I. „Lotos-“ oder „Robotland"?
In einer bekannten japanischen Science-Fiction-Kurzgeschichte beschreibt der Autor mit bissigem Spott, wie in ferner Zukunft die japanische Regierung ein riesiges, perfekt exotisches Japan nur zum Anschauen für tumbe Touristen errichtet hat; hier können die Besucher alle Klischees bestätigt finden und sich an sämtlichen exotischen Versatzstücken der japanischen Kulturtradition — Tempel, Kimono, Rikscha usw. — berauschen. Das wirkliche Japan aber — supermodern und technologisch nahezu unerreichbar weit entwickelt — liegt als „Tokyo New City" tief unterhalb der Touristenstadt. Zu dieser unterirdischen Stadt eines neuen Japan haben Ausländer keinen Zutritt; ein amerikanischer Japan-Fachmann, dem die Absurdität der Touristenstadt verdächtig vorkommt, wird in aller Höflichkeit in der New City interniert und für immer an der Rückkehr nach Amerika gehindert. Mit ihm leben noch andere Japankenner verschiedener Nationen in der neuen Kunststadt unter der Erde; wie er werden sie festgehalten, damit sie in ihren Ländern keine Informationen über das neue Japan weitergeben können.
Interessant sind die Begründungen, die dem Amerikaner für den japanischen Rückzug unter die Erde gegeben werden, denn sie deuten auf eine latente Fremdenfeindlichkeit: Die Amerikaner, der Westen überhaupt, haben die Japaner nie verstanden; sie erwarten, daß die Japaner entsprechend der westlichen Vorurteile leben; „weichen die Japaner von diesem Bild ab, so werden sie sogleich von den Amerikanern mit Sanktionen belegt" „Wir müssen das Land tarnen, indem wir es so aussehen lassen, wie sich Ausländer Japan und die Japaner eben vorstellen. Wir liefen sonst Gefahr, daß Japan von den Staaten des europäischen Kulturkreises wiederum bestraft würde."
Die Geschichte schließt mit einem Couplet, das ein Japaner in der Nähe des Amerikaners „mit einer ausnehmend unangenehmen Stimme" singt:
„Wenn die Armee nicht siegreich ist, dann ist es unsere Wirtschaft, und ist die Wirtschaft ohne Kraft, dann siegen wir touristisch .. ."
Das scheinbar reibungslose Nebeneinander von Zeugen der alten japanischen Kultur-tradition und modernster Technik — diese Koexistenz der Gegensätze — hat schon früh bei ausländischen Besuchern, die ohne Vorkenntnisse nach Japan kamen, Verwirrung ausgelöst. Entweder beklagten sie den vermeintlichen Verlust der Identität oder sie diagnostizierten „Schizophrenie" wie Arthur Koestler, der Ende der fünziger Jahre Japan besuchte. Er unterschied zwischen zwei Apekten Japans, dem „Lotosland" und dem „Robotland". An westlicher Logik geschult, war es ihm unverständlich, daß beide Aspekte nebeneinander bestehen können, obwohl „es den Japanern niemals gelungen (ist), die beiden Hälften ihrer Existenz zu vereinen .. . Eine solche Forderung nach „Synthese" bleibt an der Oberfläche: Stille Tempelanlagen werden mit dem Getöse der japanischen Riesen-städte verglichen und Unvereinbarkeit festgestellt; dabei stehen die Tempel für die japanische Tradition und der Großstadtverkehr für hastig übernommene westliche Einflüsse. Grundlage für ein solches Urteil ist fast stets ein zerstörtes romantisches Japanbild, das in dieser simplen Form niemals existiert hat: Schon im 17. Jahrhundert hätten Reisende den gleichen Eindruck haben können, denn Edo (Tokio) und Osaka waren nach damaligen Maßstäben bereits Riesenstädte. Die Suche nach dem „traditionellen" Japan geht immer von den Zeugnissen der „großen Tradition" aus, die von den Großen in Politik und Glaubenswelt zum eigenen Ruhm der Nachwelt überliefert wurden: Schlösser, Tempelanlagen, allenfalls noch die Häuser reicher Kaufleute des 18. Jahrhunderts. Die vielgerühmte „Kultur der Stille" in Japan, der Zen-Buddhismus und andere klischeehaft vereinfachte Erscheinungen der japanischen Kulturtradition waren fast ausnahmslos Teil des täglichen Lebens der Oberschicht; zwar suchten auch Bauern und Bürger das Verhalten des Adels (Samurai) nachzuahmen, aber in einer Epoche, in der es sich die unteren Schichten der Bevölkerung endlich leisten konnten, ästhetische Genüsse des Adels zu kopieren, war eben dieser Adel schon im Niedergang begriffen: Das wohlhabende Bürgertum entwickelte in den Städten statt dessen eine eigene Kultur der Demi-Monde, des Theaters und der Literatur, die nun ihrerseits interessant für den Adel wurde. Diese Kulturtradition tüchtiger Geschäftsleute und technisch erfahrener Handwerker ist für das „neue Japan" im 19. Jahrhundert prägend gewesen; Wertvorstellungen und Verhaltensmuster von Kaufleuten, Handwerkern und Bauern — die „kleine Tradition" — haben im modernen Japan überlebt und wirken noch heute. Die künstlich belebte Tradition des Adels hat dagegen im Pazifischen Krieg (1941— 1945) ihre letzte und vernichtende Niederlage erlebt. Mancher japanische Geschäftsmann gebraucht noch heute die Sprache der Samurai und möchte in seinem Unternehmen „den Geist des Rittertums" wecken, das „alte Japan" wiederbeleben, und der schwertschwingende Samurai ist in der Presse zum geliebten Klischee für japanische Exportoffensiven geworden. Aber dies kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß Japans Erfolge aus dem Fortbestand der Werte in der „kleinen Tradition" der unteren Gesellschaftsschichten zu erklären sind — und nicht aus dem „Weg des Ritters" (bushido).
II. Große und kleine Tradition in der japanischen Industriegesellschaft
Von den zahlreichen Definitionen, die für den Begriff „Tradition" gefunden wurden, soll hier jene angewendet werden, die speziell auf die heutige japanische Arbeitswelt zielt: „Tradition ist das Legat vorindustrieller Werte oder Verhaltensmuster, nämlich die soziale Struktur in einer Industriegesellschaft." Im Rahmen dieser Definition verdienen vor allem die Werte der „kleinen Tradition" Aufmerksamkeit, denn einmal waren sie es, die seit dem 19. Jahrhundert eine schnelle und erfolgreiche Industrialisierung des „Entwicklungslandes" Japan ermöglichten, und zum anderen sind es traditionelle Wertvorstellungen dieses Bereiches, die auch heute noch in der japanischen Gesellschaft in Symbiose — oder besser Koexistenz — mit den Bedingungen einer Industriegesellschaft weiterwirken.
Der aus China übernommene Konfuzianismus bildete als wesentlicher Teil der großen Tradition die ideologisch-philosophische Grundlage des Tokugawa-Staates (1600— 1868); jedem Menschen war sein (theoretisch unveränderlicher) Platz in der Gesellschaft zugewiesen und die Gesellschaftsstruktur wurde stabilisiert durch ein Netz gegenseitiger Verpflichtungen, wobei die Verpflichtung gegenüber dem Herrscher — d. h.dem Tokugawa, nicht aber dem Kaiser! — den höchsten Wert bildete. Schon in dieser Konstruktion aber bewies sich die ausgeprägte Fähigkeit der Japaner, mit Widersprüchen leben zu können. Das System war zwar in der Theoriegrundlage des Konfuzianismus starr, aber es ließ Raum für wirtschaftliche Entwicklungen, die im offenkundigen Widerspruch zur Theorie standen. Die ökonomische Grundlage der Tokugawa-Herrschaft war die Landwirtschaft; in der sozialen Rangfolge standen die Bauern (genauer: die Landwirtschaft) gleich unter dem Lehensadel (samurai, bushi); dagegen wurden Handwerkern und Kaufleuten nur niedrige gesellschaftliche Ränge zugebilligt. Insbesondere die Kaufleute galten den konfuzianischen Gesellschaftstheoretikern als parasitär und wurden deshalb verachtet. Schon Mitte des 17. Jahrhunderts aber zeigte sich, daß ohne die Mittlertätigkeit der Kaufleute das Wirtschaftssystem nicht funktionieren konnte. Der Einfluß großer Kaufmannsfamilien (Mitsui, Mitsubishi) wuchs unaufhörlich Dieser Widerspruch zur konfuzianischen Theorie wurde von den Herrschenden hingenommen, so lange das Prinzip ihres Rechtes auf Herrschaft nicht in Frage gestellt wurde. Ihrerseits verzichteten die Tokugawa-Herrscher darauf, die kleinen Traditionen der Dörfer zu bekämpfen; diese kleinen Traditionen aber schöpften ihre Werte nicht so sehr aus der konfuzianischen Gesellschaftslehre, als aus den ökonomischen Rahmenbedingungen bäuerlicher Existenz, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der naturbezogenen Religion des Shintoismus stand. Dort, wo ökonomische und soziale Zwänge des Zusammenlebens in Reisbauern-Gemeinden mit Grundforderungen des Konfuzianismus zusammenfielen — Verpflichtungen, Respekt vor dem Älteren, grundsätzliche Unterordnung der Frau unter den Mann u. ä. —, wurden konfuzianische Werte übernommen, aber wohl eher unbewußt. Die Bereitschaft der Tokugawa-Herrscher, im Rahmen eines an sich starren Gesellschaftssystems große Freiräume z. B. für wirtschaftliches Handeln der Kaufleute einzuräumen und nicht grundsätzlich auf Unveränderbarkeit der sozialen Schichtung zu beharren (z. B. konnten Kaufleute in Samurai-Familien adoptiert werden), hat wohl vor allem dazu beigetragen, daß es seit 1600 in Japan nie eine Revolution oder auch nur Ansätze dazu gegeben hat; heftige Bauernaufstände in diesen Jahrhunderten richteten sich nicht gegen „das System", sondern unter ausdrücklichem Bekenntnis dazu gegen seine Auswüchse Obwohl seit Mitte des 17. Jahrhunderts um die Burgen der Lehensfürsten oder als Zentren des Handels Großstädte entstanden waren, blieb Japan bis in das 19. Jahrhundert hinein, ja bis in die fünfziger Jahre dieses Jahrhunderts, ein Land mit hohem Anteil der Landwirtschaft an der Gesamtwirtschaft Daraus läßt sich auf einen erheblichen Einfluß der kleinen Traditionen aus den Dörfern auf die Gesellschaft insgesamt und das Selbstverständnis des einzelnen in dieser Gesellschaft schließen.
Nun ist der chinesische Konfuzianismus, der in einer zweiten Welle im 16. Jahrhundert Japan erreichte und zur „Staatsideologie" wurde, gerade jene Strömung der konfuzianischen Lehre gewesen, in der ein Widerstands-recht gegen die Obrigkeit (in China: den Kaiser) nicht ausdrücklich postuliert wurde; andere Schulen des Konfuzianismus betonen gerade dieses Recht Während zur selben Zeit in Deutschland mit der Bibel in der Hand das Widerstandsrecht, der Protestantismus, begründet wurde — gegen kirchliche und weltliche Obrigkeit —, diente der Konfuzianismus in Japan nach einem Jahrhundert blutiger Bürgerkriege zur Rechtfertigung eines uneingeschränkten staatlichen Machtanspruchs. Hier nun mag die Begründung dafür liegen, daß es in Japan nie auch nur Versuche zu einer revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft gegeben hat: Selbst gewaltsame Erhebungen zu Ende der Tokugawa-Epoche wurden konfuzianisch begründet und zielten auf „Verbesserung", aber nicht „Umsturz" des Bestehenden Einflüsse des „revolutionären Christentums", sind nie tief genug gedrungen, um den Gedanken an Auflehnung in großen Teilen der Bevölkerung zu verbreiten.
Es sind also auch heute noch im wesentlichen konfuzianische Traditionen, die das Wertsystem der modernen Industriegesellschaft bestimmen können. Aus dem dichten Geflecht traditioneller Verhaltensmuster und Wertmaßstäben, wie sie als kleine Tradition in dem „normalen Japaner, der durchschnittlichen Japanerin" heute unbewußt weiterwirken, sollen hier stellvertretend drei genannt sein, die zweifellos die Stabilität der japanischen Gesellschaft und auch die Exporterfolge der Wirtschaft mitbegründen:
1. Harmoniegebot und Gruppen-zugehörigkeit
Die „Staatsideologie" des Konfuzianismus wurde angewendet auf eine agrarische Gesellschaft; in dieser Konstruktion war „das Dorf" (mura) die ökonomische und soziale Grundeinheit. Im Rahmen der dörflichen Ge-.meinschaft fand jeder einzelne seine Identität in dem Beitrag, den er für die Existenz der Dorfgemeinschaft leistet. So ist der heute so viel gebrauchte Begriff der „Gruppe" in Japan wohl auf diese „Urkonstruktion" zurückzuführen — im modernen Japan überlebte ein „dörfliches Bewußtsein" (mura ishiki): „Eine Gruppe als solche (d. h. die Arbeitsgruppe im eigenen Betrieb), die auf dem Arbeitsplatz fußt, hat tatsächlich eine sehr ähnliche Funktion und Rolle wie das , mura‘, die traditionelle dörfliche Gemeinde." Diese Definition vermittelt den Eindruck, daß „Dorf" und Kollegengruppe unbedingt freiwillig angestrebte, ja unabdingbare Existenzrahmen sind; dabei wird aber häufig übersehen, daß zumindest bei der Schaffung des Dorfes als sozio-ökonomische Einheit von staatlicher Seite administrative und steuerpolitische Erwägungen ausschlaggebend waren. Solche Erwägungen wurden allerdings bestärkt durch die Notwendigkeit kollektiver Arbeit in der Technik des Naßreis-Anbaus; es lag nahe, dieses „Kollektiv" steuerlich und administrativ auf gemeinsame Haftung zu verpflichten
Nicht nur die Arbeitsgruppe im Betrieb, sondern auch der eigene Wohnort in der anonymen Großstadt hat heute die Teilfunktion der ursprünglichen Gruppe „Dorf" übernommen. Noch 1979 stellte das japanische Wirtschaftsministerium (MITI) fest, daß beispielsweise „die meisten Klein-und Mittelbetriebe in Wohngebieten angesiedelt sind, wo Wohnhäuser neben Fabriken stehen . .. 1980 konstatierte das MITI: „Nach dem letzten Krieg hat das . Unternehmen'die traditionelle . Familie'oder das . Dorf als die Gruppe verdrängt, der der einzelne zuerst verpflichtet ist." Betrieb und unmittelbarer Wohnbereich sind also die äußerlichen Bezugspunkte der meisten Gruppen.
Der unmittelbare Bezug von Wohnbereich und Arbeitsplatz ist natürlich bei den Großunternehmen aufgehoben. Jedoch wird das „familiäre" Element bei der Totalität erkennbar, mit der das Unternehmen seine Mitarbeiter mit ihren Familien umschließt; dabei taucht der Bezug Wohnort — Arbeitsplatz häufig wieder in Form von großen Wohnanlagen auf, in denen ausschließlich Beschäftigte eines einzelnen Unternehmens leben. Die Totalität des „unternehmensbezogenen" Lebens hat zu einem Abhängigkeitsgefühl vieler Arbeitnehmer von ihrem Betrieb geführt „und ihr soziales Bewußtsein wie auch ihr Bewußtsein als Staatsbürger verkümmern lassen."
Neben solchen Bezugssystemen aber gibt es Querverbindungen, die neue Gruppen schaffen; diese Verbindungen können z. B. zwischen Studenten derselben Universität im selben Jahrgang entstehen; aber sie bestehen auch zwischen verschiedenen Unternehmen desselben Konzerns. Solche Querverbindungen schwächen den unerbittlichen Konkurrenzkampf verschiedener Gruppen untereinander ab. Es gilt aber zu beachten, daß zwar innerhalb einer gegebenen Gruppe streng auf Harmonie geachtet wird — um den Bestand der Gruppe nicht zu gefährden —, daß aber zwischen den Gruppen härteste Konkurrenz herrscht, z. B. zwischen verschiedenen Unternehmen derselben Branche; für die Konkurrenzsituation europäischer Anbieter wird das häufig übersehen.
Das Harmoniegebot innerhalb einzelner Gruppen, das hierzulande oft überbetont wird, hat zu einem spezifischen Entscheidungssystem geführt, das ebenfalls auf die dörfliche Reisbauerngemeinschaft zurückgehen dürfte: Am Entscheidungsprozeß wird, wo irgend möglich, grundsätzlich jedes Mitglied der Gruppe — im Betrieb also auch der jüngste Anfänger — beteiligt. Zwar ist auch das „westliche" Entscheidungsprinzip des allein verantwortlichen einzelnen verbreitet, aber die konfliktlose Entscheidung, bei der im Vorfeld mögliche Einwände und Reibungspunkte abgeklärt und ausgeräumt werden, wird in Wirtschaft und Politik als ideal betrachtet. Nur ein solcher Entscheidungsprozeß konnte die Existenz der traditionellen „Überlebensgemeinschaft" des Reisbauerndorfes sichern, denn jede Familie des Dorfes fühlte sich anschlie-ßend verantwortlich — schließlich war ja jedes Familienoberhaupt z. B. an komplizierten Entscheidungen der Bewässerungsfolge, der Pflanzung des Jungreises etc. beteiligt, d. h., niemand war übergangen worden. Bei diesen Entscheidungsprozessen war jedoch durchaus nicht das Gefälle zwischen z. B.dem Grundbesitzer und dem Kleinbauern bzw. heute zwischen Abteilungsleiter und Untergebenen aufgehoben.
In der westlichen Japan-Literatur wie auch in den essayistischen Arbeiten japanischer Sozialkritiker wird allzusehr betont, daß Japaner sich aus eigenem Antrieb, auf der Suche nach Geborgenheit, Gruppen anschließen; weit weniger häufig wird herausgehoben, daß dem einzelnen Japaner in vielen Fällen gar keine Wahl bleibt, als sich rückhaltlos in eine Gruppe (z. B. Betrieb) einzufügen: Die Gruppenmitglieder sind bereit, den „individualistischen Einzelgänger" durch Druck zu gruppen-konformem Verhalten zu zwingen. Dieser Druck greift nicht vor allem im psychologischen Bereich — die Furcht vor Isolation und Vereinsamung, die so oft zitiert wird —, sondern die Druckmittel zielen auf die materiellen Interessen, etwa eines jungen Arbeiters: Seine Aufstiegschancen sind gefährdet, wenn er sich zu häufig beispielsweise von abendlichen Umtrunks mit den Kollegen ausschließt; sein Vorgesetzter wird ihn sehr schnell auf die negativen Vermerke in seiner Personalakte hinweisen.
Die Einbindung in eine Gruppe muß also keineswegs unbedingt einem tief innewohnenden Wunsch „des typischen Japaners" entsprechen, vielmehr ließe sich die notwendige Einbindung in Gruppen als vormoderner Überrest aus einer Epoche deuten, in der allein die Arbeit in der Gruppe und die Wahrung der Gruppeninteressen — vor den Interessen des einzelnen — die wirtschaftliche Existenz der Gruppe insgesamt garantierte.
Eine solche Deutung ließe sich auch auf das Verhältnis der japanischen Nation insgesamt gegenüber anderen Nationen anwenden: Ein fest verwurzeltes Bedrohungsgefühl, dessen Ursprünge bis weit in das 18. Jahrhundert zurückreichen, läßt sich seitens der japanischen Regierung oder in einzelnen Unternehmen immer wieder als Mittel zur Motivation für noch größere Anstrengungen der Arbeitnehmer einsetzen, um in einem Klima patriotischer Gefühle gegenüber der vermeintlichen ausländischen Bedrohung — etwa im internationalen Kampf um Märkte — die japanischen Interessen wahren zu können. Dabei liegt es im Interesse japanischer Politiker und Unternehmer, nach außen hin die Homogenität der Japaner hervorzuheben und die durchaus vorhandenen Spannungen und Konflikte herunterzuspielen.
Trotz wachsender Kritik aber eröffnet die Gruppentheorie eine Möglichkeit des Zugangs zum Verständnis der japanischen Gegenwartsgesellschaft; sie hilft, Traditionsreste aufzuspüren und erleichtert die Bewertung der Bedeutung dieser Reste für die heutige japanische Industriegesellschaft. Dabei gilt es, sich vor Pauschalierungen zu hüten: Weder sind die Europäer oder Amerikaner sämtlich Individualisten, noch sind die Japaner alle Gruppenmenschen; die Vermutung liegt nahe, daß „diese . Theorien'nichts anderes (sind) als (der) Versuch, die Einzigartigkeit einer Kultur, einer Gesellschaft, herauszuarbeiten, ... als verkappten, vielleicht oft unbewußten, sicherlich aber in der Wirkung auf die Empfänger eindeutigen Nationalismus ... 2. Lerneifer Das konfuzianische Gesellschaftsystem der Tokugawa-Zeit war in der Theorie starr, d. h., ein sozialer Aufstieg war ausgeschlossen. In der Praxis aber war Statuswechsel eine alltägliche Erscheinung; im Widerspruch zu eigenen Grundsätzen förderte die konfuzianische Lehre sogar den Wunsch nach Aufstieg und nannte auch den einzigen Weg: Bildung. Im konfuzianischen China war der hoch gebildete Beamte („Literat") das Idealbild des Staatsdieners, und theoretisch stand jedem Begabten der „Weg nach oben" durch die Staatsprüfungen offen. Dieses galt so nicht für Japan; Verwaltungsposten blieben üblicherweise den Samurai (Adel) vorbehalten, aber Karriere durch Bildung war durchaus möglich. Bauern, Kaufleute, jene sozialen Gruppen also, denen ihr niedriger Rang in der gesellschaftlichen Schichtung scheinbar unwiderruflich zugewiesen war, verschafften sich den Zugang zum Kreis der Machtelite durch emsiges Studium der chinesischen und japanischen Klassiker, vor allem gerade der konfu-zianischen Schriften. Der Übergang von einer Schicht zur anderen war auch durch das offene Familiensystem möglich: Adoptionen waren weit verbreitet.
Seit das politische Gleichheitsprinzip nach 1945 Verfassungsgrundsatz geworden war, blieb von der konfuzianischen Tradition das qualifizierende Merkmal der Bildung als Kriterium für sozialen Aufstieg erhalten; durch den breiteren Zugang zu Bildungsmöglichkeiten wurde aber der Prozeß der Bildungsauslese noch verschärft. Wie in anderen „westlichen" Demokratien ist aber auch im heutigen Japan durchaus nicht die vollständige Chancengleichheit beim Zugang zur Bildung realisiert: Während das Recht auf Bildung im Bereich der Grund-, Mittel-und Oberschulen für alle Schüler verwirklicht ist, stellen die Eingangsprüfungen für angesehene Colleges und Universitäten nicht nur Begabungsprüfungen dar; die kostspieligen Nachhilfestunden in Spezialschulen (sogenannte „juku“ oder „yobiko") — ohne die Eingangsprüfungen nicht zu bestehen sind — schaffen Begünstigte und Benachteiligte, je nach finanzieller Kraft der Eltern. Dennoch: Für die Bildung ihrer Söhne scheuen japanische Eltern heute kein finanzielles Opfer. Sie sind bereit, sich hoch zu verschulden, um den Söhnen eine möglichst gute Ausbildung zu ermöglichen
Das konfuzianische Ausleseprinzip der Bildung, wie es im chinesischen Beamtenapparat für die Beförderung angewendet wurde und wie es im Tokugawa-Staat den Statuswechsel ermöglichte, hat ein ungewöhnlich hohes Sozialprestige für Ministerialbeamte bewirkt: Das sprichwörtlich gute Verhältnis zwischen Staat und Wirtschaft — das im Prinzip informell ist! — beruht auf dem Ausleseprinzip der Bildung: Nur die Besten konnten zwischen einer Karriere in einem Prestigeunternehmen oder in einem „Eliteministerium" wählen; die gemeinsame Zeit an der Universität verbindet den Spitzenbeamten mit dem Topmanager eines Großunternehmens und schafft jene Querverbindungen zwischen den Gruppen, die einen informellen Meinungsaustausch — eine „Globalsteuerung" — der japanischen Politik und Wirtschaft erst möglich machen. 3. Rollenakzeptanz Zwar bot das konfuzianische Gesellschaftssystem durch Bildung Raum zum Statuswechsel; das System an sich aber konnte nur 250 Jahre bestehen, weil die große Mehrheit der Japaner ihre „Rollenzuweisung" (meist durch Geburt) akzeptierte. Auf die heutige Situation übertragen bedeutet das: Die vielen Jungen und Mädchen, die einmal aus irgendwelchen Gründen (Geldmangel der Eltern, späte Entwicklung der intellektuellen Fähigkeiten u. ä.) an den Barrieren der Bildungsauslese gescheitert sind, finden sich damit ab, daß sie an untergeordneter Stelle ihre Aufgabe im gesellschaftlichen Prozeß zu erfüllen haben. Sie tun das mit großer Hingabe, und ein wirkliches Aufbegehren gegen dieses rigorose System bleibt noch heute die Ausnahme. Das Bewußtsein, keine Karrieremöglichkeiten mehr zu besitzen — etwa durch einen Zweiten Bildungsweg —, hat nun in Japan bisher nicht zu Resignation geführt, sondern im Gegenteil enorme Kräfte unter benachteiligten Jugendlichen freigesetzt — bis hin zu Existenzgründungen etwa im Dienstleistungssektor. Der Autor sieht hier die Auswirkungen des konfuzianischen Grundsatzes, daß jeder an seinem Platz das Beste zu leisten hat. Nicht zufällig haben die Japaner an dieser Stelle die Gemeinsamkeiten zwischen konfuzianischen Prinzipien und der protestantischen Ethik Max Webers entdeckt (der in Japan sehr geschätzt wird).
III. Jugend und Arbeitswelt: Traditionelle Werte in Gefahr?
Die „technologische Revolution" der beginnenden achtziger Jahre löst auch in Japan tiefgreifende Änderungen in der Industrie-struktur und damit zusammenhängend wohl auch in der japanischen Gesellschaft aus. Die zunehmende Automatisierung im Zusammenwirken mit einem verlangsamten Wirtschaftswachstum schafft Beschäftigungsprobleme, die noch durch eine negative Veränderung der Alterspyramide (hohe Lebenserwartung) verschärft werden, überstehen Japans traditionelle Werte diese Veränderungen? Diese Frage umfaßt zwei Problemfelder: das der Ar-B beitswelt und das der Einstellung der Jugend zu einer veränderten japanischen Gesellschaft. Deshalb sollen diese beiden Bereiche im folgenden einer kurzen Überprüfung unterzogen werden. Maßstab dabei ist die Frage nach der Beständigkeit — oder der Bedrohung — traditioneller Werte in diesen Bereichen. Zentrales Problem sowohl für die Einstellung der Jugend zu traditionellen Werten als auch für die Haltung der Arbeitnehmer zu ihren Betrieben ist die weitere wirtschaftliche Entwicklung. Es wird von japanischen Soziologen wie auch Wirtschaftswissenschaftlern immer wieder darauf hingewiesen, daß Japans Jugend nie wirklich das Problem hoher Arbeitslosigkeit erlebt hat, ferner daß ihr Bekenntnis zu traditionellen Werten nie getestet worden ist, weil ihr Lebensweg so klar vorgezeichnet schien. Der Zeitpunkt eines echten Tests für ältere Arbeitnehmer und jugendliche Stellungsuchende, wie tief ihr Bekenntnis zu der japanischen Gesellschaft mit ihren traditionellen Werten wirklich geht, scheint näher zu rücken.
Das Stichwort heißt: wachsende Arbeitslosigkeit. Im August 1983 legten japanische Gewerkschaften einen Bericht über die Folgen der schnellen Automatisierung für den Arbeitsmarkt vor. Die Autoren rechnen damit, daß bis Ende der achtziger Jahre 1— 2, 9 Millionen Roboter allein in der verarbeitenden Industrie eingesetzt sein werden und daß von den bisherigen 13, 67 Millionen Beschäftigten dieses Sektors nur noch 10% benötigt würden; der Verband der Gewerkschaften der Elektroindustrie (Denki roren) verlor zwischen 1978 und 1982 durch Einführung von Robotern 13 % seiner Mitglieder
In der ersten Hälfte 1983 lag die Arbeitslosigkeit bei 2, 8 %, so jedenfalls die offizielle Angabe. Aufgrund der besonderen statistischen Berechnungsgrundlagen ist diese Zahl aber irreführend. Es wird geschätzt, „daß die tatsächliche Höhe der Arbeitslosigkeit bei Männern um mindestens ein Viertel bis ein Drittel, bei Frauen um mindestens das Zweieinhalbfache über den offiziellen Zahlen liegt"
Schon 1981 war erkennbar, daß die Arbeitslosenrate bei Erwerbspersonen über 55 Jahren und Jugendlichen überdurchschnittlich hoch lag; dieser Trend wird sich durch die fortschreitende Rationalisierung und das steigende Pensionsalter weiter verstärken. Der extreme Konkurrenzkampf zwischen japanischen Unternehmen der gleichen Branche führt dazu, daß automatisiert wird, ohne die sozialen Folgen in ganzem Umfang zu berücksichtigen — der Trend zur „Fabrik ohne Menschen" ist unübersehbar. Die Matsushita-Gruppe, der größte japanische Computer-und Roboterhersteller, setzt gegenwärtig ca. 5 000 Roboter bei der Fertigung ein, bis 1990 sollen es laut Unternehmensplanung mindestens 50000 bis 60 000 sein, andere Unternehmen der Elektroindustrie werden mitziehen müssen Eine Enqute-Kommission des Arbeitsministeriums stellte im Juli 1983 zwar fest, daß die schnelle Automatisierung „im Augenblick" keine feststellbaren nachteiligen Auswirkungen auf die Beschäftigungslage habe, aber „angesichts des verlangsamten Wirtschaftswachstums und einer zunehmenden Überalterung der Erwerbsbevölkerung besteht kein Anlaß zu Optimismus" Die Vereinigung der Hersteller von Industrierobotern leugnet verständlicherweise negative Folgen für die Beschäftigungslage: Bis in die neunziger Jahre hinein werden mehr als eine halbe Million Industrieroboter im Einsatz sein, was nach Auffassung der Vereinigung dem Facharbeitermangel von ca. -4 % entspricht
Solchen Prognosen widerspricht jedoch das Japan Economic Research Center (Nihon keizai kenkyu senta) ganz entschieden: Durch „office automatization" (OA) und „factory automatization" (FA) wird es zu einem Rückgang der Arbeitsplatzangebote kommen; das Center rechnet mit einer Arbeitslosenrate von 9 % im Jahre 1990. Sollte es zu Regelungen des „job sharing" und einer Verringerung der Wochenarbeitszeit kommen, wären immer noch 5 % Arbeitslose zu befürchten
An der Spitze der beängstigend erfolgreichen japanischen Exportoffensiven stehen jene wenigen Großunternehmen, deren Namen jeder kennt. Aus westlicher Sicht prägen sie die Einschätzung der japanischen Wirtschaftsstruktur — ihre scheinbar so aufopferungsvol-len, disziplinierten Arbeitnehmer verkörpern noch häufig das Bild des japanischen Arbeitnehmers schlechthin. Darüber wird immer wieder übersehen, daß die Beschäftigten dieser Großunternehmen nur etwa 30 % der gesamten japanischen Arbeitnehmerschaft stellen.
Die Beschäftigungsverhältnisse in den Großunternehmen haben Autoren früherer Untersuchungen des Arbeitgeber-Arbeitnehmer-verhältnisses mit der griffigen — aber auch irreführenden — Kennzeichnung eines „familiären, paternalistischen" Verhältnisses zwischen Betrieb und Arbeitnehmer belegt. Der „Paternalismus" japanischer Großunternehmen, der so gut zu angeblich traditionellen Werten in der japanischen Wirtschaft paßt, vermittelt den Eindruck, daß zumindest die großen Arbeitgeber schützend die Hände über ihre Beschäftigten halten; sie garantieren ihnen ein lebenslanges Beschäftigungsverhältnis, sichern sie gegen Unfall und Krankheit und sorgen auch wesentlich für die Alterssicherung.
Diese Vorteile aber gelten nur für einen kleinen Teil der Beschäftigten in Großunternehmen: die Stammarbeiter. Diese werden unmittelbar von der Schule weg oder nach dem Universitätsexamen — und nur nach einem strengen Ausleseprozeß durch scharfe Prüfungen — in das Unternehmen übernommen.
In intensiven Kursen werden sie auf den „Geist des Unternehmens" verpflichtet, um dann am Arbeitsplatz und bei häufigem Wechsel des Tätigkeitsbereiches ausgebildet zu werden. Das Ergebnis dieses innerbetrieblichen Ausbildungsprozesses, der noch durch fachliche Intensivkurse verschiedenster Art begleitet wird, ist der „multifunktionale Facharbeiter"; er kann fortan in den unterschiedlichsten Bereichen des Unternehmens — auch in verschiedenen Betrieben — eingesetzt werden. Das Unternehmen erwartet von ihm, daß er stets bereit ist, sich weiterzubilden. Nur in wenigen Fällen suchen große Unternehmen ihren Nachwuchs aufgrund besonderer fachlicher Vorbildung aus; im Regelfälle bleibt der Aufstieg in Führungspositionen den innerbetrieblich ausgebildeten, beweglichen Universitätsabsolventen Vorbehalten.
Neben diesen privilegierten Stammarbeitnehmern stehen häufig am gleichen Arbeitsplatz ihre „Kollegen", mit denen sie nichts verbindet: die Leiharbeiter, Kontraktarbeiter und auch die älteren Arbeitnehmer, von denen selten die Rede ist, wenn über die scheinbar idealen japanischen Beschäftigungsverhältnisse gesprochen wird: Ihnen bleiben alle jene Vergünstigungen vorenthalten, die für die Stammbelegschaft selbstverständlich sind:
Firmenwohnungen, Sonderzulagen, hoher Grundlohn, Sozialversicherung und vor allem die Beschäftigungsgarantie — sie können auch nicht Mitglied der Unternehmens-oder Betriebsgewerkschaft werden, so daß sie keine Interessenvertretung haben. Vollends am unteren Ende der Arbeitnehmerskala stehen die weiblichen Arbeitnehmer und von ihnen wieder die älteren Frauen und die Teilzeitbeschäftigten. Bisher ist in der Tat nicht deutlich zu erkennen, daß sich japanische Arbeitnehmer entschieden gegen den verstärkten Einsatz von Robotern zur Wehr setzen. Solange die Beschäftigungsgarantie für Stammarbeiter nicht bedroht scheint sind die Stammarbeiter bereit, Rationalisierungsmaßnahmen durch Zustimmung zu innerbetrieblichen Umsetzungen bzw. Versetzungen in Zweig-oder Zulieferbetriebe zu fördern.
Eine möglichst gute Ausbildung als einzige Möglichkeit zu sozialem Aufstieg in einer konfuzianisch geprägten Gesellschaft hat durch die Entwicklung der Mikroelektronik und der dadurch bewirkten Automatisierung in der Industrie eine neue Qualität hinzugewonnen: Bildung und Ausbildung möglichst an einer guten Universität wird zu einer unabdingbaren Voraussetzung, überhaupt in Zukunft einen gut bezahlten Arbeitsplatz zu finden. Die japanische Erwerbsbevölkerung spaltet sich immer mehr in hochbezahlte Spezialisten (z. B. im Computer-software-Bereich oder als Techniker bei CC-oder NC-gesteuerten Werkzeugmaschinen) und niedrig bezahlte Teilzeitkräfte. Entsprechend restriktiv gestalten Japans Unternehmen ihre Einstellungen: Industrieunternehmen wie auch die großen Generalhandelshäuser verzichten fast völlig auf die Neueinstellung von Oberschulabsolventen für 1984/85, ein Umstand, der diesen Personenkreis praktisch von einer beruflichen Karriere ausschließt; sie suchen eher Universitätsabsolventen mit technischen Diplomen
Diese Tendenz verschärft den Gegensatz zwischen privilegierten Stammarbeitnehmern und Teilzeit-, Kontraktarbeitern und „ausgeliehenen" Arbeitern von Subkontraktunternehmen weiter. Die Beschäftigungsgarantie, die von großen Unternehmen zumindest ihrer Stammbelegschaft gegeben wurde, wird ausgehöhlt: Versetzung an einen neuen Arbeitsplatz oder Umsetzung in einen Tochterbetrieb bzw. ein Subkontraktunternehmen waren bisher die bewährten Mittel, ältere Arbeitnehmer oder nicht ausreichend qualifizierte Arbeitnehmer bei der Automatisierung vor Entlassung zu schützen; die Loyalität der Arbeitnehmer zu „ihrem" Betrieb ließ sie bei solchen Versetzungen/Umsetzungen auch krasse soziale Nachteile (Lohnverzicht, Verzicht auf Sonderleistungen, Umstellung auf Kontrakt-arbeit usw.) widerspruchslos hinnehmen. In Zukunft aber wird die „soziale Sicherungsfunktion" der Klein-und Mittelbetriebe mit hohem Arbeitskräfteeinsatz in Frage gestellt werden: auch hier wird eine immer schnellere Automatisierung erkennbar. Sowohl ein deutlicher Mangel an Facharbeitern auch in der Klein-und Mittelindustrie als auch der Druck der Großunternehmen als Auftraggeber der Kleinindustrie zur Rationalisierung in diesem Sektor beschleunigen die Automatisierung. Insbesondere der zuletzt genannte Grund treibt die Rationalisierung voran; Großunternehmen sind entschlossen, sich von Zulieferbetrieben zu „trennen", wenn diese durch technologische Rückständigkeit die weitere Automatisierung der eigenen Fertigung behindern
Solche Entwicklungen bedrohen das Ordnungsgefüge der japanischen Gesellschaft im Kern: Auch jeder noch so benachteiligte Arbeitnehmer fand in der Vergangenheit einen, irgendeinen Platz in der japanischen Arbeitswelt — sei es unter harten Bedingungen in einer kleinen „Hinterhofklitsche", einem Zulieferbetrieb, sei es in einem der zahllosen kleinen Betriebe des Dienstleistungssektors; „privilegierte" Stammarbeiter fanden in diesem System ihre Beschäftigungsgarantie, und jeder Jugendliche konnte sicher sein, einen Arbeitsplatz zu finden, der dem Ruf seiner Ausbildungsstätte entsprach. Die atemberaubend schnelle Automatisierung aber bedroht dieses Gefüge: Einstellungsstopp, notwendige Entlassungen und ein deutlich verringertes Angebot an Arbeitsplätzen vor dem Hintergrund einer verlangsamten Wirtschaftsentwicklung (trotz realer Zuwachsraten) lassen Befürchtungen aufkommen.
IV. „Steigt" die Jugend Japans aus?
Im Hinblick auf den Fortbestand traditioneller Werte, die stabilisierend wirken, erscheint den japanischen Behörden die zunehmende Unruhe unter Kindern und Jugendlichen weit bedrohlicher als die Folgen der Rationalisierung: Wieder einmal scheint eine Generation herangewachsen zu sein, die rebelliert. In den sechziger Jahren gingen Studenten gegen die enge Anlehnung an die USA auf die Straße und lieferten der Polizei wilde Schlachten; Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre rollte eine weitere Welle der Gewalt durch Universitäten und Straßen; und nun scheinen die Jugendlichen der frühen achtziger Jahre wiederum gegen die Vertreter staatlicher Ordnung aufzubegehren. Jetzt ist es nicht die Polizei, gegen die man kämpft — jetzt sind es Lehrer und sogar die eigenen Eltern, die Ziele von Gewaltausbrüchen werden.
Bereits im Juli 1982 veröffentlichte das Amt des Ministerpräsidenten (vergleichbar dem Bundeskanzleramt, allerdings mit mehr Einblick in Vorgänge der Fachministerien) ein Weißbuch über „Gewalt von Kindern und Jugendlichen". Die Analysen der Umfrageergebnisse unter Minderjährigen spiegeln ein großes Erschrecken unter den staatlich Verantwortlichen wider. Danach steht an erster Stelle als Grund für die Ausschreitungen die unzureichende Erziehung der Eltern, wobei insbesondere das mangelnde Interesse des väterlichen Elternteils an der Kindererziehung hervorgehoben wird. Dieser Mangel steht fast gleichberechtigt neben einem Über-maß an beschützender Haltung der Mütter. Zwar hatten von den befragten 2 000 Kindern und Jugendlichen im Alter zwischen 12 und 17 Jahren nur 1, 5 % Gewalt gegen Lehrer verübt und 17, 2% im Elternhause gewaltsame Ausbrüche gehabt, aber ein erheblicher Prozentsatz der Befragten gab zu, daß sie häufig den Wunsch nach solchen Ausbrüchen in der Schule oder im Elternhaus verspürt hätten. Bezeichnend für das Problem des japanischen Bildungssystems gerade in der Mittelschule ist die Reihenfolge der Gründe für den Wunsch nach Gewaltakten gegen die Lehrer: Mehr als die Hälfte der befragten Schüler waren überzeugt, daß der Lehrer einzelne bevorzugte. In der Tat widmet sich der Lehrer in dieser Ausbildungsphase verstärkt den guten Schülern, um ihnen den Weg in eine gute Oberschule zu ebnen — nur der Besuch einer guten Oberschule aber öffnet den Weg in eine Eliteuniversität; die äußerlich weniger begabt erscheinenden Schüler werden fast ausnahmslos „zurückgelassen". Die Untersuchung bescheinigt solchen Schülern, die zu Gewaltanwendung neigen, dann auch konsequent „mangelnde Durchhaltekraft", d. h. insgesamt einen „Mangel an Selbstkontrolle". Damit wird auch von staatlicher Seite das unverändert geltende, rigoros gehandhabte Ausleseprinzip bekräftigt, das allen jenen Schülern, die einmal durch das Rüttelsieb der Bildungsauslese gefallen sind, keine Aufstiegschancen mehr bietet.
Im Jahre 1982 stiegen besonders die Ausschreitungen gegen Lehrer an den Mittel-schulen an. Man registrierte fast 1 000 Zwischenfälle. Andererseits aber befürworteten über 70 % der Lehrer an Grund-und Mittel-schulen die körperliche Bestrafung bei Schülern — sollte es sich also um „Gegengewalt" der Schüler handeln Interessant ist die Tatsache, daß in beiden Altersstufen ein höhrerer Prozentsatz der Mädchen zu Gewaltausbrüchen im Elternhaus neigt, bei den Oberschulen sogar 10 % mehr
Schüler, Jugendliche, die früher widerspruchslos ihre Chancenlosigkeit akzeptierten und die „preiswerte Manövriermasse" der zahllosen Unternehmen in der Klein-und Mittelindustrie stellten, scheinen sich mit ihrer Rollenzuweisung nicht mehr abfinden zu wollen. Westliche TV-Filme, westliche Musik haben mit ihren Themen den Keim des Wunsches nach individueller Verwirklichung in eine ganze Generation gepflanzt — wie konservative Erziehungswissenschaftler klagen.
Offenbar aber leiden viele Jugendliche auch unter der bisher üblichen . Arbeitsteilung" in der Erziehung: Während der Vater bis spät abends in der Männerwelt des Unternehmens aufgeht, widmet die Mutter ihrem Sohn über-starke Zuwendung und spornt ihn gleichzeitig unermüdlich zu immer neuen Leistungssteigerungen in der Schule (Universität) an
In einer Umfrage der Stadtregierung von Tokio stellte sich heraus, daß jeder vierte Mittelschüler niemals mit seinem Vater über Schulprobleme sprach Dies ist um so bedenklicher, als japanische Schüler in der Altersstufe Mittelschule/Oberschule doppeltem Druck ausgesetzt sind: Pubertät und ungeheure Leistungsanforderungen mit dem Ziel, den Sprung auf eine High School guter Qualität zu schaffen. Ein Anthropologe der Universität Kyoto geht davon aus, daß im harten Konkurrenzkampf um die beste Ausbildung enge Freunde künftig zu Konkurrenten werden, daß schon Kinder und Jugendliche allmählich unfähig werden, Freundschaften zu schließen und zu halten
Dieses Problem wird noch durch die soge-nannte „my con" -Bewegung (= Mein Computer) unter Kindern und Jugendlichen verschärft; schon jetzt stellen Psychologen eine wachsende Zahl von schweren Kontaktstörungen unter gleichaltrigen Kindern und Jugendlichen fest. Die suchtartige Beschäftigung mit Tele-Spielen und Personalcomputern wird hier als Grund angeführt
Parallel zur wachsenden Unruhe an den Mittelschulen scheint ein Trend in der Kriminalstatistik zu verlaufen: 1981 wurden mehr als die Hälfte aller Straftaten von Jugendlichen und Kindern verübt. Nun muß man berücksichtigen, daß zum einen die Kriminalitätsrate in Japan beneidenswert niedrig ist und daß andererseits in der Statistik auch kleinere Delikte wie Ladendiebstahl, schnelles Fahren und tätliche Beleidigungen als Straftaten peinlich genau aufgeführt werden. Dennoch erscheint den Behörden die Tendenz besorgniserregend: Von Januar bis November 1982 wurden 232 094 Straftaten von Minderjährigen begangen, von denen die 14jährigen mit 28, 7% den größten Anteil stellten, gefolgt von 15jährigen mit 24, 9% mehr als drei Viertel der Delikte waren Diebstähle. Hinter den Diebstahlsdelikten mag der ausgeprägte Wunsch nach Konsum unter vielen Jugendlichen stehen: Ein kürzlich erschienener Roman („Alles Kristall"), der zu einem Bestseller wurde, beschreibt Japans „Kristallgeneration" als modesüchtig — sie spiegelt wie ein Kristall jeden noch so törichten Modetrend wider — und dabei konsumbesessen; aus dieser Sicht erscheint Japans Jugend nicht rebellisch, sondern von dem einzigen Wunsch beherrscht, „chic zu sein".
Bisher war in der Phase erhöhten Leistungsdrucks japanischer Jugendlicher, die von der Mittelschulzeit bis nach der Eingangsprüfung in eine möglichst renommierte Universität dauert, ein stabilisierendes, fast „trostspendendes" Element die Aussicht, nach den verschiedenen „Prüfungshöllen" in den festen Verband der Kollegen eines angesehenen Unternehmens oder gar eines der Prestige-Ministerien (MITI, Finanzministerium) aufgenommen zu werden. Jetzt aber haben zahlreiche Großunternehmen bereits angekündigt, nur noch in geringem Maße neue Mitarbeiter einzustellen, um die älteren Arbeitnehmer länger halten zu können (s. o.). Damit entsteht ein weiterer Engpaß für stellensuchende Jugendliche: Früher war es nur der harte Konkurrenzkampf bei den Eingangsprüfungen in Unternehmen oder Ministerien, den es zu bestehen galt, jetzt droht vielen Jugendlichen sogar diese Chance verloren zu gehen. Sind also traditionelle Werte wie Lerneifer, Bereitschaft sich einzufügen, Verzicht auf „anarchische“ Selbstverwirklichung u. ä. wirklich bedroht? Kaum, und sicher ist die Grundhaltung japanischer Jugendlicher nicht einmal entfernt mit der ihrer europäischen und amerikanischen Altersgenossen vergleichbar. Aber die Anzeichen für „nonkonformes“ Verhalten japanischer Jugendlicher mehren sich und machen die Verantwortlichen besorgt. Die technologische Revolution vor allem in der Mikroelektronik und der verstärkte Einsatz von Industrierobotern hat zu Veränderungen in der Beschäftigungsstruktur, besonders der verarbeitenden Industrie geführt, zugleich aber wird auch die Büroarbeit und der Dienstleistungssektor völlig verändert. Damit gewinnt die Universitätsausbildung eine neue Qualität: Während früher — und. bis zu einem gewissen Grade auch heute noch — die Zeit des Studiums der letzte große Lebensabschnitt persönlicher Freiheit war (wo man mehrheitlich zwar lernte, wie man lernt, aber nicht so sehr eine Spezialausbildung erfolgte), werden die Absolventen technischer Universitäten für Unternehmen heute immer interessanter. Soziologiestudenten, Sprachstudenten usw., die früher nicht nach ihren Fächern gefragt wurden, wenn sie die Eingangsprüfungen für große Handelshäuser oder in der Verwaltung machten, erwarten heute immer größere Probleme. Diese Entwicklung könnte dazu führen, daß in Zukunft der Konkurrenzkampf um gute Ausbildungsplätze nicht mehr nur bis zur erfolgreichen Aufnahmeprüfung für eine gute Universität dauert, sondern auch während des Studiums verstärkt fortgesetzt werden muß.
Die japanische Gesellschaft hat bisher Krisen ähnlicher Art durch „Leidensbereitschaft“ breiter Bevölkerungsschichten (z. B.der Bauern in der Frühphase der Industrialisierung) und ein funktionierendes System von Konfliktlösungsmechanismen bewältigt; auch die Krise der Automatisierung wird diese Gesellschaft verkraften. Jugendrebellion (wenn sie denn wirklich eine ist) und die Forderung der Frauen nach Gleichberechtigung in der Arbeitswelt wird man durch Appelle an die Opferbereitschaft aller Japaner und noch stärkere Exportanstrengungen bei gleichzeitiger Steigerung der Binnennachfrage aufzufangen suchen; Japan wird Europa und den USA auch in Zukunft als Konkurrent erhalten bleiben. Der Zweifel an traditionellen Werten geht nicht so tief, als daß er die Leistungsfähigkeit Japans entscheidend schwächen könnte.