte es durch das Kommunique geweckte Hoffnungen zu dämpfen, erinnerte er an die Forderungen von Gera, unterstrich aber zugleich das Interesse der DDR an einem weiteren Ausbau der Handelsbeziehungen und verwies auf die Möglichkeit, praktische Fragen zu lösen, „an denen die andere Seite Interesse hat" 20).
Der Verlauf des Jahres 1982 zeigte, ohne für die deutsch-deutschen Beziehungen neue Perspektiven zu eröffnen, daß der SED daran gelegen war, die durch die Gespräche mit Helmut Schmidt am Werbellinsee geschaffene Atmosphäre zu bewahren und auch nach der Ausrufung des Kriegsrechts in Polen nicht neu zu belasten. So begrüßte Honnecker die Haltung der Bundesregierung, sich an amerikanischen Sanktionsmaßnahmen gegen Polen nicht zu beteiligen und nahm mit Interesse die Bemühungen Bonns zur Kenntnis, „in Verbindung mit einer partnerschaftlichen Haltung in der Friedensfrage auch mehr Normalität in den Beziehungen zwischen der DDR und der BRD zu ermöglichen" Immerhin erweiterte die DDR mit Wirkung vom 15. Februar die Reisemöglichkeiten in dringenden Familienangelegenheiten zu einer Verringerung des Pflichtumtausches bzw. zur Gewährung eines „Sozialrabatts" für Kinder und Rentner fand sich Ost-Berlin allerdings nicht bereit, obwohl Bonn auf den „politischpsychologischen" Zusammenhang gerade dieses Problems mit einer Neufestsetzung des Überziehungskredits mehrfach hingewiesen hatte. Im Juni und September gewährte die DDR einige weitere humanitäre Erleichterungen. Ferner wurden in bilateralen Vereinbarungen bestehende Regelungen fortgeführt bzw. ergänzt Darüber hinaus gab es anläßlich eines Gesprächs zwischen Honecker und Wischnewski — nicht ohne daß der SED-Generalsekretär zum wiederholten Male auf den Zusammenhang zwischen „gutnachbarlichen Beziehungen" und einer Stationierung amerikanischer Nuklearwaffen aufmerksam machte — die Verabredung, die blockierten Verhandlungen über ein Kulturabkommen wieder aufzunehmen und dabei die umstrittene Frage des „Preußischen Kulturbesitzes" auszuklammern
Der Regierungswechsel in Bonn im September 1982 veränderte diesen Stand der deutsch-deutschen Beziehungen nicht. Honecker bekräftigte in einer ersten Reaktion auf die Regierungserklärung vom 13. Oktober, daß für die Politik der DDR die Existenz zweier souveräner, voneinander unabhängiger Staaten bestimmend sei und setzte im übrigen auf Kontinuität. Die Ausstellungen „Stadt Park — Park Stadt" in Magdeburg und über Schinkel in Hamburg, die Gespräche der Bundesminister Schneider und Dollinger mit ihren DDR-Kollegen sowie schließlich die Begegnung von Bundespräsident Carstens mit Honecker anläßlich der Beisetzung Breschnews belegten eine beiderseitige Dialogbereitschaft. „Wichtig ist", so Honecker auf der 5. Tagung des ZK der SED im November 1982, „daß die Politik Bonns entsprechend den abgeschlossenen Verträgen dazu beiträgt, der Verschärfung der internationalen Lage entgegenzuwirken und die Beziehungen mit der DDR von allem Ballast freizuhalten, der Fortschritte in diesen Beziehungen behindert." Bis zu den Bundestagswahlen am 6. März 1983 prägte dann jedoch Zurückhaltung, aber auch zunehmende Sorge über den künftigen deutschlandpolitischen Kurs einer von der CDU/CSU geführten Bundesregierung die Haltung der DDR Eine erste offizielle Stellungnahme Ost-Berlins zu der durch die Wahlen bestätigten Regierungskoalition in Bonn waren die Ausführungen Honeckers auf der Leipziger Frühjahrsmesse. Honecker griff dabei eine Formulierung Kohls und der CDU auf und sprach davon, daß beide deutschen Staaten viel tun könnten, um „mit immer weniger Waffen Frieden (zu) schaffen". Gleichzeitig bestätigte er seine Absicht, 1983 die Bundesrepublik zu besuchen, und fügte hinzu: „Über verschiedene Dinge könne man sich streiten, . aber uns scheint es besser zu sein, auf den Gebieten zusammenzuwirken, wo die Möglichkeit der Zusammenarbeit gegeben ist'" — ein erneutes Signal für eine sachbezogene Dialogbereitschaft der DDR, das Günter Mittag in seinen Gesprächen in Bonn wiederholte.
Am 10. April starb der Transitreisende Burkert. Sein Tod veranlaßte insbesondere die CSU zu vehementen Attacken auf die DDR und gab der innenpolitischen Diskussion über eine deutschlandpolitische „Wende" neuen Auftrieb. Unter ausdrücklichem Hinweis darauf ließ Honecker seinen Besuch der Bundesrepublik 1983 absagen. In einem anschließenden als offiziöse Stellungnahme der SED zu wertenden Kommentar im Neuen Deutschland wurden die Voraussetzungen für einen deutsch-deutschen Normalisierungsprozeß noch einmal in aller Deutlichkeit zusammengefaßt Er erinnerte an die Forderungen von Gera, warnte vor einer deutschlandpolitischen Wende und unterstrich die negativen Konsequenzen für die zwischenstaatlichen Beziehungen, die mit einer Stationierung amerikanischer Nuklearraketen verbunden wären. Doch auch dieser Kommentar ließ die Tür zu deutsch-deutschen Beziehungen auf der „Basis der abgeschlossenen Verträge" und der Prinzipien der „friedlichen Koexistenz" geöffnet. . Aufgeschoben bedeutet nicht aufgehoben", lautete dementsprechend wenig später die Antwort Honeckers auf die Frage nach seinem Besuch in der Bundesrepublik 31).
In diesem eher perspektivelosen Zustand der deutsch-deutschen Beziehungen war die Bürgschaft der Bundesregierung für einen Bankenkredit an die DDR in Höhe von einer Milliarde D-Mark ebenso überraschend wie das Ende Juli 1983 stattfindende Gespräch zwischen Honecker und Strauß. Nachdem schon zuvor Oppositionsführer Vogel mit Honecker zusammengetroffen war, folgten im weiteren Verlauf des Jahres auf den unterschiedlichsten Ebenen eine Vielzahl deutsch-deutscher Gespräche, bei denen ein breites Spektrum bilateraler Probleme sowie europäischer Sicherheitsfragen erörtert wurden. Dieser Dialog geht — weniger spektakulär — näch dem Stationierungsbeschluß des Bundestages weiter.
III. Die DDR — ein Instrument sowjetischer Westpolitik?
Die Kommunikation zwischen den beiden deutschen Staaten ist seit dem NATO-Dop-pelbeschluß zu keiner Zeit vollends abgerissen und hob sich phasenweise sogar deutlich positiv vom verschlechterten Ost-West-Verhältnis ab. Die diversen Absagen bzw. Verschiebungen von Besuchsterminen hatten nur vorübergehende Bedeutung. Die Rede von Gera setzte deutschlandpolitische Zielpunkte der DDR, ohne jedoch pragmatische Zwi-schenschritte auszuschließen. Dieses Resümee ist weitgehend unbestritten. Umstritten sind hingegen die Antworten auf die eingangs gestellten Fragen, die die Entwicklung seit 1980 begleiten.
Ein häufig anzutreffendes westliches Erklärungsmuster der DDR-Außenpolitik besagt, sie sei „ein Ergebnis und ein Instrument sowjetischer Außenpolitik" und bewege sich „im Schlepptau Moskaus" Demnach diente auch der Fortgang des deutsch-deutschen Dialogs nach den Ereignissen zum Jahresende 1979 in erster Linie sowjetischen Zielen, die so zu bestimmen seien: Moskau habe ein dauerhaftes Interesse daran, die politischen Spannungen zwischen den USA und Westeuropa zu verstärken. Darauf zielten sowjetische Entspannungs-und Kooperationsangebote an die westeuropäischen Staaten bei gleichzeitig unversöhnlicher Frontstellung gegenüber den USA Voraussetzung dieser Politik sei es, sich Einflußmöglichkeiten zu schaffen, die den Westeuropäern den Wert friedlicher Koexistenzbeziehungen mit der Sowjetunion demonstrierten, um sie langfristig aus ihrer atlantischen Verankerung herauszulösen. In dieser der Sowjetunion zugeschriebenen Zielsetzung wird der DDR eine besondere Funktion zugewiesen. Sie habe als einziger Staat des Warschauer Pakts mit der Bundesrepublik ein Gegenüber, dem aufgrund seiner deutschlandpolitischen Interessen an einem Dialog mit der DDR in besonderer Weise gelegen sei. Aufgabe der DDR sei es deshalb, Entspannungssignale zu senden und sie bei Bedarf mit der Forderung nach politischem Wohlverhalten zu verbinden.
Ob dieses Bild sowjetischer Westpolitik, in das die DDR fest eingefügt ist, zutrifft, kann dahingestellt bleiben. Die Frage ist vielmehr, ob die Dialogbereitschaft der DDR mit der Bundesrepublik ausschließlich als Unterordnung unter sowjetische Ziele erklärt werden kann und ob die Politik Ost-Berlins unter dieser Prämisse steht.
Zumindest zu Beginn des Jahres 1980 war erkennbar, daß die DDR zur gleichen Zeit, in der die Sowjetunion die Bundesrepublik scharf attackierte, ihre Sorge über eine mögliche Belastung der deutsch-deutschen Beziehungen hervorhob Auch die Form, in der die DDR die Absage des für 1980 verabredeten Treffens zwischen Schmidt und Honecker bekanntgab, signalisierte sowohl gegenüber der eigenen Bevölkerung als auch der Bundesregierung, daß sich die SED zwar den Wünschen ihrer Vormacht hatte beugen müssen, gleichzeitig aber an einer Kontinuität der deutsch-deutschen Gesprächskontakte und einem Klima der Entspannung interessiert blieb. Diese These erklärt, warum die SED den außergewöhnlichen Weg einer ADN-Meldung wählte, um in den Worten des Regierungssprechers der Bundesregierung mitzuteilen, die Verschiebung des Termins sei „in der gegenwärtigen Phase der angespannten Ost-West-Beziehungen von der DDR-Seite ausgegangen"
Auch wenn man die Besuchsabsage als Bestätigung für den engen und jederzeit von Moskau kontrollierten Handlungsspielraum der DDR nimmt, bleibt folgende Überlegung bedenkenswert: Eine Instrumentierung der DDR im westpolitischen Interesse der Sowjetunion setzt die potentielle Wirksamkeit des eingesetzten Instruments voraus. Eine DDR, die bedingungslos als verlängerter Arm Moskaus handelt, würde diese Erwartung nicht erfüllen. Wenn hingegen die Sowjetunion einem spezifischen Eigeninteresse der DDR — über dieses wird im weiteren Verlauf noch zu reden sein — den notwendigen Bewegungsraum zu seiner Realisierung einräumt, läßt sich die Westpolitik beider Staaten wirkungsvoll verbinden. Aus der wechselseitigen Verflechtung der westpolitischen Ziele der Sowjetunion und der DDR resultiert dann jedoch nicht notwendigerweise nur ein Element der Abhängigkeit Ost-Berlins von Moskau. Vielmehr sind die Spezifika der Beziehungen der DDR zur Bundesrepublik ebenso wie das deutschlandpolitische Interesse Bonns Vorbedingungen, die eine Instrumentierung der DDR im westpolitischen Kalkül der Sowjetunion erst ermöglichen und damit gleichzeitig die Verhandlungsposition Ost-Berlins gegenüber Moskau — aber auch gegenüber Bonn — begünstigen.
Welche Aussichten hatte die DDR, spezifische deutschland-und entspannungspolitische Anliegen bei einer verschärften Ost-West-Konfrontation weiterzuverfolgen? Die DDR war sich jederzeit der Abhängigkeit ihrer Außenpolitik vom Verhältnis der beiden Supermächte zueinander bewußt. Auf die Frage des Verlegers Maxwell nach den Chancen, „den Dialog zwischen den beiden deutschen Staaten von der weltpolitischen Krise abzukoppeln", gab Honecker eine zwar nur indirekte, aber in ihrer Substanz verneinende Antwort. Es gehe nicht um ein „Abkoppeln, sondern um die Entschärfung der internationalen Situation" Deutlicher äußerte sich Honecker auf dem X. Parteitag der SED im April 1981: . Auch wir träumen nicht von der Möglichkeit, gute Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland, einem der stärksten NATO-Staaten, unterhalten zu können, wenn sich die Beziehungen zwischen den USA und der UdSSR durch eine unberechenbare, auf Konfrontation zielende Politik der USA verschärfen."
Für einen entspannungspolitischen Alleingang fehlten und fehlen der DDR also alle Voraussetzungen. Andererseits war sie — und das war zu Beginn des Jahres 1980 in besonderer Weise sichtbar und fand in den nachfolgenden Jahren seine Bestätigung — daran interessiert, den Stand ihrer Beziehungen zur Bundesrepublik, wie er sich in den Jahren der Entspannung entwickelt hatte, zu bewahren. Angesichts dieser Interessenlage und einer realistischen Einschätzung ihres Handlungsspielraums mußte der DDR daran gelegen sein, ihre Deutschlandpolitik möglichst nahtlos mit der Westpolitik der Sowjetunion zu verknüpfen. Was sich als eine Unterordnung unter die Politik Moskaus darstellt, erweist sich so in Wirklichkeit als eine weitgehende Identität der Interessen und Übereinstimmung über den eingeschlagenen Weg.
Diese Verzahnung der Deutschlandpolitik der SED mit den eigenen sowie den sicherheitspolitischen Zielen Moskaus ist nicht erst zu Beginn dieses Jahrzehnts eingeleitet worden.
Sie setzte vielmehr eine Entwicklung fort, die bereits in der ersten Hälfte der siebziger Jahre begann Mit dem Doppelbeschluß der NATO war jedoch ein Element in die Ost-West-Beziehungen eingebracht worden, das sich als Schnittpunkt zwischen der Deutschlandpolitik der SED und der von Moskau dominierten Sicherheitspolitik des Bündnisses in besonderer Weise anbot. Dementsprechend nahmen im Laufe der Jahre — zunächst in noch recht allgemeiner Form — Zahl und Deutlichkeit der Aussagen zu, in denen die Zukunft der deutsch-deutschen Beziehungen mit der Entscheidung Bonns über eine Stationierung verbunden wurde.
Doch auch dieser Versuch der DDR, den deutsch-deutschen Dialog vom sicherheitspolitischen Wohlverhalten der Bundesrepublik abhängig zu machen und damit auf die Rüstungsdiskussion und die Friedensbewegung in der Bundesrepublik Einfluß zu nehmen, belegt die These von der Deutschlandpolitik der DDR als einem Instrument Moskaus nur bedingt. Die erklärte Absicht der Sowjetunion, vermeintliche Verschiebungen im europäischen Kräftegleichgewicht nicht zuzulassen und mit Gegenmaßnahmen zu beantworten, berührte und berührt in dem Maße das Interesse der DDR, wie Modernisierungspläne für taktische Nuklearwaffen auch ihr Staatsgebiet einbezogen. Nur wenn es Ost-Berlin gelingen würde, den Stationierungsbeschluß der NATO zu verhindern, würden der DDR Argumente gegen eine weitere Nuklearisierung ihres Territoriums zuwachsen. Insofern war und ist die Kampagne gegen eine „Nachrüstung" durchaus ein ureigenstes Anliegen Ost-Berlins. Ob und inwieweit die Bereitschaft der SED, den schwedischen Vorschlag für eine nuklearwaffenfreie Zone nicht nur zustimmend aufzugreifen, sondern auf das ganze Gebiet der DDR auszudehnen, in diesem Zusammenhang gesehen werden muß und nicht nur ein geschickter propagandistischer Schachzug war, muß dahingestellt bleiben. Immerhin ist eine abschließende eindeutige Antwort auf diese Frage wohl kaum möglich.
Auch die folgende Überlegung spricht für ein ambivalentes Verhalten der DDR und gegen eine monokausale Interpretation der Deutschlandpolitik der SED in den zurückliegenden vier Jahren: Ost-Berlin hat zu keinem Zeitpunkt seine Dialogbereitschaft so unmittelbar mit der Erfüllung sicherheitspolitischer Forderungen verknüpft, daß ein Abbruch deutsch-deutscher Beziehungen nach einer beginnenden Stationierung unausweichlich geworden wäre. Bei allen warnenden Untertönen, daß das Verhältnis zwischen den beiden deutschen Staaten nicht von der Rüstungspolitik der NATO zu trennen sei, blieben die Formulierungen flexibel genug, um eine pragmatische Kooperation ohne Gesichtsverlust auch nach der Abstimmung des Bundestages fortführen zu können. Nicht zuletzt diese Beobachtung lenkt das Augenmerk auf die Interessen der DDR, die über die engere Sicherheitsproblematik hinausgehen.
IV. Modus vivendi versus Beziehungen friedlicher Koexistenz
Der Grundlagenvertrag gab der DDR zwar das internationale Parkett als formal gleichberechtigtes Mitglied der Staatengemeinschaft frei, doch an der Weigerung Bonns, die Schwelle zu einer uneingeschränkten völkerrechtlichen Anerkennung der DDR zu überschreiten und den anderen deutschen Staat als Ausland zu behandeln, hatte er nichts geändert. Nach wie vor ist der Grundkonflikt über die Art der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR nicht ausgeräumt. Für Bonn schuf der Vertrag von 1972 die Bedingungen für einen Modus vivendi; für Ost-Berlin besiegelte er den Status quo und legte den Grundstein für die Beziehungen auf der Basis „friedlicher Koexistenz“.
Aus der Sicht des Jahres 1972 war der Grundlagenvertrag und die mit ihm verbundene internationale Aufwertung der DDR für die SED zweifellos ein Erfolg. Es war jedoch nicht zu erwarten, daß sich Ost-Berlin auf Dauer mit dem Erreichten begnügen würde. Wenn man davon ausgeht, daß die SED-Führung in den zurückliegenden Jahren mit einem entspannungspolitischen Kurs gewiß nicht deutsch-deutsche Gemeinsamkeiten betonen wollte, die den gesamtnationalen Ansprüchen der Bunderepublik Vorschub leisten, dann bleibt für die Politik der DDR das folgende Motiv bestimmend: die völkerrechtliche Aufwertung auch im Verhältnis zur Bundesrepublik. Damit stand und steht Ost-Berlin immer wieder vor der Entscheidung, unter welchen «politischen Rahmenbedingungen ein Abbau der Statusdefizite in den Beziehungen zu Bonn am aussichtsreichsten erscheint: in einem Klima verschärfter Ost-West-Konfrontation oder im Zuge eines fortdauernden Entspannungsprozesses, der das Verhältnis zur Bundesrepublik einschließt.
Überblickt man die Vorteile, die die DDR in der Periode der Entspannung sowohl in wirtschaftlicher als auch in politischer Hinsicht verbuchen konnte dann ist es einsichtig, daß der DDR an einer umfassenden Konfrontation in der Folge der Ost-West-Krisen der vergangenen Jahre ebensowenig gelegen sein konnte wie an einer Politik allseitiger Abgrenzung. Der Prozeß der Entspannung seit den ausgehenden sechziger Jahren war für die DDR Gefährdung und Chance zugleich.
Gefahren — vor allem für die innere Stabilität — ergaben sich aus der größeren — wenn auch weitgehend einseitigen — Durchlässigkeit der Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten. Mit Hilfe von Abgrenzungsmaßnahmen gelang es der DDR jedoch, das Maß unerwünschter Folgewirkungen unter Kontrolle zu halten. Die hier erreichten Erfolge der SED sind offensichtlich, und sie werden auch nicht durch die Aktivität vereinzelter Friedensgruppen in der DDR ernsthaft in Frage gestellt. Die DDR ist heute zweifellos einer der stabilsten Staaten des Warschauer Pakts. Sie hat sich ohne nachhaltige Störungen des Herrschaftsanspruchs der SED in den Entspannungsprozeß einzuordnen vermocht und ist seit Mitte der siebziger Jahre dazu übergegangen, ihre Vorteile im Interesse einer weiteren Aufwertung der DDR zu nutzen.
Aus dieser Bewertung folgt, daß die Statusforderungen der DDR als der offensive Versuch zu werten sind, die im Grundlagenvertrag fixierten Bedingungen deutsch-deutscher Beziehungen zu überwinden. Es spricht für eine realistische Einschätzung der Erfolgsaussichten dieser Politik, wenn die SED-Führung davon ausgeht, daß der Schlüssel, mit dem die im Nationenverständnis der Bundesrepublik zusammengefaßten und von ihm abgeleiteten Rechtsvorbehalte aufgehoben werden können, letztlich in Bonn liegt und allenfalls durch eine Politik des Dialogs und nicht der Dialogverweigerung erreichbar ist. Dementsprechend setzt die DDR auf eine Politik, die durch Kommunikation Normalität (im Sinne friedlicher Koexistenzbeziehungen) auch im Verhältnis beider deutscher Staaten zueinander herzustellen und zu bewahren versucht. Sie wird darin wohl nicht zuletzt durch den Sachverhalt bestärkt, daß Kontakte im zwischenmenschlichen Bereich zwischen den beiden deutschen Staaten Teil des Anspruchskataloges der DDR-Bürger geworden sind und nur unter dem Risiko innerer Motivationsverluste zurückgenommen werden können. „Normale" deutsch-deutsche Beziehungen sind, unabhängig davon, welche Koalition in Bonn regiert, ein konstantes Ziel der DDR-Deutschlandpolitik. Einen Widerspruch zwischen den heftigen Attacken der DDR gegen alle Versuche, die deutsche Frage offenzuhalten und einer pragmatischen Kooperations- und Dialogbereitschaft Ost-Berlins läßt es jedenfalls nicht zu.
V. Warum Gera?
Welches Gewicht hatten und haben angesichts des zuvor angesprochenen DDR-Interesses und der Möglichkeiten zu seiner Realisierung die Forderungen von Gera? Waren sie — getragen von der Hoffnung auf einen schnellen Erfolg — der Versuch, einen Durchbruch zu erzwingen? Eine Bestimmung der Motive und des Stellenwerts der deutschland-politischen Aussage von Gera ist für eine Analyse der Orientierungsfaktoren der Deutschlandpolitik der DDR sowohl für die Vergangenheit als auch für die Zukunft von wesentlicher Bedeutung.
Bis zum Oktober 1980 hatte die DDR immer wieder erkennen lassen, daß ihr an einer „Teilbarkeit der Entspannung" in besonderer Weise gelegen war. Dieser Eindruck war es, der die am 8. Oktober 1980 erlassene Anordnung über die Erhöhung eines „verbindlichen Mindestumtausches" und die Rede in Gera als einen Überraschungsschlag erscheinen ließ, der die deutsch-deutschen Kontakte abrupt zu -beenden und nachhaltig zu belasten schien. Das verschärfte Ost-West-Klima hatte zumindest auf den ersten Blick nun auch die Beziehungen zwischen der DDR und der Bundesrepublik erreicht.
Was löste in Ost-Berlin diesen Kälteeinbruch gegenüber Bonn aus? Widerlegt er die These, daß die DDR ihre Interessen i einem Klima der Entspannung besser aufgehoben glaubte als in konfliktträchtigen Ost-West-Beziehungen? Westliche Beobachter haben vor allem drei Interpretationsvarianten diskutiert. Da steht zunächst die Vermutung, die Sowjetunion habe der DDR „eine Verlangsamung des innerdeutschen Normalisierungstempos"
auferlegt neben der Annahme, der „deutschlandpolitische Rückschlag .. . (sei) aufgrund eines originären sicherheitspolitischen Kalküls der SED-Führung" angesichts des Erosionsprozesses in Polen erfolgt. Eine dritte Interpretation argumentiert, Honecker habe mit seiner Rede in Gera die Deutschlandpolitik verstärkt in den Dienst sicherheitspolitischer Ziele des Warschauer Pakts gestellt und den Fortgang des deutsch-deutschen Dialogs vom Verhalten der Bundesrepublik in der Nachrüstungsdebatte abhängig gemacht
Für eine direkte sowjetische Einflußnahme, analog zum Vorgang der Besuchsabsage vom Januar 1980, bietet die Rede von Gera keinen Hinweis. Wenn man davon ausgeht, daß der Sowjetunion an einem Fortgang der deutsch-deutschen Beziehungen gelegen war, um sie als Köder im Poker um eine Verhinderung des Nachrüstungsbeschlusses einzubringen, dann ist es höchst unwahrscheinlich, daß Moskau der Initiator von Gera war Ein Interesse der Sowjetunion, den Dialog zwischen den beiden deutschen Staaten zumindest vorübergehend zu blockieren, könnte allenfalls darin bestanden haben, angesichts der Vorgänge in Polen keine zusätzlichen Experimente an der Westgrenze ihres Einflußbereiches zuzulassen. Einen deutlichen Beleg gibt es für diese Annahme jedoch nicht. Dennoch war Polen das ausschlaggebende Moment für Gera; doch die Entscheidung darüber fiel nicht in Moskau, sondern in Ost-Berlin. Diese These besagt nicht, daß die SED-Führung eine unmittelbare Ansteckungsgefahr befürchten mußte. Anzeichen für ein überspringen des „polnischen Funkens" auf die DDR fanden sich mehr in der westlichen Berichterstattung als in der DDR selbst. Zwar nahm die Debatte über die Rolle von Gewerkschaften im System des entwickelten Sozialismus" deutlich zu ohne damit jedoch erkennbar auf Strömungen im Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB) zu reagieren, die den in Polen stattfindenden Entwicklungen ähnlich gewesen wären. Allerdings war Polen — im Unterschied zu den zuvor ausgelösten Krisen um Afghanistan und den Brüsseler Doppelbeschluß — eine Herausforderung, die zwar nicht aktuell die innere Stabilität der DDR gefährdete, jedoch potentiell die ideologische Kohärenz des Blocks und damit die entscheidende Existenzbedingung der DDR berührte. Die Vorstellung einer durch einen „sozialistischen Pluralismus" im Osten und der Bundesrepublik im Westen eingeschlossenen DDR genügt, um die durch die Vorgänge in Polen möglicherweise aufziehenden Gefahren für den Herrschaftsanspruch der SED hinreichend zu illustrieren.
Die Rede von Gera ist Ausdruck dieses Gefahrenkalküls. Die SED-Führung sah sich veranlaßt, in erster Linie mit Blick auf die eigene Bevölkerung Orientierungsmaßstäbe zu setzen, die einer durch Polen unsicher gewordenen Zukunft standhalten mußten 42). Diesem Zweck dienten die an Bonn gerichteten Forderungen. Sie sind die prägnante Zusammen-fassung der Positionen der DDR, die im Grundlagenvertrag uneingelöst blieben und die nun zu einem Zeitpunkt in den Vordergrund gehoben wurden, in dem die Entwicklung in Polen einem unbekannten Ziel zusteuerte. Die Projektion dieser Unsicherheiten der SED auf die „revanchistische" Politik der Bundesrepublik und der Rückgriff auf die Terminologie der fünfziger und sechziger Jahre schienen am besten dafür geeignet zu sein, mögliche deutschlandpolitische Illu• in der DDR-Bevölkerung zu dämpfen und alle Energien auf die wirtschaftliche und soziale Entwicklung des eigenen Staates zu lenken.
Die These, daß die Forderungen von Gera primär eine innenpolitische Funktion hatten, stellt den Zusammenhang zwischen der Politik Ost-Berlins gegenüber Bonn und übergeordneten sicherheits-sowie rüstungskontrollpolitischen Zielen des sozialistischen Lagers nicht in Abrede. Honecker nahm in seinen Ausführungen ausdrücklich Bezug auf die Rolle der Bundesrepublik „als Erfinder und Einpeitscher des Brüsseler Raketenbeschlusses" und bezeichnete diese als mit einer Normalisierung der Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten unvereinbar. Insofern war der stereotype Hinweis, daß die Vertragspolitik der DDR mit der Bundesrepublik „ein Teil der abgestimmten Politik (des) Bündnisses der Staaten des Warschauer Vertrages zur Friedenssicherung" sei, sicherlich sehr konkret gemeint und auch auf die Haltung der Bundesregierung in der Raketendebatte bezogen. Doch mißt man diese Aussagen am Gesamttenor der Rede von Gera, so ordnen sie sich ein in das Anliegen der SED, durch außen-und damit zugleich deutschlandpolitisehe Härte den Unwägbarkeiten der Polen-Krise entgegenzusteuern.
Die Konsequenz dieser Abwägung zwischen inneren und äußeren Faktoren, nach der die Rede von Gera in erster Linie eine Reaktion (oder auch Überreaktion) auf die aktuelle Situation war, in der militärische Schritte gegen Polen noch keineswegs ausgeschlossen werden konnten, ist, daß die deutschland-und sicherheitspolitischen Aussagen Honeckers mit großer Wahrscheinlichkeit auch ohne die Nachrüstungsdebatte gemacht worden wären. Gera mag den engen Zusammenhang zwischen einer deutsch-deutschen Normalisierung und sicherheitspolitischen Zielen Moskaus bestätigt haben, begründet hat er ihn wohl nicht. Insofern war diese Rede kein Beweis dafür, „daß die DDR-Führung ihre Deutschlandpolitik grundsätzlich geändert hat" Gera illustriert vielmehr den Konflikt zwischen einer umfassenden Abhängigkeit der DDR von der inneren und äußeren Stabilität des sozialistischen Lagers auf der einen Seite und spezifisch deutschlandpolitischen Interessen Ost-Berlins auf der anderen Seite. Die Priorität liegt, wie die Ausführungen Honeckers noch einmal deutlich unterstrichen, auf dem Zusammenhalt des sozialistischen Blocks. Die Absicht der DDR, die Beziehungen zur Bundesrepublik auch nach Afghanistan und der Entscheidung von Brüssel fortzuführen, wurde deshalb durch Gera nicht hinfällig, jedoch im Interesse vorrangiger Ziele vorübergehend in den Hintergrund gedrängt. Honeckers Forderungen haben sich dann auch nicht, obwohl sie so formuliert waren als unüberwindliche Hindernisse für einen weiteren deutsch-deutschen Dialog erwiesen.
VI. Wirtschaft und Entspannung
Die Dialogbereitschaft der DDR mit der Bundesrepublik wird am häufigsten auf wirtschaftliche Motive zurückgeführt. Der deutsch-deutsche Handel biete der DDR Vorteile, auf die sie nicht bzw. noch nicht verzichten wolle und könne. Tatsächlich hat die DDR in den siebziger und Anfang der achtziger Jahre zu keinem Zeitpunkt am Status der Handelsregelungen mit der Bundesrepublik zu rütteln versucht. Nach wie vor spricht nichts dafür, daß Ost-Berlin die Substanz des „Berliner Abkommens“ von 1951 in der Fassung von 1960 zu ändern wünscht Insbesondere die Bestimmungen über einen zinslosen Überziehungskredit („Swing") sowie die Entlastungen, die sich für die DDR aus den Verrechnungsmodalitäten ergeben, und schließlich die — von der DDR freilich in Abrede gestellte — „stille Teilhaberschaft" an der Europäischen Gemeinschaft gelten als Begünstigungen, die die DDR nicht verspielen wolle. Dieses Interesse Ost-Berlins sei vor allem in der jüngsten Vergangenheit besonders deutlich geworden, als die DDR Importe aus der Bundesrepublik kräftig erhöhte, während sie gleichzeitig ihre Importe aus den übrigen westeuropäischen OECD-Staaten drastisch reduzierte
Es soll nicht bestritten werden, daß die wirtschaftlichen Interessen der DDR das deutschlandpolitische Kalkül der SED-Führung in den vergangenen vier Jahren mitbestimmt haben und weiterhin mitbestimmen. Das trifft wohl insbesondere für das erste Halbjahr 1982 zu, in dem es darum ging, die zum Jahresende 1981 ausgelaufene und dann nur für sechs Monate verlängerte Swing-Regelung neu festzulegen. Doch auch damals hat die DDR, indem sie das verfügbare Swing-Volumen nur teilweise in Anspruch nahm, deutlich zu erkennen gegeben, daß mit deutsch-deutschen Handelsregelungen keine politischen Konzessionen zu erwirken seien. Damals wie heute gilt, daß die DDR einen „politisch-psychologischen" Zusammenhang zwischen Erleichterungen im humanitären Bereich und insbesondere beim Problem des Mindestumtausches und wirtschaftlichen Vereinbarungen mit der Bundesrepublik nicht akzeptieren wird. Schon zuvor hatte Honecker, ohne allerdings auf Einzelheiten einzugehen, davon gesprochen, daß „überholte Regelungen" in den Handels-und Wirtschaftsbeziehungen zwischen der DDR und der Bundesrepublik durch „zeitgemäßere" ersetzt werden sollten, um „bessere Grundlagen für eine kontinuierliche, stabile und langfristige Entwicklung des Handels zu schaffen" Aus dieser Formulierung ist sicherlich kein kurzfristiges Programm abzulesen, wohl aber das langfristige Ziel, auch die deutsch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen von den Elementen zu befreien, die aus der Sicht der Bundesrepublik den Sondercharakter des Verhältnisses der beiden deutschen Staaten zueinander belegen. Es ist zumindest fraglich, ob die DDR mit einer Wirtschaftsvereinbarung und dem In-teresse an einer gemeinsamen Wirtschaftskommission nur bestehende Regelungen fortschreiben will, ohne nicht zugleich auch durch eine neue Grundlage ihre Qualität zugunsten einer völkerrechtlichen Aufwertung der DDR zu verändern.
Ein ähnliches Spannungsverhältnis zwischen wirtschaftlichen Erfordernissen der DDR einerseits und ihren politischen Zielen andererseits kennzeichnet den von der Bundesregierung — in letzter Konsequenz allerdings von der DDR — verbürgten Kredit an Ost-Berlin vom Sommer 1983. Es wäre zumindest einseitig, den Vorgang nur ökonomisch zu beleuchten und lediglich die finanzpolitische Entlastung für die DDR herauszustellen. Zugleich sind auch seine politischen Begleiterscheinungen in eine Gesamtbewertung einzubeziehen, also die Rolle des CSU-Vorsitzenden Strauß beim Zustandekommen des Kreditgeschäfts und sein anschließendes Gespräch mit Honecker. Die CSU mußte — vor allem angesichts der Wahlkampfrhetorik vor den Bundestagswahlen 1983 und der Angriffe auf die Grenzkontrollen der DDR nach dem Tode des Transitreisenden Burkert — aus der Sicht der DDR als die politische Kraft in der Bundesrepublik gesehen werden, die eine deutschland-politische „Wende" erzwingen könnte, wenn es nicht gelänge, sie auf eine Kontinuität deutsch-deutscher Beziehungen festzulegen. Insofern war Strauß, der noch im Mai 1983 als „Scharfmacher" tituliert worden war und für die vorausgegangene Besuchsabsage Honekkers mitverantwortlich gemacht wurde nicht nur ein wichtiger Partner für eine Kreditzusage, sondern auch für den weiteren deutsch-deutschen Dialog. Die Feststellung des DKP-Vorsitzenden Herbert Mies, daß es wünschenswert wäre, „wenn das Gespräch Erich Honeckers mit F. J. Strauß allen jenen, die auf eine . Politik der Stärke'und der Revanche setzen, vor Augen führen würde, daß es zur Politik der friedlichen Koexistenz keine vernünftige Alternative gibt" verweist auf die politische Seite des Vorgangs.
Es wäre angesichts dieser Bewertungen eine Überfrachtung des ökonomischen Arguments, wenn man die Deutschlandpolitik der DDR vorrangig und gelegentlich ausschließlich mit wirtschaftlichen Zwängen zu begründen versuchte. Der deutsch-deutsche Handel ist eine wichtige Größe im außenpolitischen Kalkül der DDR und wie 1982 und das erste Halbjahr 1983 gezeigt haben eine willkommene Rückfallposition in schwierigen Zeiten. Er ist jedoch langfristig nur in dem Maße der Motor für ein spezifisches Entspannungsinteresse Ost-Berlins gegenüber Bonn, wie er auch zu einer völkerrechtlichen Normalisierung der beiderseitigen Beziehungen beiträgt.
VII. Die DDR — ein europäischer Staat wie andere?
„Europa" war bis in die siebziger Jahre ein Tabu, eine „imperialistische", auf Westeuropa beschränkte Idee, von der sich die DDR mit allen Mitteln abzugrenzen suchte. Das Heil lag allein und bedingungslos im Bündnis mit der Sowjetunion und den Bruderstaaten im Warschauer Pakt.
Gilt das auch heute noch in dieser Ausschließlichkeit? An der existentiellen Abhängigkeit der DDR von der Sowjetunion hat die Entwicklung der Ost-West-Beziehungen seit 1979 nichts geändert. Doch spricht die SED-Führung heute von Europa, argumentiert europäisch und meint damit ein — wenn auch durch Bündnisse geteiltes — Gesamteuropa. Die DDR ist — zweifellos noch weit entfernt von der Position Polens in den siebziger Jahren — dazu übergegangen, ihre Rolle nicht nur als „Frontstaat" an der Trennlinie zwischen zwei antagonistischen Gesellschaftsordnungen zu definieren, sondern sich auch als Partner in einem systemübergreifenden europäischen Entspannungsprozeß anzubieten und zu profilieren.
In Ost-Berlin hat in den vergangenen vier Jahren eine Haltung an Konturen gewonnen, die eine unverrückbare Bündnistreue mit einer Politik der Entspannung zu vereinbaren sucht. „Die Deutsche Demokratische Republik ist", so der bereits zitierte offiziöse Kommentar im Neuen Deutschland am Vorabend der Reise Honeckers zu Gesprächen mit Andropow, „ein souveräner sozialistischer Staat, der fest im östlichen Bündnis verankert ist. Ihr Spielraum ist überall dort gegeben, wo es sich darum handelt, dem Frieden zu dienen und die Zusammenarbeit zwischen den Staaten zu fördern." Die Beziehungen der DDR zur Bundesrepublik sind ein wesentlicher, aber nicht der alleinige Inhalt dieser vorsichtigen, ständig nach innen wie nach außen abgesicherten Orientierung. Die vielfach wiederholte und variierte Aussage, daß ein „Durchschlagen" der internationalen Spannungen auf die europäischen Beziehungen verhindert werden müsse, verweisen auf die erweiterte Perspektive der Deutschland-und Westpolitik der DDR.
Das, was die DDR 1983 erstmalig als „Spielraum" ihrer Politik bezeichnete, hat sie in den Jahren der Entspannung erworben. Die DDR ist nicht mehr nur der verlängerte Arm Moskaus, sondern handelt auch im eigenständigen Interesse. Sie wurde in den siebziger Jahren zunehmend zum Partner der Sowjetunion und konnte ihren Status als notgedrungen willfähriger Untergebener partiell abbauen.
Ost-Berlin hat an Bedeutung für Moskau gewonnen, ist damit aber nicht in einen Zustand bedingungsloser Abhängigkeit zurückgefallen. Diese Entwicklung wurde durch die innere Destabilisierung Polens nachhaltig gefördert. Der östliche Nachbarstaat der DDR ist durch den Autoritätsverlust der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei und seine desolate Wirtschaftslage für unbestimmte Jahre als westpolitischer Partner der Sowjetunion ausgefallen. An seine Stelle ist mehr und mehr die DDR gerückt. Aufgrund ihrer im Vergleich zu anderen Volksdemokratien stabilen Wirtschaftsentwicklung und praktizierten Bündnistreue wird Ost-Berlin für Moskau sobald nicht ersetzbar sein.
Hat die DDR ihre verbesserte Stellung zu nutzen vermocht? Eine Antwort muß sich davor hüten, Erwartungen zu wecken, die die DDR nicht einlösen kann und wohl auch nicht will. Es wäre verfehlt, einem politischen Wunschdenken zu erliegen und dort Differenzen zwischen Moskau und Ost-Berlin zu konstruieren, wo es sich allenfalls um taktische Nuancen in der Vorgehensweise handelt. Skepsis ist ebenso gegenüber der Erwartung angebracht, daß die DDR in der vormals westpolitischen Rolle Polens eine vergleichbare innere Liberalisierung zulassen wird. Öffnung nach Westen und Kontrolle im Inneren bleiben noch für Jahre ein untrennbares Zwillingspaar der DDR-Politik.
Unter Beachtung dieser Einschränkungen ergeben einzelne Mosaiksteine zwar kein geB schlossenes Bild, deuten jedoch darauf hin, daß die DDR vor allem nach Osten an Selbstbewußtsein gewonnen hat. Die Ablösung des langjährigen sowjetischen Botschafters in Ost-Berlin, Abrassimow, sowie die beiläufige Berichterstattung über diesen Vorgang und schließlich seine Ersetzung durch den als Wunschkandidaten Honeckers geltenden Kotschemassow sind dafür ein Indiz. Moskau muß offenbar — vor allem nach dem Ausfall von Polen — mehr als zuvor auf Ost-Berlin Rücksicht nehmen. Lag die Ursache für Differenzen zwischen Moskau und Ost-Berlin zu Beginn der siebziger Jahre darin, daß die DDR gelegentlich mehr wollte, als Moskau im übergeordneten, auf die USA fixierten Interesse zu geben bereit war und die DDR sowjetische Konzessionen an den Westen fürchtete, scheint dieses Verhältnis heute eher umgekehrt zu sein. So ist die Modernisierung und teilweise Neustationierung taktischer Nuklearwaffen auf dem Territorium der DDR offensichtlich nicht nur in der Bevölkerung auf Widerspruch gestoßen sondern auch in der Parteispitze nur widerwillig akzeptiert worden Daß die DDR die als Gegenmaßnahme deklarierte Stationierung vernehmbar ablehnen würde, war nicht zu erwarten, doch daß sie ihr Unwohlsein artikulierte und der Bevölkerung Ventile öffnete, gleiches zu tun ist neu. Distanz zu einer von Moskau zu verantwortenden Entscheidung verrät schließlich auch der Umweg, auf dem die SED die Bevölkerung über den Aufbau atomarer Raketenbatterien in der DDR informierte 60).
Das sind nur vage Hinweise auf eine beginnende Emanzipation der DDR, an deren Ende freilich nicht das Ziel steht, sich aus der Obhut der Sowjetunion zu lösen. Ziel es ist jedoch, dort Handlungsspielraum zu gewinnen, wo die Berücksichtigung eigener, mit sowjetischen nicht jederzeit deckungsgleicher Interessen es verlangt. Diese sich bisher nur andeutende Entwicklung lebte und lebt von einem entspannten Ost-West-Klima ebenso wie von der Stabilität des sozialistischen Lagers und der DDR. Die Anfänge dieser Entwicklung sind zu labil, um schon vor Rückschlägen gefeit zu sein. Eine Deutschlandpolitik der Bundesrepublik, die sich bestehende Kommunikationsmöglichkeiten bewahren und neue eröffnen möchte, wird das zu beachten haben.