I. De-Nuklearisierungsinitiativen für Europa
Die Zweifel am Beitrag der Kernwaffenrüstung und -Stationierung zur Sicherheit in Europa sind nicht erst mit den öffentlichen Auseinandersetzungen über den NATO-Doppelbeschluß vom Dezember 1979 aufgetreten. Frühe Formulierungen solcher Zweifel sind schon vor etwa 30 Jahren in die Öffentlichkeit getragen worden, als die Pläne der damaligen Regierung der USA unter Präsident Eisenhower bekannt wurden, sog. taktische Atomwaffen mit Trägern kurzer und mittlerer Reichweite in Westeuropa zu stationieren.
Heute läßt sich feststellen, daß die präventiven Zielsetzungen der damals kreierten Politik der Atombewaffnung — Kriegsverhütung und Nichtdiskriminierung der Bundesrepublik — zwar nicht verfehlt, aber mit immensen Kosten und ohne die Herstellung stabiler Friedenserwartungen erkauft wurden. Demgegenüber wurden die auf Revision des Status quo — Wiedervereinigung Deutschlands und darüber hinaus Zurückdrängen der Sowjetunion aus Osteuropa — gerichteten Zielsetzungen nicht nur nicht erreicht, sondern in ihr Gegenteil verkehrt: weder reagierte die Sowjetunion auf die Militär-und Rüstungspolitik der NATO in Europa mit rüstungs-oder blockpolitischen Konzessionen noch wurde die Konsolidierung der DDR als zweiter deutscher Staat mit internationaler Anerkennung verhindert.
Angesichts der seither tatsächlich erfolgten Aufrüstungsprozesse in Europa und der damit einhergehenden militärischen Nuklearisierung erschiene es jedoch wenig plausibel, wollte man unvermittelt zu den Forderungen und Plänen der fünfziger Jahre zurückkehren, die das Fernhalten von Atomwaffen und ein militärisches Disengagement der beiden Pakt-systeme in Europa bezweckten. Theoretisch wie praktisch stellt es einen bedeutsamen Unterschied dar, ob eine militärische De-Nuklearisierung ex ante oder ex post angestrebt wird. Im zweiten Fall wird das Ziel nur durch die Verfolgung von politischen Strategien erreichbar sein, die mit langen Fristen rechnen, Zwischenziele und -etappen bezeichnen und Möglichkeiten für das Einschlagen von Umwegen vorsehen. Diesen veränderten Ausgangsbedingungen tragen beispielsweise die von der Palme-Kommission insgesamt entwickelten und vom Kommissions-Mitglied Egon Bahr noch weiter getriebenen Überlegungen zur militärischen De-Nuklearisierung in Europa sowie der zuerst von McGeorge Bundy, George F. Kennan, Robert S. McNamara und Gerard Smith zur Diskussion gestellte Vorschlag eines Verzichts der NATO auf den Ersteinsatz von Kernwaffen zumindest teilweise Rechnung.
Ausgehend vom Konzept der gemeinsamen Sicherheit von Ost und West geht es der Palme-Kommission um den stufenweisen Abbau der nuklearen Bedrohung in Europa. Nach ihrer Überzeugung geht die Hauptgefahr der Auslösung einer atomaren Eskalation derzeit von den in Zentraleuropa beiderseits der Blockgrenzen stationierten atomaren Gefechtsfeldwaffen aus. Daher empfiehlt die Kommission als einen Einstieg in die De-Nuklearisierung „die Schaffung einer von atomaren Gefechtsfeldwaffen freien Zone, die von Mitteleuropa bis in die äußersten nördlichen und südlichen Flanken der beiden Bündnisse reicht" Als konkreten Beginn dieses Prozesses faßt die Kommission einen zweimal 150 km breiten Streifen entlang der deutsch-deutschen und der deutsch-tschechoslowakischen Grenze ins Auge.
Gleichsam den Ansatz der Palme-Kommission zu Ende denkend formuliert Egon Bahr in einem Sondervotum eine umfassende Zielvorstellung für einen Prozeß der militärischen De-Nuklearisierung in Europa:
„ 1. Alle Atomwaffen werden aus den Staaten in Europa abgezogen, die nicht über sie verfügen.
2. Auf dem Gebiet der konventionellen Streitkräfte wird ein annäherndes Gleichgewicht zwischen NATO und Warschauer Pakt hergestellt.
3. Die beiden Bündnisse mit ihren Verpflich-tungen und Garantien bleiben unverändert."
Ohne sich das Konzept einer atomwaffen-freien Zone zu eigen zu machen, sind sich die Befürworter des Verzichts auf den Ersteinsatz von Kernwaffen der nachhaltigen Auswirkungen eines derartigen Schrittes auf die sicherheitspolitische Strategie der NATO bewußt. Dieser Vorschlag nährt sich im wesentlichen aus dem Zweifel an der Glaubwürdigkeit einer solchen Drohung und damit an deren unterstellter Abschreckungswirkung, weil sie von der unrealistischen Annahme der politischen Beherrschbarkeit einer atomaren Eskalation im Kriege ausgeht. Hinzu kommt, daß die Vorstellung von der Begrenzbarkeit nuklearer Kriegsführung z. B. in und auf Europa weder für die Sowjetunion und den War-schauer Pakt noch für die europäischen Verbündeten der USA akzeptabel sein kann. In dem mit „No First Use" überschriebenen Bericht der Union of Concerned Scientists heißt es u. a.:
„— Die Unterscheidung zwischen konventionellem und nuklearem Krieg ist von überragender Bedeutung ...
— Eine sichere konventionelle Verteidigung, die eine kraftvolle konventionelle Abschrekkung und, falls nötig, Erfolg im Einsatz versprechen kann, liegt im Bereich des mit erträglichen politischen und ökonomischen Kosten Durchführbaren.
— Die gegenwärtige Strategie des Ersteinsatzes wird sehr wahrscheinlich zu der Katastrophe eines Nuklearkrieges führen; dies kann intellektuell und moralisch nicht unterstützt werden; sie wirkt im Bündnis desintegrierend."
Die hier illustrativ für die gegenwärtige Diskussion über die militärische De-Nuklearisierung in Europa ausgewählten Stellungnahmen gehen von der realistischen Voraussetzung aus, daß sich die Zahl der derzeit existierenden Kernwaffenmächte in absehbarer Zeit nicht verringern wird. Sie stellen in Rechnung, daß selbst unter den Befürwortern der jetzigen NATO-Militärstrategie der flexiblen Reaktion eine Mehrheit den Kernwaffen im Grunde keine Kriegführungsfunktion zuerkennt, also die atomare Schwelle eher angehoben wissen will. Sie setzen schließlich auf die politische Eigendynamik der Umsetzung von Einstiegskonzepten (wie Teilrückzug von Kernwaffen bzw. Verzicht auf den Ersteinsatz von Kernwaffen), deren doppelte Qualität als Begrenzung der Konfrontationsrisiken zwischen Ost und West einerseits und als rücknehmbare rüstungskontrollpolitische Initiative andererseits in einer demokratischen Öffentlichkeit zustimmungsfähig sein dürfte.
Problematisch bleiben in dieser Diskussion die Überlegungen zum Charakter der konventionellen Verteidigung, die bei einer militärischen De-Nuklearisierung wieder in den Vordergrund der militärischen Sicherheitspolitik rückt. Ist der Preis der militärischen De-Nuklearisierung eine konventionelle „Nachrüstung" der NATO, um die behauptete konventionelle Überlegenheit des Warschauer Pakts in Europa auszugleichen? Oder erscheint es zwingend, eine Art von Junktim zwischen militärischer De-Nuklearisierung und Fortschritten bei Rüstungskontrollverhandlungen von der Art der MBFR-Verhandlungen herzustellen? Oder gehören gar De-Nuklearisierung, Konventionalisierung und strikte Abwehrorientierung zusammen, um den Innovationscharakter einer Kursänderung in der militärischen Sicherheitspolitik zu wahren?
Relativ vage erweisen sich auch die Ausführungen in den erwähnten Stellungnahmen zur Frage nach der Zukunft der Bündnissysteme in West und Ost. Auch wenn eine Auflösung der Bündnissysteme eher unwahrscheinlich und ihr Weiterbestehen auch unter den Bedingungen einer wie auch immer gearteten militärischen De-Nuklearisierung in Europa zu erwarten ist, wird sich eine Über-prüfung der Aufgaben und inneren Strukturen der Bündnissysteme von selbst aufdrängen. Darin liegt neben den unvermeidlichen Risiken auch eine Chance zu einer politisch-diplomatischen Rekonstruktion Europas.
II. Sicherheitspolitische Defizite der amerikanischen und französischen kernwaffengestützten Militärstrategie aus deutscher Sicht
Die oben angesprochenen, keineswegs völlig neuen Zweifel am Beitrag der Kernwaffenrü-stung und -Stationierung zur Sicherheit in Europa wurden zwar durch die öffentlichen Auseinandersetzungen über den NATO-Doppelbeschluß von 1979 wieder belebt; sie fanden aber ihre inhaltliche Stütze in den über einen engen Kreis von Experten hinaus sich verbreitenden Einsichten in die für die Bundesrepublik Deutschland fatale Logik der militärischen Sicherheitspolitik ihrer Hauptverbündeten. Diese Logik der militärischen Sicherheitspolitik der USA und NATO einerseits sowie Frankreichs andererseits läuft derzeit — von ganz unterschiedlichen Ausgangspunkten ausgehend — darauf hinaus, im Falle des Versagens der nuklearen Abschrekkung den „ungewollte(n) Atomkrieg" (Daniel Frei) oder „Weltkrieg wider Willen" (Dieter S. Lutz) vom Territorium der USA bzw. Frankreichs möglichst fernzuhalten und auf Zentraleuropa (und ggf. andere Gebiete im eurasischen Raum) zu begrenzen. Wie immer auch die Einschätzungen der Durchführbarkeit einer solchen Planung im Kriege und der Akzeptanz eines derartigen Szenarios durch die Gegenseite (also durch die Sowjetunion) ausfallen mögen, die Praxis der militärischen Sicherheitspolitik der Hauptverbündeten der Bundesrepublik hat zur Folge, Zentraleuropa zum Stationierungs-bzw. Zielgebiet der jeweils modernsten konventionellen, nuklearen und chemischen Waffen zu machen und im Falle einer wo auch immer ausgelösten Krise im Verhältnis der Supermächte untereinander als Manövrierraum auch für militärische Aktionen zur Krisenbewältigung zu benutzen. 1. Zur Sicherheitskonzeption der USA Die militärische Sicherheitspolitik der USA und die ihr zugeordneten militärstrategischen Konzepte zielen auf Kriegsverhütung und, im Falle eines „wider Willen" ausgebrochenen Krieges, auf rasche Kriegsbeendigung durch umfassende militärische, insbesondere nukleare Abschreckung bzw. Verteidigung, die es den USA und ihren Verbündeten erlaubt, die Oberhand zu behalten („to prevail") Dabei sind zwei Varianten des Abschreckungskonzepts zu unterscheiden: Abschreckung durch die Androhung eine untragbaren Vergeltungsschadens („deterrence by punishment“; Vergeltungsabschreckung) und Abschreckung durch die Androhung einer auf allen Eskalationsstufen überlegenen Kriegführungsfähigkeit („deterrence by denial"; Abschreckung durch Eskalationsdominanz). Die Praxis der militärischen Sicherheitspolitik der USA stellt einen Formelkompromiß zwischen beiden Varianten dar, um die Glaubwürdigkeitsdilemmata einer kernwaffengestützten Militärstrategie zu verringern
Das grundsätzliche (Glaubwürdigkeits-) Dilemma der nuklearen Abschreckung liegt darin, daß die Wahrscheinlichkeit, die Androhung eines untragbaren Vergeltungsschadens wahr zu machen, mit der Gefahr von Eigen-schäden aufgrund einer entsprechenden gegnerischen Reaktion abnimmt. M. a. W., unter den Bedingungen einer gesicherten nuklearen Zweitschlagfähigkeit sowohl der USA als auch der Sowjetunion ist die Androhung eines untragbaren Vergeltungschadens noch am ehesten im Rahmen der strategischen Direktbeziehung zwischen den Supermächten glaubhaft. Dieser Sachverhalt zeitigt drei unterschiedliche, parallel eintretende Konsequenzen in der militärischen Sicherheitspolitik der USA:
1. Sie tendiert dazu, die Strategie der Vergeltungsabschreckung für den Schutz des eigenen Territoriums zu reservieren (die USA bzw. Nordamerika als Sanktuarium).
2. Im Verhältnis zu bündnisabhängigen nichtatomaren Staaten, vor allem in Westeuropa, strebt sie eine Risikoverteilung derart an, daß sie, um nicht mit dem eigenen Territorium und dessen Bevölkerung haften zu müssen, für den Schutz dieser Staaten auf Abschrekkung durch überlegene Kriegführungsfähigkeit — auch mit sog. taktischen Atomwaffen — („Eskalationsdominanz") setzt.
3. Dieses grundsätzliche Dilemma der nuklearen Abschreckung gibt einen objektiven Anreiz — für beide Supermächte —, die nukleare Erstschlagfähigkeit zu erwerben, um dem Glaubwürdigkeitsdilemma zu entrinnen und der Gegenseite ein für allemal den eigenen Willen aufzuzwingen
Neben dem grundsätzlichen (Glaubwürdigkeits-) Dilemma der nuklearen Abschreckung besteht das schon angedeutete, vor allem die nichtatomaren Mitgliedstaaten der NATO berührende strukturelle Dilemma der nuklearen Abschreckung und der sich darauf gründenden Mehrdeutigkeit der Schutzzusage der USA im Bündnis. Die vermeintliche Notwendigkeit des Ersteinsatzes von Waffen aus dem euro-nuklearen Arsenal der NATO beinhaltet einerseits ein hohes Selbstzerstörungsrisiko für Europa, das im wesentlichen die Kriegslasten zu tragen hätte, und andererseits die Gefahr, daß bei einem entsprechenden Fortschreiten der Zerstörung Mitteleuropas im realen Konfliktfall eine allgemeine nukleare Reaktion der NATO nur noch den Charakter einer Bestrafungsaktion gegenüber der Sowjetunion hätte. Eine mit dem Risiko der Vernichtung der USA verknüpfte Ankoppelung amerikanischer interkontinentaler Atomwaffen wäre dann jedoch erst recht fraglich.
Diese aufgrund der Auseinandersetzungen über den NATO-Doppelbeschluß einer breiteren Öffentlichkeit bewußt gewordenen Dilemmata der nuklearen Abschreckung im Bündnis haben zu einer tiefgehenden Akzeptanzkrise der über die NATO vermittelten militärischen Sicherheitspolitik in und für Europa geführt. Als Belege für diese Feststellung mögen neben Hinweisen auf die Friedensbewegung vor allem Äußerungen von eher konservativ einzustufenden prominen-ten Politikern wie Kurt Biedenkopf (CDU) sowie die vom Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr erhobenen Befunde dienen.
Kurt Biedenkopf, der sich im konservativen Lager bisher am weitesten vorgewagt hat, gibt dieser Akzeptanzkrise der kernwaffengestützten Sicherheitspolitik wie folgt Ausdruck: „Die nukleare Abschreckung ist als militärisches Instrument der Friedenssicherung ungeeignet. Sie ist nur als politisches Instrument der Friedenssicherung denkbar. Aber selbst als ein Instrument der Politik wird sie im demokratischen Konsens nicht dauerhaft stabilisierbar sein. Denn der — in der Drohung notwendig mitgedachte — Umschlag der nuklearen Abschreckung von der politischen Drohung zur militärischen Tat wäre zugleich das Ende der Politik. Mit der nuklearen Abschreckung als politischem System der Friedenssicherung setzt die Politik gewissermaßen alles auf eine Karte. Sie gerät damit selbst in eine Grenzsituation. In eine solche Lage darf sich die Politik nie begeben. Auf Dauer gesehen ist, gemessen an Politik in der Grenzsituation, jede Alternative besser." Vorboten dieser in der Gegenwart festzustellenden Akzeptanzkrise finden sich in Umfragen, die vom Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr unter Leitung von Ralf Zoll durchgeführt werden Diese Umfragen vermitteln Einsichten in die ambivalente Einstellung der Bevölkerung zu Fragen der militärischen Sicherheitspolitik: Auf der einen Seite erfährt die Bundeswehr selbst eine starke positive Bewertung, zugleich erweist sich die Bevölkerung über die für die Verwendung der Bundeswehr gültige Militärstrategie der NATO nur unzureichend informiert. Auf der anderen Seite zeigt sich, „daß der Grad der Verteidigungsbereitschaft erheblich abnimmt, sobald in die Fragen Aussagen über die NATO-Strategie eingebaut werden. Während auf die schlichte Frage, ob sich die Bundesrepublik . gegen einen militärischen Angriff wehren sollte, zu allen drei Fragezeitpunkten zwischen 57 und 64 % der Bürger dafür stimmten, waren sie unter der Bedingung, daß in einem solchen Krieg Atomwaffen einge-setzt werden müßten, um die Jahreswende 1977/78 noch mit 19, 0% dafür und mit 60, 5% dagegen und bei der letzten Umfrage im Februar/März 1980 sogar im Verhältnis 15, 2 zu 71, 0 % dagegen"
Aus diesen und ähnlich gelagerten Befunden kann zuverlässig geschlossen werden, daß die westdeutsche Bevölkerung seit längerem zwar die militärische Landesverteidigung mit deutlicher Mehrheit bejaht und auch die dafür erforderlichen materiellen Kosten, weniger allerdings die persönlichen Lasten zu tragen gewillt ist; eine militärische Sicherheitspolitik jedoch, die auf einem auch die nukleare Kriegführung in Europa einschließenden Abschreckungskonzept beruht, wird von ihr nachhaltig abgelehnt. Dies ist nur zu verständlich, „da mit Blick auf die Atomwaffen befürchtet wird, ein neuer großer Krieg werde weitaus schlimmer enden als der Zweite Weltkrieg"; und schließlich ist aus Umfrageergebnissen zu entnehmen, „daß sich die Einsicht, ein neuer Weltkrieg würde in einen Atomkrieg eskalieren, bei dem es keinen Gewinner mehr gibt, nach und nach in der Bevölkerung durchgesetzt hat" .
Diese Akzeptanzkrise der über die NATO vermittelten militärischen Sicherheitspolitik wird noch zusätzlich dadurch genährt, daß die Reagan-Administration in ihrer Abschrekkungsstrategie das Element der sog. horizontalen Eskalation in jüngerer Zeit besonders betont hat, wodurch die Sicherheit der nichtatomaren Staaten Westeuropas noch deutlicher als je zuvor globalstrategischen Kalkülen der USA untergeordnet wird. In seinem Bericht an den Kongreß für das Haushaltsjahr 1983 weist Verteidigungsminister Weinberger darauf hin, daß die USA im Falle einer außereuropäischen bewaffneten Auseinandersetzung mit der Sowjetunion sich vorbehielten, Gegenoffensiven an Orten einzuleiten, „wo wir den Ausgang des Krieges beeinflussen können" und „deren Bedeutung denen vergleichbar ist, die er (der Feind — V. R.) angreift"
In einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung wird diese Erweiterung der amerikanischen Abschreckungsdoktrin zutreffend wie folgt interpretiert: „Wollen die USA mit einer solchen horizontalen Eskalation einer militärischen Konfrontation zwischen ihr und der Sowjetunion im Persischen Golf glaubwürdig drohen, bleibt wohl nur ihre geographische Ausweitung auf Europa, weil darin allein die von Weinberger geforderte Werte-Parität bestünde ... Die amerikanische Drohung mit horizontaler Eskalation verknüpft also die Stabilität der Abschreckung in Europa mit der Entwicklung der amerikanisch-sowjetischen Konfrontation in der Dritten Welt." .
Ohne die Teilabhängigkeit der westeuropäischen Staaten einschließlich der Bundesrepublik von Öllieferungen aus der Region Südwestasien und deren Interesse an der Verhütung bzw. raschen Beendigung von Kriegen in dieser Region zu unterschätzen, kann die wirtschaftliche und soziale Sicherheit in Westeuropa auch ohne die Globalisierung der militärischen Sicherheitsvorkehrungen für Europa hinlänglich gewahrt werden. An die Stelle selbstgefährdender Konzepte der horizontalen Eskalation von lokalen bzw. regionalen Dritte-Welt-Konflikten tritt im westeuropäischen Sicherheitsinteresse die (nichtmilitärische) Einhegung solcher Auseinandersetzungen sowie eine auf Diversifikation angelegte Energiepolitik (und Rohstoffpolitik) einerseits und eine Entwicklungspolitik andererseits, die Prozesse des sozialen Wandels zu fördern und vor dem Abgleiten in staatliche Repression von oben oder gewaltsame Eruptionen von unten zu bewahren sucht. Die in der amerikanischen Dritte-Welt-Politik immer wieder durchbrechende Neigung, für alle krisenhaften Entwicklungen die Sowjetunion (u. U. auch Kuba, Vietnam) verantwortlich zu machen und diesen Entwicklungen vor allem mit militärischen Mitteln zu begegnen, findet in weiten Teilen der interessierten Öffentlichkeit in Westeuropa (und selbst in den USA) ein skeptisches bis ablehnendes Echo 2. Die französische Sicherheitspolitik So sehr sich die militärstrategische Ausformung der französischen Sicherheitspolitik für Europa von der amerikanischen und in der NATO akzeptierten Doktrin und Praxis unterscheidet, so nachhaltig trägt sie zur Komplizierung der sicherheitspolitischen Gesamt-lage und zur Verschiebung der Sicherheitsrisiken auf die nichtatomaren Staaten Westeuropas bei. Davon ist zu allererst der „privilegierte Partner" Bundesrepublik Deutschland betroffen, für den die französische Politik reichlich gute Worte, aber wenig verbindliches Engagement zu dessen effektivem Schutz bereithält.
Die französische militärische Sicherheitspolitik fußt erklärtermaßen auf den beiden Pfeilern der nationalen Unabhängigkeit und der durch bi-und multilaterale Bündnisse begründeten internationalen Solidarität Der Vorrang des Unabhängigkeitsprinzips zeigt sich indessen darin, daß die französische Politik keinerlei Automatismen hinsichtlich der Art, des Umfangs und des Zeitpunkts der Erfüllung von Solidarverpflichtungen anerkennen will. Konkreter faßbar werden diese Eckpfeiler der französischen militärischen Sicherheitspolitik in der ursprünglich 1972 vom damaligen gaullistischen Verteidigungsminister Michel Debr vorgetragenen und vom jetzigen sozialistischen Verteidigungsminister Charles Hernu mit Entschiedenheit wieder aufgegriffenen Drei-Kreise-Doktrin der Wahrung französischer Sicherheitsinteressen:
„— An erster Stelle das französische Staatsgebiet, das der hauptsächliche Gegenstand der Verteidigung ist, da es die nationale Identität verkörpert...
— An zweiter Stelle Europa, vor allem Westeuropa, das vom Atlantischen Bündnis und der Westeuropäischen Union geschützt wird und das natürliche und vorrangige Gebiet für unsere politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Beziehungen ist...
— Die Verteidigungspolitik Frankreichs muß schließlich bis in die entferntesten Gebiete durchgeführt werden. Das schließt Gegenden ein, wo viele unserer Staatsbürger wohnen, wo Länder liegen, mit denen uns besonders enge Beziehungen, Abkommen über Zusammenarbeit oder Verteidigung verbinden, und ebenso die für unsere Versorgung und Seewege wesentlichen Regionen."
Die militärstrategische Umsetzung dieser Drei-Kreise-Doktrin sieht vor, daß sowohl die strategischen und taktischen Kernwaffen als auch der Großteil der konventionellen Streitkräfte in erster Linie die Sanktuarisierung des französischen Nationalterritoriums zu garantieren bestimmt sind. Zwar wird die Bündnis-treue Frankreichs mit Hinweisen auf die indirekte Abschreckungswirkung französischer Kernwaffen zugunsten der westeuropäischen Bündnispartner sowie durch Verweis auf die in Südwestdeutschland stationierten französischen Truppen bekräftigt, diese aber auch stets durch den Ausschluß eines jeden Beistandsautomatismus relativiert. Zudem läßt gerade die jüngst eingeleitete Reorganisation des Heeres eher Rückschlüsse auf eine weitergehende Distanzierung von Beistandsverpflichtungen in Europa zu.
Der Pariser Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung schreibt dazu: „Die jetzt neu aufzustellende hochmobile Force d'Action Rapide (FAR) von fünf Divisionen soll als Expeditionskorps in Zukunft zur Erfüllung des Solidaritäts-Pensums zum schlagkräftigen und raschen Einsatz an . vorderster Linie'an der Seite der Alliierten in der Lage sein. Das bisherige Corps de Bataille der 1. Armee beidseits des Rheins verliert dabei andererseits tendenziell an Bedeutung als , NATO-Reserve in zweiter Linie'zugunsten einer erneuten Rückbesinnung auf ein . Unabhängigkeits-Pensum als bloßer konventioneller , Test-schleier' in der rein nationalen Abwehr vor dem Losfeuern der taktischen Nuklearwaffen des . Ultime avertissement’ und gegebenenfalls der großen nuklearen .frappe'."
Zwar geht der Autor nicht so weit, die französische Militärstrategie als Ausdruck eines faktischen Neutralismus einzustufen, gewinnt aber den „Eindruck, daß Frankreich unter wieder strikterer Trennung seiner eigenen nuklear und konventionell zusammengesetzten nationalen Dissuasion von allfälligen Allianz-pflichten in Westeuropa sich vielmehr ein geschmeidigeres Instrument schaffen will, das ihm technisch für eine noch viel längere Zeit als bisher die Entscheidung über dessen Einsatz im kollektiven Allianzinteresse hinauszuzögern gestattet und vor allem auch stets die Wahl offenhält, ob es überhaupt eingreifen oder nicht viel eher das neu formierte Mittel einzig zur eigenen Hexagonverteidigung einsetzen soll"
Der Schluß, daß die geplante Neuorganisation des französischen Heeres eher eine Schwächung als eine Stärkung des französischen Beitrages zur konventionellen Verteidigung Westeuropas beinhaltet, ergibt sich nicht zuletzt aus dem Umstand, daß die Force d'Action Rapide eben nicht ausschließlich oder primär als Eingreiftruppe zur Stabilisierung der zentraleuropäischen Front, sondern auch und nicht zuletzt als Expeditionskorps für außereuropäische Verwendungen vorgesehen ist
Stellen schon die Ungewißheiten über das französische Engagement zur konventionellen Verteidigung Westeuropas eine objektive Belastung der westeuropäischen und insbesondere der deutsch-französischen Solidarität dar, so muß eine strikt national-partikularistisch konzipierte und implementierte Abschreckungspolitik Frankreichs in Europa zu einer Herausforderung für die westdeutschen Sicherheitsinteressen werden. Dieser objektive sicherheitspolitische Interessenkonflikt liegt darin begründet, daß eine derartige französische Militärstrategie das Territorium der Bundesrepublik als Glacis der eigenen Verteidigung auffaßt, die Sicherung dieses Vorfeldes aber vornehmlich den der NATO unterstellten Streitkräften der Verbündeten überläßt und sich darüber hinaus vorbehält, bei einem etwaigen Durchbruch von Verbänden des Warschauer Pakts nach Westen die eigenen taktischen Kernwaffen gegen Ziele auf dem Territorium der Bundesrepublik einzusetzen. Zwar sieht die französische Militär-strategie — anders als die NATO-Strategie — keine Duelle mit nuklearen Gefechtsfeldwaffen vor, doch der als Demonstration der eigenen Entschlossenheit zur strategischen nuklearen Vergeltung gedachte Einsatz von luft-und landgestützten Atomraketen gegen sich der französischen Ostgrenze nähernde WVO-Streitkräfte würde in der Bundesrepublik Zerstörungen anrichten, die sich nicht wesentlich von den Folgen einer nuklearen NATO
Kriegführung im Rahmen der flexiblen Reaktion unterscheiden.
Diese Puffer-bzw. Glacis-Funktion der Bundesrepublik in der militärischen Sicherheitspolitik Frankreichs widerspricht dem Geist und den Buchstaben der zwischen Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland bestehenden vertraglichen Bindungen, die aber von Frankreich vor allem im Falle des WEU-Vertrages z. T. offen mißachtet (Protokoll III), z. T. implizit ignoriert werden (Art. V) Diese Elemente der französischen Politik konnten aus westdeutscher Sicht solange als störende, aber letztlich belanglose Randerscheinungen der westlichen Sicherheitspolitik in und für Europa behandelt werden, wie die amerikanische Sicherheitspolitik Westeuropa nicht die Primärhaftung für die Glaubwürdigkeit der Abschreckung im Bündnis zu-schob. In dem Maße allerdings, wie die Ziele sowohl der französischen als auch der amerikanischen Politik darin zu konvergieren begannen, ihr eigenes Territorium von der Haftung für die Sicherheit der nichtatomaren Staaten Westeuropas so weit wie möglich auszunehmen und die Vorstellung zu akzeptieren, daß das Territorium dieser Staaten Teil eines nuklearen Kriegsschauplatzes werden könnte, mußte sich in der Öffentlichkeit dieser Staaten, nicht zuletzt der Bundesrepublik Deutschland, die Frage nach der Gleichbehandlung bzw. Mitbestimmung bei der nuklearen Abschreckungsplanung in den Bündnissen (NATO, WEU) oder aber die Frage nach der Absage an jegliche kernwaffengestützte militärische Sicherheitspolitik mit aller Schärfe stellen. Die Kritik der westlichen Nuklearstrategien in der Bundesrepublik richtet sich zwar in erster Linie gegen deren weder moralisch noch politisch-pragmatisch zu vertretenden Zerstörungsrisiken für die nichtatomaren Bündnismitglieder; sie muß aber auch als Reaktion auf die Erkenntnis gedeutet werden, daß die derzeitige sicherheitspolitische Bindung an die Hauptverbündeten USA und Frankreich von einer zwischen Oktroi und Vernachlässigung schwankenden Scheinsolidarität gekennzeichnet ist.
III. Ansätze zur Erneuerung der Sicherheitspolitik in und für Europa
Aus der Analyse der sicherheitspolitischen Defizite der kernwaffengestützten Militär-Strategien der Hauptverbündeten der Bundesrepublik ergeben sich erste deutliche Hin-weise dafür, welcher Art die Suche nach Ansätzen zur Erneuerung der Sicherheitspolitik in und für Europa sein sollte Allerdings reicht diese Defizitanalyse von Militärstrategien nicht aus, um ein — wenn auch vorerst nur in Ansätzen erkennbares — Programm für eine andere, erneuerte Sicherheitspolitik zu begründen. Eine einigermaßen befriedigende Begründung müßte zusätzlich zu der Defizitanalyse von Militärstrategien auf einer Kritik der Thesen über die von der Sowjetunion (und ihren Verbündeten) ausgehende Bedrohung sowie auf einer Untersuchung der europapolitischen Ziele und Interessen sowohl der USA und also auch der Sowjetunion fußen, um die sicherheitspolitischen Handlungsspielräume einzelner europäischer Staaten bzw. Staatengruppen näher bestimmen zu können
Ein auf diesen Analyse-und Begründungszusammenhängen fußendes Programm für eine andere, erneuerte Sicherheitspolitik in und für Europa weist in militärischer Hinsicht Eckwerte auf, die mit den Begriffen der De-Nuklearisierung (ohne Verzicht auf eine nukleare Residualabschreckung) und der nicht-provokativen Konventionalisierung umschrieben werden können. In politischer Hinsicht kommt als Bezugspunkt für ein solches Programm der Begriff der Europäisierung in Betracht, hier zunächst als Herausbildung einer sicherheitspolitischen Identität Westeuropas definiert.
De-Nuklearisierung soll hier in dem Sinne verstanden werden, wie er von Egon Bahr in seinem Sondervotum zum Bericht der Palme-Kommission präzisiert wurde: „Alle Atomwaffen werden aus den Staaten in Europa abgezogen, die-nicht über sie verfügen." Im Zuge der Europäisierung der militärischen Sicherheitspolitik würde De-Nuklearisierung jedoch auch den Verzicht Frankreichs auf seine sog. taktischen land-und luftgestützten Kernwaffenträger einschließen müssen. Den seegestützten Kernwaffenträgern Frankreichs und Großbritanniens verbliebe die Funktion, den wechselseitigen Verzicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen in Europa bzw. die Sanktionierung eines Verstoßes gegen diesen Verzicht zu garantieren.
Das Konzept der De-Nuklearisierung unterscheidet sich demnach vom Konzept der kernwaffenfreien Zone in der von der 10. Sondergeneralversammlung der Vereinten Nationen beschlossenen Definition in mehrfacher Hinsicht: De-Nuklearisierung setzt keinen multilateralen Vertrag und keine Anerkennung durch die Vereinten Nationen voraus. Die Staaten in der Zone der De-Nuklearisierung verzichten nicht auf eine nukleare Residualabschreckung. De-Nuklearisierung bedarf keines besonderen Systems der Verifikation.
Nicht-provokative Konventionalisierung soll heißen, daß eine konventionelle Abwehr-strategie entwickelt und in Kraft gesetzt wird, die konventionelle Angriffsaktionen des War-schauer Paktes zum Stehen zu bringen vermag, ohne selbst die eigene (Gegen-) Angriffs-fähigkeit vorauszusetzen. Dem soll der Aufbau und die Dislozierung von kleinen, dezentral organisierten Militäreinheiten dienen, die einerseits für gegnerische Kernwaffeneinsätze keine lohnenden Ziele abgeben und die andererseits mit modernster, „intelligenter" Bewaffnung zur Bekämpfung gepanzerter Verbände und zur Luftabwehr ausgerüstet sind. Konventionalisierung in diesem Sinne darf nicht als konventionelle „Nachrüstung" (z. B. im Sinne des Rogers-Plans) mißverstanden werden sondern weist den Charakter einer sicherheitspolitischen Alternative auf, die Bemühungen um konventionelle Rüstungskontrolle und Abrüstung in Europa erleichtert und sich von der sterilen Diplomatie der Schuldzuweisungen freimacht. 1. Bedrohungsanalysen Die Postulate der De-Nuklearisierung und Konventionalisierung ergeben sich für die nichtatomaren Staaten Westeuropas und insbesondere für die Bundesrepublik Deutschland aus den Defiziten der amerikanischen und französischen Militärstrategien. Gleichwohl ist zu prüfen, ob diesen Staaten aufgrund einer Bedrohungsanalyse mit Blick auf die Sowjetunion und ihre Verbündeten keine andere vernünftigere Wahl bleibt, als sich diesen Risiken auszusetzen.
Bekanntlich geht es bei diesen Bedrohungsanalysen um die Abschätzung der Fähigkeiten und Absichten des potentiellen Gegners. Die über die NATO vermittelte militärische Sicherheitspolitik ebenso wie die Frankreichs geht davon aus, daß die Sowjetunion und der Warschauer Pakt in Europa eine sowohl konventionelle als auch nukleare Überlegenheit besitzen, die eine grundlegende Änderung der Militärstrategie unmöglich mache, solange diese Überlegenheit fortdauere. Die Absichten des potentiellen Gegners werden demgegenüber meist weniger genau bestimmt; gleichwohl wird grundsätzlich angenommen, daß der Sowjetunion militärische Angriffsabsichten zuzutrauen sind.
Die Abschätzung der militärischen Fähigkeiten des potentiellen Gegners und insbesondere die Feststellung seiner Überlegenheit erfolgt mittels sog. Kräfte-oder Stärkevergleiche. Derartige „Vergleiche" durch die Gegenüberstellung von Zahlen über militärische Verbände, Mannschaftsstärken und Waffensysteme sind aus der Berichterstattung der Nachrichtenmedien sattsam bekannt. Die Selbstverständlichkeit, mit der solche Gegenüberstellungen der Öffentlichkeit als zuverlässige Aussagen über die militärischen Fähigkeiten des potentiellen Gegners vorgesetzt werden und von dieser weithin akzeptiert zu werden scheinen, steht in einem deutlichen Mißverhältnis zu deren methodischer Dürftigkeit -Allein diese Methode der rein numerischen Gegenüberstellungen ohne Berücksichtigung jeglicher weiterer Faktoren wie Qualitätsmerkmale der Waffen, Zusammensetzung der Gesamtpotentiale, Unterschiede in militärischer Strategie und Taktik, geostrategische Ausgangsbedingungen, ganz zu schweigen von Faktoren wie Bevölkerungszahl, Wirtschaftskraft und technologischem Entwicklungsstand, öffnen der Vergleichswillkür Tür und Tor. Betrachtet man unter diesen Vorzeichen die Gesamtheit der amtlichen, offiziösen und kritischen Veröffentlichungen der letzten Jahre zu diesem Thema so scheinen folgende Schlüsse vertretbar zu sein:
1. Eine Überlegenheit der konventionellen Streitkräfte des Warschauer Pakts in Europa, die Angriffsoptionen begründen könnte, ist nicht zu erkennen. Taktische Atomwaffen bzw. nukleare Gefechtsfeldwaffen auf Seiten der NATO lassen sich nicht mit dem Argument der Kompensation einer konventionellen Überlegenheit des Warschauer Pakts begründen.
2. Die Frage der nuklearen Bedrohung durch die Sowjetunion ist durch — selbst um qualitative Faktoren erweiterte — Gegenüberstellungen von Kernwaffensystemen nicht zu beantworten. Das derartigen Gegenüberstellungen zugrundeliegende Gleichgewichts-oder Paritätskriterium folgt keineswegs zwingend aus der Logik der nuklearen Abschreckung; vielmehr genügt für die nukleare Abschrekkung Hinlänglichkeit der Mittel. Insgesamt gilt, daß weder die konventionelle noch die nukleare Abschreckung einen Gleichstand der Mittel voraussetzt, sondern lediglich hinlängliche Fähigkeiten verlangt, um dem potentiellen Gegner ein Kosten-Nutzen-Kalkül aufzuzwingen, das diesem die Erreichung politischer Ziele durch militärische Macht höchst unwahrscheinlich erscheinen läßt. Dieses Kosten-Nutzen-Kalkül beinhaltet, daß 1.der durch konventionelle Verteidigung geforderte Eintritts-und ggf. Aufenthaltspreis in keinem Verhältnis zu den rational denkbaren politischen Zielsetzungen steht;
2. ferner daß der Einsatz von Kernwaffen mit der Zufügung eines kalkuliert untragbaren Schadens beantwortet wird.
Vor dem Hintergrund dieser analytischen Erwägungen und der tatsächlich vorhandenen militärischen Potentiale in Ost und West bestehen auf beiden Seiten unter der Voraussetzung des Verzichts auf imaginierte nukleare Kriegführungsoptionen jeweils unilateral ausschöpfbare Handlungsspielräume der militärischen Selbstbeschränkung, d. h.der De-Nuklearisierung und konventionellen Um-und Abrüstung.
Dieses Ergebnis wird für die westliche Seite auch nicht durch eine Analyse der Absichten der Sowjetunion in Frage gestellt. Diejenige Variante der Absichtenerforschung, die eine sowjetische Aggressionsbereitschaft aus dem vermeintlichen Streben nach militärischer Überlegenheit deduziert, können wir hier übergehen. Tragfähiger erweisen sich demgegenüber solche Analysen, die weniger durch antikommunistische Fixierungen, mitunter sogar Projektionen geprägt sind, sondern mehr auf objektivierbare Restriktionen sowie auf rekonstruierbare Handlungsmuster sowjetischer Außen-und Sicherheitspolitik abstellen.
Ein instruktives Beispiel für eine derartige Restriktionsanalyse liefert Nish Jamgotch, der betont: „... never before has the Soviet Union possessed more sophisticated and formidable weapons, yet it suffers from great insecurity and vulnerability"
Als Quellen sowjetischer Unsicherheit und Verwundbarkeit benennt Jamgotch fünf Problemkreise, die sich im Verlauf der Breschnew-Ära als immer weniger lösbar heraus-schälten: „ 1. unabating deficiencies in the Soviet economy; 2. a precarious battle with communist orthodoxy and alliance management in Eastern Europe; 3. a jittery relationship with China;
4. its true, not fancied, position in the international balance of power-, 5. the constraints which global interdependency and the thermonuclear age impose on the rational formulation of defense policies."
Jamgotch's Schlußfolgerungen gehen dahin, daß keine triftigen Anhaltspunkte für die Vermutung vorliegen, die sowjetische Herrschaftselite könnte Zuflucht zu militärischen Aggressionen zumal in Europa nehmen, um von diesen ungelösten Problemen abzulenken bzw. weil sie dadurch die Probleme selbst zu beseitigen hoffte. Er sieht sich darin nicht zuletzt durch die sowjetischen Erfahrungen in der Kuba-Krise und mit der Afghanistan-Intervention bestätigt, denn „The nagging weaknesses of the Soviet economy and relentless political and economic stirrings in Eastern Europe indicate that vulnerabilities close to home will make extended military forays excessively costly and ill advised." (Hervorhebung vom Verf. — V. R.)
Von einem anderen Analyseansatz ausgehend, dem der Rekonstruktion empirisch überprüfbarer Handlungsmuster, kommt Harko Hakovirta mit Bezug auf das Ost-West-Verhältnis in Europa zu folgenden Ergebnissen: „It would be erroneous to Interpret Soviet policy in Europe as pure bloc politics aimed only at weakening the opposing bloc and strengthening its own. Although it has made such efforts, the Soviet Union has also sought to prevent the outbreak of general war in Europe in Order to protect its own security and as a necessary precondition for the unhindered progress of peaceful competition with the capitalist System on the way to the presumed final triumph of socialism. From this perspective, the U. S. S. R. is mainly interested in preserving the balance of forces and stability in Europe, or at most, in changing the balance in its favor so gradually that the Impression of stability can be maintained. Some aspects of its behavior fit in rather well with an image of the Soviet Union as a world power that is mainly interested in stability and the prevention of war."
Es kann festgehalten werden, daß der Schluß auf einen sowjetischen „Grand Design" zur militärischen Expansion nach und Unterwerfung von Westeuropa empirisch nicht plausibel begründet werden kann Wohl ist eine Tendenz der Sowjetunion zu erkennen, ihre Stabilitätsinteressen so zu definieren, daß sie als Ausdruck eines politischen Hegemoniestrebens gegenüber den nichtkommunistischen Staaten Europas erscheinen. Diese Tendenz ist für die Sicherheit der westeuropäischen Staaten indessen solange relativ unproblematisch, als die Sowjetunion keine Anknüpfungspunkte findet, um sich in der Innenpolitik westeuropäischer Demokratien als Quasi-Konfliktpartei zu etablieren. Die soziopolitische Stabilität der westeuropäischen Demokratien, weit mehr als ihre militärischen Kapazitäten, bietet daher die stärkste (wenn auch nicht die einzige) Garantie gegen Kriegsgefahren und Einbußen an politischer Handlungsautonomie. 2. Verflechtungsanalyse Ein Programm für eine andere, erneuerte Sicherheitspolitik in und für Europa muß sich indessen nicht nur an den Ergebnissen der Bedrohungsanalyse mit Blick auf die Sowjetunion und ihre Verbündeten messen lassen; sie muß auch den Befunden der Verflechtungsanalyse bzw. einer Analyse von Entflechtungsgefahren und -folgen mit Blick auf die USA Rechnung tragen. Dies schon deshalb, weil die Ablehnung jeglicher substantiellen Revision der über die NATO vermittelten westlichen Sicherheitspolitik damit begründet wird, daß die westeuropäischen Staaten dadurch militärisch und vor allem auch politisch von den USA abgekoppelt würden Damit stellt sich aber die weitere Frage, ob die USA eine solchermaßen befürchtete Abkoppelung von Westeuropa hinzunehmen bereit wären bzw. sich einer Politik des Neo-Isolationismus im Verhältnis zu Europa zuwenden würden, um eine Sicherheitspolitik der „Fortress America" zu betreiben.
Eine plausible Antwort auf die zuletzt aufgeworfene Frage läßt sich nur finden, wenn man sich weniger von den von einigen Politikern und Publizisten geäußerten Irritationen angesichts einer Augenblickswahrnehmung des Verhältnisses USA—Westeuropa bestimmen läßt, sondern eher auf das Ausmaß und die Intensität des nach 1945 geschaffenen transatlantischen Verflechtungssystems blickt Sowohl für die USA als auch für die westeuropäischen Staaten haben der Waren-und Kapitalverkehr, der kulturelle sowie wissenschaftlich-technologische Austausch, die bi-und multilateralen diplomatischen Konsultations-und Aushandelungsmechanismen und schließlich die amerikanische militärische Präsenz in Westeuropa tiefgehende wechselseitige Abhängigkeiten geschaffen. Für beide Seiten dürften daher die Kosten einer wechselseitigen Abkoppelungsstrategie als prohibitiv anzusehen sein.
Die Vermutung, daß eine solche Abkoppelung die westeuropäischen Staaten theoretisch härter träfe als die USA steht dem nicht entgegen, bringt indessen zum Ausdruck, daß das transatlantische Verflechtungssystem im Ganzen eine asymmetrische, in Teilen sogar eine hegemoniale Struktur zu Lasten Westeuropas aufweist; m. a. W., daß die USA die Rolle des „Vorsitzenden" spielen, diese Rolle gelegentlich in der Form einer „majority of one" ausfüllen und im Durchschnitt relativ größere Vorteile aus dem Verflechtungssystem ziehen als die westeuropäischen Partner. Die daraus ableitbaren Beschränkungen für die Handlungsautonomie der westeuropäischen Staaten finden jedoch ihre Schranke in der gleichsam als Axiom geltenden Prämisse der amerikanischen Europapolitik: Die USA haben ein vitales Interesse an der Aufrechterhaltung und Fortentwicklung des transatlantischen Verflechtungssystems und an einer möglichst diversifizierten Präsenz in Westeuropa Die USA können und werden aus Gründen der eigenen Systemerhaltung schon der sich abzeichnenden Möglichkeit des Ausscherens eines westeuropäischen Staates aus den bestehenden Verflechtungszusammenhängen mit Entschiedenheit entgegentreten, wie der Fall Portugal nach 1974 illustriert. Zugleich entbehrt die amerikanische Politik nicht der Flexibilität, um sich mit Modifikationen, die das Verflechtungssystem insgesamt nicht in Frage stellen, im Einzelfall zu arrangieren, wie der Fall Frankreich seit de Gaulle anzeigt. Der Grad der Anpassungsbereitschaft der USA an von Westeuropa ausgehenden Initiativen zur Umstrukturierung des transatlantischen Verflechtungssystems in Teilbereichen wird dadurch bestimmt, ob und inwieweit die Systemgrenzen zwischen Ost und West nicht verwischt, der Zugang der USA zu den westeuropäischen Gesellschaften und Märkten nicht beschränkt und die Lastenverteilung im Bündnis aus der Sicht der USA nicht verschlechtert werden.
Auf der anderen Seite steht eine einseitige Aufkündigung der Interdependenz mit den USA durch einzelne oder mehrere westeuropäische Staaten realistisch betrachtet, d. h. mit Blick auf die derzeitigen und voraussehbaren innenpolitischen Konstellationen in Westeuropa, nicht zur Debatte. Es bleibt somit zu prüfen, ob eine von den nichtatomaren Staaten Westeuropas ausgehende Initiative zur De-Nuklearisierung und nichtprovokativen Konventionalisierung der westlichen Sicherheitspolitik für Europa mit der amerikanischen Europapolitik vermittelbar erscheint. Durch eine derartige Revision der militärischen Sicherheitspolitik würden objektiv sicherlich weder die Systemgrenzen zwischen Ost und West in Europa verwischt noch der Zugang der USA zu den Gesellschaften und Märkten Westeuropas geschmälert. Allerdings ist zu erwarten, daß Teile der amerikanischen außenpolitischen Entscheidungs-und Einflußeliten ein derartiges Revisionsverlangen zumal aus der Bundesrepublik in dem Sinne überinterpretieren, daß sich darin die Hinwendung zu einer Politik des Neutralismus zwischen Ost und West gepaart mit nationalpolitischen Zielsetzungen eines Unter-laufens des Systemgegensatzes in Deutsch-land ankündigt. Diese nicht nur in den USA, sondern ebenso auch in Frankreich und in anderen westeuropäischen Ländern anzutreffenden Vorbehalte gegenüber einer Abkehr von der bisherigen westlichen Sicherheitspolitik für Europa können letztlich nur durch die Europäisierung einer alternativen sicherheitspolitischen Programmatik ausgeräumt werden. Die Europäisierung des Programms für eine auf den Eckwerten der De-Nuklearisierung und der nichtprovokativen Konventionalisierung fußenden militärischen Sicherheitspolitik wirft aber zugleich Fragen nach den Entwicklungsperspektiven der westeuropäischen Integration im allgemeinen und des deutsch-französischen Verhältnisses im besonderen sowie nach der Einfügung eines derartigen Programms in die Weiterentwicklung des Ost-West-Verhältnisses in Europa auf. 3. Aussichten einer Europäisierung der westlichen Sicherheitspolitik 1. Eine Europäisierung der westlichen Sicherheitspolitik steht — zurückblickend auf die letzten 20 Jahre — im Einklang mit der seit den Tagen der Regierung Kennedy in den USA wiederholt formulierten Forderung nach Errichtung einer zweiten, europäischen Säule der westlichen Sicherheitspolitik Neben anderen Gründen hat auch das Ausbleiben dieser zweiten Säule dazu beigetragen, daß die USA — angesichts des nuklearstrategischen Aufholens der Sowjetunion — dazu übergingen, eine das nukleare Abschrekkungsrisiko nach Westeuropa vorverlegende Militärstrategie der NATO zu entwickeln und durchzusetzen. Eine Europäisierung der Sicherheitspolitik mit den Eckwerten der De-Nuklearisierung und nichtprovokativen Konventionalisierung würde die USA gewiß in eine schwierige Entscheidungssituation bringen, da sie von ihr verlangte, ihre land-und luftgestützten Kernwaffen aus Europa abzuziehen, zumindest einen Teil ihrer konventionellen Streitkräfte zu belassen und diese überdies den neuen sicherheitspolitischen Grundsätzen entsprechend umzurüsten. Den-noch erscheint die Herbeiführung eines transatlantischen Konsens über diese Punkte nicht völlig ausgeschlossen: Das vitale militärische Präsenzinteresse der USA schließt die Option eines Totalrückzuges aus; mit diesem Programm werden zwar Veränderungen, aber keine Aufhebung der NATO angestrebt; und schließlich liegen die Eckwerte der De-Nuklearisierung und Konventionalisierung durchaus im Rahmen von Vorstellungen namhafter Experten in den USA über Modifikationen der westlichen Sicherheitspolitik und Militärstrategie
2. Mindestens so problematisch wie die Herbeiführung eines transatlantischen Konsens erweist sich die Frage, ob die Europäisierung der Sicherheitspolitik in Westeuropa selbst politisch eine Chance hat. Hinsichtlich ihrer rechtlichen und institutioneilen Voraussetzungen stehen die Vorzeichen so ungünstig nicht. Der Vertrag über die Westeuropäische Union einschließlich der dadurch geschaffenen Institutionen könnten einen geeigneten Rahmen abgeben, in dem auch noch weitere westeuropäische Staaten Platz finden würden. Der Vertrag begründet eine automatische militärische Beistandspflicht im Falle eines bewaffneten Angriffs auf einen der Mitgliedstaaten in Europa und enthält in seinen Protokollen Bestimmungen über eine gemeinsame Beschlußfassung im Bereich von Rüstungspolitik und Rüstungsproduktion. Verfahren einer gemeinsamen Einsatzplanung für residuale nukleare Abschreckungsmittel Frankreichs und Großbritanniens ließen sich prinzipiell in diesen Rahmen einfügen.
Mit einer Belebung der WEU würden auf jeden Fall zwei Fußangeln vermieden, die eine Europäisierung der Sicherheitspolitik zum Stolpern bringen könnten. Zum einen würde der Befürchtung der Boden entzogen, eine Europäisierung der militärischen Sicherheitspolitik impliziere eine Neuauflage des 1954 am Widerstand der französischen Nationalversammlung gescheiterten Projekts einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft. Zum anderen würde ein Streit darüber vermieden, ob und ggf. in welcher Form der Europäischen Gemeinschaft sicherheitspolitische Funktionen zukommen sollten. Auf diese Weise würden keine Empfindlichkeiten in Frankreich gegenüber Institutionen mit Supranationalitätsattributen geweckt, und die Entscheidungsfreiheit der der WEU nicht angehörigen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft bliebe unangetastet.
Als entscheidend für die Aussichten einer Belebung der WEU als Rahmen einer Europäisierung der Sicherheitspolitik dürfte sich jedoch erweisen, ob und inwieweit eine Verständigung zwischen den nichtatomaren Staaten und den beiden Atommächten in Westeuropa, insbesondere zwischen der Bundesrepublik und Frankreich, über die Grundsätze einer europäisierten Sicherheitspolitik, möglich erscheinen Einerseits scheint die offizielle französische Haltung für eine solche Verständigung über eine europäisierte, an den Eckwerten der De-Nuklearisierung und nichtprovokativen Konventionalisierung orientierten Sicherheitspolitik wenig Raum zu lassen. Tatsächlich verleugnet die französische Politik kaum, daß sie sich mit der Sonderrolle Frankreichs unter dem bestehenden kollektiven NATO-Dach einigermaßen komfortabel fühlt. Andererseits artikulieren französische Politiker und Publizisten aller Lager, ausgenommen das kommunistische, immer wieder Unbehagen über den Mangel an sicherheitspolitischen Gemeinsamkeiten in Westeuropa. Hauptsächlicher Auslöser solchen Unbehagens stellte bislang die nach französischer Auffassung unzureichende rüstungswirtschaftliche Verflechtung in Westeuropa dar, um auch auf diese Weise ein Gegengewicht gegenüber den USA aufzubauen Sieht man einmal von der Diskussion über das Konzept der erweiterten Sanktuarisierung Mitte der siebziger Jahre ab, so hat vor allem das Jahr 1983 unter dem Eindruck der Nachrüstungsdebatte und des Erstarkens der Friedensbewegung in der Bundesrepublik (und in der DDR) einen neuerlichen Schub von Stellungnahmen und des öffentlichen Nachdenkens über die Möglichkeiten und Bedingungen einer europäischen Sicherheitspolitik gebracht Nach wie vor sind diese Äußerungen von einem tiefen Zwiespalt gekennzeichnet: einerseits die nukleare Autonomie und damit auch den internationalen Sonderstatus Frankreichs wahren zu wollen, andererseits die sog. privilegierte Partnerbeziehung mit der Bundesrepublik auch sicherheitspolitisch mit Leben zu erfüllen und der Gefahr eines aus sicherheitspolitischen Frustrationen geborenen Neo-Nationalismus in Deutschland vorzubeugen. Nimmt man hinzu, daß der auch in Frankreich von einer breiten Mehrheit grundsätzlich positiv bewertete westeuropäische Integrationsprozeß allein auf die Europäische Gemeinschaft gestellt in eine Abwärtsspirale zu geraten droht und nur eine Repolitisierung, nicht zuletzt über eine Europäisierung der Sicherheitspolitik, diesem Prozeß neue Impulse zu geben vermag, so liegt der Schluß nahe, daß es genügend Anreize für Teile der politischen Klasse Frankreichs gibt, von der Position der nuklearnationalistischen Intransigenz abzugehen. Diese Flexibilität würde noch zusätzlich gefördert durch die Klarstellung, daß Frankreich den formellen Status einer Nuklearmacht nicht verlieren bzw. ihn nicht mit der Bundesrepublik Deutschland teilen soll. 3. Eine abschließende Betrachtung dieses sicherheitspolitischen Programms für Europa muß der Frage gelten, wie es sich mit dem Streben nach Aufrechterhaltung und Vertiefung der Entspannung im Ost-West-Verhältnis in Europa verträgt. Europäisierung der Sicherheitspolitik dient zwar hier primär zur Bezeichnung einer sich verstärkenden westeuropäischen Identitätsfindung, schließt aber den Gedanken ein, daß die inhaltlichen Prinzipien dieses sicherheitspolitischen Programms auch im östlichen Teil Europas Nachahmung finden könnten und sollten. Diese Erwartung gründet sich mit darauf, daß von der Sowjetunion und den Warschauer Pakt-Staaten in den vergangenen Jahren mindestens drei nicht nur als Propaganda zu bewertende Initiativen ausgingen, die eine Revision der westlichen Sicherheitspolitik erleichtern könnten, ohne jedoch schon ein ausreichendes Maß an Bereitschaft auf sowjetischer Seite zu eigener militärischer Selbstbeschränkung zu dokumentieren. Bei diesen Initiativen handelt es sich 1. um das Angebot, einen Vertrag über den Verzicht auf den Ersteinsatz von Kernwaffen zu schließen; 2. um die Reaktion auf die schwedische Zirkularnote vom 8. Dezember 1982, in der über den schwedischen Vorschlag hinausgehend eine auf 250— 300 km ausgedehnte kernwaffenfreie Zone beiderseits der Ost-West-Grenzen in Zentraleuropa befürwortet wird; und schließlich 3. um die Bereitschaft zum Abschluß eines wechselseitigen Gewaltverzichtsvertrages
Damit wird sich indessen eine im hier beschriebenen Sinn erneuerte westliche Sicherheitspolitik für Europa nicht zufrieden geben können, sondern sie wird auf Optionen beschränkende Veränderungen in der Militär-strategie sowie im Umfang und in der Ausrüstung der konventionellen Warschauer Pakt-Streitkräfte in Europa dringen müssen, ohne diese aber zur Voraussetzung für Eigeninitiativen der Selbstbeschränkung zu machen.
In dem Maße, wie das hier skizzierte sicherheitspolitische Programm für Europa in der Wirklichkeit Gestalt annähme, sähe sich die Sowjetunion mit mehr als einem Dilemma konfrontiert: So sehr sie die Minderung von aus ihrer Sicht bedrohlichen militärischen Kapazitäten in Westeuropa begrüßen wird, so wenig Positives wird sie der Herausbildung einer gar institutionell verselbständigten sicherheitspolitischen Identität Westeuropas abgewinnen können.
Politisch gesehen kommt der Sowjetunion zweifellos eine negative Schlüsselrolle zu, insofern ohne eine mit deutlicher Zurückhaltung betriebene konventionelle Rüstungspolitik und ohne eine auf gewaltsame Repression und Intervention in Osteuropa verzichtende Politik der Sowjetunion die Durchsetzungschancen der hier skizzierten alternativen sicherheitspolitischen Programmatik in Westeuropa (und in den USA) deutlich gemindert sein dürften.
Die USA und die Sowjetunion sowie deren globale, systemideologisch überhöhte Hegemoniekonkurrenz bestimmen mit über das Schicksal Europas. Die Zeit drängt, daß die Europäer ihr Schicksal wieder stärker in ihre eigenen Hände nehmen und sich als mäßigende Kraft der internationalen Politik etablieren.