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Verführung durch Normalität — Verfolgung durch Terror Gedanken zur Vielfalt nationalsozialistischer Herrschaftsmittel | APuZ 7/1984 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 7/1984 Artikel 1 Die Versuchung des Absoluten Zur deutschen politischen Kultur im 19. und 20. Jahrhundert Geschichte als aktuelle Orientierungshilfe Zum Fehlen einer dauerhaften internationalen Friedensordnung im 20. Jahrhundert Verführung durch Normalität — Verfolgung durch Terror Gedanken zur Vielfalt nationalsozialistischer Herrschaftsmittel Osteuropaforschung und Lebensraumpolitik im Dritten Reich

Verführung durch Normalität — Verfolgung durch Terror Gedanken zur Vielfalt nationalsozialistischer Herrschaftsmittel

Josef Henke

/ 27 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Vielfalt nationalsozialistischer Herrschaftsmittel ist nicht beschreibbar als ein beziehungsloses Nebeneinander von Revisions-und Expansionspolitik, begeisternden Festen und unpolitischem Alltag, bewußter Pflege vertrauter Wertkategorien und radikaler Umkehrung traditioneller Wertsysteme, von bürokratischen Mechanismen und ungehemmter Machtdurchsetzung, von Verführung durch Normalität für die Mehrheit und Verfolgung durch Terror für die Minderheit. Vielmehr handelt es sich um unterschiedliche Formen ein und desselben, auf die Kerninhalte der prinzipiell menschenverachtenden nationalsozialistischen Ideologie ausgerichteten Systems. Die in der Quellenüberlieferung jener Epoche dokumentierte Vielfalt der Herrschaftsmittel des NS-Regimes ist im historischen und politischen Bewußtsein der Deutschen heute keineswegs so präsent, wie es ihrer Bedeutung für die Bewertung unserer jüngsten Geschichte entspräche. Neben allgemeinem Desinteresse an geschichtlichen Ereignissen sind als Gründe zu nennen: mangelnde Informationsmöglichkeiten, vor allem aber eine zu einseitigen Betrachtungsweisen führende, quellenferne Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus insbesondere in außerwissenschaftlichen Bereichen, schließlich auch bewußte Desinformationen aus tagespolitischen Motiven. In vier Bereichen wird die Vielfalt der Herrschaftsmittel aus schriftlichen Quellen und mündlicher Überlieferung von Zeitgenossen dargestellt, wobei das Verhältnis zwischen Erlebnissen der Betroffenen einerseits, der Erkenntnisfähigkeit und -bereitschaft heute Urteilender andererseits berücksichtigt wird. •

I. Die NS-Zeit: Zur Komplexität historischer Quellen und erfahrbarer Wirklichkeit

Mit der Verkündung des sogenannten Ermächtigungsgesetzes, des Gesetzes zur „Behebung der Not von Volk und Reich" vom 24. März 1933, wurde die von Hitler geführte Reichsregierung ermächtigt, aus eigener Vollmacht — also nicht wie bisher nur gestützt auf das Notverordnungsrecht des Reichspräsidenten — gesetzliche Maßnahmen auch verfassungsändernden Inhalts zu ergreifen. Es war dies die „Legalisierung" der Entwicklung zur nationalsozialistischen Alleinherrschaft, die im März 1933 auf der Straße und in der Öffentlichkeit weitgehend durch eine terroristisch-revolutionäre Bewegung von unten usurpiert worden war.

Im selben Monat — nur wenige Tage vor der Verabschiedung des „Ermächtigungsgesetzes" — hatte die als nationales Fest in der Potsdamer Garnisonkirche gestaltete Konstituierung des neuen Reichstags am 21. März 1933, dem „Tag von Potsdam", in publikumswirksamer Inszenierung demonstriert, daß die für die überwältigende Mehrheit des Volkes durchaus mit positiven Vorzeichen versehenen Wertvorstellungen und Traditionen preußischer und deutscher Geschichte offenbar durchaus in vollem Einklang standen mit den Idealen des neuen Reichs und der neuen Führung. Hitlers Verbeugung vor dem greisen preußischen Feldmarschall, die sich hier nicht als revolutionäre Schlägertrupps gebärdenden, sondern in disziplinierter Ordnung neben der Reichswehr aufmarschierten SA-und SS-Verbände, nicht zuletzt auch der Segen der Kirche, untermalt von dem mahnenden „Üb immer Treu und Redlichkeit" des bekannten Glockenspiels der Garnisonkirche — hier kündigte sich eine andere Spielart nationalsozialistischer Herrschaftsmittel an, deren Wirksamkeit auf breite Bevölkerungsschichten gar nicht hoch genug veranschlagt werden kann. Dieses Angebot von offenbar vertrauten, zustimmungswürdigen Wertsystemen, an denen der einzelne die Gestaltung seines privaten Lebensrahmens ebenso orientieren konnte, wie die neue Staatsführung es für ihre Politik hinsichtlich der Gestaltung des Gemeinwesens vorgab zu tun, stand keineswegs im Gegensatz zu den angedeuteten terroristischen Aktionen und den späteren beispiellosen Verbrechen. Vielmehr handelt es sich um Teile desselben, durch überraschende Vielfalt gekennzeichneten Systems von Herrschaftsmitteln, die — auf verschiedene Zielgruppen und auf unterschiedliche Situationen angewandt — dem gleichen übergeordneten Zweck dienten, der Errichtung und Festigung von Hitlers Unrechtsstaat und damit der Verwirklichung von Hitlers machtpolitischem und rassenideologischem „Programm". über den Standort des „Dritten Reichs" im heutigen historischen und politischen Bewußtsein boten die vielfältigen Veranstaltungen aus Anlaß der 50jährigen Wiederkehr des Tages der „Machtergreifung" aufschlußreiche Einsichten. Während die Beiträge der Historiker den wissenschaftlichen Umgang mit der NS-Herrschaft, den die zeitgeschichtliche Forschung stets als eine auch aus moralischen Gründen verpflichtende Aufgabe betrieben hat, aus gegebenem Anlaß lediglich punktuell verstärkten, mußte die mitunter die Grenzen von Verbissenheit und Hektik überschreitende Intensität überraschen, mit der außerhalb des engeren wissenschaftlichen Bereichs neben den elektronischen Medien Organisationen und Institutionen aus fast allen Sparten des öffentlichen Lebens der Bedeutung des 30. Januar 1933 gerecht zu werden versuchten. Das mit der Erstausstrahlung des amerikanischen Spielfilms „Holocaust" Anfang 1979 plötzlich entfachte Interesse breiter Bevölkerungskreise an einer Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus erlebte zweifellos einen neuen Höhepunkt.

Fragt man sich, inwieweit die dort in wissenschaftlicher wie in aufklärerischer Absicht vermittelten Erkenntnisse mit dem eben angedeuteten, aus den Quellen sichtbaren Bild der ausgeprägten Vielfalt nationalsozialistischer Herrschaftswirklichkeit in Einklang stehen, so ergeben sich einige aufschlußreiche Beobachtungen.

Der wissenschaftlichen Forschung ist der nicht eben neue Vorwurf wiederum nicht zu ersparen, daß sie in weiten Bereichen durch hochgradig abstrakte theoretische Konstruktionen, deren intellektuelle Brillanz ebenso-wenig anzuzweifeln ist wie deren Brauchbarkeit für die wissenschaftliche Deutung wichtiger Aspekte der NS-Herrschaft, den direkten Bezug zu den Quellen verstellt und die Erfahrung einer konkret faßbaren, quellenmäßig dennoch abgesicherten Wirklichkeit zuschüttet. Für die Aufklärung breiter Bevölkerungskreise über wesentliche Kennzeichen nationalsozialistischer Herrschaft sind derartig formulierte Forschungsergebnisse natürlich nur sehr bedingt brauchbar. Demgegenüber zeichnen sich die Aufklärungsaktionen außerhalb des engeren wissenschaftlichen Rahmens zweifellos durch eine unmittelbarere Verbindung zu konkret vorstellbaren Situationen aus. Es ist die durch keinerlei theoretische Gebäude verstellte Wirklichkeit des Schicksals der — noch dazu deutschen — Familie Dr. Weiß im Holocaust-Film, die eine breite Bevölkerung direkt ansprach, Erschütterung und Empörung auslöste und darüber hinaus eine totale moralische Diskreditierung der NS-Herrschaft und der in ihr schuldhaft verstrickten Personen als eine reine Selbstverändlichkeit nahelegte. Plötzlich fragte man nach weiteren konkreten Einzelheiten des im Fernsehen so anschaulich gemachten Nazi-Terrors. Gerüchte über ein Konzentrationslager in der Heimatgemeinde sollten dokumentarisch aufgeklärt werden, ebenso Erschießungen von Fremdarbeitern in der örtlichen Fabrik, überhaupt die Unterdrückung der Bevölkerung der Heimatstadt und auch der antifaschistische Widerstand der Arbeitermassen. Auch die Rolle des eigenen Vaters, den man in Familienalben in HJ-Uniform entdeckt hatte, geriet ins Blickfeld:

der Geschichtslehrer des Geburtsjahrgangs 1953 mochte in diesem Zusammenhang berichtet haben, daß die Hitler-Jugend Handlanger des verbrecherischen Systems gewesen war, gegen die ein aufrechter Demokrat also hätte Widerstand leisten müssen und auch können.

Das Problem dieser offenbar unverstellten Sicht vom Grundzug der nationalsozialistischen Herrschaft zeigt sich indessen, wenn die Archive bei entsprechenden Recherchen Materialien ermitteln, die den Terror des NS-Regimes keineswegs in dieser Eindeutigkeit dokumentieren, wie das aufgrund des „Holocaust" -Erlebnisses und der nachfolgenden Aufklärungsaktionen von vielen erwartet wurde. Dokumente des nackten Terrors sind vorhanden, doch befinden sie sich häufig in einem belanglosen Kontext mit offenbar unbedeutenden, routinemäßigen, bürokratischen Nebensächlichkeiten. Zur Aufdeckung des inhaltlichen Kerns bedarf es systematischer Quellenkritik und methodischen Fingerspitzengefühls. Und dann erweist sich das Konzentrationslager in der Heimatgemeinde, das man sich möglicherweise in Analogie zu den Bildern des Grauens von Auschwitz und Bergen-Belsen vorgestellt hatte, als ein Außen-kommando, zu dem Häftlinge eines Hauptlagers zur Errichtung von Baubaracken oder zum Einsatz in einer örtlichen Fabrik abkommandiert gewesen waren, wie es tausendfach vorgekommen ist. Dies ist immer noch unmenschlich genug und birgt zweifelsfreie Symptome des Terrors, aber die vielleicht erwarteten Gaskammern sind nicht nur nicht nachweisbar, sondern es hat sie an diesem Ort tatsächlich nicht gegeben. Die HJ-Tätigkeit des Vaters beschränkte sich auf mitunter als lästig empfundenen Routine-Dienst, beinhaltete aber auch Fahrt und Lager, gewiß auch Maßnahmen im Rahmen der Wehrertüchtigung, im Grunde aber ein unter Abzug ideologischer Pflichtbekenntnisse nach damaligen Begriffen normales, wenn nicht sogar positiv gewertetes Jungenleben. Auch militärische Tüchtigkeit galt ja damals gemeinhin unbestritten als eine Tugend. Die Geschichte der Heimatstadt in den Jahren 1933 bis 1945 erweist sich in der Hauptsache nicht als eine Chronik von Verfolgung und Widerstand, sondern — nach außen erkennbar — als eine von traditionellen und neuartigen Festen unterbrochene Abfolge gewohnter, alltäglicher Normalitäten. Statt im solidarischen antifaschistischen Widerstand fand sich ein Großteil der deutschen Arbeiter in den klassenlosen Kabinen der „Kraft-durch-Freude" -Schiffe und hoffte aufrichtig auf die Ablösung des Kldssenkampfes durch die immer wieder proklamierte Volksgemeinschaft, ohne zu ahnen, daß sich unter ihnen Spitzel von Geheimer Staatspolizei und Sicherheitsdienst befanden, die alle Äußerungen registrierten, welche auf Distanz zum Regime schließen ließen. Hitlers Vorbereitung zum geplanten rassenideologischen Vernichtungsfeldzug gegen die Sowjetunion stellt sich in den Akten des Auswärtigen Amtes durchgängig dar als eine Folge von nach Inhalt und Form „normalen" diploB matischen Aktionen zugunsten ebenso „normaler" revisionistischer Ziele.

Das aus der Summe der Überlieferung jener Zeit erfahrbare Bild entspricht somit nicht der in jüngster Zeit häufig verbreiteten Vorstellung eines ohne weiteres erkennbaren, nach Widerstand und Verfolgung, Opfer und Täter, Gut und Böse eindeutig gegliederten Unrechtsstaates, der sich in ständigem, über -

spürbaren all Terror unmittelbar manifestierte. vermitteln die Dokumente die

Erkenntnis einer komplexen, nicht immer eindeutig charakterisierbaren Wirklichkeit, die eine ganze Bandbreite von Herrschaftsmitteln implizierte. Diese erstreckte sich von positiven Erlebnissen und die Gemüter vieler Volksgenossen berauschenden Erfolgen, die eine meisterhafte Propaganda in ein wirkungsvolles Licht zu stellen vermochte, über eine verführerische, häufig sich unpolitisch gebende Normalität bis zum brutalen, bis dahin nie gekannten Terror.

Die grauenvollen Vernichtungslager waren konkrete Herrschaftsmittel, jedoch bestimmt und erfahrbar nicht für die Mehrheit des eigenen Volkes, sondern für eine — wenn auch zahlenmäßig sehr starke — Minderheit. Wer kein Jude war, keine kommunistische oder ausgeprägt sozialdemokratische Vergangenheit hatte, wer die Forderungen einer humanitären oder christlichen Ethik nicht so konsequent und radikal an-die eigene Person stellte wie einige wenige, für diese Nicht-Betroffenen, die immer noch die Mehrheit der Bevölkerung ausmachten, blieben die Herrschaftsmittel des Terrors konkret allenfalls als Abschreckungsmittel, als für sich geltend zu machende Legitimation eines unpolitischen Beiseitestehens oder gar Mitmachens. Ihnen bot die neue Herrschaft trotz der Propagierung einer national-revolutionären Aufbruchstimmung in eine „Zeit ohne Beispiel" zumindest auf lange Sicht ein Leben in weitgehend vertrauten, alltäglichen, normalen Rahmenbedingungen an.

Wenn über diese Normalität hinaus sich eine überraschende Bestätigung von nach den gemeinhin geltenden Wertnormen als positiv einzuschätzenden Zielen im wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Bereich einstellte, empfand man — abgesehen von der offensichtlichen Unmöglichkeit — im Grunde auch gar keinen Anlaß, eine Oppositionshaltung gegen das Regime einzunehmen, geschweige denn aktiven Widerstand ernsthaft zu erwägen. Wer die Wirklichkeit von Dachau, Birkenau, Belzec und Sobibor in ihren wesentlichen konkreten Einzelheiten nicht erkennen, allenfalls erahnen konnte — und in diesem Fall möglichst verdrängen sollte und auch wohl wollte —, dagegen aber im Fackelschein der abendlichen Jugend-Feierstunde gläubig den mit eindrucksvoller Oberstimme gesungenen Refrain des Chorals „Deutschland, Wort" - heiliges verneh men durfte, oder die gleichsam von liturgischen Bräuchen des Christentums und natio -nalen Symbolen durchsetzen Massenveranstaltungen der Reichsparteitage erlebte, wem Eindrücke dieser Art immer wieder als bedenkenlos zu übernehmende Identifikationsmuster angeboten wurden, dem stellte sich die wahrnehmbare — also nicht die real existierende ganze — Wirklichkeit nationalsozialistischer Herrschaft anders dar, als dies heute oft in aufklärerischer Intention vermittelt wird.

Auf die für die Mehrheit des Volkes mögliche Normalität hofften anfangs selbst die, welche aus rassischen Gründen betroffen waren und die barbarische Kulturlosigkeit der neuen Machthaber erkannt zu haben glaubten. „Er arbeitete, lebte“, so reflektierte der jüdische Gelehrte Dr. Gustav Oppermann in Feuchtwangers Roman wenige Tage nach der „Machtergreifung" in der Abgeschiedenheit seiner Grunewald-Villa. „Die Arbeit ging gut voran, das Leben war schön. Mag im Palais des Reichskanzlers der Barbar sich sielen: ihn kümmert es nicht.“ Doch diesem Teil der Bevölkerung wurde, wie sich allzubald zeigen sollte, die Fortführung einer gewohnten Lebensweise nicht gewährt. Für sie, die nicht glauben konnten, daß dieses ganze Volk von 65 Millionen Menschen aufgehört hatte, ein Kulturvolk zu sein, war nicht das Herrschaftsmittel der Verführung durch Normalität, sondern ausschließlich das der Verfolgung durch Terror vorgesehen.

Diese Erkenntnis einer immensen Variationsbreite nationalsozialistischer Wirklichkeitsund Herrschaftsformen soll nun keineswegs zu einer wie auch immer gearteten Neubewertung oder gar Verharmlosung des verbrecherischen Grundcharakters des NS-Regimes führen. Der beispiellose Terror war Teil der Wirklichkeit. Zudem: weil die prinzipielle politische und moralische Verworfenheit dieser Herrschaft für eine große Mehrheit des Volkes infolge der Vielfalt der Herrschaftsmittel sehr viel schwerer in ihren Ausmaßen zu durchschauen war, als eine von den Quellen losgelöste Betrachtungsweise nach 50 Jahren vorgibt, erscheint dieses Regime — und dies ist vor allem auch im Hinblick auf die mögliche Errichtung von Unrechtsregimen in der Zukunft bedeutungsvoll — als noch weniger kalkulierbar und damit als noch gefährlicher. Hätten die Synagogen schon 1933 gebrannt, wäre das Schicksal der Verfolgten schon damals in seinen Einzelheiten für die Mehrheit des Volkes erkennbar gewesen; wären die Leichenberge in den Vernichtungslagern schon während der NS-Herrschaft im politischen Bewußtsein der Mehrheit prägende, d. h. nackte, grausige Realität gewesen, wäre es für eben diese Mehrheit sehr viel naheliegender gewesen, den Schritt von scheinbar unpolitischer Normalität zu einer zumindest innerlich konsequenten Oppositionshaltung, wenn schon nicht zu aktivem Widerstand zu tun.

Mit terroristischer Verfolgung eliminierte das Regime die gegnerischen und rassischen Minderheiten; mit der Präsentation positiver Erlebnisse und Erfolge, der Propagierung alter, bedroht scheinender Tugenden, sowie vor allem mit dem Angebot einer weitgehenden Normalität schuf es jedoch eine ebenso entscheidende Voraussetzung für die Durchsetzung seiner verbrecherischen Herrschaft, indem es eine potentielle Oppositionshaltung der Mehrheit des eigenen Volkes abwendete, weitgehend sogar deren Zustimmung gewann.

II. Außenpolitik: Durch Revision zur Expansion

Im Bereich der nationalsozialistischen Außenpolitik ist die Verquickung einer nach damaligen Vorstellungen als normal geltenden Revisionspolitik mit den eigentlichen, den Rahmen von Kontinuität und Normalität sprengenden Zielsetzungen von Hitlers ideologischem „Programm" schon in den sechziger Jahren von der wissenschaftlichen Forschung deutlich gemacht worden. Eine Politik, die auf die Korrektur der durch den Versailler Vertrag geschaffenen Verhältnisse ausgerichtet war, fand durchaus den Beifall der überwältigenden Mehrheit der deutschen Bevölkerung und lag in der Kontinuität der von vielen Regierungen der Weimarer Republik ebenfalls verfolgten außenpolitischen Grundkonzeption. Zwar hätte man über die außenpolitischen Vorstellungen des neuen Kanzlers in dessen Buch „Mein Kampf" ganz andere, erschreckende Einzelheiten lesen können. Doch abgesehen davon, daß die tatsächliche Rezeption der schwer lesbaren Schrift äußerst begrenzt war, ließ sich nicht nur die Mehrheit des Volkes, sondern auch der weitaus größte Teil der für die Ausführung der Außenpolitik zuständigen deutschen Diplomaten, die von wenigen Ausnahmen abgesehen zu keiner Zeit als ausgesprochene Anhänger des Führers der NSDAP gelten konnten, von Hitlers politischen und personellen Maßnahmen nach der „Machtergreifung" gern davon überzeugen, daß frühere Äußerungen des neuen Reichskanzlers offenbar als „Haßtiraden eines jugendlichen Heißsporns" zu werten waren.

Nicht nur die „Heimkehr" der Saar, die „Befreiung" des Rheinlands, der . Anschluß" Österreichs und des Sudetenlandes, auch eine vom Westen geduldete militärische und politische Vorherrschaft des Reiches in Mittel-und Südosteuropa waren für die konservativen Beamten der Wilhelmstraße gern verfolgte, keineswegs erst seit 1933 proklamierte Ziele. Widerstand regte sich nur dann, wenn die Gefahr eines „großen Krieges", nämlich des Eingreifens der Westmächte drohte. Gegen die Schaffung eines die Grenzen von 1914 überschreitenden Großdeutschlands hatte man keinerlei grundsätzliche Einwände.

Außerdem: Der vielbeschworene Korpsgeist und die traditionellen elitären Lebensformen der Diplomaten hatten die „nationale Erhebung" unbeschadet überstanden. Hitler verzichtete darauf, Reichsaußenminister von Neurath durch einen seiner Gefolgsleute, etwa durch Alfred Rosenberg, ablösen zu lassen. In den Dienstzimmern der Wilhelm-straße oder der Auslandsvertretungen saßen nun keineswegs mehr NSDAP-Anhänger als zuvor. Den nationalsozialistischen Konkurrenzunternehmen Rosenbergs und Ribbentrops im außenpolitischen Bereich gelang es nicht, das traditionelle Instrument deutscher Außenpolitik, das Auswärtige Amt, entscheidet zurückzudrängen. Einen wahrnehmbaren Bruch hat es in der Außenpolitik mit Hitlers Machtergreifung also nicht gegeben, weder dem Inhalt noch der Form nach.

Dies bestätigt auch der erste Eindruck, den die Masse der erhalten gebliebenen Akten des Auswärtigen Amtes vermittelt. Im geB wohnten Rahmen und Stil der deutschen Diplomatie wurden in den klassischen Abteilungen des Auswärtigen Amtes normale Ziele deutscher Außenpolitik verfolgt. Die Schlägertrupps der SA-und SS-Hilfspolizeiverbände auf den Straßen deutscher Städte gehörten offenbar einer anderen Welt an. Auch die Aufzeichnungen über Hitlers Begegnungen mit ausländischen Staatsmännern und Diplomaten lassen zunächst allenfalls unkonventionelle, vor allem sich der Drohgebärde bedienende Mittel erkennen, mit denen er hartnäckig auf Zielen beharrte, die bis 1939 aber immer im Rahmen der Revision von Versailles und des — ja nicht von Hitler erfundenen — Selbstbestimmungsrechts der Deutschen lagen. Vor dem Hintergrund dieser ausgeprägten Kontinuität und Normalität erschien Hitler lange Zeit als ein Staatsmann, der zwar der angemessenen Herkunft, Schulung und Ausbildung entbehrte, der aber dennoch den meisten ausländischen Politikern die Hoffnung einflößte, man könne die befürchtete Dynamik des neuen Deutschland bei weitgehenden Zugeständnissen in offenbar berechtigten Forderungen durch die Einbindung des Reiches in ein europäisches Mächtesystem der kollektiven Sicherheit unter Kontrolle halten.

Indessen kam, wie wir heute wissen, dieser vordergründigen Beschränkung auf revisionistische Ziele lediglich eine von Hitler von Anfang an so beabsichtigte Vehikelfunktion im Hinblick auf die Realisierung von Hitlers eigentlichem außenpolitischen Expansionsprogramm zu. Auch diese Verquickung ist quellenmäßig greifbar, allerdings in unmittelbarer Form kaum in den diplomatischen Akten des Auswärtigen Amts, sondern eher in den sogenannten Schlüsseldokumenten. Dazu gehören etwa Aufzeichnungen über Hitlers geheime Konferenzen und Ansprachen mit begrenztem, meist militärischem Teilnehmerkreis, über Begegnungen mit bestimmten Persönlichkeiten — wie dem Schweizer Carl J. Burckhardt —, Hitlers militärische Weisungen, Notizen über Hitlers Tischgespräche während des Krieges sowie eine Reihe von quellenkritisch allerdings sorgfältig zu prüfenden indirekten Zeugnissen über die angeblich „wahren" Absichten des „Führers". Aus dem Kontext der Akten des Auswärtigen Amtes und anderer Ressorts mit diesen Schlüsseldokumenten wird deutlich: Unter dem Deckmantel der „normalen" Revisionspolitik und dem Vorwand des Selbstbestimmungsrechts ging es Hitler lediglich um die Schaffung einer strategisch und politisch abgesicherten Ausgangsbasis für seinen „programmatischen", rassenideologisch und machtpolitisch begründeten Expansionskrieg gegen die Sowjetunion. Ziel war die Errichtung eines deutsch-beherrschten kontinentalen Großreichs, der sich noch der Ausgriff nach maritimen Weltherrschaftszielen anschließen mochte. Ziel war gleichzeitig die Herausbildung eines nicht mehr nach Klassen-oder Standesunterschieden, sondern ausschließlich nach rassischen Kategorien gegliederten germanischen Herrenvolkes sowie die physische Eliminierung der — wie Hitler glaubte — nicht nationalen, sondern internationalen Interessen verhafteten jüdischen „Rasse".

Festzuhalten bleibt in unserem Zusammenhang, daß die Heranziehung einer möglichst breiten Quellenbasis die Mehrdeutigkeit der nationalsozialistischen Außenpolitik in der Vorkriegszeit anschaulich werden läßt. Sie bewahrt vor einer einseitigen revisionistischen Festlegung ebenso wie vor einer Betrachtungsweise, die das wirkungsvoll nicht nur außenpolitisch, sondern auch als Stabilisierungsfaktor im Innern eingesetzte Herr-Schafts-und Beschwichtigungsmittel einer sich weitgehend normal gebenden Revisionspolitik unberücksichtigt läßt. Letztere Interpretation würde — ausgehend von einer offensichtlichen, wenn nicht gar sichtbaren Existenz ideologischer Expansionsziele — Motive und Verhalten der Mitwirkenden und Statisten auf der diplomatischen Bühne jener Jahre ebenso fehldeuten wie die weitreichende Begeisterung der Bevölkerung und die in den Akten des Auswärtigen Amtes dokumentierte diplomatische Wirklichkeit dieser Zeit.

III. Alltagsleben: Gewohntes in ungewöhnlicher Zeit

Kommen wir von der „großen Politik" zum nationalsozialistischen Alltag, dessen Beschreibung und Analyse in letzter Zeit in den Mittelpunkt wissenschaftlicher, insbesondere auch sozialwissenschaftlicher Fragestellungen gerückt ist. Der langen Serie regional begrenzter und überschaubarer Fallbeispiele, bei denen insbesondere der bayerische Raum Gegenstand ambitiöser Projekte ist, möchte ich hier skizzenhaft — also ohne den Anspruch wissenschaftlicher Ausfeilung — das Beispiel meines westfälischen Heimatorts hinzufügen.

Die herangezogenen mündlichen wie schriftlichen Quellen und Darstellungen zeigen, daß der damals 2 500, fast ausschließlich katholische Einwohner zählende Ort mit überwiegend agrarischer, aber auch zunehmender industrieller Wirtschaftsstruktur die zwölf Jahre nationalsozialistischer Herrschaft im Grunde ohne tiefgreifende, geschweige denn revolutionäre Eingriffe in das Sozial-und Wirtschaftsgefüge oder in das Alltagsleben überstand. Hitlers Aufstieg zur Macht hatte man dort — wie die Ergebnisse der Reichstagswahlen bis 1933 zeigen — eindeutig nicht unterstützt. Von 0, 7 % im Jahre 1928 stieg der Stimmenanteil der NSDAP selbst in den Krisenjahren der Republik nur im Juli 1932 auf 10, 5 %, um in der Novemberwahl 1932 wieder auf 7, 1 % zu fallen.

Freilich: Ebensowenig wie man einen Grund gesehen hatte, einen Beitrag zur „Machtergreifung" der „Bewegung“ zu leisten, ebenso-wenig glaubte man in der Folge aber auch Anlaß zu einer aktiven Widerstandshaltung gegen das neue, offenbar erfolgreiche Regime zu haben. Es erwies sich sehr bald, daß das Leben im wesentlichen seinen gewohnten, von überkommenen Wertvorstellungen geprägten Gang nehmen konnte, hatte man sich erst, was den meisten keine große Überwindung kostete, an die Veränderung einiger — wie man glaubte — Äußerlichkeiten gewöhnt.

Dazu gehörten, daß der seit Anfang der zwanziger Jahre amtierende Amtmann bzw. Bürgermeister bei manchen Gelegenheiten plötzlich in ungewohnter SA-Uniform auftrat (aber erst 1937 Parteimitglied wurde), daß die Musikständchen am Vorabend der alljährlichen Schützenfeste nicht mehr dem Ortspfarrer, sondern dem Ortsgruppenleiter der NSDAP dargebracht wurden, daß im festlichen Flaggenschmuck das Hakenkreuz das alte kurkölnische Kreuz mit dem Bild des Ortspatrons, des hl. Laurentius, verdrängte, daß es vielen Amts-und Ämterträgern nicht mehr opportun erschien, an den Fronleichnamsprozessionen in exponierter Position — etwa als Träger des Baldachins — teilzunehmen. Zu den kleinen Änderungen gehörte ferner, daß die Jugendlichen nunmehr unter den Bannern der HJ, nicht mehr unter dem Christuszeichen des katholischen Jungmännerverbandes auf Fahrt und Wanderung gehen durften, daß überhaupt die Vereine im außerkirchlichen und kirchlichen Bereich eine mehr formal gesehene „Gleichschaltung" mit den entsprechenden NS-Verbänden und Formationen erfuhren, im übrigen aber das gewohnte Vereinsleben im vertrauten Rahmen und vertrauten Personenkreis fortgesetzt werden konnte. Der Ziegenzuchtverein z. B. wurde als Orts-fachgruppe der Ziegenzüchter dem Reichsnährstand angeschlossen. Die Mitglieder der nunmehr auf interne Zusammenkünfte in kirchlichen Räumen beschränkten katholischen Frauengemeinschaft trafen sich nun unter dem Zeichen des Deutschen Frauen-werks oder auch des Roten Kreuzes zur Weihnachtsfeier, bei der man nach dem etwas mühseligen Gesang von Hans Baumanns „Hohe Nacht der klaren Sterne" auf Vorschlag der Vorsitzenden nur allzugern zum gewohnten „Stille Nacht, heilige Nacht" zurückfand.

Der Jahresrhythmus des dörflichen Lebens, insbesondere der vertrauten Feiern und Feste, wurde nicht nur nicht gestört, sondern durch die ausgeprägte Betonung einer bäuerlichen Idylle und des althergebrachten heimatlichen Brauchtums noch intensiviert. Die Feiern zum 1100jährigen Ortsjubiläum im Jahre 1936, in deren Rahmen der Ort die Stadtrechte erhielt und der Stadt als erster Ehrenbürger Adolf Hitler beschert wurde, bildeten in dieser Hinsicht den unbestrittenen Höhepunkt und sind heute den noch lebenden Einwohnern in ungetrübter Erinnerung.

Es waren daher nur wenige, die — wie aus den Polizeiakten hervorgeht — die Mißhelligkeiten polizeilicher Durchsuchungen und Verhöre in Kauf nahmen, als sie trotz Verbots 1935 zur Pfingstfahrt des Jungmännerverbandes starten wollten. Es waren nur einzelne, die in kritischen Situationen dem Ortspfarrer unzweideutig beistanden, der nicht den gangbar erscheinenden Weg opportunistischer Anpassung beschritt, und nicht nur die verbrieften Rechte der Pfarrei gegenüber den vom Wind der Zeit getragenen Forderungen der politischen Gemeinde verteidigte, sondern auch in seinen Predigten die menschen-verachtenden Grundsätze der NS-Ideologie vor allem in Hinblick auf die Juden in kluger Gegenüberstellung mit den Prinzipien eines wahren Christ-Seins in Erinnerung rief. Es waren schließlich nur wenige, die bei den Reichstagswahlen und Abstimmungen ihre Stimme nicht der NSDAP bzw.dem Wahlvorschlag gaben: 1936 nur noch 19 von 1 478 Wählern. Selbstverständlich ist aus diesen Beobachtungen keineswegs auf eine nach 1933 ausgeprägte nationalsozialistische Haltung der Mehrheit der Bevölkerung zu schließen. Im Gegenteil: Die schon 1934/35 in einem ehemaligen Schloß in der Gemeinde eingerichtete Reichsschulungsburg der NSDAP, die dem Hauptschulungsamt in der Reichsorganisationsleitung der NSDAP unterstand, blieb ein ausgesprochener Fremdkörper im sozialen Gefüge des Ortes. Zwar wurde sie in einer zusätzlichen Strophe des Heimatliedes als „Sinnbild einer neuen Zeit" gewürdigt, die Eröffnung durch Reichsorganisationsleiter Robert Ley im November 1935 geriet indessen keineswegs zu dem beabsichtigten Volksfest, sondern blieb eine von ortsfremden Formationen und Funktionären geprägte reine Partei-veranstaltung. Es gab in der Folge auch handgreifliche Auseinandersetzungen zwischen Einwohnern und Burginsassen, die sich ihrerseits als Repräsentanten der Bewegung in schwarzer Diaspora wähnten und es an dem notwendigen Einfühlungsvermögen sicherlich oft fehlen ließen. Auch wenn es in einem Fall um die Schändung einer Heiligenfigur durch die Parteischüler ging, sollte man insgesamt eher an die Ebene normaler Wirtshaus-und Schützenfesthändel mit Ortsfremden denken als die Kategorie „antifaschistischer Widerstand" zu bemühen. Extreme Situationen, die eine weltanschauliche oder sittliche Oppositionshaltung bei einer breiteren Bevölkerungsschicht denkbar gemacht hätten, traten nicht ein: weder wurde der Pfarrer verhaftet, noch der Besuch der Gottesdienste verboten, weder wurden terroristische Verfolgungsaktionen des Regimes im überschaubaren Rahmen des Ortes sichtbar, noch wurden sie für einen größeren Teil der Bevölkerung fühlbar. Wie groß die Zahl derer war, denen der Abtransport der ca. 25 jüdischen Mitbürger 1942 deutlich machte, daß die Normalität für eine kleine Minderheit der eigenen Bevölkerung nicht galt, ist quellen-mäßig nicht faßbar. Es gibt Anzeichen, daß aufkommende Betroffenheit bei der Mehrheit der Bevölkerung durch von oben reichlich geförderte Verdrängungstendenzen überlagert wurden: man hatte im Kriegsjahr 1942 Sorgen um das Leben eigener Familienangehöriger; den Abtransport hatten ortsfremde Polizeiangehörige geleitet — Schuldige waren also nicht in den eigenen Reihen zu suchen —; man hätte das Geschehen ohnehin nicht verhindern können. Und Angst spielte in diesem Zusammenhang sicher auch eine Rolle, das sollte man sich heute immer wieder vergegenwärtigen. Mindestens von einem inneren Widerstand wird man allerdings bei den Familien sprechen können, die 1940/41 von Euthanasie-Maßnahmen im Rahmen der soge-nannten „Aktion T 4" betroffen waren. Immerhin bilden in der sonst so stabilen Sicherheit, mit der dieser Ort nach dem Krieg auf seine Geschichte in den Jahren 1933 bis 1945 zurückblickte, diese Punkte deutliche Schwachstellen.

Ansonsten aber gab es nach 1945 offenbar nichts zu verbergen: Man hatte Hitler weder an die Macht gewählt noch sich in anderer Weise als seine Anhänger gebärdet; die jetzt bekannt gewordenen unvorstellbaren Verbrechen hatte es weder im eigenen Ort gegeben, noch war man an ihnen anderswo aktiv beteiligt gewesen. Die aus der Gemeinde stammenden Soldaten der Wehrmacht und der Waffen-SS hatten nach gemeinhin gültiger Auffassung ihre Pflicht getan — wenn auch für einen Unrechtsstaat —, die wenigen Angehörigen der Allgemeinen SS und der Totenkopf-Verbände aus der Bevölkerung wurden allerdings ortsbekannt und durch Gerüchte über ihre Tätigkeit moralisch durchaus diskreditiert.

Man war sich der Integrität der eigenen Vergangenheit so sicher, daß der bis 1945 amtierende ehemalige Amtsbürgermeister nicht nur 1954 mit großem Aufwand zum Ehrenbürger der Stadt ernannt wurde, sondern 1956 Gelegenheit erhielt „als über den Parteien stehend", wie es in einem Flugblatt widerspruchslos proklamiert werden konnte, „sein Werk fortzusetzen, das er in 25jähriger Bürgermeistertätigkeit zum Segen der Stadt und seiner Bevölkerung aufgebaut hat". Anstelle demonstrativer Selbstgerechtigkeit wäre hier allerdings ein gehöriges Maß an selbstkritischer, moralischer Betroffenheit angebracht gewesen, zumal besagter Bürgermeister — wie aus den Akten nunmehr bekannt ist — in den latenten Auseinandersetzungen mit dem Pfarrer unter Einsatz auch spezifisch nationalsozialistischer Argumente und Mittel den später immer wieder betonten Rahmen gebotener Vorschriften durchaus verließ und die Schwelle vom bloßen Mitläufer zum Mittäter deutlich überschritt.

Insgesamt hatte die Verführung durch Normalität als wirkungsvolles Herrschaftsmittel des NS-Regimes in einer Region voll gegriffen, die keineswegs als besonders anfällig für die Kernpunkte der NS-Ideologie betrachtet werden konnte. Eine im Prinzip zunächst durchaus denkbare Oppositionshaltung großer Bevölkerungskreise war vermieden, eine breite Tolerierung, ja weitgehende — nicht nur schweigende — Zustimmung gewonnen worden.

IV. Jugend: Zwischen Begeisterung und Unterdrückung

Im dritten hier betrachteten Bereich, der bereits mehrfach erwähnten . Jugend im Nationalsozialismus", wird die Spanne zwischen der in den Quellen vermittelten Vielfalt nationalsozialistischer Herrschaftswirklichkeit und dem hinter dieser Fassade zumeist verschleierten verbrecherischen Charakter der übergeordneten Grundinhalte der NS-Ideologie besonders deutlich. Dies erklärt auch die überraschende Wirkung, die die seit einigen Jahren an vielen Orten gezeigte Ausstellung des Bundesarchivs . Jugend im NS-Staat" auf große Teile zumeist der jugendlichen Besucher hatte. Diese, die offenbar mit dem Begriff Nationalsozialismus — wenn überhaupt — ausschließlich die Massaker der Vernichtungslager und Erschießungskommandos verbanden, zeigten sich von der selbst nach heutigen Begriffen attraktiven Kraft einer großen Zahl der Dokumente verwirrt. Man kritisierte, das präsentierte Material gehe an den faschistischen Massenmorden vorbei und sei für den Themenkomplex . Jugend in Verfolgung und Widerstand" viel zu dürftig.

Nun überwiegen in keinem anderen Bereich der NS-Herrschaft die Quellen propagandistischer Verführung so eindeutig die Dokumente des Terrors wie in dem der NS-Jugendpolitik. Und auch aus heutiger Sicht sind nicht nur ehemalige HJ-Führer geneigt, den angeblichen Einsatz der damaligen Machthaber für die Ausstattung der Jugend mit nachahmenswerten Idealen noch am ehesten zu den positiven Aspekten des Dritten Reiches zu zählen. Es ist freilich eine gefährliche Verkennung der Wesensmerkmale nationalsozialistischer Herrschaft, bei den strahlenden Jungen-und Mädchengesichtern, ihrer kaum anders als spontan zu nennenden Begeisterung im Angesicht des „Führers", der betonten Geschlossenheit der Formationen, der nicht nur am kurzen Haarschnitt zu messenden Ordentlichkeit, bei der offenbar freudigen Bejahung suggestiv vorgegebener Identifikationsmuster den Fassadencharakter einer sich so darstellenden Wirklichkeit zu übersehen. Hinter dieser strahlenden Gläubigkeit vollzog sich die bedingungslose Einbindung dieser Jugend in die ideologischen Zielsetzungen des Regimes, bereitete sich die Opferung dieser Jugend auf den Schlachtfeldern von Stalingrad vor. Es hieße andererseits aber, die Fülle der nationalsozialistischen Herrschaftsmittel zu verkennen, wenn man die Dokumente über die Jugend in Verfolgung und Widerstand als für die Kennzeichnung der damaligen erfahrbaren Wirklichkeit einzig entscheidend werten würde. Dazu gehören die in den Akten des Reichssicherheitshauptamtes dokumentierte Verfolgung kommunistischer Jugendorganisationen, aber auch bündisch-oppositioneller Gruppen wie den „Edelweißpiraten", weiter das dann vollstreckte Todesurteil des Volksgerichtshofs gegen einen 17jährigen wegen angeblicher Wehrkraftzersetzung, die besorgten Berichte von Oberstaatsanwälten über ein alarmierendes Wachstum der Jugendkriminalität, sowie die Androhung schärfster Zwangsmaßnahmen gegen Angehörige der „Swing-Jugend" in Hamburg durch den Reichsführer-SS persönlich. Dazu gehören selbstverständlich auch die Dokumente über den Widerstand der „Weißen Rose". Auch hier gilt erneut: all dies war unverfälschte Realität, doch es war nicht die Wirklichkeit, die für die Mehrheit der damaligen Jugend maßgebend war. Ein großer Teil suchte das unpolitische Abseits und dem oft als öde empfundenen Dienst in der HJ zu entgehen — mehr aber aus Gründen der Bequemlichkeit als aus einer prinzipiellen Widerstandshaltung gegen das Regime heraus. Sehr viele aber, wenn nicht die meisten, gaben ihre begeisterte Zustimmung der Sache, die einer leicht beeinflußbaren und sich nach den Jahren der Not nach Idealen sehnenden Jugend eine offenbar ausschließlich mit positiven und auch erreichbaren Werten besetzte Gegenwart und Zukunft verhieß. Diese Jugend sollte ja für den Nationalsozialismus gänzlich gewonnen werden, der Mehrheit der älteren Generation hingegen durch das Herrschaftsmittel der Normalität primär nur Motive für eine Opposition genommen werden. Es ist nicht zu übersehen, daß viele der damaligen Impulse und Assoziationen auch heute zumeist junge Menschen — fern von jeder faschistoiden Gesinnung — anzusprechen vermögen. Doch wäre es verhängnisvoll, aus Berührungsängsten heraus einer Konfrontation mit den entsprechenden Quellen auszuweichen. Erst in der Vermittlung und der — allerdings unumgänglichen — quellenkritischen Auswertung einer möglichst breiten Dokumentenvielfalt kann ein umfassendes Bild von der Komplexität der damaligen, für die Jugend erkennbaren Wirklichkeit weiter-gegeben werden. Dann wird u. a. auch deutlich, daß viele der damals propagierten Werte und Sekundärtugenden nicht für sich genommen als faschistisch oder nationalsozialitisch zu deuten sind, wohl aber — und das ist entscheidend — deren Dienstbarmachung für eine bereits im Prinzip unmenschliche Ideologie.

V. SS und Polizei: Bürokratie — Ideologie — Terror

Wenden wir uns schließlich jenem Bereich zu, in dem sich Unterdrückung, Terror und Verbrechen des NS-Regimes am ehesten unverhüllt manifestieren: dem von SS und Polizei gebildeten Herrschafts-und Verfolgungsapparat im Geschäftsbereich des Reichsführers SS und Chef der Deutschen Polizei. Organisation und Struktur dieses Herrschaftsinstruments sind in einer . Anatomie des SS-Staates" freigelegt, seine in der Systematik und grausamen Menschenverachtung alles bislang Bekannte übertreffenden Funktionsweisen sind nicht nur mit distanzierter, wissenschaftlicher Akribie oder in den Verfahrensakten alliierter und deutscher Prozesse über NS-Gewalt-verbrechen, sondern zunehmend auch in engagierten, die menschlichen Leiden unmittelbar dokumentierenden Erlebnisberichten einzelner Betroffener veranschaulicht.

Die Berichte über die Massaker der Einsatzgruppen des SD hinter den Fronten des Rußlandkrieges, über die mit der Partisanenbekämpfung im Osten einhergehende Ausrottung jüdischer und als bolschewistisch angesehener Bevölkerungsgruppen durch bestimmte Einheiten der Waffen-SS, die penibel geführten Zu-und Abgangsbücher für die Konzentrationslager-Häftlinge, Meldungen über Massen-Exekutionen sowjetischer Kriegsgefangener mit präzisen Durchführungsanweisungen, Dokumente über medizinische Menschenversuche in den Konzentrationslagern, über Schädelsammlungen für anthropologische Zwecke, schließlich die alliierten Aufnahmen aus den befreiten Konzentrations-und Vernichtungslagern — all dies mag die Summe der Terrorherrschaft der „Mörder in Uniform" über große Teile Europas nur andeuten und die immer wieder gestellte Frage, ob es tatsächlich sechs Millionen oder weniger Opfer waren, als nicht nur unerheblich, sondern geradezu instinktlos erscheinen lassen. Indessen deutet sich in dem Eingeständnis, daß Unterlagen über genaue Zahlenangaben ebensowenig zu ermitteln sind wie die aus gewissen Kreisen immer wieder angeforderten unwiderlegbaren Dokumente über den Bau z. B.der Gaskammern — etwa in Form von Korrespondenzen mit den Herstellerfirmen, von Abrechnungen etc. —, die Problematik an, die aufgrund der Quellenlage selbst in diesem Bereich vorhanden ist: Zum einen sind Dokumente zu bestimmten Fragestellungen entweder gar nicht entstanden oder durch die Ereignisse der Kriegs-und Nachkriegszeit zerstört oder verschollen. Zum anderen präsentieren sich die überlieferten Dokumente des Terrors keineswegs immer in einer alle Nebentöne ausschließenden Eindeutigkeit. Sehr viel häufiger sind sie verdeckt von einer Masse anderer Archivalien der gleichen Provenienz, die mit dem Terror des Apparates durchaus in einem Kontext stehen können, zumeist aber Vorgänge dokumentieren, die wenig von der Einmaligkeit des Verbrechens erkennen lassen, sondern vor diesem Hintergrund eher banalen, routinemäßigen, rein bürokratischen Charakter haben.

So dokumentiert die Masse der vergleichsweise umfangreich überlieferten Akten des SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamtes, dessen Amtsgruppe D die Verwaltung der Konzentrationslager oblag, das reale, aber von normalen Wirtschaftsbetrieben kaum unterscheidbare Funktionieren der wirtschaftlichen Unternehmen der SS. Deren Anbindung an das unmenschliche Ausbeutungssystem der Konzentrationslager kann in diesen Massenakten allenfalls in den Abrechnungen über Häftlingsentgelte, die als Leistungen des Reiches verbucht werden, oder in den Aufträgen zur Herstellung von Einrichtungsgegenständen für benachbarte Lager hier und da erschlossen werden.

Auch in den Beständen der übrigen Hauptämter des Reichsführer-SS überwiegen neben den von Himmler persönlich geprägten ideologischen Aspekten seines „Ordens unter dem Totenkopf" rein bürokratische Vorgänge, ganz gewöhnliche Kompetenz-und Interessenauseinandersetzungen mit anderen Dienststellen der Partei und des Staates.

Man hat aus diesem Nebeneinander von routinemäßiger Normalität, ideologischen Spezifika und beispiellosem Terror, das in den Quellen erkennbar wurde, bedeutsame Konsequenzen für die Analyse der SS als eines besonderen Herrschaftsinstruments gezogen. Das vor der Rückgabe der SS-Bestände aus alliiertem Gewahrsam lange Zeit angenommene Bild der SS als eines durch und durch organisierten, in allen Teilen und jederzeit beherrschbaren Herren-und Sklavensystems, als einer monolithischen Organisation fanatischer Ideologen und gewissensfreier Herrschaftsfunktionäre, erfuhr eine notwendige Differenzierung.

Innerhalb des für Terror und Verfolgung primär einsetzbaren Verwaltungsapparates schien es Bereiche einer Normalität zu geben, in der man die Einhaltung ordnungsgemäßer Verfahren mit allen möglichen bürokratischen Mitteln durchzusetzen versuchte, ohne daß man von einem außergewöhnlichen Widerstandsakt gegen die Allmacht oder Unmoral der SS sprechen kann. Macht und Einfluß der SS hatten offenbar dort ihre konkreten Grenzen, wo sie bei der Verfolgung ihrer Ziele nicht auf die unmittelbare Unterstützung Hitlers selbst gegenüber dem konkurrierenden Verwaltungsapparat bauen konnte. Wiederum geht es nicht um eine Neubewertung des verbrecherischen Charakters einer Massenvernichtungsmaschine, sondern um die wichtige Erkenntnis, daß selbst in den Beständen des Terrorapparates der NS-Herrschaft Dokumente des Verbrechens einhergehen mit bürokratischen, kaum spezifisch nationalsozialistischen, durchaus normal erscheinenden Vorgängen, die aber in ihrem Kontext mit anderen, den Terror des Systems unmittelbarer dokumentierenden Quellen jene Komplexität der nationalsozialistischen Herrschaftswirklichkeit deutlich werden lassen, die vertraute Normalität ebenso umfaßt wie den brutalen, bis zur physischen Vernichtung reichenden Terror.

VI. Deutungsversuche

Die Vielfalt nationalsozialistischer Herrschaftsmittel ist nicht beschreibbar als ein beziehungsloses oder gar anarchisches Nebeneinander von Revisions-und Expansionspolitik, begeisternden nationalen Festen und unpolitischem Alltag, bewußter Pflege vertrauter Wertkategorien und radikaler Umkehrung traditioneller Wertsysteme, von bürokratischen Mechanismen und ungehemmter Machtdurchsetzung, von Verführung durch Normalität für die Mehrheit und Verfolgung durch Terror für die Minderheit. Vielmehr handelte es sich eher um die verschiedenen Spielarten ein und desselben, auf die Kerninhalte der prinzipiell menschenverachtenden nationalsozialistischen Ideologie ausgerichteten Systems. Damit steht auch die glänzende Fassade beispielsweise der Jugend im NS-Staat, auch die scheinbare Normalität der Bürger der westfälischen Kleinstadt in einer — allerdings der Mehrheit des Volkes nicht so ohne weiteres erkennbaren — Beziehung zum rassenideologischen Vernichtungsprogramm, zum Terror gegen politische und rassische Gegner.

Die in der Quellenüberlieferung jener Epoche dokumentierte Vielfalt der Mittel als wesentliches Kennzeichen der NS-Herrschaft ist im historischen oder politischen Bewußtsein der Deutschen 50 Jahre später keineswegs so präsent, wie es ihrer Wichtigkeit für die Deutung jener zwölf Jahre unserer jüngsten deutschen Geschichte entspräche.

Als Gründe sind zu nennen neben allgemeinem Desinteresse an geschichtlichen Ereignissen mangelnde Informationsmöglichkeiten, vor allem aber eine zu einseitigen Betrachtungsweisen führende, quellenferne Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus insbesondere in außerwissenschaftlichen Bereichen, schließlich auch bewußte Desinformationen aus tagespolitischen Motiven. Die Folgen sind Fehldeutungen, die nicht nur der geschichtlichen Wirklichkeit nicht entsprechen, sondern auch im Hinblick auf künftige Entwicklungen gefährlich erscheinen. Daß eine einseitige Information über die angeblich mit positiven Vorzeichen zu versehenden oder auch normalen Seiten der nationalsozialistischen Herrschaftswirklichkeit einer grandiosen Verharmlosung der verbrecherischen Grundintentionen von Hitlers Gesamtprogramm sowie vor allem der unverB gleichlichen Verbrechen des Regimes Vorschub leistet, bedarf keiner umfangreichen Erläuterung. Hier würde der funktionale Stellenwert der Normalität im Gesamtkomplex der Herrschaftsmittel, die Ausrichtung auf eine übergeordnete, Verbrechen gegen die Menschlichkeit ohne weiteres implizierende Ideologie unterschlagen.

Ebenso verkennt aber auch eine einseitige Konzentrierung auf den terroristischen Aspekt des NS-Regimes das gesamte Ausmaß der diesem zur Verfügung stehenden und genutzten Herrschaftsmittel. Dies kann in der Konfrontation mit andere Wirklichkeitsbereiche dokumentierenden Quellen zu Zweifeln an der Glaubwürdigkeit der Informationen über die NS-Verbrechen führen. Dies kann vor allem aber auch zur Folge haben, ausschließlich und erst in brennenden Synagogen, gelben Sternen, Angriffskriegen, Massenerschießungen und Judendeportationen Merkmale einer nationalsozialistischen, faschistischen oder sonstigen Unrechtsherrschaft zu sehen. Daß es aber gilt, die Inszenierung nationaler Feste und vor allem die Beibehaltung vertrauter Verhaltensnormen in ihrer funktionalen Verbindung zu übergeordneten ideologischen Zielen als andere Spielarten derselben Unrechtsherrschaft zu begreifen, sollte deutlich gemacht werden. Dies erfordert, in die Gegenwart übertragen, eine größere Wachsamkeit, als es eine einseitig orientierte Aufklärung über den Nationalsozialismus nahelegt. Man darf nicht erst Deportationen und die Einrichtung von Vernichtungslagern abwarten, um die Entwicklung eines Unrechtsstaats einzugestehen. Vielmehr gilt es, aus der Erfahrung unserer eigenen Vergangenheit auch in anderen, wertmäßig vertrauten oder normal erscheinenden Bereichen Signale aufzufangen, die auf Verbindungen zu übergeordneten Zielvorstellungen schließen lassen, die nicht mehr mit den demokratischen Prinzipien von Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit übereinstimmen. Diese Kenntnis eines unmittelbaren Zusammenhangs zwischen nationalsozialistischer Normalität und übergeordneter, von Menschenverachtung und schrankenloser Expansion geprägter nationalsozialistischer Pro-grammatik sollte uns andererseits davor bewahren, all das in die Nähe des Nationalsozialismus zu rücken oder gar als faschistisch oder faschistoid zu bezeichnen, was aus welchen berechtigten Gründen auch immer an der heutigen Wirklichkeit kritikwürdig ist Der gleiche Befund ergibt sich, wenn hier und da risikolose Aktionen gegen Einrichtungen, Maßnahmen und auch Personen dieses Staates in verbaler Heroisierung in die Nähe antifaschistischen Widerstandes hochstilisiert werden. Mut und Ideale der „Weißen Rose" haben mit den Zielen etwa der „Roten Armee-Fraktion" nichts gemein.

Bei den hier vorgetragenen Gedanken hat sich die unmittelbare Nähe zu den Quellen der nationalsozialistischen Zeit als wesentliche Grundlage der gewonnenen Erkenntnisse erwiesen. Das erhellt nicht nur die historisch-wissenschaftliche, sondern auch die politische Bedeutung einer optimalen Sicherung, Erschließung und Vermittlung der wichtigsten Archivalienbestände jener Epoche. Wie Dolf Sternberger aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des Bundesarchivs 1977 in Koblenz sagte, sind „Archive ... Dämme, die wir wider die Vergeßlichkeit, wider die träge schwarze Flut der Vergänglichkeit bauen", Im Hinblick auf die eminente Bedeutung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft sowohl für die Beschäftigung mit unserer jüngeren Vergangenheit als auch für die Bewältigung politischer und gesellschaftlicher Probleme der Gegenwart, in die die Folgen jener Zeit ja noch ständig hineinwirken, sollten wir unsere Bemühungen noch verstärken, die speziell für jene Epoche errichteten Dämme mit besonderer Sorgfalt zu festigen und zu vollenden. Damit würde nicht nur einem verhängnisvollen Prozeß des Verdrängens und Vergessens Einhalt geboten, sondern auch künftigen Generationen ein möglichst wahrheitsgetreues, von politischen oder „volkspädagogisch" genannten Wünschen unabhängiges Abbild der vielfältigen Wirklichkeit jener Jahre überliefert. Dies kann dazu beitragen, daß niemals wieder Krieg, Unrecht und unsägliche Verbrechen mit dem Namen unseres Volkes verknüpft werden.

Fussnoten

Weitere Inhalte

• Josef Henke, Dr. phil., geb. 1944; Studium der Geschichte und Romanistik in Münster, Nancy und Freiburg; Archivoberrat im Bundesarchiv in Koblenz, Referatsleiter für Parteienschriftgut (insbes. NSDAP), Unterlagen aus alliierten Kriegsverbrecherprozessen und Sammlungen der sog. Ost-Dokumentation zur Geschichte der Vertreibung der Deutschen. Veröffentlichungen u. a.: England in Hitlers politischem Kalkül, Boppard 1973; (Bearb. zus. mit G. Granier und K. Oldenhage) Das Bundesarchiv und seine Bestände, Boppard 1977; (zus. mit J. Dülffer und J. Thies) Hitlers Städte. Baupolitik im Dritten Reich, Köln-Wien 1978; Economic Reconstruction in Europe. The Reintegration of Western Germany. Report on the relevant historical material in the Bundesarchiv, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, 137 (1981); Das Schicksal deutscher zeitgeschichtlicher Quellen in Kriegs-und Nachkriegszeit, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 30 (1982).