I. Vorbemerkung
Es gibt keine klare Bestimmung der Begriffe und der Disziplin Osteuropaforschung, Ost-forschung, osteuropäische Geschichte. Was diese Begriffe meinen, war und ist, von der Himmelsrichtung abgesehen, umstritten Zudem hat der Terminus „Ostforschung" eine gewisse pejorative Färbung durch die recht plakative Verwendung in der DDR erhalten. Aufsatztitel wie „Die Ostforschung — ein Stoßtrupp des Imperialismus“ oder „Ostforscher, Ostfälscher, Ostfahrer" belegen das
Dennoch hat sich die Bezeichnung Ostforschung für eine bestimmte Teildisziplin oder auch die Summe mehrerer Teildisziplinen als Selbstbezeichnung bis heute gehalten. Auch wenn es keine trennscharfen Abgrenzungen gibt, lassen sich wissenschaftsgeschichtlich deutlich zwei unterschiedliche Traditionen und methodische Ansätze identifizieren, die für die inhaltliche Ausrichtung und die politische Stellung der Fächer von beträchtlicher Bedeutung waren. Neben dem jungen Fach „Osteuropäische Geschichte" entwickelte sich nämlich nach dem Ersten Weltkrieg eine primär deutschtumszentfierte, volkstumsgeschichtlich ausgerichtete Ostforschung, die ihren politischen Impuls vor allem aus der Frontstellung gegen das Versailler System be-zog Sie eignete sich in besonderem Maße zur historischen Legitimation politischer Ansprüche und war daher auch im „Dritten Reich“ eine hochpolitische Wissenschaft. Nach 1945 ist dieser Dualismus von osteuropäischer Geschichte und Ostforschung partiell erhalten geblieben.
Weder institutionell noch personell noch vom Gegenstandsbereich her läßt sich diese Trennung jedoch präzise vornehmen und konsequent durchhalten. Daher werden hier beide Stränge unter den Begriff „Osteuropaforschung" subsumiert und versucht, jeweils die Spezifika und Unterschiede so deutlich wie möglich herauszuarbeiten.
Es gibt zum Thema „Osteuropaforschung im Dritten Reich" in der westdeutschen Historiographie nicht mehr als einen einzigen einschlägigen Aufsatz: den des Rußland-Historikers Werner Philipp, 1966 an der FU in Berlin im Rahmen einer Ringvorlesung über „Nationalsozialismus und die deutsche Universität" gehalten Das ist ein Indiz dafür, wie belastet und brisant dieses Thema war und ist. Es mag zudem den fragmentarischen Charakter dieses Versuchs und die Tatsache entschuldigen, daß viele Fragen offenbleiben müssen. Ist die westdeutsche Historiographie somit bis heute kaum über erste Anfänge der Behandlung dieses heiklen Themas hinausgekommen, so haben sich andererseits Historiker der DDR um so intensiver dieser Thematik angenommen Die Art und Weise, wie das geschieht, kann freilich in keiner Weise befriedigen. Dennoch ist das zutage geförderte Material wichtig und auch für ein differenzierteres Bild nutzbar zu machen. Eine weitere Einschränkung ergibt sich aus diesen allgemeinen Bemerkungen: Als Zeithistoriker, der nicht zur engeren Zunft der Osteuropa-Historiker gehört, möchte sich der Autor entgegen der weiterreichenden Themenformulierung primär auf den Teil der Osteuropaforschung beschränken, der sich auf Polen bezieht. Dies läßt sich nicht nur arbeitsökonomisch begründen. Zwar wird mit dem Begriff „Lebensraum" die eigentliche Stoßrichtung der außenpolitischen Dynamik des Nationalsozialismus umschrieben: die Sowjetunion. Polen war demgegenüber nur östliches Vorfeld, das für die hypertrophen Dimensionen nationalsozialistischer Raumplanung eher marginal erscheint. Es war jedoch das Territorium, auf dem mit der rücksichtslosesten Konsequenz volkstums-und rassepolitische Planungen entwickelt und teilweise realisiert wurden. Es war — um die Interpretation eines polnischen Historikers aufzunehmen — so etwas wie ein „Laboratorium" künftiger Lebensraumpolitik Diese These mag daher die zunächst problematisch erscheinende Eingrenzung legitimieren.
Der im Thema formulierte Zusammenhang nimmt die Frage nach der praktischen Relevanz und nach der Indienstnahme der Osteuropaforschung für die nationalsozialistische Politik in den dreißiger Jahren und insbesondere im Zweiten Weltkrieg auf. Meine These ist, daß die Osteuropaforschung seit ihren Anfängen recht unmittelbar und viel direkter als die allgemeine Geschichtswissenschaft mit der Politik verflochten war, von ihr Impulse erhielt und sich teilweise auch sehr bereitwillig für politische Zwecke einspannen ließ. Die •konservativ-nationale und nationalliberale politische Tradition, in der die deutsche Osteuropaforschung ebenso wie die gesamte Geschichtswissenschaft stand, ließ das Jahr 1933 inhaltlich kaum als Bruch erscheinen, weil NS-Ostpolitik als Revisionspolitik verstanden wurde und weil in einem solchen Rahmen insbesondere die deutschtumszentrierte Ostforschung seit jeher eine fast selbstverständliche Hilfs-und Legitimationsfunktion hatte. Mit dieser Beurteilung unterlagen die meisten Historiker freilich einem schwerwiegenden Irrtum: Sie verkannten oder wollten nicht erkennen, daß nationalsozialistische Ostpolitik gegenüber traditioneller Revision etwas qualitativ Neues darstellte.
Gerade hier aber liegt das für die Geschichte der (Sub) Disziplin entscheidende und interessante Problem: Wie verhielten sich die führenden Osteuropaforscher gegenüber dem naheliegenden Versuch nationalsozialistischer Politik, einen traditionsorientierten, nationalkonservativen Wissenschaftszweig für ihre viel weitergehenden politischen Ziele zu funktionalisieren? Wieweit wurde Osteuropa-forschung essentieller Bestandteil praktischer Lebensraumpolitik, nämlich als Legitimationsfaktor und Mobilisierungsinstrument gegenüber der eigenen Bevölkerung und dem Heer von Soldaten, Verwaltungs-und Wirtschaftsfachleuten sowie SS-und Polizeiverbänden, die diese neue Politik konkret umzusetzen hatten? Wie groß war der ideologische Tribut der Wissenschaft an politische Vorgaben? Welche Zwänge und welche Verhaltens-spielräume gab es hier?
Ich möchte der Versuchung widerstehen, die Geschichte der deutschen Osteuropaforschung als eine Art Gruselkabinett nationalistisch-hybrider oder heute vielfach schon kurios anmutender Zitate zu präsentieren. Dennoch ist die dreifache Kontinuität über die politischen Zäsuren von 1933, 1939 und 1945 hinweg so gravierend, daß es nicht bei dem Hinweis auf die Zeitgebundenheit historischen Denkens bleiben kann. Ich werde bei diesem Thema daher auch noch knapp auf die Zeit nach 1945 eingehen, weil gerade in der Kontinuität über 1945 hinaus angesichts dessen, was in Osteuropa im Zweiten Weltkrieg geschehen ist, das eigentlich Skandalöse in der Geschichte der (west) deutschen Ostforschung liegt.
Methodisch scheint es beim gegenwärtigen Forschungsstand unvermeidlich, institutioneile und — exemplarisch — personelle Aspekte in den Vordergrund der Untersuchung zu stellen. Am ehesten ist so erfaßbar, inwieweit die dominierende nationalrestaurative inhaltliche Tradition der deutschen Historiographie gewissermaßen völkisch und rasseideologisch aufgeladen und eingefärbt wurde und damit zumindest antizipatorisch zentrale Elemente eines spezifisch nationalsozialistischen Paradigmas von Geschichte erkennbar werden. Daran schließt sich allerdings eine weitere und wissenschaftsgeschichtlich außerordentlich interessante Frage an, die hier offenbleiben muß oder allenfalls gestreift werden kann: ob in den für Osteuropa politisch besonders „aktuellen" und daher intensiv betriebenen Volks-und deutschtumshistorischen Fragestellungen sozialgeschichtliche Ansätze erkennbar werden, die — pointiert formuliert — politisch reaktionär, aber methodologisch progressiv und zukunftsweisend waren.
II. Entstehung und Entwicklung der Osteuropaforschung
Die osteuropäische Geschichte als Teildisziplin der Geschichtswissenschaft ist mit dem Namen des baltendeutschen Historikers Theodor Schiemann verbunden Schiemann war nach seiner Promotion in Göttingen Direktor des Stadtarchivs in Reval und Redakteur der „Revaler Zeitung". Angesichts der immer schärfer werdenden Russifizierungsbe-Strebungen sah er sich zur Übersiedlung ins Deutsche Reich veranlaßt und habilitierte sich 1887 mit Unterstützung Heinrich von Treitschkes für mittlere und neuere Geschichte an der Universität in Berlin. 1892 erhielt er dort das erste Extraordinariat für osteuropäische Geschichte in Deutschland. Zehn Jahre später ging daraus das Seminar für osteuropäische Geschichte hervor, das zum Vorbild für weitere Gründungen in Deutschland wurde. Bereits in der Entstehungsgeschichte dieser Teildisziplin zeigte sich der enge Zusammenhang zwischen Wissenschaft und Außenpolitik — insbesondere das Auswärtige Amt hatte großes Interesse an der Schaffung des Schiemann-Lehrstuhls — und auch die enge Verbindung von Ruß-land-und Polenforschung.
In der Zeit der Weimarer Republik blieb die osteuropäische Geschichte als historische Subdisziplin im Rahmen der Universitätsgeschichte ein Stiefkind der Wissenschaft. An den meisten der 23 existierenden Universitäten war ein Studium Osteuropas nicht möglich. Osteuropäische Geschichte war als Fach nur an den vier Universitäten Berlin (Karl Stählin, Otto Hoetzsch), Bonn (Leopold Karl Goetz, bis 1931), Hamburg (Richard Salomon) und Leipzig (Friedrich Braun) vertreten Ost-forschung als mit starkem Deutschtumsbezug versehene Osteuropaforschung vollzog sich jedoch in Anlehnung an die Unversitäten an zahlreichen selbständigen Instituten. Selbst wenn man der DDR-Interpretation nicht folgt, der Staatsapparat und „zahlreiche Organisationen der Bourgeoisie" hätten einen hohen Informationsbedarf gehabt und daher diese Institute ins Leben gerufen und unterstützt ist ein Zusammenhang zwischen politischen Revisionsinteressen, Wirtschaft und Wissenschaft unübersehbar. Allein die Gründungsdaten und Namen legen das nahe: Das Osteuropa-Institut in Breslau wurde 1918 gegründet, das Russische Wissenschaftliche Institut in Berlin 1923, die Stiftung für deutsche Volks-und Kulturbodenforschung in Leipzig 1926, das Institut für Grenz-und Auslandsstudien in Berlin im gleichen Jahr, das Ostland-Institut in Danzig 1927, die Stiftung für mittel-und südosteuropäische Wirtschaftsforschung in Leipzig 1928, das Süd-Ost-Institut in München 1930 und die Publikationsstelle in Berlin-Dahlem 1932. Hinzu kamen verschiedene historische Gesellschaften und Vereinigungen mit ähnlicher Zielsetzung. Revisionsinteressen und der Förderung der deutschen Minderheiten dienten auch viele der in der Weimarer Zeit neu geschaffenen Zeitschriften mit klingenden Titeln wie „Ostland" (1920), „Deutsche Blätter in Polen" (1924), „Heilige Ost-mark" (1925)
Eine zentrale theoretische Prämisse dieser Ostforschung war die These vom deutschen Kultur-und Volksboden. „Volksboden", schrieb der Leipziger Volkskundler und Historiker Wilhelm Volz 1926 „ist der Boden, den ein Volk einnimmt, der ihm eignet und zukommt, auf dem es erwachsen und mit dem es verwachsen ist. Es ist der Boden, den es der Natur abgerungen hat und dem es den Stempel seiner Kultur in zäher Arbeit aufgeprägt hat. So ist er sein eigen, und politisches Schicksal tastet ihn nicht an, solange das Volk, die Volksheit lebendig ist." Daß von dieser Volksbodentheorie eine direkte ideologische Brücke zum Ausbau einer deutschen Hegemonialstellung in Mitteleuropa und zum Ausgriff nach Osten führte, ist unübersehbar. Konkreter und unmittelbarer auf die politische Lage bezogen waren Forschungen, die sich mit Polen befaßten. Das außenpolitisch außerordentlich gespannte Verhältnis des Weimarer Staates zu Polen, das seinerseits wesentlich ein Produkt der preußisch-deutschen „Ostmarkenpolitik" war, spiegelte sich unmittelbar in der Ostforschung. Eine starke deutsch-nationale und revisionistische Tradition kennzeichnete zwar — von wenigen Ausnahmen abgesehen — generell die deutsche Historiographie für die Osteuropa-Historiker und Ostforscher aber wurde sie zur Selbstverständlichkeit. An Sowjetrußland schieden sich die Geister, an Polen nie. Gab es gegenüber Sowjetrußland sozusagen eine gespaltene politische Tradition auch in der Forschung, so wurde Revision gegenüber Polen unisono verfochten.
Am Beispiel der Biographie und der wissenschaftlichen Tätigkeit des Berliner Osteuropa-Historikers Otto Hoetzsch soll dieses Problem exemplarisch verdeutlicht und damit zugleich zum zweiten Teil übergeleitet werden, der die Rolle der Osteuropaforschung im „Dritten Reich" behandelt.
III. Osteuropaforschung und Nationalsozialismus
Hoetzsch hatte bei Karl Lamprecht promoviert, war stark von den Kathedersozialisten Gustav Schmöller und Adolph Wagner beeinflußt, habilitierte sich bei Otto Hintze mit einer ständehistorischen Arbeit und kam erst relativ spät über Schiemann zur osteuropäischen Geschichte, von dem er sich in seiner politischen Konzeption jedoch radikal unterschied. Daß ihm in seiner wissenschaftlichen Arbeit die Historiker Lamprecht, Schmöller und Hintze als methodische Vorbilder dienten, in seinem Verhältnis zum Osten aber eher Gustav Freytag und Heinrich von Treitschke kennzeichnet treffend die Ambivalenz von Hoetzsch's wissenschaftlichem und politischem Profil
Als Geschichtsprofessor an der Akademie in Posen und in Berlin beschäftigte er sich einerseits mit Problemen der russischen Geschichte, daneben ist sein dezidiertes politisches Engagement für eine alldeutsche und aggressive Polenpolitik charakteristisch. 1919 wurde Hoetzsch Mitglied der DNVP und kam ein Jahr später als Abgeordneter in den Reichstag.
In der DNVP-Fraktion betätigte er sich vor allem als außenpolitischer Spezialist. Deutsche Außenpolitik war für ihn bestimmt von „politischer Machtorgahisation Deutschlands in Mitteleuropa" und von der sozialdarwinistischen Vorstellung des machtpolitischen Kampfes der Staaten ums Dasein. Die „östliche Orientierung" blieb — nach anfänglichem Zögern — gegenüber Sowjetrußland für ihn eine Konstante. Demgemäß trat er auch als erbitterter Gegner des in Versailles geschaffenen Polen auf, und im Reichstag fiel 1920 das böse Wort von der „Todfeindschaft" zwischen Polen und Deutschland, solange nicht „die ethnographische Basis dieses Polentums wieder erreicht ist" d. h.der Zustand vor Versailles wiederhergestellt war. Seit 1928 geriet Hoetzsch jedoch in zunehmenden Gegensatz zu seiner Partei unter ihrem Führer Hugenberg und trat 1929 aus der Partei aus. Mit dem Nationalsozialismus versuchte er sich 1933 zunächst zu arrangieren, wobei der „Tag von Potsdam" am 21. März eine Brücke zu sein schien. Mit einem peinlich pathetischen Artikel über die „deutsche nationale Revolution" stellte er sich 1933 auf die Seite der neuen Machthaber Das schützte ihn jedoch keineswegs vor dem Vorwurf eines „Salon-und Kulturbolschewisten". Mit seiner prorussischen Option paßte er nicht mehr in die politische Landschaft. Insofern war es konsequent, daß er 1935 seinen Lehrstuhl verlor und zwangspensioniert wurde Der Österreicher Hans Uebersberger, der sich rühmte, als erster nationalsozialistischer Rektor in Wien Opfer des fehlgeschlagenen Putsches in Österreich geworden zu sein, wurde sein Nachfolger Es gab viele Berührungspunkte des national-konservativen Politikers Hoetzsch mit den Nationalsozialisten; Rassismus und Lebensraumpolitik trennten ihn jedoch von ihnen. Zudem mußte die zeitweilige Kooperation Hitlers mit Polen für einen dezidierten Verfechter der Rapallo-Politik schwer akzeptabel sein.
Als interessanter Epilog sei hier angeführt, daß Hoetzsch im Sommer 1945 wieder seinen Lehrstuhl in Berlin zurückerhielt und sich bis zu seinem Tode 1946 für den Wiederaufbau und die Integration der osteuropäischen Geschichte in die Allgemeine Geschichte einsetzte. In einem programmatischen Aufsatz von 1946 findet sich der bemerkenswerte Satz: „Rußland (ist) integrierender Teil Europas, aber heute eines Europa, dessen Stellung, innere Bedeutung, Begriff, nachdem der des europäisch-christlichen Abendlandes sich aufgelöst hat, auch an Gehalt und Bedeutung verloren hat. Daran ist es selbst schuld geworden. Aus dem führenden Erdteil der Welt ist es durch den ersten und vor allem durch den zweiten Weltkrieg zu einem Bettlerkontinent geworden, der die anderen Erdteile um Hilfe angehen muß und sie braucht." Daß Hoetzsch dabei die universalhistorische Bedeutung Lenins und der bolschewistischen Revolution offen ansprach, verschaffte ihm nicht nur das Wohlwollen der damaligen Verwaltung in der sowjetischen Zone, sondern verhalf ihm auch zu einer dezidiert positiven Beurteilung der heutigen DDR-Historiographie
Ein wichtiger Teil der Geschichte der Osteuropaforschung und zugleich der Biographie Hoetzsch's ist die von der „Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde" von 1925 bis 1939 herausgegebene Zeitschrift „Osteuropa" Diese maßgeblich von Hoetzsch gestaltete Zeitschrift definierte ihre Aufgabe so: „auf der Grundlage wissenschaftlich-exakter Arbeit ein Bild des gegenwärtigen Standes im europäischen Osten zu geben, unabhängig von jedem politischen oder gar parteipolitischen Standpunkt, von jedem wirtschaftlichen oder wirtschaftspolitischen Interesse" Diesem Ziel diente vor allem die umfassende, aktuelle Information über politische, wirtschaftliche und kulturelle Probleme Sowjetrußlands. In der westlichen Welt gab es damals kein Pendant zu „Osteuropa"
Konzentrierten sich Aufsätze und Berichterstattung zunächst ganz überwiegend auf sowjetische Themen, wobei auch sowjetische Autoren häufig zu Wort kamen, so trat hier mit dem Jahr 1933 eine deutliche Wandlung ein. Polen und andere osteuropäische Staaten erlangten jetzt erheblich größeres Gewicht. Trotz eines deutlichen politischen Kctaus vor dem „mächtigen Schwung, der jetzt durch Deutschland braust" — so Hoetzsch im Novemberheft 1933 —, war von Gleichschaltung der Zeitschrift zunächst keine Rede. Noch im Frühjahr 1934 konnte eine brisante Artikelserie über die Ergebnisse des ersten sowjetischen Fünf-Jahr-Plans erscheinen. Hoetzsch zog sich jedoch zunehmend — ebenso wie Klaus Mehnert (von 1931 bis 1934 in der Redaktion) — aus der Redaktionsarbeit zurück, die an Werner Markert, Mitglied der NSDAP, überging Markert schloß 1934 einen programmatischen Artikel folgendermaßen „Der Weg nach Osten heißt auch in der Wissenschaft Kampf. Kampf auf Vorposten im Neuland. Wir (Ostforscher) haben die Kleinarbeit zu leisten für den Ausbau des Weges, den der Führer uns vorgezeichnet hat. Das ist heute die wissenschaftliche und die politische Aufgabe des Osteuropastudiums.''Das Ende der Mitarbeit Hoetzsch's an der Zeitschrift fiel zusammen mit seiner Entlassung aus der Berliner Universität, die ihm 1935 überraschend mitgeteilt wurde Als Vorwand mußte dabei u. a. herhalten, daß Hoetzsch eine Dissertation eines jüdischen Studenten über das Schicksal der Juden in der Sowjetunion befürwortet hatte. Der Konflikt war jedoch prinzipieller Natur und wirft ein bezeichnendes Schlaglicht auf das Verhältnis des Nationalsozialismus zu einem Zweig der Osteuropaforschung. Hermann Greife, Dozent an der „Hochschule für Politik" in Berlin, Mitarbeiter des Ostexperten im Goebbels-Ministerium und Drehbuchverfasser des Films „Der ewige Jude", Eberhard Tau-bert, griff Hoetzsch politisch scharf an und brandmarkte die von ihm geleitete „Deutsche Gesellschaft zum Studium Osteuropas" als „Hort und Sammelbecken aller jüdisch-freimaurisch-liberalistischen Sowjetfreunde und Salonbolschewisten"
Mit der Entlassung von Hoetzsch fand 1935 auch die „Zeitschrift für osteuropäische Geschichte" ihr Ende. Sie hatte ihre inhaltlichen Schwerpunkte in der polnischen und russischen Geschichte vom 16. bis 19. Jahrhundert und wurde seit 1931 von Hoetzsch in Verbindung mit den führenden Vertretern der osteuropäischen Geschichte, Karl Stählin, Richard Salomon und Leopold Karl Goetz, in Fortführung der Tradition der gleichnamigen Zeitschrift vor dem Ersten Weltkrieg, herausgegeben. Daß 1934 bereits mehrere Ost-und Volkstumsforscher in das Herausgeberkollegium kamen, wirft ein bezeichnendes Schlag-licht auf die eingangs angesprochene Verschiebung der Perspektive innerhalb der Osteuropaforschung Daß dies freilich keineswegs eine zwingende Notwendigkeit war, belegen die noch bis 1941 erschienenen . Jahr-bücher für Geschichte Osteuropas", die ihr wissenschaftliches Niveau auch unter ihrem nationalsozialistischen Herausgeber Uebersberger beibehalten konnten und in deren Spalten politische Kampfartikel die absolute Ausnahme bildeten
Bleibt Hoetzsch auch bei differenzierter und wohlwollender Betrachtung in seiner politischen Haltung letztlich eine schillernde Figur, so wurde ein anderer, kaum bekannter und in seinen politischen und marxistischen methodologischen Prinzipien gänzlich untypischer Osteuropa-Historiker ein direktes Opfer des nationalsozialistischen Terrors, freilich auch erst nach einigen, für die zeitweilig mangelnde Konsequenz nationalsozialistischer Wissenschaftspolitik aufschlußreichen Stationen: Georg Sacke Er kam 1945 im KZ um.
Neben dem Nationalkonservativen Hoetzsch und dem Marxisten Sacke wurden auch die übrigen, im liberalen politischen Spektrum einzuordnenden Osteuropa-Historiker Opfer der nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik. Richard Salomon, Hamburg, wurde die Lehre wegen seiner jüdischen Herkunft untersagt; 1937 emigrierte er in die Vereinigten Staaten. Karl Stählin, Berlin, wurde ebenso wie Friedrich Braun in Leipzig vorzeitig pensioniert Für das Fach osteuropäische Ge-schichte wurde das Jahr 1933 somit zu einer deutlichen Zäsur.
Dieses zunächst frappierende Ergebnis läßt verschiedene Erklärungen zu. Zunächst hatte die weitgehende Eliminierung der osteuropäischen Geschichte mit der politischen Einstellung oder Herkunft ihrer Fachvertreter zu tun. Darüber hinaus aber fand darin eben jene wissenschaftsparadigmatische Verschiebung ihren konkreten Ausdruck, von der bereits die Rede war. Es spricht einiges für die Hypothese, daß die professionellen Osteuropa-Historiker selbst national-konservativer Provenienz wie Hoetzsch nicht ohne weiteres auf eine ganz und gar deutschtumsorientierte, volksgeschichtliche Sicht der Geschichte Osteuropas auszurichten waren. Vielmehr ging ihr wissenschaftlicher Zugriff von der Geschichte der jeweiligen osteuropäischen Völker als einem gewissermaßen autonomen Gegenstand aus, selbst wo ein solcher Ansatz von opportunen politischen Erklärungen (wie bei Hoetzsch und Markert) konterkariert wurde. Aus diesem Grund kam nun vor allem jener andere Zweig der Osteuropaforschung zum Zuge, der sich viel leichter politisch funktionalisieren ließ. Denn ein Großteil — und wie sich zeigen wird, der eigentlich brisante Teil — der Osteuropaforschung vollzog sich in Spezialinstituten außerhalb oder in Verbindung mit den Universitäten. Von ihnen führt z. T. ein direkter Weg in die nationalsozialistische Besatzungspolitik in Osteuropa.
Die genannten Institute der Osteuropaforschung wurden von den Nationalsozialisten gleichgeschaltet und in der 1933 gegründeten „Nord-und Ostdeutschen Forschungsgemeinschaft“ unter Leitung Albert Brackmanns und seines Stellvertreters Hermann Aubin zusammengefaßt
Die politische Funktion dieser Ostforschung erhielt jedoch durch den Nichtangriffspakt mit Polen von 1934 zunächst eine besondere Note. Auf einer Tagung der „Nord-und Ostdeutschen Forschungsgemeinschaft" im Sommer 1934, an der nahezu alle namhaften Ost-forscher teilnahmen, erörterte man ausgiebig die möglichen Konsequenzen dieses Vertrages für die Wissenschaft. Obwohl zugestanden wurde, es müsse nun eine „Grenzlandarbeit" in neuer Form geben, in der „Polemiken und Revisionsforderungen" wegfallen müßten, dominierte die Warnung vor voreiligen Konsequenzen. „Wir dürfen unser Geschichtsbild nicht zertrümmern aus irgendwelchen politischen Rücksichten", hieß es im Protokoll, und die Gegnerschaft gegenüber Polen gelte nach wie vor. Mit dem Überfall auf Polen 1939 und der Errichtung einer Besatzungsherrschaft, die nicht mehr einem traditionellen Modell militärischer Okkupation folgte, sondern auf nahezu allen Gebieten ein Experimentierfeld nationalsozialistischer Rasse-und Lebensraumideologie darstellte, bekam auch jede Art von Osteuropaforschung eine neue Qualität. Mag die Zäsur von 1933 für die nationalistisch-konservative und primär außenpolitisch orientierte Einstellung vieler Ostforscher nicht unbedingt erkennbar gewesen sein, weil sie gewissermaßen in revisionspolitischer Verpackung auftrat und weil zudem die politische Verständigung Hitlers mit Polen 1934 eine Verkehrung der tradierten Fronten schuf, so konnte einem halbwegs kritischen Beobachter schwerlich völlig verborgen bleiben, was sich seit 1939 veränderte. Aus dieser Sicht wird man daher auch andere Maßstäbe an wissenschaftliche Arbeiten von Ostforschern während des Krieges anlegen müssen.
Dieses Problem soll an drei Beispielen verdeutlicht werden: dem Institut für Deutsche Ostarbeit in Krakau (IDO), der „Reichsuniversität Posen" und der Person Hermann Aubins.
Das IDO machte 1940 für das Generalgouvernement den Anfang in der Reihe von wissenschaftlichen oder pseudowissenschaftlichen Neugründungen in den besetzten Gebieten Osteuropas. Hier wird sich auf das IDO beschränkt, zumal über die anderen Institutionen bislang wenig bekannt ist Um den makabren politischen Hintergrund der Gründung und Existenz des IDO zu verdeutlichen, ist ein knapper Hinweis auf die nationalsozialistische Universitäts-und Wissenschaftspolitik in Polen unerläßlich In der Universität Krakau, der zweitältesten Universität Osteuropas, manifestierte sich diese Politik in der Verhaftung des gesamten Lehrkörpers der Jagiellonischen Universität anläßlich der zunächst von der Militärverwaltung in Aussicht gestellten Wiedereröffnung im November 1939. Bis auf wenige Ausnahmen wurden die polnischen Wissenschaftler ins KZ Sachsenhausen deportiert Im Frühjahr 1940 wurde ein Teil von ihnen auf ausländische und auch deutsche Intervention hin entlassen, ein anderer Teil nach Dachau gebracht Natürlich blieb das strikt geheim, aber daß es keine polnischen Universitäten mehr gab, konnte dem kaum verborgen bleiben, der es wissen wollte. Die polnischen Institute wurden geschlossen oder für deutsche Zwecke umfunktioniert, die große Jagiellonisehe Bibliothek zur „Deutschen Staatsbibliothek“ erklärt und für polnische Wissenschaftler offiziell gesperrt.
Im gotischen Festsaal eben dieser Bibliothek fand im April 1940 die Gründungsversammlung des IDO statt. Dessen Aufgabenstellung umriß sein Gründer und politischer Promotor, der Generalgouverneur und ehemalige Starjurist der Partei, Hans Frank, mit dem lapidaren Satz, im IDO solle „eine Ostkunde als Elementarlehre des imperialen Nationalsozialismus“ aufgebaut werden Diesem Ziel wurde die Organisationsform des Instituts durch eine enge Verflechtung mit der Verwaltung des Generalgouvernements (GG) angepaßt. Das Institut besaß sieben geisteswissenschaftliche und vier naturwissenschaftliche Sektionen, z. T. mit mehreren Referaten, sowie Zweigstellen in Warschau und (seit 1941) in Lemberg. Die Kriegslage erzwang 1943 eine weitgehende Reduzierung oder Stillegung der geisteswissenschaftlichen Sektionen, so daß sich eine Analyse der Arbeit dieses Instituts primär auf einige programmatische Erklärungen, Ansätze ihrer Realisierung und bestimmte personelle Konstellationen konzentrieren muß. Die Aufgabenstellung einiger weniger Sektionen soll hier verdeutlichen, welche Funktion der Ostforschung in der Umsetzung von Lebensraumpolitik — zunächst im kleinen Maßstab in Polen — zugedacht war.
Die Sektion Vorgeschichte unter der Leitung von Prof. Werner Radig, zugleich als Beauftragter in Rosenbergs „Amt für Vorgeschichte" tätig, nach dem Kriege Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Ost-Berlin, hatte die „geistige und volkspolitische Untermauerung des siegreichen Volkstumskampfes" zur Aufgabe. „Es ist in der Tat auch nicht schwer“, lautete Radigs Selbstcharakteristik seiner Arbeit, „den deutschen Führungsanspruch im Vorfeld des deutschen Volks-und Kulturbodens aus den Urtiefen des geschichtlichen Lebens zu erweisen und sichtbar zu machen: wir stehen auf altgermanischem Volksboden. So ist auch die Vorgeschichte nichts anderes als Volkstumsgeschichte."
Prinzipiell ähnlich sah die Zielsetzung der Abteilung Geschichte aus. Deutlicher praxisbezogene Vorarbeiten für die nationalsozialistische Rassepolitik hatte die Sektion für Rasse-und Volkstumsforschung zu leisten, deren Leiter, Dr. habil. Erhard Riemann, zugleich Mitarbeiter der zum Organisationsbereich der SS gehörigen „Volksdeutschen Mittelstelle" in Krakau war..
Schon angesichts dieser fragmentarischen Selbstcharakterisierungen drängt sich natürlich die Frage auf, wieweit sich in diesem Institut „die Ostforschung" repräsentiert fand. Das Personal gehörte zweifellos nicht zur Creme der Osteuropaforschung. Die wissenschaftliche Produktion war gering, und auch intern wurde von deutschen Wissenschaftlern Kritik am mittelmäßigen Niveau der Arbeit geäußert. Dennoch bestanden etliche Querverbindungen zu renommierten Vertretern des Faches.
In den Publikationsorganen des IDO „Die Burg“ (eine Anspielung auf den Wawel in Krakau) und „Deutsche Forschung im Osten“ veröffentlichten auch im Reich ansässige Wissenschaftler, ebenso nahmen sie an den vom Institut veranstalteten Arbeitstagungen teil. Auf der ersten dieser Art hielt Hermann Au-bin ein Referat über „Das Reich und die Völker des Ostens" Peter Heinz Seraphim, seit 1930 Mitarbeiter des Königsberger Instituts für osteuropäische Wirtschaft und Verfasser einer 700 Seiten starken Monograpie über „Das Judentum im osteuropäischen Raum" (1938), publizierte im Generalgouvernement mehrfach über dieses Thema Er war Mitarbeiter des „Instituts zur Erforschung der Judenfrage" in Frankfurt und Hauptschriftleiter der von Alfred Rosenberg herausgegebenen antisemitischen Zeitschrift „Weltkampf“
Was im IDO betrieben wurde, war in jedem Fall ein Stück praktischer Antizipation künftiger Ostforschung, wie sie die Nationalsozialisten wünschten und für ihre Lebensraumpolitik auch brauchten. Selbst wo Forschungen oder Vorträge in Inhalt oder Diktion nicht über den Rahmen des in der damaligen Zeit „Üblichen" deutlich hinausgingen, können sie nicht von den politischen Rahmenbedingungen losgelöst beurteilt werden, in die sie verflochten waren und die auch niemandem verborgen sein konnten. Jeder Autor kannte sie und mußte sich klar sein, was er tat Herbert Ludats und Manfred Lauberts in der Schriftenreihe des IDO erschienenen Arbeiten über die „Anfänge des polnischen Staates“ und die „Preußische Polenpolitik" ließen sich als weitere konkrete Beispiele nennen Genau hier scheint mir das eigentliche Problem des Umkippens von zeitgebundener Wissenschaft in Ideologie zu liegen. Der Schritt von der bis zu einem gewissen Grade unvermeidlichen Anpassung an vorgegebene Sprachregelungen des Regimes zur offenen politisch-ideologischen Prostitution der Wissenschaft war unter solchen Bedingungen sehr klein.
Die „Reichsuniversität Posen" mag dieses Problem als weiteres Beispiel ebenso verdeutlichen wie die Person eines der führenden Köpfe der deutschen Ostforschung, Hermann Aubin. Anstelle der 1939 zerschlagenen polnischen Universität in Posen wurde am 27. April (einem Sonntag) 1941 der feierliche und von allen deutschen Sendern übertragene Gründungsakt der „Reichsuniversität Posen“ vollzogen Der Reichsstatthalter und Gauleiter des „Warthelandes", Arthur Greiser, bezeichnete die auf Hitlers Anregung zurückgehende Gründung als einen „epochemachenden Markstein in der Weiterentwicklung der kulturellen Eroberung und Durchdringung dieses alten deutschen Lebensraums" In mehrfacher Hinsicht hatte diese Universität der Lebensraumpolitik im Osten zu dienen. Zum einen sollte sie Unterlagen für die als „Bereinigung völkischer Mischzonen" verstandene Volkstums-und Umsiedlungspolitik liefern, zum andern die wirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten der ins Reich eingegliederten polnischen Westgebiete erkunden, und schließlich war ihr die Rolle einer „Führerschule des deutschen Ostens" (so die offizielle Gründungsbroschüre) zugedacht. Aus der explizit politischen Zielsetzung der Reichsuniversität erklärt sich wohl auch die für die Kriegsjahre exzeptionelle Tatsache, daß die Zahl der Studenten und Lehrenden bis 1944 ständig anstieg: 49 Lehrkräfte im WS 1941 mit 191 Studenten auf 118 Hochschullehrer und 886 Studenten im WS 1943/44. Im SS 1944 wuchs die Studentenzahl sogar auf ca.
1 200 an.
In enger Verbindung mit der Universität stand die im Frühjahr 1941 unter der Schirmherrschaft Görings geschaffene „Reichsstiftung für deutsche Ostforschung". Sie basierte auf beschlagnahmtem polnischen Besitz, vergab Forschungsaufträge und verlieh (insgesamt viermal) einen mit 10 000 RM dotierten Clausewitz-Preis für Wissenschaftler, „die durch kämpferischen Einsatz oder durch ihr beispielhaftes Wirken entscheidend zur Wiedergewinnung des deutschen Ostens beigetragen haben". Unter den Preisträgern befanden sich der Berliner Polenspezialist Manfred Laubert und — posthum — der Posener Volkstumsforscher Kurt Lück
Auch wenn nicht alle geplanten Lehrstühle an der „Reichsuniversität" besetzt werden konnten (interessanterweise ausgerechnet die für die Rassenkunde, Geschichte und Sprache des Judentums sowie politische Auslands-kunde) war der enge Praxisbezug des Lehrbetriebs unübersehbar. So fand beispielsweise an der Rechts-, Staats-und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät ein mehrstündiges Kolleg über das 1941 in den eingegliederten Gebieten erlassene „Polenstrafrecht" statt; die Studenten waren zur Bewußtseinsbildung einem System von „Osteinsätzen" unterworfen, und insbesondere in den Veranstaltungen der philosophischen Faktultät und den Vorlesungen für Hörer aller Fakultäten wurden die alten Thesen von deutscher Leistung im Osten in neuem Gewände präsentiert
Angesichts des hohen Anteils umgesiedelter baltendeutscher Wissenschaftler an der „Reichsuniversität" — 40 von 119 wurden zum Aufbau der Universitätsinstitute herangezogen — dürfte somit summa sumarum das, was der spätere renommierte Osteuropa-Historiker Reinhard Wittram 1937 schrieb und bei der Eröffnungsfeier in ein offenes politisches Bekenntnis münden ließ, nicht bloßes Lippenbekenntnis geblieben sein: „Wir haben mit eindringlicher Kraft zu fragen, was für Folgerungen aus der Wendung zur Volksgeschichte zu ziehen sind, und mit unbestechlicher Strenge zu prüfen, wie sich unser Geschichtsbild zu gestalten hat. Wo ein Gefühl für Zucht und Rasse die liberale Auflösung unverbildet überdauert hat oder neu erwacht ist, wird die Wiederbesinnung unseres Volkes auf die rassischen Erbwerte als ein Gesundungsvorgang begriffen werden." Bei der Eröffnungsfeier erklärte er: „Wir (nach Posen umgesiedelten Baltendeutschen; C. K.) dürfen uns einreihen in die Kameradschaft derer, die auf vorgeschobener Wacht für Großdeutschland stehen, wir dürfen das Feuer hüten helfen, das aus Nacht und Dämmerung in den großen germanischen Morgen brennen soll. Daß wir uns dessen würdig erweisen, sei unser Gelöbnis in dieser feierlichen Stunde. Und so bleibt unser Blick auf den Führer gerichtet, dem wir allezeit verschrieben haben alle Güter unseres Wissens, unseren ganzen Arbeitswillen und unser ganzes Herz."
Wird man zur Erklärung solcher Äußerungen eine Art „Vorpostenmentalität" der Balten-deutschen anführen müssen, die für chauvinistische und nationalsozialistische Ideologien besonders anfällig machte — ähnlich wie bei den Historikern Theodor Schiemann und Johannes Haller —, so läßt sich dies im Hinblick auf biographischen Hintergrund und politische Sozialisation nicht in gleicher Weise von einem der führenden Ostforscher sagen, der nicht zur engeren Gruppe der Osteuropa-Historiker zu rechnen ist, aber das politische Profil der Osteuropaforschung im Dritten Reich stark bestimmte: Hermann Aubin. Aus Böhmen stammend, hatte er seine wissenschaftliche Karriere in Bonn, Gießen, Breslau und Kairo gemacht und arbeitete von 1933 bis 1945 an der Universität Breslau. Die Liste der allein während der Kriegsjahre veröffentlichten Arbeiten über ostdeutsche und osteuropäische Themen ist beachtlich In vielen dieser Arbeiten läßt sich exemplarisch die inhaltliche Verkürzung und Verengung eines ganz und gar volksgeschichtlich und deutschtumszentrierten Geschichtsbildes fassen, das in fataler Weise dann auch die Kontinuität nach 1945 mitbegründet hat. Diese mag kennzeichnend für alle Wissenschaftsdisziplinen sein, für die Ostforschung scheint sie jedoch noch eine besondere Note zu besitzen.
III. Kontinuitäten nach 1945
Daß es eine frappante personelle Kontinuität im Bereich der Ostforschung zwischen Drittem Reich und Bundesrepublik gab, ist ebensowenig verwunderlich wie die Tatsache, daß Gesellschaft und Staat der zweiten deutschen Republik diese hinnahmen und bejahten. Das gründlich gescheiterte Experiment der west-alliierten Entnazifizierung, die hautnahen Erfahrungen der Deutschen mit der Roten Armee und dem Stalinismus in der DDR und der Antikommunismus als politischer Basiskonsens der Bundesrepublik erlaubten in Verbindung mit einer nichtexistenten Ostpolitik der Adenauer-Ära, unter veränderten Vorzeichen und mit anderen Akzenten viele der Themen weiterzuverfolgen, die auch vor 1945 auf der Tagesordnung standen. Auch wenn man von diesen gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen ausgeht, muß die Kritik dort ansetzen, wo die Ostforschung angesichts der spezifischen Herausforderung, welche die säkulare Katastrophe von 1945 aus deutscher Sicht darstellte, nicht einmal ansatzweise zu einer kritischen Verarbeitung der Ursachen dieser Katastrophe vorstieß, sondern sich in Abendland-und Europa-Ideologien flüchtete und auf diese Weise als Wissenschaft ihre kritisch-rationale Funktion völlig verdrängte. Soweit die Entwicklung zu übersehen ist, dominierten bis weit in die sechziger Jahre hinein klägliche Apologie und pathetische Abendlandapotheose im Erscheinungsbild der Ostforschung. Nur allmählich löste sich die Osteuropa-Historiographie aus ihrer „deutschtumsgeschichtlichen Selbstisolierung" und erst durch Arbeiten wie Günter Stökls „Osteuropa und die Deutschen" von 1967 ist hier ein deutlicher Wandel markiert. Der Einfluß eines Generationswechsels und veränderter gesellschaftlicher und politischer Rahmenbedingungen wären als Erklärungsmomente heranzuziehen. Eine Vordenker-und Aufklärerfunktion des Wissenschaftlers war in den ersten Jahren nach 1945 im Kreise der Osteuropaforscher zunächst kaum erkennbar. Die verbrecherische Politik des Nationalsozialismus im Osten wurde vom Institut für Zeitgeschichte aufgearbeitet, kaum von den zahllosen Instituten und Arbeitkreisen, die sich mit Ostmitteleuropa befaßten. Die erste gründliche, auf Akten fußende Untersuchung der nationalsozialistischen Polenpolitik stammte nicht von einem Osteuropa-Historiker, sondern von Martin Broszat
Das von DDR-Historikern und z. T. auch von polnischer Seite entworfene Bild der Ostforschung als „Stoßtrupp des Imperialismus" ist ein Zerrbild. Beschäftigung mit „dem Osten" ist nicht per se Revanchismus, wie hier suggeriert wird Der ungeheure historische Kontinuitätsbruch von 1945 und der Verlust eines riesigen deutschen Territoriums kann nicht mit wohlfeilen politischen Proklamationen ad acta gelegt werden. Insofern forderte 1945 zu intensiver Beschäftigung mit Osteuropa heraus. Das eigentlich Skandalöse ist jedoch die Einäugigkeit und historisch-politische Einseitigkeit in der Beschäftigung der westdeutschen Nachkriegsforschung mit „dem Osten". Spezialisten waren unter den Bedingungen des Kalten Krieges gefragt, und so konnten die meisten Ostforscher auch aus Institutionen wie dem IDO oder der „Reichsuniversität Posen" wieder aktiv werden. Der „Göttinger Arbeitskreis", bereits 1946 gegründet und mit einem Auftrag der amerikanischen Militärregierung für ein Gutachten über die Oder-Neiße versehen, spielte in den fünfziger und sechziger Jahren eine unheilvolle Rolle hinsichtlich wissenschaftlich untermauerter antipolnischer Öffentlichkeitsarbeit. Zu den Autoren gehörten auch frühere Mitarbeiter des IDO in Krakau Unter den Publikationen dieses Arbeitskreises gab es kaum veränderte Neuauflagen von Arbeiten aus dem Dritten Reich, die sich als Fundgrube nationalsozialistischer Propaganda im Krieg bewährt hatten: So Kurt Lücks 1942 in Posen erschienene Arbeit „Deutsche Gestalter und Ordner im Osten", 1957 von Victor Kauder (ebenfalls volksdeutscher Herkunft) unter dem Titel herausgegeben: „Deutsch-polnische Nachbarschaft. Lebensbilder deutscher Helfer in Polen". Aus „Gestaltern und Ordnern" waren nun Helfer geworden. Auch ein Vergleich der Vorwörter spricht für sich
Im übrigen wird in den meisten Publikationen dieses und anderer Arbeitskreise jenes fatale Interpretationskonzept deutlich, das auch in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit anfänglich dominierte: Die historische Ursachenkette wird um unbequeme Erklärungsglieder (wie Ostmarkenkampf, Revisionspropaganda, Vernichtungspolitik) verkürzt, das historische Verhältnis Deutschlands zu Ost-mitteleuropa vorwiegend in die Schablone „Leistung und Schicksal" gezwängt
Diese Feststellung gilt nicht minder für Hermann Aubin, der nach 1949 zu den führenden Vertretern der westdeutschen Wirtschaftsund Sozialgeschichte gehörte. Er hatte sich in seiner Wortwahl in seinen im Dritten Reich geschriebenen Arbeiten nie so exponiert wie etwa Wittram. Um so leichter wurde es nun offenbar, das Thema Osten mit gewissen Varianten auf der gleichen Linie weiterzubehandeln. In nachgerade erschreckendem sprachlichen Schwulst wurden „der deutsche Osten“ in einem von Aubin herausgegebenen Sammelband sogar zum metaphysischen Problem stilisiert, die Ursachen des Verlusts der deutschen Ostgebiete und der Sowjetisierung Ostmitteleuropas in inhaltsleere gesamteuropäische und abendländische Nebelschwaden gehüllt Schwerer wiegt jedoch die Kontinuität inhaltlicher Konzepte in der Interpretation des deutschen Verhältnisses zu Osteuropa. In seinem 1939 erschienenen Buch „Zur Erforschung der deutschen Ostbewegung" entwickelte Aubin programmatisch die These von einem „durchgehenden Zusammenhang"
einer „deutschen Ostbewegung" in der Beziehungsgeschichte zwischen Deutschland und Osteuropa seit dem frühen Mittelalter Ein — so Aubin — „allzugroßer Abstand an Menschen und Kultur an der deutschen Ostgrenze bestand, der nach Ausgleich drängte". Die „Ganzheit der Betrachtung in der Dreiheit von Raum, Zeit und Inhalt" war sein methodisches Postulat für die Erforschung der Ostbewegung. Volksgeschichte sollte die Staaten-geschichte teils ergänzen, teils erneuern, teils ersetzen. Aubin bezog sich dabei auf die vor ihm entwickelten Begriffe von deutschem Kultur-und Volksboden und verwies auch auf Ratzels geopolitischen Ansatz. „Nach dem Zusammenbruch von 1918 war die Besinnung auf den eigenen Besitz und Sammlung der Trümmer die dringlichste Aufgabe ... Unabhängig von aller staatlicher Abmarkung erschien da vor allem in dem zerspaltenen Osten das Gesamtbild deutschen Lebensraums."
Diese Volksgeschichte als „Ganzheitsforschung", inhaltlich auf Schlagworten und Konzepten vom Ost-West-Gefälle, von der deutschen Kulturträgerrolle, vom deutschen Volks-und Kulturboden in Ostmitteleuropa fußend, sollte die verschiedensten Wissenschaftsdisziplinen wie Bevölkerungsgeschichte, Rassenkunde, Kulturbiologie, Siedlungsforschung, Rechtsgeschichte, Kulturgeographie, Wirtschaftsgeschichte, politische und Geistesgeschichte integrieren und damit das Postulat der Einheit von Raum, Zeit und Inhalt in der deutschen Ostbewegung einlösen. In seiner einseitigen, ja chauvinistischen Deutschtumsorientierung verfestigten solche Konzepte, für die hier der Name Aubin nur exemplarisch steht, bei den betroffenen Völkern das Gegenstereotyp vom „deutschen Drang nach Osten" als einer ebenfalls durchgehenden Triebkraft und Bewegung in der Geschichte Deutschlands und Osteuropas. Ein sachgerechter Zugang zu einem komple-xen historischen Zusammenhang wurde auf diese Weise von zwei Seiten erschwert
Wenn Karl Ferdinand Werner für die deutsche Geschichtswissenschaft festgestellt hat, daß das Prinzip Rasse die Praxis von Studium und Forschung nur in geringem Maße geprägt habe so gilt das auch für große Teile der Osteuropaforschung, vor allem für die osteuropäische Geschichte im engeren Sinne. Aber der Weg von volksgeschichtlichen Ansätzen zu rassischen Maximen war nicht weit. So schrieb denn auch Aubin 1940, „die Annäherung im Kulturniveau zwischen Deutschland und den osteuropäischen Nachbarvölkern" sei „nicht allein eine Frage von Kulturübertragung, sondern auch von Blutsaustausch“ gewesen
Aubin hat die ideologische Funktion dieser Ostforschung nach 1945 offenbar nie als Problem empfunden und auch keine Veranlassung gesehen — wie etwa Wittram —, sich von seinen früheren völkischen Auffassungen zu distanzieren. Sein Vorwort „An einem neuen Anfang der Ostforschung" zum ersten Heft der 1952 gegründeten „Zeitschrift für Ostforschung", deren Mitherausgeber er als zeitweiliger Präsident des Herder-Forschungsrats war, liest sich eher als Bekenntnis zur Kontinuität unter einer völlig veränderten Konstellation, läßt jede kritische Bemerkung zur problematischen Vergangenheit der Ostforschung vermissen und verkennt total die auf Lebensraumgewinnung gerichtete Zielsetzung des Nationalsozialismus Noch 1961 hielt Aubin an seinem Konzept einer klassen-und epochentranszendenten „deutschen Ostbewegung" als „Grundstrom abendländischen Lebens", wenn auch in wechselnder Stärke durch alle Jahrhunderte, fest
Man mag solche Vorstellungen als subtilen Revanchismus oder als ressentimentgeladene Gedankenlosigkeit verstehen, sie machten in jedem Falle das immer wieder proklamierte Ziel einer deutsch-polnischen Nachbarschaft zur Phrase und zeigen, wie wenig eine historische Teildisziplin, die dazu in besonderem Maße aufgerufen gewesen wäre, das Dritte Reich und das Epochenjahr 1945 verarbeitet hat.
„Ressentiments verletzten den Respekt vor der Trauer um das Verlorene" sagte Willy Brandt in seiner Rede in Warschau anläßlich der Unterzeichnung des deutsch-polnischen Vertrages 1970. „Ein klares Geschichtsbewußtsein duldet keine unerfüllbaren Ansprüche." Ein großer und besonders öffentlichkeitswirksamer Teil der deutschen Ostforschung hat zu dieser Erkenntnis wenig oder erst spät beigetragen.